Kommunisten heute - Hans Heinz Holz - E-Book

Kommunisten heute E-Book

Hans Heinz Holz

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Beschreibung

Die erste Auflage seines 1991 erschienenen Buches »Niederlage und Zukunft des Sozialismus« war schnell vergriffen und sorgte auch international für Diskussion, weil hier einer die Zeitgesänge postsozialistischer Beerdigungsredner mit seiner Streitschrift über Grundfragen und Perspektiven des Marxismus störte und denResignierten Mut machte. Mit diesem zweiten Buch konzentrierte sich Hans Heinz Holz 1995 nicht weniger streitbar auf das Parteiverständnis der Kommunisten, seine Kategorien und weltanschaulichen Grundlagen. Ferner legte Hans Heinz Holz – als Diskussionsangebot, nicht als Katechismus – seine Position zur Allgemeinen Krise des Kapitalismus dar und zum Charakter der Epoche, zu der die Oktoberrevolution vor 100 Jahren das Aufbruchsignal gab. Ein Grund mehr, das von Gerd Deumlich und Willi Gerns lektorierte Buch anlässlich des 90. Geburtstages von Hans Heinz Holz (geb. 26.2.1927; gest. 11.12.2011) als unveränderten Nachdruck erneut herauszugeben.

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Seitenzahl: 204

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Hans Heinz Holz

Kommunisten heute

Die Partei und ihre Weltanschauung

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel: Über die Grundlagen des Selbstverständnisses von Kommunistinnen und Kommunisten

2. Kapitel: Zu den weltanschaulichen Grundlagen der DKP

3. Kapitel: Der Charakter einer leninistischen Partei

4. Kapitel: Klassenkampf

5. Kapitel: Zur Bestimmung des Epochenbegriffs

6. Kapitel: Allgemeine Krise des Kapitalismus

7. Kapitel: Modernisierung oder Klassenkampf?

8. Kapitel: Überlegungen zum Begriff der politischen Lage

Impressum

Vorwort

Als ich 1991 Niederlage und Zukunft des Sozialismus veröffentlichte, waren Entmutigung und Resignation unter Kommunisten groß. Die Zerschlagung der Sowjetunion und die Annexion der DDR hatten ihr revolutionäres Selbstvertrauen tief erschüttert. Die Perspektive einer besseren, sozialistischen Gesellschaft schien nicht nur in weite Ferne gerückt, sondern gänzlich verbaut. Es galt, die Ursachen der Niederlage zu begreifen, die Erkenntnis, daß der Sozialismus die geschichtliche Alternative zum Kapitalismus ist, wieder zu befestigen und das Selbstbewußtsein von Kommunistinnen und Kommunisten zu stärken. Dazu sollte das kleine Büchlein einen Beitrag liefern.

Inzwischen hat die kommunistische Bewegung weltweit wieder an Kraft gewonnen; in Deutschland hat sich der Kern der Kommunistischen Partei wieder gesammelt und engagiert sich ebenso in politischen Aktivitäten wie in der Diskussion um die Inhalte zukünftiger Strategie und Organisationsform. Der Doppel­aspekt, daß die Krise des Kapitalismus sich zwar verschärft, aber doch mit langen Fristen für revolutionäre Veränderungen gerechnet werden muß, ist allerdings der Nährboden, für die — aus der Geschichte der Arbeiterbewegung nicht unbekannte — Illusion, auf dem Weg innerkapitalistischer Opposition (oder sogar direkter oder stillschweigender Teilhabe an der Macht) durch Reformen diese Gesellschaft menschlicher machen zu können, also statt Sozialismus nur einen besseren Kapitalismus anzustreben, ja vielleicht den Sozialismus für nichts anderes als einen verbesserten Kapitalismus zu halten.

Heute gilt es also, revolutionäres Bewußtsein in einer nichtrevolutionären Phase der Geschichte wachzuhalten und mit den Oppositionsstrategien, die innerhalb des Kapitalismus angelegt werden, zu vermitteln, damit diese dann über dieses System hinausführen können. Dazu ist theoretische Reflexion unerläßlich. Kommunistinnen und Kommunisten organisieren sich nicht als ein spontaner Interessenverband, sondern als das Kollektivsubjekt einer aus theoretischer Erkenntnis der Geschichte hergeleiteten politischen Praxis. Lenin hat dieses Parteiverständnis systematisch ausgearbeitet, seine Einsichten sind bleibender Bestand kommunistischen Selbstverständnisses.

