Terrorismus - Siegfried Frech - E-Book

Terrorismus E-Book

Siegfried Frech

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Beschreibung

Terrorismus als Form politisch motivierter Gewalt ist eine Herausforderung, die in einer globalisierten Welt gegenwärtiger denn je ist. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich das Erscheinungsbild des Terrorismus gewandelt. Eine islamistische Terrorgruppe schickte sich an, einen eigenen Staat zu bilden, den sogenannten "Islamischen Staat". In Europa hat die Zahl opferreicher Terroranschläge merklich zugenommen. Erkennbar sind grenzüberschreitende Anschlagsformen, neue Tätertypen und eine verstörende Mediennutzung (Livestream-Attentate). Siegfried Frech nimmt die Besonderheiten verschiedener terroristischer Stoßrichtungen (Rechtsterrorismus, Linksterrorismus und islamistischer Terrorismus), unterschiedliche Strategien und Motive sowie Ziele und Instrumente der Terrorismusbekämpfung in den Blick.

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Politik verstehen

Herausgegeben von Siegfried Frech, Philipp Salamon-Menger und Helmar Schöne

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/politik-verstehen

Der Autor

Prof. Siegfried Frech war Publikationsreferent bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und verantwortete die Zeitschrift »Bürger & Staat« und die Didaktische Reihe. Er ist Honorarprofessor (Didaktik politischer Bildung) am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Siegfried Frech

Terrorismus

Im Fadenkreuz politischer Gewalt

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagabbildung: picture alliance/Kai-Uwe Wärner/dpa

 

 

1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-040072-6

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-040073-3

epub:     ISBN 978-3-17-040074-0

Inhalt

1            Terrorismus – eine politische Herausforderung

2            München, New York, Utøya

3            Terrorismus: Merkmale, Varianten und Hintergründe

4            Ursachen von Terrorismus

5            Links- und Rechtsterrorismus in Deutschland

6            Terrorismusbekämpfung

7            Glossar

Literaturverzeichnis

Literaturtipps

1       Terrorismus – eine politische Herausforderung

Terrorismus ist vielgestaltig. Terroristische Strategien und Taktiken unterscheiden sich und sind wandlungs- und anpassungsfähig. Für die 2000er Jahre muss man konstatieren, dass der Fanatismus religiöser Prägung merklich zugenommen hat. Erstmals schickte sich eine islamistische Terrorgruppe an, gewaltsam einen Staat zu bilden, den »Islamistischen Staat«. Der islamistisch motivierte Anschlag vom 11. September 2001 (9/11) in New York war eine Zäsur. Islamistische Selbstmordattentäter steuerten zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Center. Ein drittes entführtes Flugzeug schlug im Pentagon ein, in einem vierten konnten Passagiere die Terroristen überwältigen. Das vierte Flugzeug zerschellte auf einer Wiese. Seit diesem Datum sind islamistische Anschläge zu einer latenten Gefahrenquelle geworden – auch in europäischen Ländern. Spätestens seit 9/11 steht fest, dass die Bedrohung durch den Terrorismus eine bis dahin nicht gekannte Dimension hat.

Mit dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) wurde offenkundig, dass die terroristische Gefahr auch aus dem Innern einer Gesellschaft kommen kann. In Europa und vor allem in Deutschland haben rechtsterroristische Anschläge Politik und Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die Zahl opferreicher Anschläge durch rechtsextreme Täter hat deutlich zugenommen. Erkennbar sind auch neue Formen von Anschlägen und neue Tätertypen sowie verstörende, bislang nicht gekannte Mediennutzungen (Livestream-Attentate). Relativ neu ist das Phänomen des »Einsamen Wolfes« (lone wolf). Diese Art von Terrorismus geht auf die Selbstradikalisierung eines Menschen zurück, ausgelöst von einer Mixtur aus persönlichen Kränkungen und politisch-ideologischen Motiven.

