Kommunalpolitik - Siegfried Frech - E-Book

Kommunalpolitik E-Book

Siegfried Frech

0,0

Beschreibung

Kein Politikfeld ist den Bürgerinnen und Bürgern so nahe wie die kommunale Ebene. In der Europäischen Union (EU), im Bund und auf Landesebene wird die "große Politik" gemacht, in der Gemeinde hingegen wird sie konkret umgesetzt (und dort muss sie oft auch bezahlt werden). Die Beispiele sind zahlreich: ob Kinderbetreuung, Schulen, Wasser und Abwasser oder Wirtschaftsförderung. Dieser Band erläutert verständlich und nachvollziehbar die Grundlagen der Kommunalpolitik und zeigt auf, in welchem Ordnungs- und Handlungsrahmen Kommunalpolitik abläuft, wer Kommunalpolitik macht und wie sich Kommunalpolitik vor Ort auswirkt. Das übersichtliche Kompendium legt damit einen Grundstein für das Politikverständnis nicht nur in der Gemeinde.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 197

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Politik verstehen

Herausgegeben von Siegfried Frech, Philipp Salamon-Menger und Helmar Schöne.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 https://shop.kohlhammer.de/politik-verstehen

Der Autor

Prof. Siegfried Frech war Publikationsreferent bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und verantwortete die Zeitschrift »Bürger & Staat« und die Didaktische Reihe. Er ist Honorarprofessor (Didaktik politischer Bildung) am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Siegfried Frech

Kommunalpolitik

Politik vor Ort

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-040964-4

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-040965-1

epub:        ISBN 978-3-17-040966-8

Inhalt

 

 

1   Kommunalpolitik beginnt vor der Haustür

2   Nach der Krise ist vor der Krise!

Globale Probleme kennen keine Grenzen

Bund, Länder und Kommunen geraten unter Druck

Kippt die Stimmung?

Integration bleibt ein Hauptthema der kommenden Jahre

… und dann kam Corona!

3   »Spielregeln«: Wie funktioniert eine Gemeinde?

Kommunale Selbstverwaltung

Kommunalverfassungen

Gemeindeorgane: Wer hat in einer Gemeinde das Sagen?

Der Bürgermeister: Vorsitzender des Gemeinderats, Verwaltungschef und Repräsentant der Gemeinde

Kommunalwahlen I: Bürgermeisterwahlen

Der Gemeinderat: »Freizeitpolitiker«

Kommunalwahlen II: Gemeinderatswahlen

Mitwirken, Beteiligen und Entscheiden: Einwohnerantrag, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid

Beteiligung von Kindern und Jugendlichen

4   Aufgaben einer Gemeinde

Pflichtaufgaben, Weisungsaufgaben, freiwillige Aufgaben

Wachsende Aufgaben, steigende Ausgaben

Bürgernahe Dienstleistungen und Aufgaben der Gemeindeverwaltung

Der Haushaltsplan

Wie werden kommunale Aufgaben finanziert?

Wofür geben die Kommunen Geld aus?

Neuerungen im Haushaltsrecht

Die Finanzsituation: Ein ständiges Auf und Ab!

Wohnort Kommune: kommunale Wohnungspolitik

Wirtschaftsstandort Kommune

Kommunale Wirtschaftsförderung

5   Akteure: Bürgermeister, Gemeinderat und Bürger

Der Bürgermeister: Multi-Talent, Verwaltungsprofi, Geldbeschaffer und »ein Mensch zum Anfassen«

