Kommt da noch was? - Tanja Trombitas - E-Book

Kommt da noch was? E-Book

Tanja Trombitas

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Beschreibung

Sybilla, einst erfolgreiche Karrierefrau, wird durch ihre Eierstöcke und die Entdeckung der Affäre ihres Mannes ausgebremst. Entschlossen, ihr Leben umzukrempeln, wird sie Putzfrau und Chefin zugleich, um ihre Kunden gehörig aufzumischen. Im Haus Nr. 5 ahnt sie nicht, dass ein Beziehungsdrama auf sie wartet. Sie gibt sich vor der Geliebten des Auftraggebers als dessen Frau aus und gerät in ein Wirrwarr aus Lügen und Intrigen. Ein humorvoller Frauenroman über die Suche nach sich selbst, Liebe und den Mut, alles aufzugeben, um glücklich zu werden.

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Tanja Trombitas

KOMMT DA NOCH WAS?

Ein Drei-Frauenroman

Inhalt

Sybilla war nicht immer Putzfrau gewesen.

Sybilla war nicht immer eine alleinstehende Mutter gewesen.

Sybilla ahnte schon lange, dass ihr Mann sie betrog, bevor sie den Beweis dafür erhielt.

Sybilla war nicht immer eine Läuferin gewesen.

Dass Sybilla hinter den Betrug ihres Mannes kam.

Wie gut, dass am Montag nach der lebenseinschneidenden Geburtstagsfeier Sybillas Karenzzeit endete.

Nachdem Sybilla nach Jahren wieder ein geregeltes Leben führe, das nirgendwo hinführte, kam der Frust darüber wieder zurück.

Sybilla hatte nicht immer Jobs wie im Haus Nr. 5 angenommen.

Sybilla hatte tatsächlich einen Weg gefunden, der ihr das Putzen im Haus Nr. 5 radikal versüßte.

Sybilla hatte nicht gedacht, dass diesem Moment eine noch größere Niederlage innewohnen konnte.

Sybilla war schon früh eine Masturbierende gewesen.

Sybilla konnte natürlich nicht sein, was sie noch nie gewesen war und auch nie sein wollte: eine Erpresserin.

Den neuen Mitbewohner in Haus Nr. 5 lernte Sybilla niemals kennen.

Der Knall hallte nicht sanft in Sybillas Kopf wider. Er knallte immer und immer wieder in voller Lautstärke und ließ sie zusammenschrecken.

Sybilla hatte noch nie einen Cliffhanger in real erlebt. Zumindest so einen massiven.

Sybilla war die Zeit noch nie so relativ vergangen.

Sybilla war noch nie gekündigt worden.

Sybilla stellte fest, dass sie sich verliebt hatte.

Sybilla war schon immer geflüchtet.

Sybilla betrat Haus Nr. 5, wie sie es noch nie betreten hatte – als Nicht-Putzfrau.

Sybilla war nicht mehr geübt im Schweben.

Sybilla rauschte noch immer der Kopf. Und daran war nicht nur der Rum schuld.

Der größte Teil des Schlafs war geschlafen.

Sie trafen sich erstmals auf neutralem Boden.

Blumen. Mit Blumen kann man eigentlich nichts falsch machen.

Mit Blumen beworfen zu werden, hatte sie sich immer romantischer vorgestellt.

Alexander rief nach ihr. War es eigentlich normal, dass ihre Vulva auf seine Stimme reagierte?

Sybilla war nicht immer Putzfrau gewesen.

Sie hatte mal einen „richtigen“ Job. Einen Job, den man als einen richtig guten bezeichnet hatte. War darin sogar ziemlich erfolgreich gewesen – für eine Frau. Und das war wohl das Problem: Sie wollte erfolgreich sein wie ein Mann. Oft hörte sie, sie wäre die Beste, sie wollte aber der Beste sein. Denn die Beste stand noch immer für die beste Frau. Hingegen triumphierte man als der Beste über alle. So zumindest empfand es Sybilla. Wie ihr Chef das fand, war nicht ganz klar. Denn obwohl er sie zweifelsohne für saugut hielt und sie mit wichtigen Projekten betraute, stand sie irgendwann still und kam nicht weiter. Konnte an ihrem plötzlich festgefrorenen Standpunkt sehen, wie die Kollegen an ihr vorbeizogen. Die wurden befördert, mit größeren Projekten betraut, konnten ihre Karrieren vorantreiben. Sybilla konnte das nicht. Und sie wusste nicht, wieso. Also beschloss sie, ein Gespräch mit ihrem Chef zu führen. Sie würde einfach verlangen, was ihr ihrer Meinung nach zustand. Sie wollte klären, warum sie nicht weiterkam, während er anderen dabei auch noch unter die Arme griff.

Das Gespräch erschütterte ihr Weltbild. Noch heute kocht die Wut in ihr hoch, wenn sie daran dachte. Ihr Bauch verkrampfte sich und sie hatte das innige Bedürfnis, etwas zu zertrümmern. Am besten einen Stuhl am Kopf ihres Chefs. Es konnte nicht allzu schwer sein, ihn dafür ausfindig zu machen. Würde sie ihn zuerst befragen, ob er seine Meinung von damals aus ihrem Gespräch noch teilte, um ihm eine Chance zu geben oder würde sie gleich mit dem Zertrümmern beginnen?

Das Gespräch hatte ihr zum ersten Mal in aller erbitterter Wahrheit vor Augen geführt, was es für karrieretechnische Konsequenzen hatte, eine Frau zu sein.

Wie sie gezittert und geschwitzt hatte vor dem Gespräch! Akribisch hatte sie sich vorbereitet, um über jeden Zweifel erhaben zu sein. Hatte Projekte herausgesucht, die perfekt gelungen waren und rekapituliert, was genau ihre Rolle dabei gewesen war. Was sie zum Erfolg beigetragen hatte. Dabei wollte sie auf keinen Fall Vergleiche anführen. Warum bekommt der Kollege xy einen besseren Posten und warum ich nicht. Das kam ihr kindisch vor. Wie zwei Geschwister, die nicht verstanden, warum die eine in den Sandkasten durfte und die andere nicht. Nein, sie hatte sich vorgenommen so objektiv wie möglich zu bleiben und allein die Hard Facts ihrer Leistungen sprechen zu lassen. Alles für die Würscht. Denn natürlich ging es niemals nicht um Hard Facts. Es ging um Folgendes:

„Ja, aber wollen sie denn nicht jetzt irgendwann mal auch Kinder bekommen?“

Das waren die Worte, mit denen ihr Chef ihre Forderung nach Beförderung quittierte. Nachdem sie ihm ausführlich ihre Vorteile geschildert und dargelegt hatte, wie gut sie ihren Job machte und explizit nach einem Sprung auf der Karriereleiter verlangte, kam er ihr mit Babys! Mit ungelegten Babys noch dazu.

