Kompetent handeln in der Sozialen Arbeit - Maja Heiner - E-Book

Kompetent handeln in der Sozialen Arbeit E-Book

Maja Heiner

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Beschreibung

Handlungskompetenzen bilden das Potenzial, über das eine Person verfügt und das notwendig ist, um komplexe und bedeutende Aufgaben zu bewältigen. Ob und wie die Fachkräfte der Sozialen Arbeit ihr Potenzial einsetzen, hängt von ihrer Qualifikation und Motivation sowie von den Rahmenbedingungen ihres Tätigkeitsfeldes ab. In diesem Einführungsband wird das Modell der Handlungskompetenzen und Handlungstypen theoretisch begründet und an Fallbeispielen anschaulich erläutert. Die 4. Auflage wurde bearbeitet von Mathias Schwabe.

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Maja Heiner

Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit Band 1

Herausgegeben von Prof. Dr. Maja Heiner

Kompetent handeln in der Sozialen Arbeit

4., aktualisierte Auflage

Bearbeitet von Mathias Schwabe

Ernst Reinhardt Verlag München

Prof. Dr. Maja Heiner lehrte am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Sozialpädagogik, Universität Tübingen.

Prof. Dr. Mathias Schwabe, hat den Lehrstuhl für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin inne.

Sowohl die Bände der Reihe „Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit“ als auch die jeweiligen Wissensbausteine sind elektronisch verfügbar. Infos zum aktuellen Stand finden Sie unter www.reinhardt-verlag.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-61726-5 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61727-2 (EPUB)

4., aktualisierte Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Coverbild unter Verwendung eines Fotos von © Bernd Neisemann –

Fotolia.com

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

1Zielsetzungen und Modellannahmen

1.1Zielsetzung der Reihe und des Buches

1.2Das Kompetenzmodell

1.3Handlungstypen und Berufsfelder

Wissensbaustein: Armut, Armutsbewältigung und Armutsprävention

2Fallvignette aus der Schulsozialarbeit: Fatima hat eine Mitschülerin bestohlen

2.1Fallschilderung

2.2Analyse der Fallvignette

Wissensbaustein: Migration und Soziale Arbeit

3Berufsspezifische Anforderungen in der Sozialen Arbeit

3.1Auftrag und Ziele

3.2Doppelte Aufgabenstellung

3.3Handlungsmodus Hilfe und Kontrolle

Wissensbaustein: Soziale Konflikte und Konfliktbearbeitung

3.4Arbeitsprinzipien Sozialer Arbeit

3.5Etappen des Interventionsprozesses

Wissensbaustein: Personenbezogene Veränderungstheorien

4Kompetenzbegriff und Kompetenzmodell

4.1Kompetenzbegriff und Kompetenzverständnis

4.1.1Begriffsdimensionen

4.1.2Kompetenzmodelle in der Sozialen Arbeit

4.1.3Handlungskompetenz und Handlungsmotivation

Wissensbaustein: Strukturbezogene Veränderungstheorien

4.2Das Kompetenzmodell der Buchreihe

4.2.1Bereichsbezogene Kompetenzmuster: Fallkompetenz, Systemkompetenz, Selbstkompetenz

4.2.2Prozessbezogene Kompetenzmuster: Analyse- und Planungskompetenz, Interaktions- und Kommunikations-kompetenz, Reflexions- und Evaluationskompetenz

4.2.3Teilkompetenzen der prozessbezogenen Kompetenzmuster

4.2.4Kombinationen von bereichs- und prozessbezogenen Kompetenzen im Interventionsprozess

Wissensbaustein: Motivation I

5Berufsfeldbezogene Handlungstypen als Anforderungskontexte

5.1Heterogenität und Entwicklungsdynamik der Handlungskontexte

5.2Kompetenzrelevante Merkmale von Handlungstypen

5.3Überblick über die Handlungstypen und Handlungsfelder der Buchreihe

Wissensbaustein: Motivation II

6Zentrale Falldarstellung: Herr Mersing, ein suchtabhängiger Psychotiker in einem Übergangsheim für Wohnungslose

6.1Rahmenbedingungen der Intervention

6.2Fallverlauf und Interventionsprozess

Wissensbaustein: Rechtlich und administrativ kompetent handeln

6.3Fallverlaufsanalyse

6.3.1Phasen- und bereichsübergreifende Kompetenzen

6.3.2Fallkompetenz

6.3.3Systemkompetenz

6.3.4Selbstkompetenz

Wissensbaustein: Diagnostisches Fallverstehen

6.4Situation A: Herr Mersing steht nicht auf, Frau Fischer kommt in sein Zimmer und nervt

6.4.1Analyse- und Planungskompetenz

6.4.2Interaktions- und Kommunikationskompetenz

6.4.3Reflexions- und Evaluationskompetenz

Wissensbaustein: Beziehungen und Beziehungsgestaltung

6.5Situation B: Herr Mersing muss sich vor der Wohngruppe verantworten, Frau Fischerverteidigt ihn – begrenzt

6.5.1Analyse- und Planungskompetenz

6.5.2Interaktions- und Kommunikationskompetenz

6.5.3Reflexions- und Evaluationskompetenz

Wissensbaustein: Supervision

6.6Situation C: Herr Mersing träumt von seiner beruflichen Zukunft und Frau Fischer mit ihm 152

6.6.1Reflexions- und Evaluationskompetenz (1)

6.6.2Interaktions- und Kommunikationskompetenz

6.6.3Analyse- und Planungskompetenz

6.6.4Reflexions- und Evaluationskompetenz (2)

Wissensbaustein: Ethik und Moral

7Vergleichsbeispiel: Wenn Herr Mersing in einem anderen Hilfesystem gefördert worden wäre