Der Gemeinderat: »Laien- und Feierabendpolitiker«

Die Bürger: Kunden, Auftraggeber (Souverän) und Mitgestalter

6   Fazit

7   Glossar

Literaturverzeichnis

Literaturtipps

Abbildungsverzeichnis

1

Kommunalpolitik beginnt vor der Haustür

Am 26. Mai 2019 fanden in acht Bundesländern und in den zwei Stadtstaaten Bremen und Hamburg Kommunalwahlen statt, in denen über die Zukunft der Städte und Gemeinden abgestimmt wurde. Anlässlich dieser Wahlen führte die Bertelsmann Stiftung eine repräsentative Umfrage durch. Befragt nach der wichtigsten kommunalpolitischen Aufgabe hielten es 94,7 Prozent der Bürger für eine »wichtige oder sehr wichtige« Aufgabe, Kindern und Jugendlichen gute Chancen zu ermöglichen. Diese einhellige Einschätzung wurde unabhängig vom Alter, vom Bundesland und von der Größe der Kommune, in der die Befragten leben, getroffen. Dieses Thema steht neben Mobilität (86 %), Umwelt (84,5 %) und Wohnen (83,9 %) ganz oben auf der Agenda. Die Bürger sind sich darüber im Klaren, dass die Kommunalpolitik eine entscheidende Rolle spielt: Bei der Kinderbetreuung (73,6 %), bei Sport- und Freizeitangeboten (63,9 %) sowie Schulen und Bildung (59,7 %) wird den Städten und Gemeinden ein hoher Beitrag zur Problemlösung attestiert.

Befragt nach den kommunalpolitischen Akteuren wurde Bürgermeistern und Kommunalpolitikern ein großes Vertrauen entgegengebracht. Während nur 28,3 Prozent der Befragten den Bundespolitikern und 31,8 Prozent Europapolitikern »großes« oder »sehr großes« Vertrauen entgegenbringen, gab knapp die Hälfte (48,5 %) an, Kommunalpolitikern »großes« bzw. »sehr großes« Vertrauen entgegenzubringen. Offenbar ist die Beteiligung von Bürgern an politischen Prozessen vor Ort eine maßgebliche Voraussetzung dafür, dass die Bürger ihren Bürgermeistern, Stadt- und Gemeinderäten vertrauen. Mit 73,7 Prozent genießen Rathauschefs, deren Bürger sich an der Kommunalpolitik ausreichend beteiligt fühlen, deutlich bessere Zustimmungswerte als Bürgermeister, deren Bürger sich ein Mehr an Beteiligung wünschen (55,8 %).

Beanstandet wurden von den Befragten zwei Aspekte. Die Mehrheit ist mit der Beteiligung an Entscheidungsfindungen vor Ort nicht zufrieden. Die Zahl derer, die sich nicht genug in kommunalpolitische Entscheidungen eingebunden fühlen, ist mit 55,3 Prozent relativ hoch. In Großstädten sind sogar zwei von drei Bürgern unzufrieden (65,8 %). Das Potenzial, die Zufriedenheit der Bürger zu steigern, ist hoch. Ein weiterer Kritikpunkt ist die mangelnde Einbindung von Frauen. Nur 25 Prozent sind kommunalpolitisch engagiert. Unter denen, die ein Bürgermeisteramt innehaben, liegt die Frauenquote gar nur bei zehn Prozent. 46,8 Prozent der befragten Männer und 61,1 Prozent der befragten Frauen wünschen sich deutlich mehr Frauen in der Kommunalpolitik.

Die repräsentative Umfrage zeigt u. a., dass keine andere politische Ebene von den Bürgerinnen und Bürgern so unmittelbar wahrgenommen und bewertet wird wie die Ebene der Landkreise, Städte und Gemeinden. Die kommunale Ebene (Gemeinden, Städte und Landkreise) bildet die unterste Ebene des dreistufigen Verwaltungsaufbaus in Deutschland, darüber kommen die Landes- und Bundesebene. Und auch Europa ist in den Rathäusern angekommen. Städte und Gemeinden sind schon seit langem von der Rechtsetzung der Europäischen Union (EU) betroffen. Zwei Drittel der auf EU-Ebene getroffenen Regelungen betreffen direkt oder indirekt die Kommunen und deren Recht auf Selbstverwaltung. So hat z. B. die Landeshauptstadt Stuttgart mit der Umsetzung der 1999 von der EU beschlossenen Feinstaubrichtlinie erhebliche Probleme. Das hohe Verkehrsaufkommen führt bei einer bestimmten Wetterlage regelmäßig dazu, dass die Grenzwerte für Luftschadstoffe (Stickoxid, Schwefeldioxid, Blei) merklich überschritten werden. Sollte die Landeshauptstadt Stuttgart dieses Problem nicht in den Griff bekommen, drohen ein EU-Vertragsverletzungsverfahren und Strafzahlungen.