Das war einer der Momente in Sybillas Leben, in dem sie wirklich perplex war. Sie wusste tatsächlich nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es traf sie wie der sprichwörtliche Hammer. Oder mehr wie eine Bratpfanne, die vom Aufprall gegen ihren Schädel in Schwingungen versetzt worden war und nun metallisch dumpfe Töne von sich gab. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Ein „Ähhh“ war alles, was ihren noch immer offenen Mund verließ.

„Schauen Sie, natürlich, ich weiß, dass ich das eigentlich nicht fragen darf und dass es mich auch nichts angeht. Aber für mich als Unternehmer ist es nun einmal wichtig, zu wissen, wie sehr ich mich auf meine Mitarbeiter verlassen kann. Wenn ich Sie jetzt befördere, haben Sie erreicht, was Sie wollen, und da fällt ihnen dann vielleicht plötzlich ein, dass alles, was Ihnen noch zum Glück fehlt, ein Baby ist. Dann fällt mir eine Person in einer Schlüsselposition aus. Dann sind Sie weg und ich muss mir jemanden Neuen suchen. Und wenn Sie zurückkommen, wollen Sie nur noch Teilzeit arbeiten, laufen mitten in Besprechungen davon, weil Ihr Kind Läuse oder Was-weiß-ich hat und außerdem sind Sie dann mit dem Kopf sowieso nicht mehr 100%ig bei der Sache.“

So oder so ähnlich waren die Worte ihres Chefs gewesen. Ihm zu sagen, dass sie jederzeit – jetzt! – kündigen konnte und damit in einem Monat und dann für immer fort wäre, wollte ihr damals nicht einfallen. Wie abstrus es war, zu denken, dass sie um eine Beförderung ansuchte, um schwanger zu werden und nicht, um in ihrer Karriere voranzukommen, hielt sie ihm auch nicht vor. Dass einer ihrer Kollegen letztens ganz spontan den halben Tag freigenommen hatte, weil überraschenderweise doch noch eine Runde am Golfplatz freigeworden war, ließ sie auch unerwähnt. Sie stand auf und ging mit einem „Ich verstehe, danke für das Gespräch.“

Als sie sich aus ihrem Sessel erhob und verabschiedete, hatte sich ihr Chef beeilt, die Tür zu seinem Büro vor ihr zu erreichen, um sie ihr aufzuhalten. Er war ganz entspannt und gelassen gewesen, im Unklaren darüber, was er gerade etwas angerichtet hatte. Aber er hatte ihr noch einen guten Rat mit auf den Weg gegeben: „Wissen Sie, irgendwann ist es zu spät für Kinder und dann bereuen die Frauen es.“

Ihr wäre nie in den Sinn gekommen, dass das der Grund hätte sein können: Ihre Fähigkeit schwanger zu werden behinderte ihre Karriere. Natürlich! Warum war sie da nicht selbst darauf gekommen? Diese absolute Dämlichkeit wäre eigentlich der bessere Grund für die Stagnation im Job. Die gläserne Decke, da war sie! Natürlich wusste sie um ihre Existenz. Aber sie hatte sie noch nie zu spüren bekommen. Oder eigentlich: Ihr war nicht bewusst gewesen, dass es das war, was sie zu spüren bekam. Nun war sie mit der Nase draufgestoßen worden und hatte sie nicht als solche identifiziert. Nein. Ihr Chef musste sie mit Nachdruck dagegen knallen, so dass es eine mächtige Beule gab, damit sie checkte, was Sache war. Die gläserne Decke. Wie blind konnte man sein! Dass sie nicht an dieses Hindernis gedacht hatte, mochte daran liegen, dass sie sich – bis jetzt – als Mensch betrachtet hatte. Sie war in der glücklichen Lage gewesen, bis vor kurzem keine Nachteile gegenüber ihren männlichen Mitmenschen verspürt zu haben. Oder: Sie war nur zu naiv gewesen, sie wahrzunehmen. Jetzt und frisch ausgestattet mit dem Gleichberechtigungs-Radar, war der nicht mehr wegzukriegen. Dauernd schlug er Alarm. Jetzt wo sich das Defizit gezeigt hatte, machte es sich überall bemerkbar. Wie ein Tumor, der zu streuen begonnen hatte, sah sie die weibliche Benachteiligung. Wie bei einem all um sich greifenden Krebs, fühlte es sich sinnlos an, dagegen anzukämpfen. Man verlor nur die Haare beim Kampf, vor lauter Stress aufgrund von Hilflosigkeit. Bei einer Sache schlug der Radar besonders aus. Diese einen Sache, die Sybilla bis jetzt lapidar hingenommen hatte und ab jetzt mit anderen Augen sah, stieß die Nadel des Radars, der in Wirklichkeit gar keine hatte, an die Grenzen seiner Kapazität und verlangte nach mehr zum Ausschlagen. Nach einem Martinshorn, dass laut gellend Gefahr! Gefahr! Gefahr! rief.