Terrorismus ist ein reichlich »schillernder« Begriff, d. h. es gibt keine wissenschaftlich verbindliche Terrorismusdefinition. Mithilfe von drei Fallbeispielen (Kap. 2) lassen sich Charakteristika von terroristischen Gewaltakten benennen, die für Terrorismus konstitutiv sind. Das erste Fallbeispiel skizziert das Olympia-Attentat im September 1972 in München. Mit diesem Anschlag erreichte der internationale Terrorismus erstmalig die Bundesrepublik Deutschland. Die Anschläge in den USA am 21. September 2001 (9/11), die im zweiten Fallbeispiel beschrieben werden, sprengten die Dimensionen dessen, was man bis dahin unter Terrorismus verstand. Im dritten Fallbeispiel schließlich wird am Beispiel von Anders Behring Breivik, der am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Ferieninsel Utøya ein kaltblütiges Massaker veranstaltete, das Psychogramm eines »Einsamen Wolfs« entfaltet.

Terrorismus war und ist eine politische Herausforderung, die in einer vernetzten Welt präsenter denn je erscheint und Angst erzeugt. Eine sachliche und unaufgeregte Auseinandersetzung mit terroristischer Gewalt ist daher geboten. Dies auch deshalb, weil Terrorismus in unterschiedlichen Varianten auftritt, er in bestimmten Regionen dieser Welt verschiedene Wurzeln und Ursachen haben kann, einzelne Spielarten in sehr unterschiedlicher Intensität anzutreffen sind und die Formen des Terrorismus sich wandeln. Um zu verdeutlichen, dass es beträchtliche Unterschiede zwischen unterschiedlichen Arten von Terrorismus gibt, werden im dritten Kapitel sechs Varianten näher beschrieben: (1) der sozialrevolutionäre, (2) rechtsextrem motivierter, (3) der ethnisch nationalistische, (4) der religiös motivierte Terrorismus sowie (5) vigilantistische Formen und schließlich der (6) Staatsterrorismus. Die jeweiligen Varianten unterscheiden sich in ihren Motiven und Zielsetzungen ebenso wie in ihren Entstehungskontexten.

Die Erörterung der Ursachen für die Entstehung von Terrorismus, die im vierten Kapitel erfolgt, lässt sich in drei Betrachtungsebenen einordnen: (1) strukturelle bzw. systemische Ursachen (Makroebene), (2) kollektive bzw. gruppenspezifische Rahmenbedingungen (Mesoebene) sowie (3) individuelle Erklärungsansätze (Mikroebene). Die Erforschung der Radikalisierungsprozesse von Menschen, die zu Terroristen werden, hat seit den Anschlägen in den USA vom 11. September 2001 die Debatten über die individuellen Ursachen der Radikalisierung von Attentätern vorangebracht. Nimmt man die im zweiten Kapitel skizzierten terroristischen Gewalttäter, lassen sich in den Täterprofilen unterschiedliche Mixturen von psychologischen, sozialen und politischen Gründen für deren Radikalisierung ausmachen.

Ein verbindendes Element terroristischer Aktivitäten ist das Ziel, mediale Aufmerksamkeit zu erlangen. Die frühen »Terrorbilder« (z. B. die fotografische Zurschaustellung von Hanns Martin Schleyer durch die RAF) haben sich durch die neuen Technologien völlig gewandelt. Das Internet ist ein Ort, an dem Terrororganisationen und Terroristen ihr gewaltsames Handeln zu rechtfertigen versuchen. Ein Bild bzw. eine digitale Zurschaustellung terroristischer Gewalt hat eine größere Wirkkraft als viele Worte in einem Bekennerschreiben. Terroristische Kommunikation adressiert aber auch Sympathisanten und trägt zu deren Radikalisierung bei.1 Die Entwicklung des Internets war folgenreich für die terroristische Kommunikation. Terroristen bietet sich damit die Möglichkeit, ihre Botschaften unerkannt und dezentralisiert zu verbreiten. Radikalisierungsprozesse finden längst durch und in den neuen Medien statt.