7.1Fallschilderung

7.2Vergleich der Fallentwicklungen und Interventionen

Wissensbaustein: Selbst- und Fremdevaluation

Literatur

Ausgewählte Informationsquellen

Die Bände der Reihe „Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit“ und die darin enthaltenen Wissensbausteine

Sachregister

1Zielsetzungen und Modellannahmen

1.1Zielsetzung der Reihe und des Buches

In der Buchreihe „Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit“ sind fünf Bände erschienen: „Kompetent handeln in der Sozialen Arbeit“ (Band 1) von Maja Heiner, „Koordinierende Prozessbegleitung in der Sozialen Arbeit“ (Band 2) von Petra Gromann, „Fokussierte Beratung in der Sozialen Arbeit“ (Band 3) von Franz Stimmer und Marc Weinhardt, außerdem „Begleitende Unterstützung und Erziehung in der Sozialen Arbeit“ (Band 4) von Mathias Schwabe und „Leiten in Einrichtungen der Sozialen Arbeit“ (Band 5) von Joachim Merchel (alle 2010 im Ernst Reinhardt Verlag erschienen). Ziel dieser Reihe ist es, eine umfassende, das ganze Berufsfeld in den Blick nehmende und zugleich möglichst anschauliche und anregende Vorstellung davon zu vermitteln, was kompetentes Handeln in diesem Beruf ausmacht und wie es fallspezifisch verwirklicht werden kann. Den Ausgangspunkt bildeten drei Überzeugungen: (1) dass eine Reihe generalistischer Grundkompetenzen die Stärke der Sozialen Arbeit ausmachen, (2) dass diese Kompetenzen nur erworben, weiterentwickelt und erhalten werden können, indem vorhandenes Wissen kreativ genutzt wird, (3) dass dies wiederum eine Verbindung von Theorie und Praxis voraussetzt, die am besten über den Bezug zu konkreten Fällen, Situationen und Handlungsabläufen hergestellt werden kann. So lassen sich die Variationen darstellen, die bei der Nutzung allgemeiner Erkenntnisse und Prinzipien in der Praxis notwendig sind, um den Besonderheiten der Einzelfälle Rechnung zu tragen.

Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist kein hierarchisches Verhältnis der bloßen Anwendung. Wissenschaftliches Wissen kann für praktische Zwecke immer nur selektiv genutzt werden und muss dabei transformiert werden. Eine unmittelbar handlungsanleitende Theorie mit eindeutigen Auswahl- und Anwendungsregeln, wie sie oft von Studierenden und Berufsanfängern gewünscht wird, kann es nicht geben. Die notwendigerweise allgemeineren Aussagen der Wissenschaft können so speziell, so einzelfallbezogen, so situationsspezifisch nicht sein. Theorie und Praxis können sich aber wechselseitig wichtige Anregungen vermitteln (v. Spiegel 2013, Kap. 2.1.3 und 2.2).

Ein kreativer Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und die Produktion von neuem, spezifisch praxisrelevantem Wissen wird besonders gefördert, indem die Differenz zwischen dem abstrakteren, allgemeinerem wissenschaftlichen Wissen und dem konkreten, erfahrungsbezogenen Praxiswissen reflektiert und verschiedene Nutzungs- und Transformationsmöglichkeiten von theoretischem Wissen erwogen und erprobt werden. Die Anschaulichkeit der Fälle in dieser Buchreihe dient von daher nicht nur einer gefälligeren und eingängigeren Darbietung. Die Herstellung von Beziehungen zwischen dem relativ abstrakten Kompetenzmodell und konkreten Ereignissen in der Praxis fordert die Deutungskompetenz der Leser und fördert sie zugleich.

Der generalistische Ansatz dieser Reihe verlangte eine inhaltlich begründete Bündelung der Anforderungen in den vielfältigen Tätigkeitsfeldern des Berufs, um die Kompetenzanalysen auf bestimmte Berufsfeldausschnitte beziehen und diese dann bestimmten Bänden und Autoren zuordnen zu können. Dazu wurde im Autorenkreis das von mir vorgeschlagene Modell von Handlungstypen Sozialer Arbeit diskutiert und auf mehreren Treffen mit den Tätigkeitsfeldern, Organisationen und Angeboten verglichen, die den einzelnen Bänden zugeordnet werden sollten. Es wird ausführlicher im fünften Kapitel dargestellt. In jedem Band bilden Fälle das Material für die Kompetenzanalysen. Sie beruhen auf erzählender Rekonstruktion von Fallverläufen durch erfahrene PraktikerInnen, z. B. auf der Basis von Interviews. Es sind also reale Fälle, keine künstlich auf das Hochglanzformat von „Best Practice“ getrimmten Beispiele. Verunsicherungen und Fehler haben von daher durchaus ihren Platz, denn auch Professionalität und langjährige Berufserfahrung garantieren keine Fehlerfreiheit. Professionelle sind „nur“ eher in der Lage, ihre Fehler zu erkennen und zuzugeben, sie rascher zu beheben und aus ihnen zu lernen.

Die Auswahl der Fälle im Kreis der Autoren wurde nicht durch die Formulierung eines Kriterienkatalogs erreicht, sondern durch wechselseitige Lektüre der Textentwürfe zu den Falldarstellungen und Fallanalysen. Die Fälle sollten den gemeinsamen Vorstellungen von fachlich angemessenem beruflichem Handeln entsprechen. Für dieses Engagement und die anregende Diskussion möchte ich den Autoren recht herzlich danken!

Es sind also zwei Modelle, die die Grundstruktur dieser Reihe konstituieren: das Handlungskompetenzmodell und das Modell der berufsfeldübergreifenden Handlungstypen. Sie stellen die gemeinsame Basis für alle Bände dieser Reihe dar, die im Band 5 „Leiten in Einrichtungen der Sozialen Arbeit“ um ein spezielles Kompetenzmodell für diesen Aufgabentypus ergänzt wurde. Kurze Zusammenfassungen der Grundideen der beiden Modelle sind in allen Bänden als identische Textbausteine abgedruckt, in diesem Band in gekürzter Fassung in Kapitel 1.2 und 1.3. Die ausführlichere Begründung des Kompetenzmodells und der Handlungstypen mit theoretischen Bezügen zum Berufsverständnis, die sich im dritten, vierten und fünften Kapitel findet, ist nur in diesem ersten Band enthalten und nicht mit den anderen Autoren abgestimmt.