Die Männerrunde war die eine Sache. Nicht dass sie wirklich so hieß. Sybilla nannte sie jetzt so, nachdem sie festgestellt hatte, dass diese lose zusammengewürfelte Runde, die sich nach Feierabend, oft auch zwischendurch im Büro auf einen Kaffee zusammensetzte, nur aus Männern bestand. Ab und an war eine Frau dabei aber immer auch nur eine. Auch Sybilla war einmal dabei gewesen, denn man brauchte keine besondere Einladung oder gar ein geheimes Klopfzeichen an einer verborgenen Tür, in einer dunklen Gasse des Büros, um daran teilzunehmen. Alles, was man tun musste, war, sich dazuzugesellen. Und Geschichten zu teilen. Diese Geschichten – und Sybilla ging davon aus, dass es immer so war, wie sie es einmal erlebt hatte – handelten immer von Triumph: Wer das dickste Auto fuhr, wer wen beim Tennis geschlagen hatte, wer das größte Haus hatte. Die Männer versuchten sich gegenseitig mit ihren Errungenschaften zu übertrumpfen und klopften sich dabei und zwischendurch kräftig auf die Schultern – mal zum Trost, mal zur Bestätigung. Es ging aber auch um die Siege anderer: Darum wie jemand seiner Frau bei der Scheidung ein Schnippchen geschlagen hatte, einem Geschäftspartner gezeigt hatte, wo der Hammer hing, aber genauso ging es um den Mega-Fußballstar, der durch einen Transfer zu einem anderen Club jetzt mehr denn je absahnte und alle anderen – na eben übertrumpfte. Und es ging auch nicht immer um Geld, es ging um Gewitztheit, darum die Oberhand zu behalten, die Macht gespürt zu haben, einen anderen zu übertreffen. Nicht nur weil Sybilla in keiner Weise mittriumphieren konnte, fand sie ihr Beisein in der Männerrunde einschläfernd. Auch weil diese Aneinanderreihung an Siegen, möglichen Gewinnen und zukünftigen Erfolgen schlicht und ergreifend langweilig war. Deshalb hatte sie nie wieder die Gelegenheit wahrgenommen, teilzunehmen. Hatte das Ganze mit einem Lachen abgetan und sich gedacht, dass sie, die Ers, doch lieber mal ungestört unter sich bleiben sollten. Das hielt ja keine Frau aus.

Jetzt allerdings hatte sie nachgedacht, analysiert und rekapituliert. Und festgestellt, dass Kollegen der Männerrunde überproportional häufiger die wichtigen Projekte bekamen, die mit Prestige. Dass viele Kollegen, die an ihr vorbei Karriere gemacht, den Posten bekommen hatten, den Sybilla zu erreichen versuchte, oft Teil dieser Männerrunden waren. Genauso wie die Chefs. Die gesellten sich nämlich auch – zwar spärlich, aber doch regelmäßig – zum spontanen Bier und Kaffee. Reichten diese wenige Male mit einem Chef aus, um die Karriere zu fördern? Reichte es, dass der Chef dachte: „Den nehm ich als nächsten Unterchef und nicht die. Die zeigt ja schließlich keinerlei Willen in all den unwichtigen Bereichen des Lebens zu triumphieren.“ Dieser Gedanke war plausibel und sie bekam ein flaues Gefühl im Magen. Sybilla begann, die Männerrunde und was darin passierte, zu verabscheuen. Wer weiß, was die taten, wenn keine Frau dabei war. Sie stellte sich vor, wie sie beisammensaßen und versuchten, sich gegenseitig zu beeindrucken. Sprang da nicht vielleicht auch mal einer auf, wenn ihm das Reden zu lang war, riss sich das Hemd auf und trommelte voller Inbrunst gegen seine frisch enthaarte Brust, um zu demonstrieren, dass er gefälligst der Stärkste im Raum war? Gar so abwegig fand sie es nicht. Sie hatte einen Kollegen, den sie wirklich mochte, mit dem man echt gute Gespräche führen konnte. Der einfühlsam, überlegt und schlau war. Und zum Affen geworden war, als sie ihn in der Männerrunde erlebt hatte. Er war der Grund gewesen, warum sie bis zum Schluss durchgehalten hatte. Es war entsetzlich und spannend gewesen, diese ganz andere Seite von ihm zu sehen. Johlend hatte er in die Häme über einen nicht Anwesenden eingestimmt, hatte noch mehr dazu beigetragen. Denn natürlich wusste auch er von einer Schmach desselben zu berichten. Und konnte durch die Niederlage, nein, nur durch die Geschichte über die Niederlage eines anderen, dazugehören zu dieser karrierefördernden Männerrunde.

Aber vielleicht war das mit den Gorillas zu weit hergeholt, dachte sich Sybilla. In Wirklichkeit packten sie wahrscheinlich einfach ihre Schwänze aus und machten Längenvergleich. Sie stellte sich vor, wie sie nebeneinandersaßen, mit heruntergelassenen Hosen Maß nahmen. Wie sich einer beschwerte, weil das Lineal nicht richtig angehalten worden war und ob das überhaupt ein geeichtes Lineal war, denn die Millimeter darauf erschienen viel kürzer als auf dem Lineal daheim und der Penis wäre eigentlich viel länger und das zählte ja alles überhaupt nichts, denn erigiert wurde das beste Stück schließlich doppelt so groß. Verständnis von allen Kurzschwänzigen, mitleidige Grinser – und Schulterklopfer – von den besser Bestückten. Auf die Länge kam es schließlich nicht an. Und ganz bestimmt brauchten sie keine Frau in der Runde, um ihnen das zu bestätigen.

Humor half, das Problem zu bewältigen, lösen würden ihre satirische Flucht rein gar nichts. Dranbleiben, nachdenken, dementsprechend handeln war angesagt: Wie konnte es sein, dass sie es bisher nicht erkannt hatte. Dass es ein Nachteil war – zumindest hier in dieser Firma, mit diesen Männern – eine Frau zu sein. Konnte es daran liegen, dass sie in ihrer Kindheit hauptsächlich von weiblichen Mitmenschen umgeben gewesen war? Ihr Vater war der einzige Mann in ihrer Frauenfamilie, die von ihrer Mutter, von Schwestern und Tanten geprägt worden war. Wenn doch einmal ein anderer Mann zugegen war, wurde ihm besondere Aufmerksamkeit zuteil – von ihrem Vater. Sie erinnerte sich jetzt daran, wie es war, als sie die ersten festen Freunde mit nach Hause gebracht hatte. Freunde, die es eine Weile gegeben hatte. Die auch mal mit am Mittagstisch saßen, zu Familienfesten mitgenommen wurden und eben eine Zeit lang zur Familie gehörten. Diese Freunde wurden von ihrem Vater hofiert, wie die Söhne, die er niemals gehabt hatte. Sein ganzes Sein wandte sich dem anderen Mann zu. Sein Körper drehte sich in seiner Richtung, alle Fragen wurden an ihn gerichtet. Die anderen Anwesenden, also die Frauen, hätten gut und gerne den Raum verlassen können. So wie es in irgendeinem alten Jahrhundert auch Sitte war: Nach dem Essen zogen sich die Männer in den Rauchsalon zurück und die Frauen gingen. Ja, wohin eigentlich? In die Küche wahrscheinlich. Natürlich. Was sollten sie auch zu Themen wie Fußball, Autos und Politik, vor allem Politik beitragen? Sybilla hatte das Verhalten ihres Vaters lange lustig gefunden. Und verständlich. Wenn man als Mann die ganze Zeit von Frauen umgeben ist, nutzt man jede Gelegenheit, um sich konzentriert mit seinesgleichen austauschen. Irgendwann hatte sie sich gefragt, was wohl gewesen wäre, wenn sie Brüder statt Schwestern gehabt hätte. Noch schlimmer: einen einzigen Bruder gehabt hätte. Hätte ihr Vater sie dann überhaupt bemerkt? Wenn er von klein an, einen seinesgleichen gehabt hätte, hätte sie die Aufmerksamkeit bekommen, die ihr zuteilgeworden war? Oder wäre der Stammeshalter so vereinnahmt worden, wie jetzt ihre Freunde?