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Links- und Rechtsterrorismus in Deutschland. Die Bundesrepublik Deutschland wurde relativ spät mit terroristischen Herausforderungen konfrontiert. Die in der Bundesrepublik wohl bekannteste linksterroristische Gruppe war die Rote Armee Fraktion (RAF), die lange Zeit die Berichterstattung der Medien und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Form von politischer Gewalt dominierte. Mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) bekam der Rechtsterrorismus, der bis dahin ein weitgehend »blinder Fleck« in der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit war, eine erschreckend neue Dimension. Nicht zuletzt die terroristischen Anschläge des NSU und offensichtliche Versäumnisse der Ermittlungsbehörden haben dazu beigetragen, dass sich die Ziele und Instrumente der Terrorismusbekämpfung gewandelt haben.

Unter den Stichworten »harte« und »weiche« Terrorismusbekämpfung werden im letzten Kapitel Maßnahmen transnationaler und europäischer Terrorismusbekämpfung sowie sicherheitspolitische Konzepte in Deutschland erörtert. Die Gegenmaßnahmen reichen von militärischen Interventionen über ein Mehr an Überwachung, strafrechtlichen Änderungen bis zu De-Radikalisierungs-Programmen sowie Präventionsinstrumenten. Idealerweise ergänzen sich Repressions- und Präventionsmaßnahmen gegenseitig.

Das Buch endet mit einem Glossar. In diesem Wörterverzeichnis werden politische Fachbegriffe, die im Buch verwendet werden, kurz erklärt. Fachbegriffe, die sich aus dem Text erschließen lassen bzw. in Fußnoten erklärt werden (z. B. terroristische Organisationen und Personen der Zeitgeschichte), wurden nicht in das Glossar aufgenommen. Im Buch selbst wird mit der sogenannten Harvard-Zitierweise gearbeitet. Diese Zitierweise arbeitet mit Klammern, in denen der Name des Autors, das Erscheinungsjahr und die Seitenzahl genannt werden. Die vollständigen Titel der Bücher oder Aufsätze können dem Literaturverzeichnis entnommen werden. Interessierte, die sich eingehender mit dem Thema auseinandersetzen wollen, finden im Anschluss an das Literaturverzeichnis ausgewählte Leseempfehlungen. Bei Zahlen und Fakten, die in Tageszeitungen, in Wochenmagazinen und im Internet recherchiert wurden, wird die Fundstelle jeweils am unteren Seitenrand in einer Fußnote genannt. Die Angabe der vollständigen Webadresse im Text hemmt den Lesefluss.

1     Dass Terrorismus auch eine Kommunikationsstrategie beinhaltet, wurde erstmalig von Peter Waldmann thematisiert (Waldmann 1998, S. 17).

2       München, New York, Utøya

München, September 1972

Der internationale Terrorismus erreicht die Bundesrepublik

Im Jahr 1972 erreichte der internationale Terrorismus Deutschland. Die Olympischen Sommerspiele von München, geplant als »heitere Spiele«, sollten der Welt ein neues Deutschland nahebringen. Die Olympiade 1936 in Berlin war eine Propagandaschau, bei der sich die Nationalsozialisten als friedliebende Gastgeber inszenierten und Berlin für 16 Tage vermeintlich weltoffen wirken sollte. 36 Jahre später bot sich 1972 die Gelegenheit, Deutschland als tolerantes, friedliches und optimistisches Land präsentieren. Die Olympiade sollte das Lebensgefühl der 1970er Jahre zum Ausdruck bringen und zeigen, dass sich Deutschland innen- und außenpolitisch gewandelt hatte.

Die 1969 ins Amt gekommene sozialliberale Bundesregierung setzte neue Impulse in der Außenpolitik, insbesondere in der Ostpolitik, sowie in der Innenpolitik. In Willy Brandts Regierungserklärung fiel das Demokratisierungspostulat »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Der Satz drückte das Lebensgefühl vieler Menschen in Deutschland aus. Aufbruchsstimmung und Reformwille markierten den Beginn der 1970er Jahre.

Es wurden keine Kosten gescheut, der Welt das neue Westdeutschland zu zeigen. Die Olympiade war als Mediengroßereignis konzipiert. Tausende von Journalisten folgten der Einladung. Ungefähr 4.000 von Zeitungen, Zeitschriften und Radiosendern entsandte Pressevertreter hielten sich Anfang September 1972 in München auf (vgl. Forster/Knieper 2008, S. 436). Außerdem waren ca. 2.000 Fernsehjournalisten und Kameraleute anwesend, die mit ihren Berichten fast eine Milliarde Menschen rund um den Globus erreichten.