Kommunalpolitik findet vor der Haustür statt und betrifft die Bürgerinnen und Bürger in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld. Wer aufmerksam den Lokalteil der Tageszeitungen verfolgt, bekommt davon einen ersten Eindruck. In der Europäischen Union (EU), im Bund und auf der Landesebene wird die »große Politik« gemacht, in der Gemeinde hingegen wird sie konkret umgesetzt (und dort muss sie oft auch bezahlt werden). Die Beispiele sind zahlreich: Gullydeckel und Mülltonen, Kinderbetreuung, der Bus zur Schule und öffentlicher Nahverkehr, Wirtschaftsförderung oder aktuell und in den nächsten Jahren die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen sowie die Belebung der Innenstädte nach der Corona-Pandemie.

Das Buch »Politik in der Gemeinde« gliedert sich in fünf größere Kapitel. Im einführenden Kapitel wird am Beispiel anwachsender Flüchtlingszahlen in den Jahren 2015 und 2016 gezeigt, wie Städte und Gemeinden auf diese Herausforderung reagiert haben. Gerade die Flüchtlingsfrage und die seit Frühjahr 2020 sich ausbreitende Corona-Pandemie zeigen, dass globale Probleme vor Ortsgrenzen nicht Halt machen. Die wohl wichtigste Lektion aus der Pandemie lautet: Es gibt keine lokalen Lösungen für globale Probleme. Im zweiten Kapitel werden die »Spielregeln« beschrieben, nach denen Kommunalpolitik abläuft. In diesem Kapitel wird auch skizziert, wie das Zusammenspiel von Gemeinderat, Bürgermeister und Bürgern funktioniert. In einem weiteren Kapitel werden die konkreten Aufgaben von Kommunen ausführlicher dargestellt. Im letzten Kapitel geht es um die Akteure (Gemeinderat, Bürgermeister, Bürger) in Städten und Gemeinden, um kommunalpolitische Abläufe und Prozesse. Das Buch endet mit einem Glossar. In diesem Wörterverzeichnis werden die wichtigsten politischen Fachbegriffe kurz erklärt. Fachbegriffe, die sich aus dem Text erschließen lassen, wurden nicht in das Glossar aufgenommen.

Im Buch selbst wird mit der sogenannten Harvard-Zitierweise gearbeitet. Diese Zitierweise arbeitet mit Klammern, in denen der Name des Autors, das Erscheinungsjahr und die Seitenzahl genannt werden. Die vollständigen Titel der Bücher oder Aufsätze können dem Literaturverzeichnis entnommen werden. Interessierte, die an kommunalpolitischen Fragen Geschmack gefunden haben, finden im Anschluss an das Literaturverzeichnis ausgewählte Leseempfehlungen. Tageszeitungen waren eine weitere wichtige Fundstelle. Auf die entsprechende Ausgabe wird ebenfalls in Klammern verwiesen. Bei Zahlen und Fakten, die im Internet recherchiert wurden, wird die Fundstelle jeweils am unteren Seitenrand in einer Fußnote genannt. Die Angabe der vollständigen Webadresse im Text hemmt den Lesefluss.

2

Nach der Krise ist vor der Krise!

Zur politisch folgenreichen Herausforderung für Städte und Gemeinden entwickelte sich ab der Mitte des vergangenen Jahrzehnts die anwachsende Zahl von Flüchtlingen aus Syrien, aber auch aus Afghanistan und afrikanischen Ländern. Ziel der allermeisten Flüchtlinge war die Europäische Union (EU) und als bevorzugtes Asylland vor allem Deutschland. Bereits 2016, ein Jahr später, kamen spürbar weniger Flüchtlinge nach Deutschland. Die Situation in den Städten und Gemeinden entspannte sich im Laufe des Jahres und in den Folgejahren. Die Krise schien weitgehend gelöst zu sein, die Integration der Flüchtlinge ging in den Kommunen voran.