Nun war sie erst später im Leben damit konfrontiert worden, dass Männer andere Männer als Gesellschaft bevorzugten. Und wurde damit ganz schön vor den Kopf gestoßen. Wie gut, dass es „nur“ im Job war und nicht im Familienleben. Nur mal so, um die positive Seite dieses ganzen Schlamassels zu sehen. Für Sybilla war jedenfalls klar, dass sie etwas ändern musste. Einen Patriarchen als Vater zu haben war die eine Sache, einen als Chef, war nicht zu akzeptieren. Schließlich konnte sie sich den aussuchen. Und so begann sie Jobinserate zu scannen und sich zu bewerben. Auf ihr erstes Vorstellungsgespräch war sie top vorbereitet. Falls das Du-bist-eine-Frau-und-kannst-schwanger-werden-Thema käme, wüsste sie zu parieren.

Was dann tatsächlich kam, war das Du-bist-eine-Frau-warum-willst-du-überhaupt-Karriere-machen-Thema. Ihr war ein Rätsel, warum sie überhaupt zu dem Screening eingeladen worden war, wenn der Interviewer sie doch ernsthaft fragte:

„Warum wollen Sie denn überhaupt so viel Verantwortung übernehmen und mehr verdienen? Haben Sie doch nicht notwendig. Sie sind doch eine ganz Hübsche, da wird sich doch Einer finden, der sich um sie kümmert.“

Er hatte es nicht so krass formuliert, aber das war, was ihr Kopf übersetzt hatte und in Erinnerung geblieben war. Das war das Vorstellungsgespräch, das ihr Leben verändert hatte. Gab es echt nur diese Frau-hinter-den-Herd-Idioten auf der Welt oder hatte sie einfach nur das besondere Glück, sie abzukriegen? Denn sie wusste, dass Frauen es geschafft hatten. Karriere gemacht hatten. Es gab genug von ihnen, um ihr zu beweisen, dass es nicht immer und überall so lief wie bei ihr. Aber bei ihr war es nun mal so und jetzt wusste sie nicht mehr weiter. Noch so ein Bewerbungsgespräch vertrug sie nicht. Sie konnte sich natürlich noch besser vorbereiten. Einfach die Gebärmutter rausoperieren in ein Einmachglas packen lassen und das Ganze beim nächsten Mal prominent am Bewerbungstisch arrangieren. Schauen Sie mal, Herr CEO, sie brauchen keine Angst haben, dass ich davon Gebrauch mache. Würde der CEO sagen:

a- Das ist doch gar nicht ihre Gebärmutter.
b- Sie sind keine echte Frau mehr, sie kann ich nicht einstellen.
c- Sie Arme, vielleicht ist Adoption oder Leihmutterschaft eine Lösung.
d- Sind sie verrückt, jetzt können sie keine Kinder mehr bekommen!

Sie brauchte eine Pause. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie sie damals nach Hause gekommen war, ihren Rechner hochgefahren und alles gelöscht hatte, was ihr bei ihrer zukünftigen Karriere helfen sollte. Weg mit dem CV, dem mühsam angelegten Portfolio. Weg mit den Links zu Jobs, die sie interessierten und für die sie sich als nächstes bewerben wollte. Weg mit den ausgeschnittenen Inseraten. Für den dramaturgischen Effekt wollte sie die Zeitungsschnipsel sogar anzünden. Als sie eine halbe Stunde nach einem geeigneten Gefäß gesucht hatte, in dem der Brand ungefährlich hätte stattfinden können und nicht fündig wurde, waren sie doch einfach in den Mistkübel gewandert. Zumindest bis zur Unkenntlichkeit von ihren wütenden Fingern zerrissen. Warum war sie damals nicht darauf gekommen, einfach im Spülbecken ein Feuer zu entfachen? Rettendes Wasser stets bereit. Zorn konnte einem echt den Geist vernebeln. Beweis dafür war auch die letzte Tat an diesem Tag, an die sie noch eine klare Erinnerung hatte Sie trat die verbliebenen Packungen ihrer Anti-Babypille in die Tonne. Es war natürlich total widersinnig, damit genau das zu veranlassen, was diese Männer von ihr erwarteten. Trotzdem fühlte es sich damals für sie nach Protest an. Schizophrenie lag in der Familie. Es war die schwerwiegendste und beste Entscheidung ihres Lebens, ein Kind zu bekommen. Damit waren so viele Fliegen auf einen Streich erledigt, dass sie sich fragte, warum sie nicht schon längst auf die Idee gekommen war.

Ihren Mann brauchte sie nicht zu fragen, wie er dazu stand, er hatte ihr schon vor längere Zeit vermittelt, dass er gerne ein Kind hätte und wann denn nun endlich der richtige Zeitpunkt wäre. Sie hatte ihn immer vertröstet. Wollte sich erst mal um ihre Karriere kümmern. Nun ja, die Sache war für sie erst Mal erledigt. Worauf warten? Ein Kind zu kriegen, stand sowieso auf ihrer To-do-Liste, zwar ziemlich weit unten, aber durch quasi unvorhergesehene Ereignisse war das Ganze jetzt weit nach oben gerückt. Und schließlich war soviel wahr: Irgendwann war es für sie zu spät. Nicht, dass es bald so weit wäre, aber wer wusste schon, wie schnell das funkte?