Theoretisch begründete Haltung erwächst aus der Verarbeitung von Erkenntnissen zu einem Gesamtzusammenhang des Wissens und aus ihrer Anwendung, Modifikation und Korrektur in der Praxis. Beide Seiten gehören zusammen — das besagt die Formel von der »Einheit von Theorie und Praxis«. Weil politisch wirksame Theorie in dieser Einsicht entsteht und sich erhält, ist die Frage nach dem Kommunist-Sein nicht ablösbar von der Frage nach der politischen Organisation, der Partei. Denn politische Praxis ist immer organisiert-kollektive Praxis. Das Individuum bleibt immer privat, wie sehr es auch von den Inhalten der Politik ergriffen und erregt werden mag. Unus homo, nullus homo — ein Mensch ist kein Mensch, sagten die Römer. Kommunistinnen und Kommunisten werden zu solchen in der Partei, darum ist die Organisationsfrage nicht nur eine praktisch-soziologische, sondern eine philosophische Wesensfrage.

Vor allem kommt es darauf an, in der nächsten Zeit der jungen Generation Wege in die Alternative zum Kapitalismus aufzuzeigen und ihr gedanklichen Rohstoff zu liefern, so daß sie ihre eigenen Formulierungen ausbilden, ihre eigenen Ziele bestimmen und dann ihre eigenen Aktionen durchführen kann. Dazu bedarf es der weltanschaulichen Orientierung und eines organisatorischen Hauses. Der dialektische und historische Materialismus hat einen solchen weltanschaulichen Rahmen zu bieten, der wie kein anderer dem Wissensstand unserer Zeit entspricht und in sich selbst offen und entwicklungsfähig ist. Robert Steigerwald hat das gerade in seinem Buch Abschied vom Materialismus? Materialismus und moderne Wissenschaft (Pahl-Rugenstein Nachfolger 1994) gezeigt, das eine Art Handbuch weltanschaulicher Positionierungen für den politischen Gebrauch darstellt. Das organisatorische Haus müssen wir ausgestalten und erweitern, damit die Menschen, die an der Veränderung der Gesellschaft arbeiten wollen, in ihm ihren Platz haben und sich heimisch fühlen.

1. Kapitel: Über die Grundlagen des Selbstverständnisses von Kommunistinnen und Kommunisten

Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften in Osteuropa hat sich unter vielen Kommunistinnen und Kommunisten (und auch in manchen Kommunistischen Parteien) eine tiefgreifende Unsicherheit ausgebreitet darüber, was eigentlich das Wesen einer Kommunistischen Partei ausmache und was die Anforderungen seien, die deren Mitglieder an sich selbst stellen müssen, wenn sie sich als Kommunisten begreifen wollen. Die vielfache Verletzung leninistischer Parteinormen in der Vergangenheit hat das Selbstverständnis von Kommunistinnen und Kommunisten erschüttert und die Leitvorstellungen von einer leninistischen Partei oder einer Partei neuen Typs bei vielen in Verruf gebracht. Diese Unsicherheit hat sich destabilisierend auf die organisatorische Struktur der Partei und auf das Verhalten der Mitglieder ausgewirkt und hat da, wo Neuformierungen Kommunistischer Parteien notwendig wurden, zu Unklarheiten über deren Verfassung geführt. Es geht dabei um die Frage, welches die zentralen Gesichtspunkte sind, von denen her und um die herum der Aufbau der Partei und ihre organisatorische Arbeit vorgenommen werden sollte. Dieses »sollte« schließt die Klärung ein, was im Begriff einer Kommunistischen Partei gedacht wird und die Entscheidung, ob man eine solche Partei will. Es geht dabei also um die Statuten der Partei und ihre Realisierung im Parteileben.

Die Statuten einer Organisation sind so etwas wie ihr »Grundgesetz«. Die Prinzipien und Regeln des Organisationslebens werden darin festgelegt, aber auch – und darum geht es hier – das grundlegende Verständnis, was diese Organisation sei und welches Ziel sie verfolge. Ein Statut ist allgemeiner und fundamentaler als ein Programm, das eine Handlungsweise vorzeichnet und die Umsetzung des Hauptziels in konkreten, also auch sich verändernden Lagen und gegenüber speziellen Problemen zum Inhalt hat. Programme können und müssen von Zeit zu Zeit neu formuliert werden, um geschichtlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Die Wesensbestimmung in den Statuten legt dagegen den epochalen Charakter einer Organisation fest.