Am März 2020 erreichte dann die Corona-Pandemie die Bundesrepublik Deutschland. Nachdem sich die pandemische Lage seit Anfang des Monats drastisch zugespitzt hatte, war es zunächst nur schwer vorstellbar, welche Auswirkungen die Pandemie auf alle Bereiche des Lebens haben würde. Die anfängliche Hoffnung, möglichst bald wieder zu einem normalen Alltag zurückkehren zu können, erwies sich bereits nach kurzer Zeit als wenig realistisch. Die Folgen der Pandemie schlugen auf alle Lebensbereiche durch: Was macht die Corona-Krise mit uns? Mit unserem Zusammenleben, mit unserer Demokratie, mit unseren Kindern? Welche Folgen hat die Pandemie für Wirtschaft, Handel, Gastronomie und die Kulturbetriebe? Und wie wirkt sich SARS-CoV-2 auf regionaler und kommunaler Ebene aus?

Globale Probleme kennen keine Grenzen

Weltweit befinden sich nach Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Konflikten, Krieg und Verfolgung fliehen, war noch nie so hoch wie heute. 2020 ist das neunte Jahr in Folge, in dem die Zahl der Flüchtlinge angestiegen ist. Dieses weltumspannende Schlüsselproblem ist längst in den Gemeinden und Städten angekommen.

Was haben Entscheidungen auf europäischer und nationaler Ebene mit Dörfern und Städten hierzulande zu tun? Wie gehen Bund, Länder und Kommunen mit den Herausforderungen der Flüchtlingsmigration um? Warum kann kein (Bundes-)Land, kann keine Kommune die Probleme im Alleingang lösen?

Rückblick: Der Sommer der Willkommenskultur

Ein kurzer Rückblick trägt zum besseren Verständnis bei: Ende August stauten sich Tausende Flüchtlinge am Budapester Bahnhof. Das Fernsehen dokumentierte die schwer erträglichen Lebensbedingungen. Die Bilder zeigten den humanitären Notstand entlang der sogenannten Balkanroute, auf der sich Flüchtlinge aus dem Nahen Osten über den Balkan auf den Weg nach Europa machten. Angesichts dieses Notstands ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel den Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland zu. Humanitäre Gründe haben dabei durchaus eine Rolle gespielt. Ausschlaggebend war jedoch der Kollaps der europäischen Asylarchitektur. Die ansteigenden Flüchtlingszahlen hatten die durch das Dubliner Übereinkommen festgelegten Grenz- und Asylregelungen außer Kraft gesetzt.

Das 1997 in Kraft getretene und mehrmals überarbeitete Dubliner Übereinkommen regelt, welcher Staat für die Prüfung eines in der EU gestellten Asylantrags zuständig ist. Laut Abkommen ist der EU-Mitgliedstaat, in den der Flüchtling zuerst einreist, für das Asylverfahren zuständig. Damit soll vermieden werden, dass nicht gleichzeitig oder nacheinander in mehreren EU-Staaten Asylanträge gestellt werden. In der Praxis funktionierte die reibungslose Umsetzung des Dublin-Verfahrens bereits vor den Ereignissen im Herbst 2015 nicht. Über 70 Prozent aller Asylverfahren wurden in nur fünf Mitgliedstaaten durchgeführt. Die Regelung hatte sich als realitätsfern erwiesen.

In Folge der ansteigenden Flüchtlingszahlen in den Jahren 2015 und 2016 waren europäische Staaten immer weniger bereit, Flüchtlinge aufzunehmen und die Last mit anderen EU-Staaten zu teilen. Die Länder an den EU-Außengrenzen (z. B. Italien, Griechenland, Spanien und Malta) waren schlicht überfordert. Im September 2015 reisten unzählige, in Italien gelandete Flüchtlinge ohne Registrierung und Asylantrag in andere EU-Staaten weiter, u. a. auch nach Deutschland.