Eine (kurze) Chronik der Ereignisse

Doch der friedliche Wettstreit der Nationen wurde jäh vom Terror eingeholt. Auf die Heiterkeit folgte am elften Tag der Spiele die Tragik. München wurde zum Nebenkriegsschauplatz des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Der Psychoanalytiker, Terror- und Aggressionsforscher Friedrich Hacker (1914–1989) hat anlässlich des Anschlags eine zeitnahe und wegweisende Monografie vorgelegt, in der er die Ereignisse minutiös rekonstruierte (vgl. Hacker 1975, S. 25 ff.)1: Am 5. September 1972 drangen am frühen Morgen acht Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September in das israelische Olympiaquartier ein. Zwei Sportler wurden sofort erschossen, neun Mannschaftsmitglieder als Geiseln genommen. Das israelische Quartier wurde abgeriegelt, der erste Stock und beide Balkons von Terroristen mit schussbereiten Maschinenpistolen besetzt. Hubschrauber kreisten über dem Areal, ein Krisenstab tagte. Bereits um 8 Uhr 50 war das Fernsehen »auf Sendung«.

Die Geiselnehmer boten einen Austausch der Geiseln gegen 236 inhaftierte Gesinnungsgenossen in israelischen Gefängnissen sowie gegen fünf Terroristen in deutschen Gefängnissen (darunter Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die Gründer der westdeutschen Terrorgruppe Rote Armee Fraktion) an (vgl. Hoffman 2001, S. 91). Zudem forderten sie die Garantie für eine sichere Ausreise in ein arabisches Land ihrer Wahl. Die Verhandlungen zogen sich 15 Stunden lang hin.

Die israelische Regierung lehnte einen Austausch kategorisch ab. Israels Weigerung, der politischen Erpressung nachzugeben, schränkte den Handlungsspielraum der deutschen Behörden ein. Nur eine Stunde später entschied die deutsche Regierung, ein Ausfliegen der Geiselnehmer unter keinen Umständen zuzulassen. Kurz nach Mittag versuchte die Polizei das Quartier zu stürmen und die Geiseln zu befreien. Der Versuch scheiterte. Nicht zuletzt deswegen, weil die Terroristen die Befreiungsoperation, die vor laufender Fernsehkamera dokumentiert wurde, mitverfolgen konnten.

Um 20 Uhr ging man scheinbar auf die Forderungen der Geiselnehmer ein. Die Terroristen und ihre Geiseln sollten mittels zweier Hubschrauber auf den Militärflughafen Fürstenfeldbruck transportiert werden, wo sie dann an Bord einer Lufthansa-Maschine gehen sollten, die sie nach Kairo brächte. Dort war der Austausch der Gefangenen vorgesehen.

Um 22 Uhr 35 landeten die beiden Hubschrauber in Fürstenfeldbruck. Zwei Terroristen betraten die Lufthansa-Boeing, die mit laufendem Motor, aber ohne Crew auf dem Flugplatz stand, um das Flugzeug zu inspizieren. Zwei andere gingen außerhalb der Hubschrauber in Stellung. Die übrigen vier Geiselnehmer blieben in den Helikoptern und bewachten die neun Israelis. Als die zwei Terroristen von ihrer Flugzeuginspektion zurückkehrten, nutzten fünf Scharfschützen der Polizei diesen Moment und eröffneten das Feuer. Drei der vier Terroristen außerhalb der Hubschrauber wurden getötet. Die anderen Palästinenser erwiderten das Feuer. In dieser Pattsituation ergingen über Lautsprecher Appelle in arabischer, deutscher und englischer Sprache an die übriggebliebenen fünf Terroristen, die Geiseln freizulassen und sich zu ergeben (vgl. Hoffman, S. 91 ff.). Kurz nach Mitternacht brachte einer der Terroristen mit einer Handgranate einen der Hubschrauber zur Explosion. In dem folgenden Schusswechsel wurden zwei weitere Geiselnehmer getötet. Drei Palästinenser, die zu entkommen versuchten, konnten überwältigt werden.

