Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht - Gabriele Obst - E-Book

Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht E-Book

Gabriele Obst

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Beschreibung

Religionslehrerinnen und -lehrer stehen heute vor der Aufgabe, landesweite, kompetenzorientierte Lehrpläne umzusetzen: Schulinterne Curricula sind zu entwickeln, Überprüfungs- und Bewertungsverfahren für die erzielten Kompetenzen auszuarbeiten. Der eigene Unterricht ist so zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler Kompetenzen religiöser Bildung erwerben können.Das Buch leitet durch die pädagogische und religionspädagogische Diskussion. Standard- und kompetenzorientierte Modelle religiöser Bildung werden gesichtet. Sodann steht die kompetenzorientierte Praxis im Zentrum: Was ist bei der Planung zu bedenken? Wie unterrichtet man kompetenzorientiert? Wie können Kompetenzen überprüft werden?Die 4. komplett überarbeitete und aktualisierte Auflage wurde inhaltlich in allen Aspekten der derzeitigen religionspädagogischen Debatte aufgearbeitet und erstrahlt auch optisch in neuem Glanz.

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Seitenzahl: 358

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Gabriele Obst

KompetenzorientiertesLehren und Lernen imReligionsunterricht

4. Auflage, überarbeitet und aktualisiert von Hartmut Lenhard

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 18 Abbildungen und 4 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99730-8

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: Iris Kersten

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Produced in Germany.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort zu den Auflagen 1–3: Welche Leser und Leserinnen passen zu diesem Buch?

Zur 4. Auflage: Warum eine Neubearbeitung nötig ist

1. Einleitung: Von einer neuen Schule träumen – oder: Wie kommt man dorthin, wo man hin will?

2. Annäherungen: Kompetenzen und Standards – ein Paradigmenwechsel

2.1 Schule nach dem PISA-Schock

2.2 Die Expertise »Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards«

3. Religionspädagogische Kompetenzmodelle (Ebene 1)

3.1 Religiöse Kompetenz als Globalziel religiöser Erziehung – der Ansatz Ulrich Hemels (1988)

3.2 Die deutschen Bischöfe: Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards (2004).

3.3 Das baden-württembergische Kompetenzmodell für den Evangelischen RU (2004)

3.4 Das Berliner Modell religiöser Kompetenz: Ein empirisches Forschungsprojekt (2004).

3.5 Eine bundesländerübergreifende Expertise: Der Entwurf des Comenius-Instituts Münster (2006)

4. Religionspädagogische Standards und Kerncurricula (Ebene 2)

4.1 Standards für das Abitur – Die Einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA) für das Abitur (2006)

4.2 Kompetenzen und Standards für die Sekundarstufe I (2010)

4.3 Kerncurriculum Religion – Inhalte und Methoden für die Sekundarstufe II (2010)

4.4 Kerncurriculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5–10. Evangelische Religion. Niedersachsen (2009)

4.5 Ein vorläufiges Fazit

5. Didaktische Ansätze, unterrichtspraktische Lehrwerke und Materialien (Ebene 3)

5.1 Elementarisierung und Kompetenzorientierung

5.2 Gerhard Ziener: »Bildungsstandards in der Praxis« (2006)

5.3 Andreas Feindt: Das Projekt KompRU (2009)

5.4 Wolfgang Michalke-Leicht: Kompetenzorientiert unterrichten (2011)

5.5 Unterrichtspraktische Planungsmodelle

5.6 Kompetenzorientierte Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien

5.7 Experimentierfeld Kompetenzorientierung.

6. Kompetenzorientierung kontrovers

6.1 Argumente: Warum Skepsis gegenüber dem kompetenzorientierten RU angebracht ist

6.2 Plädoyer: Warum es sich lohnt, kompetenzorientiert zu unterrichten.

7. Praxis: Lehren und Lernen im kompetenzorientierten RU

7.1 Kompetenzorientiert unterrichten – wie macht man das?

7.2 RU kompetenzorientiert planen: ein Modell im Überblick

7.3 Anforderungssituationen für den RU aufspüren und didaktisch fruchtbar machen

7.4 Die Bedeutung der Anforderungssituation für die Lebens- und Lerngeschichte der Schülerinnen und Schüler analysieren

7.5 Die Bedeutung der Anforderungssituation im Kontext theologischer Reflexion ermitteln

7.6 Erfahrungen, Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler erheben

7.7 Erforderliche Kompetenzen bestimmen

7.8 Kompetenzförderliche Lehr- und Lernprozesse planen

7.9 Ergebnisse überprüfen

8. Evangelischer RU als Raum der Freiheit

Literatur

Vorwort zu den Auflagen 1–3:Welche Leser und Leserinnen passen zu diesem Buch?