Welle der Hilfsbereitschaft

Angela Merkels in der Folge oft zitierter (und auch kritisierter) Satz »Wir schaffen das!« löste eine Welle der Hilfsbereitschaft und eine flächendeckende Willkommenskultur aus. Eine wahre Solidaritätswelle setzte ein. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer linderten die unzureichende Versorgung der Flüchtlinge mit Geld- und Sachspenden, mit Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche oder mit Sprachkursen sowie mit Begegnungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen auf gleicher Augenhöhe. Überall im Land fragten Menschen, die noch nie ehrenamtlich tätig waren, was sie tun können: Kleider sammeln, Patenschaften, Behördengänge und Fahrdienste, Hilfe bei der Essens-, der Kleider- oder Bettenvergabe. Millionen von Menschen haben in einer Mischung aus Einfühlungsvermögen, Mitleid und Nächstenliebe den oft schwer traumatisierten Flüchtlingen geholfen, indem sie Sachen, Geld oder Zeit spendeten. Mehr als vier Millionen Bürger kümmerten sich persönlich um die Ankommenden und übernahmen private Patenschaften. In den kommunalen Verwaltungen packten viele hauptamtliche Mitarbeiter bei der Unterbringung der Flüchtlinge mit an.

Bund, Länder und Kommunen geraten unter Druck

Die meisten Flüchtlinge kamen im Jahr 2015 aus Syrien (34 Prozent), dem Irak (15 Prozent) und Afghanistan (14 Prozent), gefolgt von Albanien, dem Kosovo, Pakistan und Eritrea. Seit 2011, d. h. dem Beginn des brutalen Bürgerkriegs, sind mehr als 800.000 Syrer nach Deutschland gekommen. Fluchtgründe waren und sind nach wie vor Bürgerkriege, unerträgliche Lebensbedingungen, Not und Armut, Verfolgung und schwere Menschenrechtsverletzungen.

Neuankömmlinge

Als sich im September 2015 die Zahl der Neuankömmlinge vervielfachte, stellte dies den Bund, die Länder und die Kommunen vor gewaltige Aufgaben. Die Aufnahme von Flüchtlingen erfolgt in Deutschland nach einem System geteilter Zuständigkeiten. Der Bund ist für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, die Länder und Kommunen für die Unterbringung der Flüchtlinge und für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, das u. a. die Zuschüsse für Ernährung und Kleidung für anerkannte Flüchtlinge, Asylbewerber und Geduldete regelt.

Flüchtlinge, die nach Deutschland einreisen, werden nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Dieser Schlüssel verdankt seinen Namen einem Staatsabkommen, das im Jahre 1949 in Königstein im Taunus abgeschlossen wurde. Eine von Bund und Ländern eingerichtete Konferenz ermittelt den Königsteiner Schlüssel jährlich neu. Das Quotensystem berücksichtigt neben dem Steueraufkommen der Länder auch deren Bevölkerungszahl. Die Quote für Baden-Württemberg beträgt derzeit 13,01 Prozent (Stand 2020).

Die Unterbringung von Flüchtlingen erfolgte zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung des Landes. Es zeichnete sich im Herbst 2015 rasch ab, dass die 1000 Plätze in der 1990 eingerichteten Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Karlsruhe, die bis 2014 Zentrale Anlaufstelle (ZASt) hieß, nicht reichen würden. Bereits Ende 2014 konnten in drei weiteren Erstaufnahmeeinrichtungen (Meßstetten, Heidelberg und Mannheim) Flüchtlinge aufgenommen werden. Im Laufe des Jahres 2015 erhöhte sich die Zahl der Erstaufnahmestellen auf 22. Leerstehende Kasernen, Fabrik- und Turnhallen und andere Gebäude wurden mit Unterstützung der Wohlfahrtsverbände und mit Hilfe von vielen Ehrenamtlichen in Notunterkünfte umgewandelt. Das Integrationsministerium Baden-Württemberg berichtete beispielsweise, dass eine Gemeinde eine leer stehende Fabrikhalle anbot, in der bereits am Abend die ersten Flüchtlinge einziehen konnten – dank der Unterstützung von Feuerwehr, Deutschem Roten Kreuz, Technischem Hilfswerk und anderen Ehrenamtlichen (Stuttgarter Nachrichten, 29.9.2016).

Weil Länder und Kommunen die Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten eigenverantwortlich und abhängig von den ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmitteln organisierten, war die Lage anfangs von Ort zu Ort unterschiedlich. Während in manchen Großstädten Zeltstädte im Matsch versanken und Tausende über Monate hinweg in Turnhallen untergebracht waren, gelang es anderen Kommunen, die Flüchtlinge in Wohnungen, Kasernen, angemieteten Hotels oder Leichtbauhallen unterzubringen.