Der Befreiungsversuch auf dem Flughafen von Fürstenfeldbruck endete in einem Blutbad. Am 6. September 1972 erfolgte in den frühen Morgenstunden die offizielle Meldung, dass alle neun Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizeibeamter bei der Aktion getötet worden seien. Drei Terroristen überlebten und wurden in bayerischen Gefängnissen in Gewahrsam genommen.

Nach knapp 24 Stunden wurden die Olympischen Spiele wieder aufgenommen. Trotz aller offiziellen Beteuerungen über die grauenvolle Tat wollte man baldmöglichst wieder in die Sicherheit vermittelnde olympische Routine zurückfinden. Bereits am Abend nach der Tragödie waren eine Boxarena, eine Sporthalle und ein Stadion bereits wieder zum Bersten voll (vgl. Kellerhoff 2022, S. 149 ff.).

Sieben Wochen später, am 29. Oktober 1972, pressten palästinensische Flugzeugentführer die drei Olympia-Terroristen frei. Die Freischärler kaperten die Lufthansa-Maschine »Kiel«, die auf dem Flug von Damaskus nach Frankfurt am Main war, brachten die Passagiere und die Besatzung bei einem Zwischenstopp in Beirut in ihre Gewalt, erzwangen eine erneute Zwischenlandung in Zagreb und erpressten die Freilassung der drei in Bayern einsitzenden Terroristen.

Die Gesinnungsgenossen drohten, das Flugzeug zu sprengen und verlangten die sofortige Auslieferung der drei am Münchner Attentat beteiligten Palästinenser. Die Bundesregierung erfüllte die Forderung zeitnah. Die drei Terroristen stiegen der entführten Boeing 727 zu und flogen anschließend nach Tripolis. Die Geiseln wurden freigelassen, den Terroristen des Olympia-Attentats gewährte der damalige Staatschef Muammar al-Gaddafi Asyl. Israel erhob Protest gegen die Freilassung der Terroristen. Die durch das Debakel in München ohnehin belasteten deutsch-israelischen Beziehungen erreichten einen Tiefpunkt.

Nachdem klar geworden war, dass die drei Täter in Deutschland juristisch nicht zu belangen waren, autorisierten die israelische Premierministerin Golda Meïr und das Sicherheitskabinett den Mossad, den israelischen Auslandsgeheimdienst, die Verantwortlichen aufzuspüren. Erklärtes Ziel der Mission war es, mit gezielten Schlägen gegen den palästinensischen Terrorismus das Signal zu setzen, dass Israel Angriffe auf seine Bürger weltweit bestraft. In den Folgejahren töteten Mossad-Kommandos zwei der drei Attentäter und zwölf Palästinenser, die an der Planung des Attentats beteiligt waren (vgl. Klein 2006).

Mediale, nationale und internationale Reaktionen

Das Wochenmagazin Der Spiegel titelte seinen Schwerpunktartikel am 11. September 1972 mit dem reißerischen Satz »Die schlimmste Nacht der Bundesrepublik« und merkte im Untertitel die Unmöglichkeit an, »die Realität durch Sprint und Sprung zu verdrängen« (zit. nach Aust/Preuß 2005, S. 106). Nicht nur Der Spiegel, auch andere Printmedien hatten entsprechende Aufmacher zu bieten. Die Wochenzeitschrift Die Zeit wählte für ihre Titelseite am 8. September 1972 den Aufmacher »Tödliche Spiele« und illustrierte die Schlagzeile mit einem Foto, das als unauslöschliches Bild Eingang in das kollektive Gedächtnis fand (vgl. Forster/Knieper 2008, S. 438). Dem Associated-Press-Fotograf Kurt Stumpf gelang die Aufnahme, die einen maskierten Terroristen auf dem Balkon der israelischen Unterkunft im Olympischen Dorf zeigt.

Über Wochen stand das Geschehen von München im Mittelpunkt des Weltinteresses. Durch die gewaltige Medienpräsenz wurden Menschen weltweit unmittelbar Zeugen einer terroristischen Großoffensive. Lange vor den spektakulären Anschlägen vom 11. September 2001 erlebten – so die Schätzungen – 800 Millionen Menschen das Münchner Entführungsdrama in »Echtzeit« am Fernsehapparat mit (vgl. Waldmann 1998, S. 58).