Sie hatte selbst lange nicht gewusst, ob sie überhaupt ein Kind haben wollte. Das immerforte Drängeln ihres Mannes hatte sie dazu bewogen, sich mit dem Thema zu beschäftigen und sie hatte es schließlich an einer Frage festgemacht. Eigentlich zwei Fragen. Zwei Fragen, die man für die Entscheidungsfindung Kind-ja-oder-nein zu oberflächlich finden konnte, aber für sie machten die Antworten darauf klar, wie es weitergehen sollte:

Frage 1: Wollte sie sich zeitlebens die Frage stellen, wie ein Leben ohne Kinder gewesen wäre.

Oder aber Frage 2: Wollte sie sich zeitlebens die Frage stellen, wie ein Leben mit Kind gewesen wäre?

Und da war sie ganz klar bei Antwort auf die Frage 1. Lieber über Bestehendes, ein Kind, klagen als über etwas, das man nicht hatte. Sybilla zog die Realität vor. Und damit war die Sache klar. Sie würde sich vorerst mal raus aus dem Spiel, von dem sie ohnehin die Schnauze gestrichen voll hatte, nehmen. Es war beschlossen (worden): Sie würde versuchen, schwanger zu werden.

Sybilla war nicht immer eine alleinstehende Mutter gewesen.

Einst war sie Teil einer Beziehung, später, als ihre Tochter eine Weile auf der Welt war, war sie sogar verheiratet. Des Kindes wegen. Damit alles geregelt ist. Genauso wie das klingt, war auch die Hochzeit. Oder nannte man es gar nicht Hochzeit, wenn man nur aufs Standesamt zum Unterschreiben ging? Hochzeit war wohl eher nur das Fest und diese Bezeichnung verdiente ein Schnitzerl beim Wirten ums Eck vom Standesamt wohl eher nicht. Mit keiner Träne weinte sie ihrer nicht begangenen Hochzeit nach. Es war nie ihr Traum gewesen, in Weiß zum Altar zu schreiten. Keine Hochzeit, deren Gast sie jemals gewesen war, weckte diese Sehnsucht ihn ihr. Sie versuchte auf den diversen Festen, die den unterschiedlichen Eheschließungen folgten, immer so schnell wie möglich betrunken zu werden oder lieber doch nur beschwipst und kippte zu diesem Zweck immer sehr schnell sehr viel Sekt in sich hinein. Das half, einen meist brütend heißen Nachmittag, der sich doch eigentlich besser und lieber an einem Badeteich verbringen ließ, in ungemütlichem – und immer zu warmem – Outfit mit Menschen zu verbringen, von denen sie nur sehr wenige kannte. Sie war auch auf sehr gemütlichen entspannten Hochzeiten gewesen und diese als angenehme Überraschung genossen. Aber zum Großteil war es ein gekünsteltes Abspulen von Ritualen, deren Sinn und Zweck Sybillas Meinung nach längst verloren gegangen war. Nichts weckte den Fluchtinstinkt so sehr in ihr wie das vermaledeite Brautstraußwerfen. Wenn sich die Junggesellinnen, die meisten eh in einer Beziehung aber eben keiner offiziell beglaubigten, um ein Büschel Grünzeug in einem Pulk versammelten und hysterisch aufschrien, wenn die Blumen geflogen kamen. Es gab immer einen hysterischen Schrei. Auch wenn der Brautstrauß gar nicht gefangen werden wollte. Es schrie dann meist auch noch die Frau, die ihn hätte fangen wollen. Ein Verzweiflungsschrei. Denn sie brauchte diesen Fang, um damit zu ihrem Freund zu gehen und zu sagen: „So, Hawara, jetzt bist du dran, du kommst mir nicht mehr davon.“ Oft ergab sich der Hawerer wohl. Warum Frauen mit Ehefrau-Sehnsucht nicht einfach ihren Mann fragten – um seine Hand anhielten – war Sybilla ein Rätsel. Obwohl, ein leicht zu lösendes: Wer daran glaubte, ein gefangener Brautstrauß führe eine Heirat herbei, glaubte wohl auch, dass der Mann sich auf die Knie fallen lassen, in nach vorne gereckten Händen ein Etui mit einem schillernden Ring halten und in dieser unbequemen Haltung „Willst du meine Frau werden“ hauchen müsse. Der Romantik wegen bitte mit feuchten Augen. Nicht mit richtigen Tränen, das wäre unmännlich. Emotional hatten nur die Frauen sein zu dürfen. Die durften dann in Tränen ausbrechen und sich nicht darüber ärgern, falls der Ring nicht passte und diese Nebensächlichkeit den ganzen hollywoodreifen Akt ein bisschen eintrübte. Vielleicht war es dieses vorgegeben Drehbuch, dass den Frauen und Männern eine so fixe Rolle gab, das Sybilla störte.

Sie hatte ihren Mann einfach gefragt. Im Endeffekt mehr vor vollendete Tatsachen gestellt. Nachdem sie sich darüber einig waren, dass es eigentlich – des Kindes wegen – schlauer wäre zu heiraten, hatte sie darauf gewartet, dass etwas passierte. Sie hatte selbst einige Zeit gebraucht, um sich von dieser verankerten passiven Rolle der Frau zu lösen, obwohl sie gerade das doch so ablehnte. Aber es war in einem drin, seit frühester Kindheit verinnerlicht und so schwer, sich davon zu befreien und umzudenken. Doch sie hatte es geschafft und war selbst zur Tat geschritten. Sie hatte sich nochmals des Willens ihres Freundes zu ihrem Ehemann zu werden, versichert, dann einen Termin auf der Gemeinde ausgemacht und ihn vor die Standesbeamtin gezerrt. Natürlich war er baff. Aber dann auch wieder nicht. Schließlich kannte er Sybilla einige Zeit und wie immer fand er es sehr angenehm und komfortabel, wenn seine Bald-Frau gewisse Aufgaben einfach übernahm und dann gleich auch erledigte. So eine stetig schrumpfende To-do-Liste war wohl mit ein Grund für seine sehr praktisch pragmatisch veranlagte Liebe zu ihr. Bei ihnen waren nie die Blitze eingeschlagen, Funkenflug ja, Donnerwetter manchmal, verliebte Gelähmtheit Fehlanzeige. Niemand wusste, dass sie verheiratet waren, keine Ringe zeugten von der neuen Verbindung und sogar die Namen waren die gleichen geblieben. Die Zeit zu kostbar, um aus Jux und Tollerei auf Ämter zu rennen und Geld auszugeben. Erst als sie sich scheiden ließen, wurde die Tatsache ihrer Ehe bekannt. Da war es für Familie und Freund:innen fast schwierig zu entscheiden, worüber sie sich mehr aufregen sollten: Über die „geheime“ Ehe oder die Auflösung derselben. Alles in einem Atemzug zu erfahren, war wohl schon überwältigend.