Daß die Frage nach dem Selbstverständnis einer Kommunistischen Partei auftauchen kann, ist Ausdruck der historischen Lage. Die weltpolitischen Rahmenbedingungen, unter denen eine Partei sich als »kommunistische« definiert, sind nach dem Zusammenbruch des Systems sozialistischer Staaten und der Sowjetunion als der Vormacht dieses Systems andere geworden. Das bedeutet nicht, daß die seit dem Kommunistischen Manifest leitende Geschichtsauffassung und die aus ihr begründeten Zielvorstellungen des Kommunismus in den Grundzügen andere geworden sind; sonst wäre es eben kein Kommunismus mehr, sondern irgendeine andere Variante des Sozialismus – bürgerlicher, utopischer, kleinbürgerlicher Sozialismus usw. –, wogegen sich ja schon die Autoren des Kommunistischen Manifests abgegrenzt hatten. Wohl aber hat sich das politische Feld verändert, in dem Kommunisten als Kommunisten handeln – und damit stellt sich die Frage, welche Organisationsform kommunistisches Handeln sich zu geben habe.

Die Grundfrage einer Kommunistischen Partei an sich selbst ist zunächst also einmal die, was die Besonderheit dieser Partei gegenüber allen anderen Parteien die in nicht-sozialistischen Gesellschaften an der Gestaltung des politischen Lebens mitwirken, ausmache. Worin unterscheidet sie sich von ihnen? Was macht Kommunistinnen und Kommunisten, die sich einer Kommunistischen Partei anschließen, zu solchen? Darüber muß Einverständnis bestehen, wenn die Partei nicht bloß eine Wählervereinigung sein will. Eine Eigentümlichkeit kommt schon in der Frage selbst zum Ausdruck. Einer christlichen Partei können offenbar Mitglieder angehören, die sich auf ganz verschiedene Weise als Christen verstehen (und vielleicht sogar solche, die das nicht tun); worin ihr Christentum bestehe und was sie an ihrem Tun als christlich empfinden, ist weder für die Mitglieder noch für die Parteiführung genauer festgelegt; die Verbundenheit mit einer unspezifischen und variantenreichen weltanschaulichen Tradition mag genügen. Gilt eine solche Bandbreite auch für eine Kommunistische Partei? Wenn nein, warum nicht? Organisatorisch spiegelt sich diese Alternative in der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Strömungen und Fraktionen. Und für jede Organisation (nicht nur für die DKP) ergibt sich darüber hinaus das Problem, wie weit ihre eigenen Ziele und Strukturen mit denen anderer Organisationen verträglich sind, bzw. wie weit die Unterstützung anderer Organisationen durch die eigenen Mitglieder wenigstens tolerierbar ist. (Ich erinnere an die Unvereinbarkeitsbeschlüsse z.B. der SPD in bezug auf die Mitgliedschaft in der VVN und später gegenüber den Förderern des SDS. Da wurden klare Abgrenzungen gegen links vorgenommen).

Ich werde im folgenden die Auffassung vertreten, daß die Statuten einer Kommunistischen Partei darüber Auskunft geben müssen, was unverzichtbar von einer Kommunistin bzw. einem Kommunisten an politisch-weltanschaulichen Grundeinstellungen und Verhaltensweisen erwartet wird. Das ist mehr, als üblicherweise in die Statuten von Parteien des bürgerlich-demokratischen Verfassungstyps eingeht. Dieses Mehr bedarf einer Begründung, und diese Begründung muß auch zeigen, was am weltanschaulichen Anspruch der Kommunistischen Partei wesentlich anders ist als an dem Weltanschauungscharakter fundamentalistischer Bewegungen. Denn dem oberflächlichen Blick könnte es ja so scheinen, als ob das Festschreiben von Weltanschauungsinhalten einer Partei einen »totalitären« Charakter gibt. In jedem Falle ist für eine deutsche Kommunistische Partei darauf zu achten, daß die Parteiziele und die satzungsmäßigen Pflichten der Mitglieder sich in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz (Art. 9, Abs. 2 und Art. 21) sowie mit dem Gesetz über die politischen Parteien befindet.