Falldarstellungen verführen durch ihre Anschaulichkeit leicht dazu, den Fall für so typisch zu halten, dass andersartige Abläufe nur schwer vorstellbar sind. Daher wurden die Fälle nach den Prinzipien der maximalen Kontrastierung ausgewählt: andere Arbeitsfelder, andere Adressaten, andere Problemlagen, andere organisatorische Rahmenbedingungen und zumindest teilweise auch andere Vorgehensweisen der Fachkraft. Aber alle Kompetenzen des Rahmenmodells (vgl. Tab. 1) sollten in jedem Fallbeispiel eine Rolle spielen, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.

Reflektiertes professionelles Handeln erfordert ständig eine begründete Auswahl aus Handlungsalternativen. Bei einer fallbezogenen Darstellung fehlt ein Ort, um die Fachkenntnisse und Wertvorstellungen, die als Hintergrundwissen eine wichtige Rolle spielen, umfassend und logisch stringent, also systematisch darzustellen. Kasuistische Darstellungen illustrieren das Partikulare. Dass man auch anders hätte handeln können, wird vielleicht von den Akteuren erwogen oder bei der Fallanalyse angemerkt – aber ohne das Gesamtspektrum der Möglichkeiten aufzeigen zu können. Enzyklopädische Erwartungen müssen allerdings auch in dieser Reihe enttäuscht werden. Aber über die Wissensbausteine kann zumindest ein breiteres, fallunabhängiges Hintergrundwissen vermittelt werden. Lücken und ungenutzte Potenziale in den Fallschilderungen können aufscheinen – und nicht zuletzt können die Wissensbausteine zum Weiterlesen anregen.

Im ersten Band werden ausführlicher die theoretischen Grundlagen zum Kompetenzmodell gelegt und umfassender als in den anderen Bänden systematisches Wissen über Wissensbausteine vermittelt. Dafür mussten die Fallbeispiele leider kürzer ausfallen. An zwei Fällen wird aufgezeigt, was es heißen kann (nicht muss!), unter den nur begrenzt vorhersehbaren, vielfältigen und häufig wechselnden, von daher immer wieder überraschenden und kontingenten Bedingungen der Praxis kompetent zu handeln.

1.2Das Kompetenzmodell

Der Begriff Handlungskompetenz bezeichnet Potenziale, über die eine Person verfügt und die notwendig sind, um komplexe und bedeutende Aufgaben zu bewältigen. Als personenbezogener Begriff verweist „Kompetenz“ nicht auf Kontextfaktoren. Handlungskompetenz ist aber erst durch die Beziehung zu den Rahmenbedingungen des Handelns angemessen zu verstehen und wird daher im Folgenden stets damit in Beziehung gesetzt. Das Handlungskompetenzmodell, das allen Bänden dieser Reihe zu Grunde liegt, geht aus von:

■bereichsbezogenen Kompetenzmustern: Fallkompetenz, Systemkompetenz und Selbstkompetenz

■prozessbezogenen Kompetenzmustern: Analyse- und Planungskompetenz, Interaktions- und Kommunikationskompetenz, Reflexions- und Evaluationskompetenz.

Bereichsbezogene Kompetenzmuster: Die Soziale Arbeit hat den Auftrag, sowohl die Lebensbedingungen als auch die Lebensweise ihrer Klientel zu verbessern. Dementsprechend lässt sich ihr Aufgabenspektrum in zwei große Aufgabenbereiche unterteilen: (1) Arbeit mit dem Klientensystem (KlientInnen und ihr Umfeld) und (2) Arbeit mit dem Leistungssystem (z. B. mit dem Bildungssystem, dem Wohlfahrtssystem, der Politik, der Justiz etc.). Auf diese doppelte Aufgabenstellung der Initiierung von Aktivitäten zur Veränderung der Verhältnisse (Lebensbedingungen) und des Verhaltens (Lebensweise) lassen sich die berufsspezifischen Handlungskompetenzen Sozialer Arbeit beziehen. Zusammen mit der Person der Fachkraft ergeben sich daraus drei grundlegende, gegenstandsbezogen definierte Kompetenzbereiche: Selbst-, Fall- und Systemkompetenz.

■Die Fallkompetenz ist bezogen auf das Klientensystem (Probleme und Ressourcen der KlientInnen und ihres sozialen und institutionellen Umfelds);

■Die Systemkompetenz ist bezogen auf die Organisation (Konzept und Angebot) der Fachkraft und auf das Leistungssystem, mit dem kooperiert wird (Organisationen des Bildungs-, Gesundheits-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftssystems);

■Die Selbstkompetenz ist bezogen auf die Person der Fachkraft (Einstellung, Haltung, Qualifikation, Motivation).

Die prozessbezogenen Kompetenzmuster der Planungs-, Interaktions- und Evaluationskompetenz bilden bestimmte Schwerpunkte in der Schrittfolge des problemlösenden Handelns ab. Sie können sich auf alle drei Kompetenzbereiche beziehen: auf die eigene Person, das Klientensystem und das Leistungssystem. Die obige Tabelle verdeutlicht die möglichen Kombinationen von prozess- und bereichsbezogenen Kompetenzen.

Tab. 1: Das Handlungskompetenzmodell

Nach den Begriffen in dieser Tabelle sind die Erläuterungen der Fälle in fast allen Bänden der Buchreihe gegliedert. Nur der Band zur Leitungskompetenz erhält ein eigenes, entsprechendes Kompetenzmodell.