Sybilla ahnte schon lange, dass ihr Mann sie betrog, bevor sie den Beweis dafür erhielt.

Sie waren auseinandergedriftet, waren zu Mitbewohner:innen geworden und seine Affäre wahrscheinlich das Ergebnis aus Langeweile, Gelegenheit und genügend Sympathie. Eine teuflische Mischung: Eintönige Beziehung + die Möglichkeit woanders zu vögeln. Sie war völlig damit beschäftigt, ein Kind zu haben und plötzlich – bei sich selbst – nicht mehr als Erste zu kommen, aber auch nicht als Letzte. Zu verstehen, dass ihre unterschiedlichen Rollen – Frau, Mutter, Ehefrau, Träumerin und was sie noch war und sein wollte – besser nebeneinander als miteinander funktionierten, kostete sie Jahre. Und so war sie fast dankbar, dass irgendwann eine andere Frau, eine ihrer Rollen übernahm. Nicht dankbar darüber, dass er sie betrog. Dankbar darüber, sich nicht auch noch darum kümmern zu müssen. Beziehungsaufgabenurlaub. Dankbar, dass er bei einem Geschäftstermin war und somit nicht nach Aufmerksamkeit verlangen konnte. Dankbar, dass sie sich einfach aufs Sofa legen und müffelnd nach den Strapazen des Tages beim Fernseher stinken konnte. Nicht, dass er ihre Aufmerksamkeit einforderte oder sie immer frisch riechend verlangte oder gar adrett arrangierte Mahlzeiten zur entsprechenden Tageszeit. Nein, so einer war er nicht. Aber auch wenn er nichts verlangte, so verlangte er zumindest Rechtfertigungen. Oder sie hatte das Gefühl, dass es verlangt wurde: Dass sie sich für das, was sie tat – oder nicht tat – rechtfertigen müsste. Rechtfertigen etwa dafür, warum sie sich nicht zu ihrem Mann aufs Sofa legte. Tja, weil die seit Tagen ungewaschenen Haare schon ein fein schmalziges Odeur verströmten und diese leichte Stinke wollte sie niemandem antun. Er würde nicht sagen: „Du Schatz, hüpf mal unter die Dusche.“ Aber wenn sie sich zu ihm legte und an seine Schulter schmiegte, meinte sie zu spüren, wie er sich wegdrehte, um nicht zu viele der Schmalzlocken abzukriegen.

Oder. Wenn sie sich einfach mal der Länge nach auf den harten Boden der Wohnung legte, ihre Arme weit von sich streckte und dann ihrem Atem lauschte, um ihren Rücken zu strecken, konnte sie die Frage hören, die er nicht stellen würde: „Tut das wirklich gut?“ Oder vielleicht wäre es auch ein gut gemeinter Rat: „Du solltest mal wieder zu deiner Orthopädin und dir eine Physio verschreiben lassen.“ Ja, na klar sollte sie das, aber woher sollte sie dafür die Zeit nehmen? Ganz zu schweigen von dem nötigen Kleingeld.

Oder. Wenn sie am Handy spielte. Puzzle löste, um ein Maxerl sicher ans Ziel zu bringen. Das Maxerl dann fröhlich, weil gerettet, am Bildschirm herumsprang und sie einlud, den nächsten Level zu starten. Wenn man das Gefühl hatte, etwas geschafft zu haben, auch wenn man freilich rein gar nichts geschafft hatte. Natürlich wusste Sybilla, dass das vertane Zeit war – die man etwa nutzen konnte, um einen Termin bei der Orthopädin auszumachen – aber es war auch der einzige gangbare Weg, ihr Hirn vom Denken abzuhalten. Und nicht denken war manchmal dringend notwendig. Nicht planen, nicht sorgen, nicht nach vorne schauen. Leben im Jetzt ging nur beim Daddeln am Handy. Niemals würde ihr Mann ihr vorhalten, dass sie Escape-Games spielte, um abzuschalten. Aber wenn er da war, machte es diesen dämlichen Zeitvertreib nur noch dämlicher.

Unmöglicher war es auch, Dinge zu tun, die er partout nicht verstand und ganz offen nach einer Rechtfertigung verlangte. So gab es, stellte Sybilla fest, Zeitvertreibe, die zweiergesellschaftlich akzeptiert und solche, die unverständig verwundert kommentiert wurden.

Putzen – akzeptiert

Mit auf Ohren versengende Lautstärke gedrehtes Volume in den Earbuds durch die Wohnung tanzen – unverständig verwundert kommentiert.

Lesen – akzeptiert

Alte Kleidungsstücke auftrennen und versuchen zu planen, sie zu neuen zu arrangieren – unverständig verwundert kommentiert

Online Unnötiges shoppen – akzeptiert

Die Küche ausmessen, um eventuelle Umbauten anzudenken – unverständig verwundert kommentiert

Und Sybilla wollte nicht kommentieren. Wollte sich nicht erklären. Es ging hier schließlich nur um ihre Tagträume, denen sie mit Hilfe willkürlicher Maßnahmen einen Hauch von Realität einhauchen wollte. Sich ihnen näher fühlen wollte. Es war nicht das Ziel, das Ziel wirklich zu erreichen: Tanzen können wie Beyonce, ein Oberteil besitzen, das so individuell wie chic und dazu noch selbst gefertigt war oder in einer Küche arbeiten, in der man sich in Portugal meint. Darum ging es nicht. Ziel war, das Ziel vor Augen zu spüren. Über sie zu reden, machte sie viel zu wirklich. Wenn jemand davon wusste, wollte der eventuell regelmäßige Updates über den aktuellen Stand der Dinge haben:

Wie läuft es denn? Wann war es denn soweit? Wann war es denn fertig? All diese Fragen wollte Sybilla sich lieber selbst und nicht durch jemanden anderen stellen lassen. Sie wollte keine Träume-Antreiberei. Keine gut gemeinten Ratschläge, die nur für Verwirrung sorgten. Und ganz abgesehen davon: Wenn man seine Träume realisiert, wovon soll man denn dann noch träumen?