Den Terroristen gelang es damit, die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erringen, da sie in einem Umfeld zuschlugen, das ein Höchstmaß an Rampenlicht garantierte. Für die weltweite mediale Thematisierung des Nahostkonflikts waren die Olympischen Sommerspiele der ideale Ort. Mit einem Schlag wurde die Weltöffentlichkeit auf das Palästinenserproblem aufmerksam gemacht. Ein Ziel der Planungen und Attentatsvorbereitungen war es, mit Hilfe der Berichterstattung durch die nationalen und vor allem internationalen Massenmedien – insbesondere des Fernsehens – die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen auf den Nahostkonflikt zu lenken. Trotz der weltweiten Verdammung der terroristischen Tat stellten die Geschehnisse in München für die Palästinenser einen spektakulären Publizitätserfolg dar. In den Wochen nach dem terroristischen Anschlag schlossen »sich Tausende von Palästinensern den Terrororganisationen an« (Hoffman 2001, S. 94). Die Palästinenser feierten den Anschlag in München als nationale Großtat, als einen Sieg über Israel. Wenngleich die Reaktionen der arabischen Staaten unterschiedlich waren, wurde letztlich Israel für die terroristische Gewaltanwendung verantwortlich gemacht. Selbst gemäßigte arabische Staaten erinnerten an die Gründung des Staates Israels und den ersten arabisch-israelischen Krieg 1948, in dessen Verlauf der neue Staat große Teile Palästinas unter seine Kontrolle brachte und ca. 700.000 Palästinenser zur Flucht in den Gazastreifen, das Westjordanland oder in umliegende arabische Staaten zwang. Die Saat der von Israel jahrelang praktizierten Gewalt – so die arabische Argumentation – gehe nun auf.

In Israel hingegen löste das Attentat »äußerste Entrüstung, Empörung und tiefste Trauer aus« (Hacker 1975, S. 55). Arabischen Staaten, die die terroristische Ausbildung in palästinensischen Flüchtlingslagern duldeten, wurden Vergeltungsschläge angedroht. Bereits in den letzten Wochen das Jahres 1972 bombardierten israelische Flugzeuge palästinensische Ausbildungslager nahe der Golan-Höhen auf syrischem Boden.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte bis zum September 1972 noch nie eine Geiselnahme durch Terroristen auf deutschem Boden erlebt. Die Ereignisse am 5. und 6. September 1972 offenbarten im Nachhinein unklare Zuständigkeiten, Kommunikationsprobleme, zeitliche Verzögerungen und vor allem eine mangelnde Ausrüstung und Ausbildung der Einsatzkräfte (vgl. Oberloskamp 2022). Speziell für Geiselbefreiungen ausgebildete Einsatzkräfte gab es vor dem Anschlag in München nicht. Eine wichtige politische Maßnahme war die Gründung speziell für Terrorismusbekämpfung ausgebildeter Polizeieinheiten. Die bekannteste ist die auf Geiselbefreiung spezialisierte Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9), die auch von den Ländern angefordert werden kann (Kap. 6). Um zukünftigen terroristischen Bedrohungsszenarien auf Bundesebene angemessen begegnen zu können, wurde das Instrument des Krisenstabes ersonnen. In der Folgezeit gab es eine ganze Reihe von Krisenstäben, die beim Bundeskanzler angesiedelt waren und die Informations- und Entscheidungsprozesse im Falle von Bedrohungssituationen effizienter gestalteten.