Um eine Handlungsstrategie zu entwickeln und umzusetzen, ist stets eine Kombination aller bereichsbezogenen Kompetenzmuster mit allen prozessbezogenen Kompetenzmustern erforderlich, allerdings mit Schwerpunktsetzungen in einer bestimmten Phase oder bei bestimmten Aufgaben (vgl. Kap. 4.2.4).

1.3Handlungstypen und Berufsfelder

Die Bände der Buchreihe beziehen sich mit ihren Fallschilderungen und -analysen nicht auf gewachsene Berufsfeldstrukturen (z. B. Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Straffälligenhilfe) sondern auf funktional begründete Handlungstypen. Die gewachsenen Strukturen beruhen auf gesetzlichen Vorgaben, Finanzierungsmodalitäten, Trägertraditionen und regionalen Zuständigkeiten, die nur teilweise ähnliche Aufgaben und Handlungsanforderungen bündeln. Das Konzept der Handlungstypen erlaubt es, jenseits solcher organisatorischen Ausdifferenzierungen Gemeinsamkeiten zu erfassen und die einzelnen Bände je einem funktionalen Handlungstypus zuzuordnen. In diesem Band stammt die einführende Fallvignette aus der Schulsozialarbeit, einem ambulanten, lebensweltunterstützenden Angebot. Hier ist das Ausmaß der gemeinsam verbrachten Zeit weitaus geringer als im zweiten ausführlicheren Fallbeispiel, das aus einer stationären, lebensweltersetzenden Einrichtung, einem Heim stammt. In der Schulsozialarbeit begegnet die Fachkraft den Schülern nicht regelmäßig und manchen von ihnen sehr selten. Im Heim sieht die Fachkraft den Klienten täglich, meist mehrmals am Tag. Die gemeinsamen Aktivitäten sind weitaus alltagsnäher als bei der Schulsozialarbeit. Man kocht und isst zusammen, kümmert sich um die Wäsche, die Ordnung im Zimmer, organisiert den Arztbesuch etc.

Neben dem alltagsnäheren, informellen Setting der Begegnungen stellt die Zeitdimension den wichtigsten Unterscheidungsfaktor dar, der auch die Beziehungsgestaltung beeinflusst. Fachkraft und Klient sehen sich im Heim nicht nur häufiger und verbringen (oft über mehrere Jahre) viel mehr Zeit miteinander als die Schulsozialarbeiterin für einzelne Schüler aufbringen kann. Zwar wird in der folgenden Fallvignette zur Schulsozialarbeit vor allem eine Phase der intensiveren Kooperation geschildert, in der das von der Klassenfahrt ausgeschlossenen Mädchen die Sozialarbeiterin täglich und alleine trifft. Aber es ist klar, dass dies eine punktuell intensive Begleitung ist, die wieder enden wird – und beide müssen sich auch auf dieses Ende einstellen. Zugleich ist ihre Kooperation durch eine formalere Struktur gekennzeichnet: nicht in der Lebenswelt der Klientin, in ihrem Alltag, sondern in der Schule, zu bestimmten, vereinbarten Zeiten wird etwas besprochen und geübt, finden Bildungsprozesse statt. Das Spektrum der bearbeiteten Probleme ist zugleich schmaler als in der Begleitung und Förderung im Heim, bei der alle Lebensaufgaben bearbeitet werden und die Vernetzung und Kooperation mit anderen Diensten und Einrichtungen umfassender ist. Dieser kurze Vergleich dürfte einführend deutlich gemacht haben, welche unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen mit verschiedenen Handlungstypen verbunden sind. Eine ausführlichere Darstellung, bezogen auf alle Handlungstypen der Reihe, findet sich im Kapitel 5.3. Während sich die anderen Bände, außer der Band zur Leitung, jeweils nur auf einen Handlungstypus beziehen, werden im einführenden Band Fallbeispiele aus zwei verschiedenen Handlungstypen analysiert.

Wissensbaustein: Armut, Armutsbewältigung und Armutsprävention

von Gerda Holz

Bis in die 1970er Jahre war Armut in der Bundesrepublik Deutschland kein Thema, da allgemein von einer immerfort währenden Prosperität ausgegangen wurde. Allenfalls die Notlage von RentnerInnen wurde problematisiert, worauf mit Reformen der Rentenversicherung und Sozialhilfe erfolgreich reagiert werden konnte. In den 1980er beginnt ein langer Prozess der Zunahme von neuen Armutsrisiken. Besonders Kinder und Jugendliche – lange Zeit unbemerkt – wurden zu Hauptbetroffenen. Seit Ende der 1990er Jahre zeigt sich eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft am unteren und oberen Ende der Wohlstandskala und mit einer „schrumpfenden Mittelschicht“, was eine grundsätzliche Gefährdung des sozialen Zusammenhalts und sozialen Friedens in Deutschland bedeuten kann. Im OECD-Ländergleich von Armutsquoten nimmt Deutschland einen Platz im oberen Drittel ein (BMAS 2008).

Armutsbegriff und Armutsmessung

Es gibt bis heute keinen einheitlichen Begriff, was einerseits mit der komplexen Struktur des Armutsphänomens zu tun hat und andererseits Ausdruck der Tatsache ist, dass jede Definition auf einer politisch-normativen Grundentscheidung beruht. Daher finden sich verschiedene Möglichkeiten zur Armutsmessung, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Ermittlung von Armutsquoten und die zu ergreifende Armutspolitik. Im Wesentlichen finden sich vier Konzepte: Armut verstanden als

■„Ressourcenarmut“ (Konzentration auf das Vorliegen einer Einkommensarmut, festgemacht an der EU-Armutsgrenze),

■„Lebenslage“ (Einkommensmangel führt zugleich zu einer Unterversorgung in allen Lebensbereichen, z. B. Ernährung, Wohnung, Gesundheit, Bildung, soziale Teilhabe),

■Ursache für „Soziale Ausgrenzung“ (länger andauernde oder immer wieder auftretende Kumulation von Unterversorgungslagen, mit der Gefahr einer sich verfestigenden sozialen Desintegration wie Bildungsferne, Suchterkrankung, Kriminalität),

■Begrenzung von „individuellen Verwirklichungs- und Teilhabechancen“ (Einschränkung der Persönlichkeitsentwicklung und der aktiven Mitgestaltung der eigenen Umwelt, z. B. kein Erlernen von Teamfähigkeit/-arbeit in Schülerrat, Jugendverband oder Studentenvertretung).

In entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften wird Armut als „relative Armut“ verstanden und anhand des Lebensstandards der Armen im Verhältnis zum durchschnittlichen Lebensstandard der jeweiligen Gesellschaft betrachtet. Als Messgröße gilt die 60%-Armutsgrenze der Europäischen Union, d. h., arm ist, wer weniger als 60% des gewichteten Haushaltsnettoeinkommens (Median) des jeweiligen EU-Staates zur Verfügung hat (vgl. Huster et al. 2008).

Ursachen und Risikogruppen

Als Ursachen von Armut bei Erwachsenen gelten (Langzeit-)Erwerbslosigkeit und Erwerbstätigkeit im Niedriglohnsektor sowie „Working Poor“ – also Armut trotz Erwerbsarbeit. Weiterhin sind Trennung und Scheidung sowie Überschuldung bedeutsam. Noch selten wird – und wenn dann mit Bezug zur Problematik „Frauenarmut“ – die nicht oder nur gering entlohnte Haus-, Pflege-, Erziehungs- und Sorgearbeit diskutiert: Eine Beispiel dazu: Eine Frau setzt wegen der Erziehung von zwei Kindern rund zehn Jahre beruflich aus und erreicht so nur 30 statt möglicher 40 Rentenbeitragsjahre. Meist gelingt der berufliche Wiedereinstieg nur über eine niedrig bezahlte Teilzeitstelle. Entsprechend gering fallen die gesetzlichen Rentenansprüche aus. Ohne andere Absicherungen (z. B. Wohneigentum, Versorgungsansprüche gegenüber einem Partner) ist bei ihr Altersarmut wahrscheinlich.

Dem Risiko der Armutsbetroffenheit wiederum unterliegen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich. Bezogen auf Minderjährige sind überdurchschnittlich armutsgefährdet Kinder aus Familien mit einem der o. g. Erwerbstatus, mit Migrationshintergrund, aus Ein-Eltern-Familien sowie aus Familien mit drei und mehr Kindern. Ebenso sind Kinder in Großstädten gefährdeter als aus ländlichen Räumen sowie Kinder in sozial segregierten Quartieren (d. h. Gebiete, in denen sozial belastete Bevölkerungsgruppen überwiegen).

Ansätze staatlicher Gegensteuerung

Armutsbekämpfung oder mindestens Armutsverminderung ist grundgesetzlicher Auftrag eines Sozialstaates wie dem deutschen. Sie zählt zu seinen Pflichtaufgaben:

■Auf nationaler Ebene sind es vor allem allgemeine Strukturmaßnahmen: Existenzsichernde Transferzahlungen (z. B. bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter, Familienleistungen wie Kindergeld), Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten (z. B. aktive Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Arbeitszeitpolitik) und existenzsichernde Entlohnung (z. B. Garantie von Mindestlöhnen, Steuerregelung).

■Auf Landesebene kommt den Gesetzen und Vorschriften über die lokal vorzuhaltende Dienstleistungsinfrastruktur – vom Regional-/Nahverkehr bis zum Wohnungsbau – und dem Bildungswesen – von der KiTa bis zur Seniorenbildung – herausragende Bedeutung zu.

■Die lokale Ebene – Kommunen/Kreise – wiederum trägt die Verantwortung für die konkrete Planung, Koordination und Gestaltung der sozialen Infrastruktur. Diese muss den spezifischen örtlichen Problem- und Bedarfslagen entsprechen. Kommunale Armutspolitik ist ausdrücklich Integrationspolitik. Ihr bieten sich prinzipiell folgende Ansätze: Sozialberichterstattung und Sozialplanung als Teil fortwährender Stadt-/Regionalentwicklung, Vorhaltung einer quantitativ und qualitativ angemessenen Versorgung mit sozialen Dienstleistungen, Umsetzung von Handlungskonzepten und Strategien der sozialen Integration, Vernetzung und Kooperation, Gestaltung durch Qualität über Ressourcen, Konzepte und Professionalität.

Möglichkeiten und Aufgaben der Sozialer Arbeit

Armut ist genuiner Bestandteil einer modernen marktwirtschaftlich organisierten und auf Geldbeziehungen beruhenden Gesellschaft. Sie ist ein strukturell angelegtes Phänomen. Soziale Arbeit wiederum ist ein wichtiges Instrument sozialstaatlichen Handelns zur „Bekämpfung“ oder „Vermeidung“ von Armut. Im Wesentlichen geht es um vier Aufgaben: (1) Armut erkennen, (2) das Phänomen Armut verstehen, (3) Armutsfolgen verringern und (4) Armut verhindern bzw. zu ihrer Verminderung beitragen.

(1) Armut erkennen: Fachkräfte müssen gut über Umfang, Ursache, Risikogruppen und Auswirkungen von Armut informiert sein, auf individueller, Haushalts- und sozialräumlicher Ebene.

Zu „Armut erkennen“ gehört auch, das Netzwerk vorhandener sozialer Dienste und Angebote zu kennen und zu nutzen. Es reicht von der Agentur für Arbeit (z. B. aktive und passive Förderung, Fallmanagement) über die öffentliche Verwaltung (z. B. Wohnungs-, Jugend-, Gesundheitsamt) bis hin zu Angeboten der Wohlfahrtsverbände, zu Selbsthilfegruppen und bürgerschaftlichen Engagierten.