Ganz insgesamt fand Sybilla also müffelndes Alleinsein besser. Schließlich war sie kaum noch allein. Das wunderbare neue Wesen, ihre Tochter, hatte etwas mitgebracht: eine Leine. Das war theoretisch natürlich völlig logisch. Vor allem zu Beginn: Wenn man stillte, wie Sybilla es nach einigen Anfangsschwierigkeiten geschafft und sich mit ihrer Tochter zusammengerauft hatte, musste man alle paar Stunden oder öfter parat stehen, um sein Kind zu ernähren. Manchmal, meist nachts, wenn das Töchterchen überraschend lang schlief, zu lange schlief und die Brust zu platzen drohte, musste auch ihr Babymädchen parat stehen und gefälligst trinken, auch wenn sie gerade andere Pläne hatte. So etwas weiß man theoretisch, in der Praxis entwickelt es dann noch einen eigenen Charme und birgt Überraschungen, die man sich in keiner Theorie vorstellen und vorfühlen kann. Sybilla versuchte es ihren kinderlosen Freundinnen zu erklären, wie es mit einem Kind ist. Die nickten verständnisvoll und hatten nicht die geringste Ahnung wovon sie sprach. Natürlich wurde die Leine mit der Zeit immer länger und teilweise auch schon angenehm locker. Aber sie war immer da und stets in der Lage, akute Atemnot zu verursachen. Natürlich hatten viele Leute schlaue Sprüche auf Lager: Für Kinder gibt es nun mal keine Gebrauchsanweisung – als ob schon jemals jemand eine Gebrauchsanweisung gelesen hätte. Der schlaueste Spruch war noch immer der ihrer Mutter: „Wer noch nie ein Kind besaß, der was an Schas.“ Natürlich ein saublöder Reim und natürlich nicht auf das allgemeine Wissen der Person bezogen, aber immerhin und zuallererst: wahr. Sybilla hoffte nur, dass es ihr oder ihrer Tochter niemals gelingen würde, die Leine zu kappen. Dieses einzigartige Band, für das sie dankbar war, das ihr unvergessliche und prägende Erfahrungen geschenkt hatte. Und das sie manchmal an den Rand ihrer Kräfte brachte.

Darum war für sie, und auch ihren Mann, noch bevor der Betrug in ihrer aller Alltag schwappte, klar, dass sie kein zweites Kind bekommen würden. Eine Zeit lang spielte sie mit dem Gedanken. Die immer wiederkehrende Frage von allen Seiten: „Na, wollt ihr kein zweites?“ sorgte dafür, dass das Thema bei ihr präsent war und Gedankengänge auslöste. Bis ihr klar wurde, dass es die gesellschaftlichen Erwartungen nach einem weiteren Kind – eins ist keins, zwei sind perfekt! – und nicht ihr Wunsch war. Wenn man nur ein Kind will, fragen alle “Warum nur?”, wenn man nach dem zweiten noch ein drittes bekommt, heißt es “Warum das denn?”, aber in der Reproduktionsfrage war sich Sybilla mit ihrem Mann einig. Es war auch gar nicht schwer in dieser wortkargen Zeit miteinander zu diesem Entschluss zu kommen, sie trafen ihn unabhängig voneinander, teilten sich irgendwann ihre Entscheidung mit, waren zufrieden mit ihrem Einverständnis. Dass sie dafür hätten Sex haben müssen, stand einer Fortpflanzung ohnehin im Weg. Nicht, dass Sybilla nicht oft genug Lust gehabt hätte – und sie nahm an, ihr Mann auch, aber Lust alleine reichte nicht. Reichte zu zweit lange nicht. Auch das Timing musste stimmen. Allein schon die Voraussetzung, dass nur sie zwei allein sich für eine gewisse Zeit in einem Raum befanden, war selten genug erfüllt. Dazu kamen Widrigkeiten wie telegener Schlafschlag, unterschiedliche Auffassung von Prioritäten und gelegentliche Hickhacks, die perfekt dafür geeignet waren, die Stimmung generell zu vermiesen. Der Haupthinderungsgrund seitens Sybilla aber war der Aufwand: Gerade, wenn sie wollte, musste der Mann erst mal davon überzeugt werden, dass hier auf dem Sofa etwas Spannenderes als im Fernsehen laufen könnte. Das kostete Mühe. Etwas, das Sybilla immer so gut es ging, zu umgehen suchte und sich deshalb meist gegen Sex entschied, von dem man außerdem nie wusste, wie er ausging. Der schwankende Befriedigungsgrad war ein Unsicherheitsfaktor und damit Entscheidungshilfe dagegen. Bei einer höheren Erfolgsquote als die Erfahrung versprach, hätte sie den Aufwand nicht gescheut. So griff sie lieber zur Selbsthilfe oder ging eine Runde laufen. Hierin hatte sie eine ganz neue Art der Befriedigung gefunden. Überhaupt schien ihr, dass sie im Vergleich zu ihrem Mann viel mehr Neues erlebte und erlernte seit sie eine Tochter hatte. Für ihn hatte sich kaum etwas geändert. Oder er suchte sich eben aus, was sich änderte: Nicht die Bürozeiten, die blieben lang, schließlich war er unabkömmlich und beim Feierabendbier ließen sich nun mal die besten Jobgespräche führen. Auch die Businesstrips blieben so notwendig wie sie immer waren. Und war es nicht schön nach zwei Tagen heimzukommen zu einer Person, die ihn so innig liebte, wie keine andere auf der Welt, das war eine schöne Änderung. Aus Wiedersehensfreude von purer Liebe umgeworfen zu werden, auch. Windeln wechseln war vielleicht nicht so prickelnd, aber doch in Ordnung, wenn man es nicht immer machen musste. Wenn man die Freiheit hatte zu wählen. Vielleicht hatte Sybilla ihm zu viel Freiheit gegeben? Zu wenig gefordert? So wurden die Geschäftsreisen und langen Abende im Büro häufiger. Sie hörte, wie er am Telefon schäkerte. Nur eine neue Kollegin, die Antonia, der muss er halt noch ein bisschen was beibringen – solche oder ähnliche Antworten bekam sie, wenn sie ihm klar machen wollte, dass ihr sehr wohl auffiel, wie er sich verhielt. Dass er sich anders verhielt. Aber diese Hinweise fielen auf unfruchtbaren Boden. Und so stellte er sich weiterhin dämlich an und verbarg sein neues Interesse nur unzureichend: Musste das sein? Konnte er das nicht so pragmatisch und vor allem so diskret handhaben wie Sybilla?