LEA und BAMF

In den Landeserstaufnahmestellen (LEA) erfolgt aufgrund des gestellten Asylantrags die Erstanhörung. An die Landeserstaufnahmestellen sind Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angeschlossen, die die Erstanhörung durchführen. Nach einer Aufenthaltsdauer von sechs bis zwölf Wochen werden Asylbewerber zunächst auf die Landkreise und danach auf die Kommunen verteilt. Auch diese Verteilung erfolgt nach einem Quotensystem. Im September 2016 warteten etwa 104.000, zumeist in Gemeinschaftsunterkünften untergebrachte Personen auf eine Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Von Januar bis Juli 2016 entschied das BAMF insgesamt 40.339 Asylanträge aus Baden-Württemberg. Sobald Flüchtlinge als Asylsuchende anerkannt werden und ihnen das Bleiberecht zugesprochen wird, sind die Kommunen gefordert. Diese sogenannte Anschlussunterbringung fällt in die Zuständigkeit der Städte und Gemeinden. Vor Ort erfolgen auch die ersten Schritte in Richtung Integration. Die kommunalen Maßnahmen sind hierbei vielfältig: Hierzu gehören z. B. Sprach- und Integrationskurse, die schulische Integration, Jugend- und Sozialarbeit, die Unterbringung in Wohnungen und die Integration in den lokalen bzw. regionalen Arbeitsmarkt. Angesichts dieser Anschlussunterbringungen mahnte der Gemeindetag nach der Landtagswahl 2016 und den Koalitionsverhandlungen beim Land finanzielle Unterstützung für die Städte und Gemeinden an (Stuttgarter Nachrichten, 25.6.2016). Immerhin erhielt Baden-Württemberg für die Integration der Flüchtlinge bis 2018 jährlich 260 Millionen Euro zusätzlich vom Bund. Laut einer Bundestagsdrucksache (Mai 2021) hat der Bund Länder und Kommunen im Jahr 2020 im Bereich der Flüchtlings- und Integrationskosten mit rund 3,7 Milliarden unterstützt.

Außerdem hat der Bund im Jahr 2020 weitere Ausgaben in Höhe von ca. 18,8 Milliarden Euro getragen, an denen sich die Länder nicht beteiligen.

Kippt die Stimmung?

Im Frühjahr 2016 trat eine merkliche Wende ein. Der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen stellte die EU vor eine Zerreißprobe. Anstatt Kooperation waren nationale Egoismen angesagt. Man stritt über Zuständigkeiten und versuchte durch einseitige Grenzschließungen und Einschränkungen Flüchtlinge auf die Nachbarstaaten abzuwälzen. Die Flüchtlinge waren vielfach in Lagern mit schlechter Versorgung untergebracht oder mussten im Freien campieren. Einige Staaten in Mittel- und Osteuropa (Rumänien, die Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn) weigerten sich grundsätzlich, Flüchtlinge aufzunehmen oder zu versorgen. Makedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien ließen keine von Griechenland kommenden Flüchtlinge mehr über die Grenze. Auch Österreich schloss seine Grenzen. Nach mehreren Verhandlungsrunden trat im März 2016 ein Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft: In dem Abkommen verpflichtete sich die Türkei, alle Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen, die ab dem 20. März 2016 irregulär über ihr Staatsgebiet in die EU eingereist sind. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU, für jeden syrischen Flüchtling, der von der Türkei zurückgenommen wird, einen anderen, in der Türkei registrierten und damit anerkannten Flüchtling auf legalem Weg aufzunehmen. Damit wollte man Anreize für Flüchtlinge schaffen, sich gar nicht erst in die Hände von Schleppern und auf die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer zu begeben. Denn wer zurückgeschickt wird, hat keine Chance mehr auf eine legale Einwanderung in die EU.