Tab. 2: Ebenen und Kontexte von Armut

(2) Das Phänomen Armut verstehen: Angesprochen ist die grundsätzliche Einstellung gegenüber dem Armutsphänomen und einer davon ableitbaren Haltung gegenüber Armutsbetroffenen. Schnell stellt sich die Frage nach einer vermeintlichen Schuld: Ist die Armutssituation selbstverschuldet oder sind allgemeine Lebensbedingungen ursächlich? Je nach persönlicher Präferenz des/r Professionellen

■gestalten sich die Beziehung zum Gegenüber, die angewendete Unterstützungsstrategien und das Angebotssetting, aber auch Erfolge oder Misserfolge;

■werden eindimensionale Lösungsansätze – meist im Stil des „Forderns“ – oder mehrdimensionale Unterstützungsprozesse – meist in Verknüpfung von „Fördern und Fordern“ und mit Vorrang des „Förderns“ – gewählt;

■werden gesellschaftliche Bezüge über den Einzelfall hinaus gesehen und diese für die Bewertung der Situation und der Bewältigungsmöglichkeiten des/r Armutsbetroffenen mit einbezogen.

(3) Armutsfolgen verringern: Dies ist der Kernbereich Sozialer Arbeit: Basis aller weiteren Unterstützungsmaßnahmen ist zunächst immer die Sicherung der existenziellen Bedürfnisse der Betroffenen. Damit verbindet sich dann eine spezifische Unterstützung je nach Ausprägung der Armutslage. Entsprechend müssen Hilfeansätze

■die materiellen Rechte der Betroffenen umsetzen helfen,

■eine Entlastung der häufig überlasteten und überforderten Menschen – gerade auch Eltern – bewirken,

■die Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen (wieder) eröffnen und sichern,

■Menschen (wieder) zu einem selbst gestalteten und eigenverantwortlichen Leben befähigen.

(4) Zur Verhinderung von Armut beitragen: Losgelöst vom Einzelfall sind immer auch die Strukturen zu betrachten. Sozialräumliche Analysen und Arbeit, Vernetzung mit anderen Akteuren, Arbeit an gemeinsamen Leitbildern sowie die Verstärkung öffentlicher Auseinandersetzungen sind Bestandteile eines professionellen sozialpolitischen Handelns mit dem Ziel der Armutsprävention. SozialarbeiterInnen sind Akteure innerhalb des Gemeinwesen, die stellvertretend oder zusammen mit Betroffenen auf Armutsphänomene aufmerksam machen. Dazu dient die Mitarbeit in Lokalen Bündnissen, Stadtteilkonferenzen oder in kommunalen (Jugendhilfe-)Ausschüssen. Es bietet sich die Presse- und Medienarbeit an oder die Initiierung von Fachdiskussionen mit Hilfe von Workshops oder Konferenzen und/oder eine regelmäßige Berichterstattung über empirisch erkennbare Trends sowie konkrete Fallbeispiele.

Literaturempfehlungen

zur Einführung: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (zuletzt 2008): Lebenslagen in Deutschland. 1., 2. und 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin

Huster, E.-U., Boeckh, J., Mogge-Grotjahn, H. (Hrsg.) (2008): Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. Wiesbaden

zur Vertiefung: Butterwegge, C. (2009): Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Frankfurt/M.

Holz, G., Richter, A., Wüstendörfer, W., Giering, D. (2006): Zukunftschancen von Kindern!? Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit. Frankfurt/M.

Meier, U., Preuße, H., Sunnus, E.-M. (2003): Steckbriefe von Armut. Haushalte in prekären Lebenslagen. Wiesbaden

2Fallvignette aus der Schulsozialarbeit: Fatima hat eine Mitschülerin bestohlen

2.1Fallschilderung

Fatima (13 Jahre) hatte zweimal Mitschülerinnen bestohlen. Sie wurde daraufhin von der Klassenfahrt ausgeschlossen, musste in der Zeit der Klassenfahrt in der Parallelklasse am Unterricht teilnehmen und eine „Arbeitswoche“ bei der Schulsozialarbeiterin der Hauptschule verbringen. Die Lehrer erwarteten von der Schulsozialarbeiterin, dass sie (wie bei ihrer Vorgängerin üblich) Fatima in dieser Zeit mit Strafarbeiten wie Putzen, Aufräumen, Botengänge usw. beschäftigen würde. Die Schulsozialarbeiterin, Frau Malzer, sah allerdings in bloßen Strafaktionen ohne Bezug zu den Ursachen der Tat wenig Sinn und suchte nach eigenen Wegen.

Glücklicherweise hatten Fatima und die Sozialarbeiterin sich schon zwei Monate vor dem Diebstahl kennen gelernt und ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Das Mädchen war eine Zeit lang täglich spontan vorbeigekommen und hatte immer mehr erzählt, was sie bewegte. Vor allem von ihrer häuslichen Situation hatte sie berichtet, z. B. von ihrem Vater, der seit dem Krebstod der Mutter vor vier Jahren kaum ansprechbar war und sich um fast nichts mehr richtig kümmerte. Die fünf Jahre ältere Schwester hatte bis vor einem Vierteljahr, als sie zu ihrem Freund zog, Fatima und ihre zwei und vier Jahre jüngeren Schwestern versorgt. Seit einigen Monaten musste nun Fatima für ihre Geschwister sorgen und noch zahlreiche Arbeiten im Haushalt übernehmen. Der Vater hatte sich schließlich etwas erholt, hatte aber viel mit Behörden und Ärzten zu tun, um seine Frühverrentung wegen eines Rückenleidens zu klären. So blieb Fatima kaum Zeit für ihre Schulfreundinnen und sie gehörte nicht mehr richtig zu ihrer Clique. Als Tochter eines Empfängers von staatlichen Unterstützungsgeldern (Hartz IV) konnte sie außerdem an manchen Vergnügungen der Klassenkameraden aus Geldmangel nicht mehr teilnehmen. Ihre Kleidung entsprach auch nicht dem, was als „cool“ galt. Der Vater hatte sich durch einen Ratenvertrag so verschuldet, dass der finanzielle Rahmen der Familie noch enger war. Die Schulsozialarbeiterin hatte dem Vater über Fatima die Informationsbroschüre einer Finanz- und Schuldnerberatungsstelle zukommen lassen und ein Gespräch angeboten. Aber der Vater hatte auch darauf nicht reagiert. Leider konnte sie daher auch nicht mit ihm darüber sprechen, ob er (wie in türkischen Familien teilweise üblich) diese Belastung von Fatima für einen selbstverständlichen Beitrag zum Familienzusammenhang hielt, ohne die Kehrseite zu sehen.