Kommunistinnen und Kommunisten werden in ihrem politischen Handeln dadurch bestimmt, daß sie eine in ihren Grundzügen klar umrissene Auffassung von den Bedingungen haben, unter denen die menschliche Gesellschaft sich geschichtlich entwickelt hat und weiter entwickeln wird; dieses Geschichtsbild liefert insbesondere eine Deutung der gegenwärtigen Epoche, also des Zeitalters der durch das Kapitalverhältnis bestimmten bürgerlichen Gesellschaft. Zugrunde liegt die Einsicht,

daß die Menschen ihre Lebensbedürfnisse durch Produktion (und nicht, wie die Tiere durch Konsumtion in der Natur vorgefundener Lebensmittel) befriedigen;daß in der Produktion oder als Folge ihrer gesellschaftlichen Organisation neue Bedürfnisse geschaffen werden, die neue Produktion erfordern, was eine fortschreitende Entwicklung der Produktivkräfte bewirkt;daß diese sich ausbreitende und differenzierende Produktion gesellschaftlich und zunehmend arbeitsteilig erfolgt;daß die Menschen daher in der Produktion immer komplizierter werdende Produktionsverhältnisse eingehen;daß die Produktionsverhältnisse sich den Veränderungen im Entwicklungstand der Produktivkräfte anpassen müssen;daß die arbeitsteilige Produktion zur Herausbildung von Privateigentum an Produktionsmitteln führt und damit die Gesellschaf Gesellschaft in Klassen gespalten wird, die in ungleichem Maße am Gesellschaftsprodukt, am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben;daß aus Klasseninteressen sich Gegensätze zwischen den Klassen ergeben, die sich zu Klassenkämpfen zuspitzen;daß die durch die jeweils bestehenden Produktionsverhältnisse begünstigten Klassen sich der Veränderung der Produktionsverhältnisse widersetzen und die Anpassung der Produktionsverhältnisse an den Stand der Produktivkraftentwicklung im politischen Kampf durch Ablösung von Herrschaftsstrukturen erzwungen werden muß.

Diese Grundsätze, die alle aus dem ersten hergeleitet werden können, bilden das Gerüst eines Erklärungsmodells für die Menschheitsgeschichte, das als »Historischer Materialismus« bezeichnet wird. Die Stärke dieses einfachen Erklärungsmusters äliegt darin, daß alle komplexeren geschichtlichen Vorgänge in diesen Rahmen eingebettet und unmittelbar oder über Zwischenstufen auf diese Grundlage zurückgeführt werden können.

Primär werden Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung und das Versagen gegenüber unbewältigten Problemen von Gesellschaft und Produktionsweise natürlich nicht durch eine theoretische Einsicht bewußt, sondern durch die unmittelbaren Erfahrungen des alltäglichen Lebens. Ehe Marx und Engels das Kommunistische Manifest verfaßten, hatten sie über Die Lage der arbeitenden Klasse in England, über die Korngesetze und das Holzdiebstahlsgesetz und die Lage der Moselbauern geschrieben. Doch Erfahrungen am eigenen Leibe sind immer individuell; daß sie aus allgemeinen Produktionsverhältnissen entspringen und daß ihnen allgemeine gesellschaftliche Strukturen zugrunde liegen (wenn diese sich auch von Fall zu Fall unterschiedlich manifestieren), kann nur durch die theoretische Verknüpfung der individuellen Erfahrungen und die Entdeckung der in ihnen wirksamen Gesetze, also durch eine Abstraktionsleistung erkannt werden. Denn (wie Hegel sagt) was bekannt ist, ist noch nicht erkannt. Um aber Mißstände zu ändern, muß man sie an ihrem Ursprung bekämpfen, nicht an ihrem Erscheinungsbild. Wo in einer Gesellschaft Elend, Unrecht und Zerstörung aufkommen, muß danach gefragt werden, was an den Organisationsformen dieser Gesellschaft, was an ihrer Verfassung falsch ist und wie die Ursachen des Übels abgeschafft werden können. Damit negative Erfahrungen zu einer politischen Alternative werden, bedarf es der theoretischen Erklärung, die die Erfahrungen aus Ursachen und Prozessen verstehbar macht. Je komplexer der Aufbau einer Gesellschaft ist, also je spezialisierter die Produktion, je vielfältiger der Austausch, je differenzierter die Bedürfnisse, um so schwerer sind die zugrundeliegenden Gesetzlichkeiten herauszuschälen, umso undurchsichtiger bleibt der Mechanismus der ökonomischen und gesellschaftlichen Prozesse. Welcher normale Zeitungsleser wüßte mit den Berichten über das tägliche Börsengeschehen etwas anzufangen? Wer kann die Bilanz eines Konzerns entschlüsseln oder den Haushaltsplan eines Landes oder des Bundes? Wie ratlos ist der Rechtsuchende vor den Finessen der Zivilprozeßordnung! Wer kann widersprechende Gutachten über das Waldsterben oder über die Risikobewertung eines Kernkraftwerks beurteilen? Wollte man die politische Kompetenz des Staatsbürgers von den Kenntnissen abhängig machen, über die er verfügen müßte, wenn er in Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht usw. urteilsfähig entscheiden sollte, so wäre die Demokratie im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution unmöglich. Hingegen wissen die Vertreter von Privatinteressen auf der Klaviatur der Expertengutachten zu ihrem Nutzen vorzüglich zu spielen.