Haltung der Bevölkerung

Und wie sah es im Land selbst aus? Die Zeit, in der Kuscheltiere am Bahnhof verteilt wurden, schien vorbei zu sein. In den Leserbriefspalten der Zeitungen war von »Asylchaos«, »Notstand«, »Flüchtlingswellen« und dringend gebotenen »Obergrenzen« die Rede, manche beschworen sogar den Untergang des Abendlandes herbei. (Das in der Verfassung verankerte Grundrecht auf Asyl ist nicht verhandelbar und kennt daher auch keine Obergrenze.) Die Übergriffe auf Flüchtlinge und Attacken auf deren Unterkünfte stiegen merklich an. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählte 2015 offiziell 1005 Straftaten gegen Flüchtlingsheime, darunter auch Brandanschläge. 2016 ereigneten sich knapp 1000 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte.

Die Bevölkerung war in ihrer Haltung gespalten. Im März 2016 waren 55 Prozent der Deutschen der Meinung, Deutschland könne die vielen Flüchtlinge verkraften (ZDF-Politikbarometer, 18.3.2016). Der Anteil derjenigen, der in der Zuwanderung Vorteile sah, war mit 38 Prozent recht hoch, während ein ähnlich hoher Anteil von 41 Prozent eher Nachteile sah (ARD-Deutschlandtrend, Januar 2016). Ebenso glaubten 41 Prozent zuversichtlich an die Integration der Flüchtlinge (ZDF-Politikbarometer, 19.2.2016). Einer knappen Mehrheit, die positiv gegenüber den Flüchtlingen eingestellt war, stand eine knappe Minderheit gegenüber, die skeptisch bis negativ gestimmt war. Dies machte sich die Alternative für Deutschland (AfD) zunutze, die in mehreren Landtagskämpfen mit den Themen Flüchtlinge und Innere Sicherheit auf Stimmenfang ging. 2016 gelang ihr in vier Ländern (Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern) sowie bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus der Einzug in die Länderparlamente.

2017 bekam die Willkommenskultur weitere Kratzer. Eine knappe Mehrheit von 54 Prozent der Bundesbürger sah Deutschland einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge bei der Aufnahme weiterer Flüchtlinge an der »Belastungsgrenze« angekommen. Insbesondere in den neuen Ländern schien die Skepsis zuzunehmen. Dort waren der Umfrage zufolge nur noch 33 Prozent der Bürger nach eigenen Angaben davon überzeugt, dass die Gesellschaft Flüchtlingen »offen« aufnehme. Im Westen waren mit 65 Prozent etwa doppelt so viel Befragte dieser Meinung. Ebenso stieg der Anteil derer, die zusätzliche Belastungen für den Sozialstaat erwarten auf 79 Prozent. 65 Prozent waren der Meinung, Einwanderung verschärfe die Wohnungsnot in den Ballungszentren (Stuttgarter Nachrichten, 11.4.2017).

Integration bleibt ein Hauptthema der kommenden Jahre

Seit März 2016 kamen spürbar weniger Flüchtlinge nach Deutschland. So kamen im August 2016 nur noch 1782 Asylsuchende nach Baden-Württemberg. Gegenüber dem Vorjahr nahmen die Zahlen drastisch ab: Im August 2015 kamen noch 8991 Neuankömmlinge im Südwesten an. Laut Innenministerium blieben von Januar bis August 2016 rund 26.500 Flüchtlinge nach ihrem Erstantrag in Baden-Württemberg. Zugleich schob Baden-Württemberg abgelehnte Asylbewerber verstärkt ab. Im ersten Halbjahr 2016 wurden 1663 abgelehnte Asylbewerber zwangsweise in ihre Herkunftsländer zurückgeführt.

Auch im ersten Halbjahr 2017 ging die Zahl der neu aufgenommenen Asylbewerber in Baden-Württemberg deutlich zurück: Von Anfang Januar bis Ende Juni kamen 7270 Flüchtlinge im Südwesten an. Im gleichen Zeitraum des Jahres 2016 waren es ca. 22.600 Asylsuchende. Nach wie vor kamen die meisten Flüchtlinge aus Syrien, gefolgt von Gambia, Nigeria und dem Irak (Backnanger Kreiszeitung, 5.7.2017).