Zum Zeitpunkt des Diebstahls war das Verhältnis zwischen Fatima und der Schulsozialarbeiterin gerade erheblich lockerer geworden. Angesichts einer Reihe dringender Einzelfälle hatte Frau Malzer wenig Zeit und sah auch keinen Grund, sich mit Fatima intensiv zu beschäftigen. Das Mädchen hatte damals weder schulische Schwierigkeiten, noch steckte sie in einer akuten familialen Krise – im Gegensatz zu anderen Schülern. Als Fatima dann beim Diebstahl erwischt wurde, rekapitulierte die Schulsozialarbeiterin für sich die letzten vier Wochen, in denen die täglichen informellen Begegnungen mit Fatima allmählich auf einen festen Pausentermin pro Woche reduziert worden waren. Hatte sie irgendwelche Krisenzeichen oder Hilferufe übersehen? Sie nahm sich vor, ihre Gewohnheit wieder aufzunehmen, am Ende des Arbeitstages noch einmal zehn Minuten alles Erlebte Revue passieren zu lassen.

Nach der Meldung des Diebstahls durch die Klassenlehrerin wollte Frau Malzer mit Fatima Kontakt aufnehmen, aber diese kam in einer Pause von sich aus auf sie zu und erzählte ihr auf dem Flur vom Diebstahl. Es platzte förmlich aus ihr heraus. Auf die Frage: „Warum erzählst du mir das?“, antwortete sie, den Tränen nahe, „Weiß nicht. Irgendwie will ich, dass du weißt, dass ich das nicht mehr machen werde.“ Die „blöde“ Idee sei von den Mitschülerinnen gekommen. Sie hätte nur mitgemacht, obwohl sie schon befürchtet hätte, erwischt zu werden. Die Mitschülerinnen ihrerseits konnten oder wollten dazu nichts sagen, kicherten nur, bestritten aber die gemeinsame Planung auch nicht. Alle fanden, es sei eben „dumm gelaufen“. Die Klassenlehrerin wusste nichts Genaueres über den Tathergang oder die Motive, war aber überzeugt, dass Fatima die „Rädelsführerin“ war.

Frau Malzer fragte Fatima nach ihren Ideen zur Zusammenarbeit in der Arbeitswoche. Als ihr nichts einfiel, schlug sie ihr schließlich vor, im Rollenspiel auszuprobieren, wie man auf Ideen von Mitschülern reagieren kann, die man nicht so gut findet, die z. B. vorschlagen, jüngere Mitschüler zu piesacken, etwas zu demolieren – oder eben zu klauen. Am Anfang hatte Frau Malzer Zweifel, ob die Methode „Rollenspiel“ das Richtige für die eher zurückhaltende Fatima sei. Aber diese begeisterte sich zunehmend dafür, gerade zum Thema „Bestohlen werden“. Zunächst verharmloste sie jegliche Form von „Mitgehenlassen“. Sie argumentierte auch in den Gesprächen nach dem Spiel nicht normenbezogen, sondern ergebnisbezogen („Pech, dass ich erwischt wurde“). Außerdem relativierte sie ihr Fehlverhalten durch den Verweis auf Mitschüler („Haben die anderen ja auch schon gemacht“). Diese Begründungen standen in merkwürdigem Kontrast zu ihrem Geständnis auf dem Flur. Sie nahm aber die andere Einstellung von Frau Malzer wahr, genoss die gemeinsam mit ihr verbrachte Zeit und setzte sich im Laufe der Woche immer ernsthafter mit deren Argumenten auseinander. Zu ihrer Unsicherheit, wie ernst bestimmte Normen und Werte der Erwachsenen zu nehmen seien, trug vielleicht auch der Vater bei, den der Diebstahl nicht beunruhigte. Am Ende der Woche bestritt Fatima ihren Anteil an der Tat nicht mehr und konnte besser nachvollziehen, dass sie bei etwas mitgewirkt hatte, das andere nicht mögen.

Neurowissenschaftliche Grundlagen der Handlungsregulation

Das menschliche Gehirn wird in den Neurowissenschaften als ein sich selbst organisierender Erfahrungsspeicher betrachtet, der aufgrund von Erfahrungen des Organismus seine Struktur ändern kann. Der genetisch angelegte Ausreifungsprozess des Gehirns geht dabei mit sozialen Ausformungsprozessen einher und ist an organische Entwicklungsschübe gebunden. Nach dem zweiten und zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr weist das Gehirn z. B. das doppelte Potenzial an Neuronen und synaptischen Verbindungsmöglichkeiten auf wie im Erwachsenenalter. Dieses Überpotenzial baut sich im Zuge der Herausbildung bevorzugter Verzweigungen zwischen den Nervenzellen wieder ab. Durch häufige Wiederholungen werden die neu entstandenen Verbindungen immer besser gebahnt, sind leichter aktivierbar und gewinnen als Formen der Realitätsaneignung Einfluss auf psychische Aktivitäten, oft ohne dass dies den Handelnden bewusst ist.