Es geht also, wenn von Theorie als Grundlage des politischen Handelns die Rede ist, nicht um die unübersehbar gewordenen Spezialkenntnisse auf all jenen Gebieten, die die menschliche Gattung und das öffentliche Leben betreffen. Hier wird die Zersplitterung des Wissens fortschreiten, Experten werden nur noch für immer enger werdende Teilbereiche zuständig sein. Die allgemeine Theorie, die gefordert ist, damit überhaupt gesellschaftliche Entwicklungen noch vernünftig gesteuert und geplant werden können, muß die einfachen Strukturelemente und Prozeßformen aus der verwirrenden Menge der Ereignisse herausheben, um im scheinbar Unüberschaubaren eine Orientierung zu ermöglichen. Politisch mündig ist nur, wer in die Flut von Informationen eine gedankliche Ordnung zu bringen vermag. Aber nicht jeder kann eine private Meinung über dies und jenes und alles in der Welt haben, denn politisches Handeln heißt gemeinsames Handeln gemäß einer und derselben Idee. Es ist eine allgemein akzeptierte und geltende Theorie, aus der zielstrebiges politisches Handeln hervorgeht, das nicht bloß auf Interessenkompromisse von Individuen und Gruppen hinausläuft.

Hier wird nun das Besondere einer Kommunistischen Partei deutlich: Sie vertritt nicht die Interessen irgendeiner Gruppe oder ist die Plattform, auf der divergierende Gruppeninteressen miteinander versöhnt werden; sie kann vielmehr nur kommunistisch sein, wenn sie das Wohl aller erstrebt. Das Wohl aller ist aber nicht aus dem Bedürfnis und Interesse einzelner abzuleiten, sondern nur durch die allgemeine Theorie zu bestimmen, die alle einzelnen aufeinander bezieht und als ein Ganzes auffaßt.

Zunächst einmal ist es selbstverständlich, daß jeder seine individuellen Interessen verfolgt. Und da jeder einen anderen Platz in der Gesellschaft einnimmt, in anderen persönlichen Lebensumständen steht und eigene Wünsche hat, sind die individuellen Interessen durchaus verschieden. In vielen Fallen widersprechen sie sich sogar. Andererseits gibt es gemeinsame Interessen, z.B. die einer Betriebsbelegschaft an menschenwürdigen Arbeitsverhältnissen, die einer Gemeinde an sauberer Luft und klarem Trinkwasser, die der Menschen an der Erhaltung des Friedens. Um die gemeinsamen Interessen durchzusetzen, muß jeder einzelne da und dort von seinen individuellen Interessen Abstriche machen. Aber wo und welche? Was darf die Gemeinschaft von einzelnen fordern, was muß sie fordern? Die Antworten auf solche Fragen ergeben sich nicht von selbst und aufs Zuschauen hin, sondern setzen voraus, daß man die Grundzüge der gesellschaftlichen Prozesse und Widersprüche begreift. D.h. sie erfordern ein theoretisches Verständnis des Allgemeinen.