Sybilla war nicht immer eine Läuferin gewesen.

Anfangs ging sie nur. Schneller als so mancher lief. Ging sie quer durchs Gemüse, durch die Siedlungen bei beinahe jeder Witterung. Stürmender Regen ging nicht, dafür war ihre Ausrüstung zu schlecht und ihre Schuhe zu alt. Die alten Schuhe machten nach ein paar Metern Regen ihre Füße nass. Aber außer viel Regen ging alles, beim Bewegen wurde ihr Kopf frei, die Muskeln locker und es fühlte sich einfach gut an. Beim Gehen hatte sie auch weniger den Eindruck vor etwas wegzulaufen, sondern mehr irgendwo hinzugehen. Zu sich, in sich zu gehen. Diese kurzen Outdoor-Trips waren in den ersten Monaten als Mutter ihre einzige Gelegenheit dafür. Endlich mal allein sein, eine ewige halbe Stunde oder auch Stunde lang nur sich selbst zu spüren und damit einen Schritt hin machen zu einem stabilen mentalen Zustand, weg vom Wahnsinn, der in ihrem Kopf tobte. Kaum war die babysittende Oma da, hüpfte sie in ihre Laufschuhe und es ging ab nach draußen - der Freiheit entgegen.

Viel später, wirklich viel viel später erst stellte sie fest, dass sie nicht hätte weglaufen müssen. Dass die Bewegung nur ein vorgeschobener Grund und nicht das eigentliche Motivwar. Sie hätte sich genauso gut für ihre Alleinzeit auch in einen ungestörten Winkel der Wohnung zurückziehen können. Hätte sagen können: „Tschüss, bis gleich, ich bin dann mal bei mir.“, während sie die Tür hinter sich zuzog, wenn eine Oma ihr Babymädchen für eine Zeit übernahm. Hätte können. Aber wäre das auch so akzeptiert worden, wie der wahre Grund? Sybilla hatte das Gefühl gehabt, dass man immer etwas anderes tun musste, um als Mama freizubekommen – putzen, einkaufen, Wäsche sortieren, auch Freundinnen treffen, Kirschen pflücken oder eben Sport waren durchaus akzeptierte Gründe. Nichtstun gehörte nicht dazu und war für Sybilla etwas, das sie sich nicht zu verlangen traute: „Hey, Mama, kannst du die Kleine nehmen, ich muss ganz dringend mal eine Stunde aus dem Fenster schauen.“

Was anderes war es, wenn man offensichtlich auf Regeneration fuhr. Ein Wochenende in der Therme, weil man Zeit für sich brauchte, war 100%ig akzeptiert. Sich dort ein, zwei schöne Tag zu machen, erntete allseits volles Verständnis. Bei Sybilla nur Ablehnung. Allein der Gedanke an den nassen, wabernden Dampf, regte ihren Magen nach oben an. Wie wenn man aufs Klo ging und die WC-Brille die Wärme der Vorgängerin an die eigenen Oberschenkel abgab. Dieses Gefühl hatte sie permanent in Thermen: Überall dort war es zu warm und alles dort mit einer unsichtbaren nassen Schicht bedeckt, die es mit einer eigenen Schicht Textil beim Liegen und einer dickeren aus Gummi beim Gehen, abzuwehren galt. Und all der Aufwand, den winterweißen Körper auf Vordermann zu bringen: Haare auf den Beinen enthaaren, Haare zwischen den Beinen und unter den Achseln rasieren. Rund um die Zeit, die für einen Thermenbesuch am beliebtesten war, war die Haarpracht, die außerhalb der Sommermonate auf dem ganzen Körper wuchs und gedieh, ein flimmernder brauner Pelz, der sich nach dem Kontakt mit Wasser in Schlammschieren verwandelte. Gezeichnet wie ein Berg nach einem Murenabgang, war Sybilla, wenn sich das Wasser den Weg des geringsten Widerstands zwischen diversen Hügel und Erhebungen auf ihrem Körper hindurch suchte und dabei die Haare zu dünnen Zöpfen verklebte. Es hatte schon Sinn, warum in der kalten Zeit eingepackt und versteckt wurde. Es reichte völlig, sich nur eine Hälfte des Jahres über die Außenschicht Gedanken zu machen. Versteckt in Socken, konnten auch die Zehennägel unpedikürt bleiben. Wobei über das andere Ende ihres Körpers konnte Sybilla noch am leichtesten hinwegsehen. Weniger allerdings über die Tatsache, dass sich ein zitronengelber Badeanzug kaum auf schneeweißer Haut abhob. Wahrscheinlich gab es Menschen, die eine eigenen Winterkollektion an Schwimmoutfits hatten. Mit dazu passenden Bademänteln. Wenn die Menschen sie auch beim Essen in der Warmbadkantine anziehen würden, wären sie eine wahrlich praktische Erfindung. Doch die Bitte der Badkantinenbetreiber nach Bedeckung von zumindest Oberkörper und Füßen wurde gern ignoriert. Den höchsten Textilanteil dort lieferten die Serviettenspender. Schließlich ließ sich das Ketchup, das am Bauch landete, der aufgrund seines Volumens nicht mehr unter den Tisch passte, einfach abschlecken. Und die Brösel, die zwischen den nackten Zehen landeten, konnte man beim nächsten Badegang in die allgemeine Suppe tunken. Das lieferte den nötigen Crunch zur flüssigen Würze, die diverse Gäste beifügen mochten. Und wozu der ganze Aufwand und das Unwohlsein so eines Wochenend-Trips? Um stundenlang in einer Liege in einem Buch zu versinken. Das ging auf der eigenen Couch, kuschelnd nur mit den eigenen Hautschuppen, Bakterien und Dämpfen, entspannter.