In den Städten und Gemeinden entspannte sich im Laufe des Jahres 2016 die Situation: So wurden z. B. im Rems-Murr-Kreis über den Sommer 2016 hinweg zehn Notunterkünfte geräumt. In enger Abstimmung mit den Kommunen wurden bis Ende November 2016 weitere vier Notunterkünfte geschlossen (Backnanger Kreiszeitung, 23.9.2016). Die Herausforderungen vor Ort blieben aber weiterhin bestehen. Obwohl die Landeserstaufnahmestellen entlastet wurden, mussten Kommunen nach wie vor neue Unterkünfte schaffen. Seit August 2016 gilt eine bundesweite Wohnsitzauflage. Anerkannte Asylbewerber dürfen, was ihren Wohnsitz anbelangt, nicht mehr das Land wechseln. Und wer Sozialhilfe beziehen will, muss weiterhin in dem Landkreis wohnen, dem er für die Erstunterbringung zugewiesen wurde. Damit sollte auch eine gerechte Verteilung der anerkannten Asylbewerber zwischen den Kommunen im Land sichergestellt werden. Außerdem sollte die Wohnsitzauflage verhindern, dass anerkannte Flüchtlinge in Ballungszentren und Städte strömen.

Orte der Integration

Kommunen sind der entscheidende Ort der Integration. Es geht im Kern darum, dass Flüchtlingen das Recht zugebilligt wird, Rechte zu haben. Die Stimmung vor Ort ist entscheidend davon abhängig, wie sich die Einheimischen und die Zugewanderten miteinander arrangieren. Dies schließt die Integration von Flüchtlingen mit Bleiberecht in den regionalen und lokalen Arbeitsmarkt mit ein. So haben mit dem neuen Integrationsgesetz Betriebe seit August 2016 die Sicherheit, dass Auszubildende nicht abgeschoben werden und auch nach ihrer Ausbildung noch zwei Jahre bleiben können.

Völlig neu waren für Kommunen die Herausforderungen, die sich durch die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ergaben. Minderjährige unbegleitete Jugendliche wurden von ihren Familien alleine nach Europa geschickt. Zum Teil haben sie auch ihre Angehörigen im Krieg oder während der Flucht verloren. Bis Ende 2015 wurden unbegleitete Jugendliche nicht nach einem Quotensystem verteilt, sondern von der Jugendhilfe bzw. dem örtlichen Jugendamt in Obhut genommen. Inzwischen werden auch sie nach dem Königsteiner Schlüssel bundesweit auf Kommunen verteilt. Die meisten Gemeinden und Städte hatten bislang keine oder nur wenig Erfahrungen im Umgang mit diesen oftmals traumatisierten Jugendlichen. Sinnvolle Unterbringungsmöglichkeiten (z. B. in Pflegefamilien), Therapie- und Bildungsangebote sowie dezentrale Wohnformen mussten erst noch geschaffen werden.

Die Rolle der Kommunen ist in der Flüchtlingsfrage durchaus zwiespältig. Als Wohnorte für asylsuchende Menschen müssen Wohnraum, Kindergarten- und Schulplätze und Voraussetzungen für ein verträgliches nachbarschaftliches Miteinander geschaffen werden. Andererseits hatten die Kommunen in den Jahren 2015 und 2016 keine Instrumentarien, um eine planmäßige Integration zu leisten. Viele Kommunen waren auf die Situation unvorbereitet. Konzepte und Wege für eine gelingende Integration mussten erst noch entwickelt werden.

Fehlende Instrumentarien und unzureichende Integrationskonzepte, Unsicherheit bei den kommunalpolitisch Verantwortlichen und Ängste in der Bevölkerung führten mitunter zu Konflikten in Gemeinden und Städten. Bürgerbegehren in den Jahren 2015 und 2016 sind nur ein Beleg für die skeptische Haltung der Bevölkerung.

… und dann kam Corona!

In den Jahren 2020 und 2021 stand und steht der Kampf gegen die Corona-Pandemie im Mittelpunkt des politischen Geschehens. Baden-Württemberg zählte neben Bayern und Nordrhein-Westfalen – wegen der geografischen Nähe zu den Corona-Hotspots in Österreich, Italien und Frankreich sowie den im Januar und Februar 2020 gelegenen Winter- und Faschingsferien – zu den am stärksten vom Coronavirus betroffenen Bundesländern (Stuttgarter Zeitung, 31.3.2020).

Auswirkungen der Pandemie auf kommunaler Ebene