Das Olympia-Attentat hatte zudem deutlich gemacht, dass die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr ausschließlich im Rahmen der Innenpolitik garantiert werden konnte (vgl. Oberloskamp 2022). Der grenzüberschreitende Terrorismus zeigte die Dringlichkeit einer europäischen und internationalen Zusammenarbeit. Wenngleich diese Zusammenarbeit anfangs nur schleppend voranging, wurden auf europäischer und internationaler Ebene dennoch Konventionen und Übereinkünfte getroffen: Am 27. Januar 1977 verabschiedete der Europarat ein Übereinkommen zur strafrechtlichen Verfolgung terroristischer Gewalttäter (Kap. 6).2 Die 34. Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete am 17. Dezember 1979 eine Konvention gegen Geiselnahme.3

Nach dem Attentat in München setzte mit Blick auf das Verständnis des Rechtsstaats ein grundlegender Prozess des Umdenkens ein. Hatte sich die Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1972 bei der Entführung der Lufthansa-Maschine »Kiel« noch erpressbar gezeigt, vertrat man nun die Position, dass ein nachgiebiger und »ohnmächtiger« Rechtsstaat Terroristen nur zu weiteren Erpressungsversuchen ermuntern könne. In allen westlichen Staaten etablierte sich das Leitbild des nicht erpressbaren Rechtsstaats, der sich gegenüber terroristischen Forderungen in Zukunft unnachgiebig zeigen würde.

Anzumerken bleibt, dass auch 50 Jahre nach dem terroristischen Anschlag auf israelischer Seite noch eine gewisse Missstimmung besteht. Die Hinterbliebenen der Opfer des Attentats kritisierten die Münchner Pläne für die 50-Jahr-Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Olympischen Spiele von 1972. Die Sprecherin der Hinterbliebenen, die Witwe des ermordeten Fechttrainers, setzt sich für eine umfassende Aufarbeitung des Anschlags ein, fordert mehr Transparenz von den deutschen Behörden und moniert, dass auch 50 Jahre nach dem Attentat noch nicht alle Dokumente zugänglich seien (vgl. Stuttgarter Nachrichten, 07.01.2022).

New York, September 2001

9/11

Am 11. September 2001 um 8.46 Uhr Ortszeit raste ein Flugzeug der American Airlines, Flug AA 11, in den Nordturm des World Trade Center (WTC), ein bis zu diesem Tag weithin sichtbares Wahrzeichen New Yorks. In den Twin Towers waren an jenem Dienstag um diese Uhrzeit bereits ca. 20.000 Menschen in den über 100 Stockwerken an ihren Arbeitsplätzen (vgl. Lepore 2020, S. 876). Um 9.03 Uhr bohrte sich eine Maschine der United Airlines, Flug UA 175, in den Südturm des WTC.

Noch immer ist die Apokalypse des 11. September für viele so präsent wie damals (vgl. Gassert 2021, S. 2 ff.). Nur zwei Minuten nach dem Einschlag des Flugzeugs in den Nordturm übertrug der Fernsehsender CNN (Cable News Network) die Attacke live in alle Welt. Rund um den Globus waren Menschen vor den Fernsehgeräten – zunächst ungläubig und fassungslos – dabei, als das zweite Flugzeug in den Südturm krachte und in einem Feuerball explodierte. Millionen konnten am Bildschirm nur kurze Zeit später verfolgen, als der Südturm um 9.59 Uhr kollabierte, gefolgt vom Nordturm um 10.28 Uhr. Das brennende Kerosin der Flugzeuge mit einer Hitze von über 1.000 Grad ließ die Stahlträger der beiden Wolkenkratzer nachgeben (vgl. Lepore 2020, S. 876).

Die in unzähligen Wiederholungen und Endlosschleifen gezeigten Bilder machten die Gewalt live miterlebbar. In den USA wussten 60 Minuten nach dem Aufprall des ersten Flugzeugs 90 Prozent der Amerikaner Bescheid. Eine Stunde nach den Anschlägen hatten 70 Prozent der Deutschen davon erfahren (vgl. Gassert 2021, S. 12). Die Filmsequenzen gingen wie ein Lauffeuer um den Globus. Die Wucht der Bilder wurde durch die »kollektive Echtzeit-Erfahrung« (Weichert 2008, S. 690) noch verstärkt. Viele wissen noch heute genau, wo sie die zu Ikonen geronnenen Fernsehbilder sahen, »was man dachte und mit wem man darüber sprach« (Weichert 2008, S. 688).