Was berechtigt uns, für den historischen und dialektischen Materialismus in Anspruch zu nehmen, er sei diese allgemeine Theorie, die nicht nur die besonderen Interessen einer Klasse (oder eine Gruppe in einer Klasse) widerspiegelt, sondern der Ausdruck jener wissenschaftlichen Erkenntnis ist, die das Ganze der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Verhältnisses zur Natur erfaßt, und die zeigen kann, daß und wie die recht verstandenen Interessen jedes einzelnen mit den Interessen allen anderen, mit den Interessen der Gesellschaft und der menschlichen Gattung in ›Übereinstimmung gebracht werden können? Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen sind alle Formen der Produktion dem Kapital unterworfen. Das Eigentum an Produktionsmitteln ist vermittelt durch das Kapital, d.h. die Investition von Kapital. Wo früher Bauer, Handwerker, Kaufmann je eigene Formen des Eigentums und seiner Reproduktion hatten und also unterschiedene Klassen von Besitzenden (gegenüber den Besitzlosen) bildeten, hat die Entwicklung der investitionsintensiven Technik seit dem Beginn der Industrialisierung dazu geführt, daß nur diejenigen Eigentümer von Produktionsmitteln werden konnten, die über das notwendige Investitionskapital verfügten. Das investierte Kapital muß sich wiederum erhalten und vermehren (verzinsen). So entwickelte sich aus einer Gesellschaft, in der viele Klassen ihre Interessen gegeneinander austragen und miteinander versöhnen mußten, die Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der es nur noch die Eigentümer von Produktionsmitteln und die Lohnarbeiter gibt, die durch ihre Arbeit den Mehrwert hervorbringen, der die Verzinsung des Kapitals garantiert. Die früher selbständigen Klassen, z.B. die kleinen Handwerker und Bauern, die ja auch Produktionsmittel besaßen und auch heute noch besitzen, sind immer mehr vom Kapital abhängig geworden; sei es als mittelständische Zulieferbetriebe für die große Industrie, die sich bei ihrer eigenen Produktionsmittelausstattung (und also ihren Investitionen) nach den technischen Bedürfnissen und Entscheidungen ihrer Großkunden zu richten haben; sei es als landwirtschaftliche Großbetriebe mit differenziertem Maschinenpark, der ohne Bankkredite gar nicht angeschafft und laufend erneuert werden könnte und der den gleichen Amortisationszwängen unterliegt wie in der Industrie. Alle Zwischenschichten, die sich in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft erhalten oder auch neu herausbilden (wie z.B. im Dienstleistungssektor), bleiben letztlich dem Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit unterworfen – und es bleiben also nur noch zwei für die Gesellschaftsstruktur bestimmende Klassen übrig: Bourgeoisie und Proletariat.

Beide Begriffe stammen aus dem 19. Jahrhundert. Bourgeoisie und Proletariat haben seitdem – zum mindesten in den Metropolen – ihre Erscheinungsform, ihr Gesicht verändert. Das Kapital ist anonym geworden und nicht mehr in der Figur des Fabrikherren oder Bankiers sinnlich vergegenwärtigt; die Proletarier sind in der Mehrheit nicht mehr die Kumpel im Bergwerk oder an der Glut der Hochöfen, sondern oft hoch spezialisierte Facharbeiter an komplizierten Apparaturen oder Angestellte im stets noch wachsenden tertiären Sektor, die mit der Produktion unmittelbar gar nicht mehr in Berührung kommen. Daraus ergeben sich Probleme des Selbstverständisses: die Ausbeutung ist nicht mehr im gleichen Maße wie früher am eigenen Leibe fühlbar, es braucht Einsicht in die Mechanismen der Kapitalakkumulation und des Kapitalverkehrs, um sich als ausgebeutet zu erfahren. Aber die tatsächliche Zwei-Klassen-Struktur von Bourgeoisie und Proletariat besteht weiterhin.

Die Klasseninteressen der beiden Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft sind entgegengesetzt. Das Gesetz des Kapitals ist es, sich vermehren zu müssen, ausbeuten zu müssen, um neue Investitionen tätigen zu können – gleichgültig zu welchem Zweck. Die Akkumulation des Kapitals ist der Selbstzweck des Kapitalismus, die Frage nach der Rentabilität dominiert den Einsatz der gesellschaftlichen Mittel. Die Interessen der Kapitalvertreter sind durch diese Notwendigkeit bestimmt. Sie sind die Sonderinteressen einer kleinen Gruppe von Menschen – Kapitaleigner und Manager, die den Prozeß der Kapitalverwertung in Gang halten. Sie sind die herrschende Klasse, die mit allen Mitteln der Weltanschauung die Beherrschten dahin bringen muß, dieses Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis zu akzeptieren. Ihre theoretischen Strategien sind Rechtfertigungen ihrer Sonderinteressen – und sie sind es auch dann, wenn die Verfechter dieser Theorien an deren allgemeingültige Wahrheit glauben.