Das Gehirn benötigt etwa 18 bis 20 Jahre, um jene Bahnungen zu etablieren, die für die kognitiv-emotionale Lebenskompetenz von Erwachsenen nötig sind. KlientInnen, die zwar veränderungsbereit sind, aber das Geplante nicht umsetzen können, weisen oftmals Reaktionsmuster auf, die einem früheren Lebensalter entsprechen. Sie sind z. B. nicht in der Lage,

■sich von Ich-bezogenen Vorstellungen zugunsten einer sozial bezogenen und mehrperspektivischen Sicht der Wirklichkeit zu lösen,

■klar zwischen ihren guten Absichten und ihrem tatsächlichen Handeln zu unterscheiden,

■Moratorien zwischen Handlungsimpuls und Handlung einzuschalten, um mögliche Konsequenzen zu bedenken,

■sich auch als Ursache ihrer Probleme und nicht nur als Pechvögel oder Opfer zu sehen.

Im Rahmen einer wertschätzenden Beziehung gelingt es KlientInnen am ehesten, innere Bilder von sich selbst und ihrer Umwelt zu korrigieren, Lern- und Entwicklungsprozesse nachzuholen, eine intrinsische Motivation aufzubauen und so ihre Selbststeuerung zu verbessern (siehe auch Roth 2001; Hüther 2005; Storch/Krause 2007; Kron-Klees 2008, 97 ff., 124 f., 198 f.).

Fatima, so berichteten die Lehrer, ist in ihrer Klasse isoliert. Sie ist die einzige Muslima, die ein Kopftuch trägt. Über eine mögliche Verstärkung ihrer sozialen Ausgrenzung durch den Ausschluss von der Klassenfahrt hatte sich die Lehrerkonferenz keine Gedanken gemacht. Frau Malzer erzählte der Klassenlehrerin andeutungsweise von Fatimas häuslicher Situation, dass sie selbst für die Clique sehr wenig Zeit hätte, und berichtete ausführlicher vom Gefühl des Mädchens, nicht wirklich zur Klassengemeinschaft zu gehören. Auch Fatimas Entwicklungen im Rollenspiel schilderte sie anschaulich. So veränderte sich das Bild der Lehrerin von der „Rädelsführerin“ allmählich und sie bemühte sich um Fatimas Integration in den Klassenverband. Zwei Monate später berichtete sie, dass Fatima sich mit einem Mädchen näher befreundet habe und auch von der Klassengemeinschaft besser akzeptiert werde. Sie wirke jetzt deutlich fröhlicher und selbstbewusster und sei auch konzentrierter im Unterricht dabei. Am Ende dieser Kooperation hatten beide das Gefühl, gemeinsam erstaunlich viel erreicht zu haben. Sie waren sich auch einig, dass es sinnvoll wäre, wenn Klassenlehrer vor wichtigen Entscheidungen bei den beiden Schulsozialarbeiterinnen nachfragen würden, um sie gegebenenfalls zu Konferenzen hinzuzuziehen.

2.2Analyse der Fallvignette

Die Schulsozialarbeiterin arbeitet nicht nur mit Fatima, sondern auch mit einer ganzen Reihe anderer Personen. Sie beweist dabei Fallkompetenz im Umgang mit Fatima, Systemkompetenz im Umgang mit der Organisation Schule und ihren Mitgliedern, Selbstkompetenz, indem sie ihre Wut auf den Vater und die Lehrer und ihre eigene Rolle in dieser Dreierkonstellation reflektiert.

Frau Malzers Ziel war es, Fatimas Fähigkeit zu fördern, Unrecht als Unrecht zu erkennen, zu ihren Fehlern zu stehen und sich in das Opfer einzudenken. Die Wege zu diesem Ziel sucht sie mit Fatima gemeinsam. Dabei nutzt sie mehrere veränderungsfördernde Ansätze: einsichts- und erlebnis- und verhaltensorientierte Methoden ( Wissensbaustein „Personenbezogene Veränderungstheorien“). Verhaltensorientiert übt sie z. B. im Rollenspiel mit Fatima mögliche Antworten auf Einladungen der Clique, weitere Delikte zu begehen. So kann Fatima ihr Verhaltensrepertoire erweitern und sicherer werden. Einsichtsorientiert versucht sie zunächst zu ergründen, was in Fatima vorgegangen ist, wie sie das Geschehene inzwischen beurteilt und was sie sich für die Zukunft wünscht. Empfindet sie eine eigene Handlung als Unrecht, das sie sühnen möchte, um sich von ihrem Schuldgefühl zu befreien? Um sie besser zu verstehen, informiert sie sich nach dem Diebstahl auch bei der Schwester, bei der Klassenlehrerin und der Sozialarbeiterin des Jugendamtes, die die Familie seit dem Tod der Mutter begleitet. Und natürlich redet sie vor allem mit Fatima. Frau Malzer versucht den Hergang, die Motive der Beteiligten und die Reaktionen der Außenstehenden aus der Sicht der Beteiligten zu rekonstruieren. Dies verlangt neben Analysekompetenz auch Interaktions- und Kommunikationskompetenz, da es hier nicht um Sachinformationen und eindeutige Daten geht, etwa zur Höhe des gestohlenen Betrags im Verhältnis zum Beitrag für die Klassenfahrt. Notwendig ist Sinnverstehen, eine Interpretation sozialer Prozesse und ihrer Bedeutung für die Beteiligten aus ihrer Sicht. Soziale Ereignisse bedürfen einer dialogischen Erschließung, um nachzuvollziehen, wer von welchen Erwartungen, Hoffnungen oder Enttäuschungen ausging, wer sich wessen Verhalten damals wie erklärte und deswegen so reagierte (