Nicht nur die Metropole New York war an diesem Tag Ziel von Anschlägen. Um 9.37 Uhr schlug eine Maschine der American Airlines, Flug AA 77, in die Westseite des nahe bei Washington, D. C. gelegenen Pentagon, Sitz des amerikanischen Verteidigungsministeriums, ein. Ein Teil des Westflügels stürzte ein. Ein viertes Flugzeug der Linie United Airlines, Flug UA 93, raste um 10.03 Uhr in ein Feld bei Shanksville in Pennsylvania. Diese Maschine hatte ebenfalls Washington im Visier, wurde aber von Passagieren nach einem Handgemenge mit den Entführern vom Piloten, der ebenfalls zu den Entführern gehörte, zum Absturz gebracht. Als Anschlagsziel wurden später das Weiße Haus, das Kapitol, der Sitz des US-Kongresses, oder der Landsitz des amerikanischen Präsidenten in Camp David vermutet.

An den vier koordinierten, nahezu synchron verlaufenden Flugzeugentführungen waren 19 Attentäter beteiligt. Mehrere von ihnen lebten zuvor in Hamburg. Knapp 3.000 Menschen starben bei den Anschlägen, einschließlich der Passagiere und der 19 Selbstmord-Attentäter. In den Doppeltürmen des WTC spielten sich unvorstellbare Horrorszenarien ab.4 Menschen, die in den oberen Stockwerken von Flammen eingeschlossen wurden, sprangen verzweifelt aus großer Höhe hinab und schlugen zwischen den Fliehenden, den Rettungskräften und Feuerwehrleuten am Boden auf.5 300 Feuerwehrleute, die zu Hilfe eilten, und 71 Polizisten kamen bei den Anschlägen in New York ums Leben (vgl. Gassert 2021, S. 3).

Nationale und internationale Reaktionen

Der Anschlag auf das World Trade Center (WTC) in New York war von unvorstellbarem Ausmaß, ein Schock für Amerika und die Welt. Plötzlich waren die Vereinigten Staaten, die Supermacht schlechthin, wehrlos und verletzbar. Die Terrorattacken führten den Vereinigten Staaten ihre Verwundbarkeit vor Augen. Die spektakulären Anschläge und die Tatsache, dass die Weltöffentlichkeit dabei zum Zeugen, aber auch unfreiwilligen Voyeur wurde, kam einer Demütigung gleich (vgl. Weidner 2021, S. 76). Psychologen sprachen vom »traumatischsten Ereignis der US-Geschichte« (Gassert 2021, S. 48).

Bereits am 12. September 2001 verkündete die US-Regierung, dass Osama Bin Laden Drahtzieher der Anschläge sei. Anhand der Passagierlisten konnten die Flugzeugentführer rasch identifiziert werden. Eine Spur führte u. a. nach Deutschland. Drei der Terroristen hatten zuvor in Hamburg studiert und in einer Wohnung zusammengelebt. Zwei von ihnen reisten 1999 von Deutschland aus zu Bin Laden nach Afghanistan. Die weiteren, kurzfristig rekrutierten Entführer stammten aus Saudi-Arabien.

Osama Bin Laden und Al-Qaida

Die terroristische Biografie von Osama Bin Laden, gelegentlich auch Usama Bin Ladin geschrieben, begann 1979 in Afghanistan. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan unterstützte der bis dahin unauffällige Sohn eines saudi-arabischen Bauunternehmers den antisowjetischen Befreiungskampf. Die USA lieferten seinerzeit Waffen an die Guerillabewegung. Saudi-Arabien als Geldgeber und das benachbarte Pakistan unterstützten die sogenannten Mudschahedin. Osama Bin Laden begegnete schon während seines Studiums in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda palästinensischen Muslimbrüdern und Vordenkern des Dschihad. Abdullah Azam lehrte an der dortigen Universität und propagierte den Kampf der Muslime im globalen Kontext (vgl. Weidner 2021, S. 52). Gemeinsam mit Ayman al-Zawahiri, dem späteren Anführer des Terrornetzwerks Al-Qaida nach Bin Ladens Tod, und Azam gründete Bin Laden 1988 die Terrorgruppe Al-Qaida (vgl. Said 2014, S. 37 ff.). Nach Zwischenstationen in Pakistan und im Sudan begab er sich 1996 erneut nach Afghanistan, um die Taliban