Die Arbeiterklasse dagegen kann nur ein Klasseninteresse haben: die Herrschaft der Sonderinteressen zu beseitigen, damit alle Menschen in gleicher Weise in vollem Sinne freie Menschen sind, die ihren Interessen in Abstimmung auf und Übereinstimmung mit den Interessen aller anderen nachgehen können. Das Interesse der Arbeiterklasse ist das Menschheitsinteresse: Frieden, Freiheit von Not, Bildung, individuelle Lebensgestaltung und Bedürfnisbefriedigung, Teilhabe an der politischen Planung und Lenkung des gesellschaftlichen Lebens – für jeden und nicht nur für wenige Kapitaleigentümer. Die theoretische Strategie der Arbeiterklasse ist auf die Herausarbeitung und Durchsetzung dieses Allgemeininteresses gerichtet – nicht aus selbstloser Menschenfreundlichkeit, sondern weil es ihr eigenes Klasseninteresse ist.

Nur die wissenschaftliche Weltanschauung, die nicht vom Standpunkt irgendwelcher Sonderinteressen aus entwickelt wird, kann ein unverzerrter Ausdruck des Allgemeininteresses oder der Menschheitsinteressen werden. Aufgrund der Klassenlage im Kapitalismus kann dies nur die Weltanschauung der Arbeiterklasse sein – der wissenschaftliche Sozialismus. Natürlich nicht als eine ein für allemal fertige Theorie, sondern als das System sich entwickelnder, die gesellschaftlichen Prozesse spiegelnder Erkenntnisse – ein »offenes System« also, das die Erfahrungen der Geschichte aufnimmt und verarbeitet. Der historische Ort, an dem der wissenschaftliche Sozialismus entsteht, die Arbeiterklasse als Träger der Menschheitsinteressen, berechtigt uns, für diese Theorie in dieser Epoche den Charakter einer wohl geschichtlichen, nichtsdestoweniger aber allgemeingültigen Wahrheit in Anspruch zu nehmen.

Wenn eine Theorie die geschichtliche Lage ausdrückt, in der die Menschheit einen Schritt weiter auf dem Wege zur Menschlichkeit, also zur Aufhebung von Not und Unterdrückung, zur Freiheit aus Vernunfteinsicht tun kann, und wenn die Theorie die Richtung dieses Schritts angibt, dann ist sie geschichtlich wahr. Wahrheit ist mehr als bloße Richtigkeit einer einzelnen Erkenntnis, die Übereinstimmung eines bestimmten Wissens mit seinem Gegenstand. Wahrheit bedeutet, im Denken die Wirklichkeit so zu erfassen, daß in diesem Denken der Mensch sein Verhältnis zur Welt und zu sich auf vernünftige Weise selbst bestimmen kann. Die Geschichte des Denkens ist darum eine Geschichte des »Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit« (wie Hegel sagte) und damit auch eine Geschichte des Kampfes um die Emanzipation der Menschheit von den Zwängen der Naturgewalten, von der Unterdrückung durch Menschen, von den Vorurteilen der Unwissenheit. Auf jeder neuen Stufe der geschichtlichen Entwicklung wird eine Erweiterung der Möglichkeiten (und das heißt des Freiheitsspielraums) der Menschheit errungen. Geschichtliche Wahrheit ist daher nicht neutral, sondern gebunden an die Parteilichkeit für den Fortschritt (und das bedeutet auch: für die Partei des Fortschritts). Und was Fortschritt ist, sagen uns nicht diese oder jene beliebigen Meinungen, sondern wird bestimmt dadurch, was allgemeines Menschheitsinteresse gegenüber den Sonderinteressen einer Klasse oder eine Gruppe oder eines einzelnen ist. Gerade weil die Wahrheit objektiv ist, das heißt allgemein und wissenschaftlich bestimmbar, muß sie parteilich sein. (Und es ist kein Zufall, daß heute führende Vertreter der bürgerlichen Ideologie den Begriff der Wahrheit aufweichen und in einen Pluralismus von »Wahrheiten« auflösen wollen, wodurch die Geschichte richtungslos und die Politik zum Feld willkürlicher Entscheidungen erscheint).

Parteilichkeit heißt aber nicht: unkritische Parteinahme für eine Position, zu der man »sich bekennt«. Die Partei, die man ergreift, muß ihre Wahrheit durch die theoretische Bestimmung des Fortschritts in der geschichtlichen Lage ihrer Zeit erweisen. Sie muß eine »philosophische Partei« sein, die »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«, und die die Gedanken in politisches Handeln umsetzt. Eine Partei, die sich nicht an kurzfristigen Nahzielen allein orientiert und die sich nicht opportunistisch den Stimmungsschwankungen der öffentlichen Meinung anpaßt, sondern eine konsequente und umfassende Alternative zu den Problemen, Widersprüchen und Krisen der bestehenden Gesellschaft entwirft, kann ihr Konzept aber nicht als vorgegeben übernehmen, auch nicht von ihrer Parteiführung dekretieren lassen, sondern muß es aufgrund theoretisch sauberer Analysen in ihren eigenen Reihen erarbeiten und dauernd überprüfen. Sie muß selbst zum Ort werden, an dem aus politischem Handeln theoretische Reflexion hervorgeht, die wieder in politisches Handeln übergeht. Sonst entspricht die Partei nicht der besonderen historischen Rolle der Klasse, die sie organisieren will – der »historischen Mission der Arbeiterklasse«.

Geht die politische Auseinandersetzung um Ausbeutung oder Freiheit von Ausbeutung, um die Herrschaft der Bourgeoisie oder deren Abschaffung, um die Durchsetzung der Kapitalakkumulation oder der Emanzipationsbedürfnisse der Menschen – dann geht sie nicht mehr um diese oder jene »Nachbesserung« der bestehenden Gesellschaft, sondern ums Ganze der Gesellschaft. Das unterscheidet Kommunistinnen und Kommunisten von Mitgliedern anderer Parteien, auch von der sozialdemokratischen und anderen reformsozialistischen. Reformen zur Verbesserung der Lage der Menschen, die hier und jetzt und in jedem Augenblick immer sinnvoll sind, weil Politik im Interesse der jetzt lebenden Menschen gemacht wird, können nicht das Ziel einer kommunistischen Partei sein, sondern nur ein Aspekt ihres dauernder Kampfes. Denn es geht nicht darum, sich in dieser bestehenden kapitalistischen Gesellschaft leidlich besser einzurichten; und es wäre auch eine Illusion zu glauben, die innerkapitalistischen Widersprüche könnten durch Reformen ausgeräumt werden, denn sie sind strukturelle Widersprüche des Systems der Produktionsverhältnisse. Es geht vielmehr darum, auch auf dem Weg über Reformen, das Gesellschaftssystem überhaupt zu verändern. Aus der Einsicht in den Zwei-Klassen-Gegensatz der kapitalistischen Gesellschaft folgt, daß der Sturz der herrschenden Klasse zur Aufhebung des Klassencharakters der Gesellschaft führen muß, weil es dann nur noch eine Klasse (also keine Klasse) mehr geben wird. Das Ziel kommunistischer Politik ist dadurch bestimmt. Sie ist revolutionär, weil sie der Klassengesellschaft ein Ende bereiten will.

Über die Art des revolutionären Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft ist damit noch nichts gesagt und kann auch nichts gesagt werden, solange die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse noch stabil und die konkreten Formen ihres Zerfalls noch nicht offenkundig geworden sind. Wohl aber kann gesagt werden, daß der Übergang zum Sozialismus die wenigstens passive Zustimmung der Mehrheit des Volkes voraussetzt, weil der Sozialismus ja nicht auf die Errichtung einer neuen Klassenherrschaft gerichtet ist, sondern das Hineinwachsen der Menschen in eine Assoziation freier, sich selbst bestimmender Bürger verwirklichen soll. Das ist natürlich ein Prozeß gesellschaftlicher Erziehung von langer Dauer und nicht in einem einzigen revolutionären Akt zu erreichen. Am Anfang aber muß die Bereitschaft der Massen stehen, sich auf diesen Entwicklungsweg einzulassen.