»Zeit zum Lesen – die habe ich eigentlich nur in den Sommerferien«, so oder ähnlich lautet die nachdenkliche Auskunft mancher Lehrerinnen und Lehrer. Im Alltag bleibt in der Regel nur Zeit für die Lektüre kurzer Artikel, immer auf der Suche nach dem passenden Text, dem geeigneten Material für die nächsten Wochen.

Der allseitige Druck auf Kolleginnen und Kollegen an den Schulen nimmt zu, die Belastungsgrenze durch ministerielle Vorgaben und Regelungen, durch Stundendeputate, Prüfungen und Klausuren ist vielfach erreicht, wenn nicht überschritten. Woher also die Zeit nehmen, sich in die Sonderwelt der akademischen Fachdiskussion zu vertiefen?

Veränderungen und Innovationen etwa der Fachdidaktik kommen deshalb nur zeitverzögert an der »Basis« an und werden von ihr nicht selten mit Abwehrstrategien unterlaufen oder ignoriert. Dies kann so lange gut gehen, bis ein grundlegender Paradigmenwechsel die bisherige Unterrichtspraxis umwälzt.

Genau dies ist gegenwärtig im Gange. Die Umsteuerung des Bildungssektors durch die neuen Leitbegriffe »Kompetenzen und Standards« erfasst alle Bereiche der Schule und der Lehrerausbildung. Auch der RU ist davon betroffen. Es geht um die Frage, welche Konsequenzen dieser tief greifende Wandel für die Bildungsziele und die Praxis des Unterrichts in allen Schulformen und -stufen haben wird.

Viele Lehrerinnen und Lehrer sind verunsichert und suchen nach Orientierungen im Dickicht der Begriffe und Konzepte, die von allen Seiten auf den pädagogischen und religionspädagogischen Markt geworfen werden. Dieses Buch ist ein Versuch, den Irritationen abzuhelfen. Es sucht als Leser und als Leserin den reflektierenden Praktiker, die Kollegin und den Kollegen, die wissen wollen, welche theoretischen und konzeptionellen Überlegungen eigentlich hinter dem Schlagwort vom »kompetenzorientierten Lehren und Lernen im RU« stehen. Und es wendet sich an die Lehramtsanwärter und Studienreferendare, die auf dem Weg zu einer eigenen reflektierten Praxis sind. Diesen Lehrerinnen und Lehrern will das Buch eine Chance bieten, die pädagogische und religionspädagogische Gemengelage konzentriert und unterrichtsnah zu verfolgen. Es will Mut machen, sich auf die neuen Entwicklungen beherzt einzulassen. Sie können nach meiner Überzeugung dazu führen, dass der RU an Profil und Qualität gewinnt.

Ein Buch wie dieses entsteht nicht allein am Schreibtisch. Es verdankt sich eigenen Praxiserfahrungen, aber vor allem zahlreichen anregenden Gesprächen. Nicht allen kann an dieser Stelle gedankt werden, einige seien aber dennoch hervorgehoben: Den beiden Fachkollegen am Oberstufen-Kolleg Bielefeld Karin Volkwein und Holger Domas gilt mein Dank für den religionspädagogischen Alltagsdiskurs und die solidarische Kooperation. Mit vielen Religionslehrerinnen und Religionslehrern habe ich meine Ideen auf Fortbildungen geteilt – daraus sind Kontakte über die Bundesländergrenzen erwachsen. Hannah Richter, Michael Lauppe und Rudolf Tammeus haben das Manuskript gelesen und wichtige Anregungen gegeben.

Ulrike Link-Wieczorek, Ingrid Schoberth, Ludwig Huber und Josef Keuffer danke ich für die Ermutigung und die Unterstützung bei der Entstehung des Buches. Ein ganz besonderer Dank gilt stud. theol. Alexander Dölecke, der den Entstehungsprozess des Buches von Anfang an begleitet hat und nicht nur beim Korrekturlesen seine Fachkompetenz unter Beweis gestellt hat. Martina Steinkühler hat sich für das Buch im Verlag mit Rat und Tat eingesetzt.

Gewidmet sei das Buch den Studierenden des Instituts für Evangelische Theologie an der Universität Osnabrück, die mich durch ihre außerordentliche Unterstützung zu dieser Veröffentlichung ermutigt haben. Meinem Mann Hartmut Lenhard danke ich für unsere Lern- und Lebensgemeinschaft – sie ist die Basis der vorliegenden Arbeit.

Detmold, im April 2008

Gabriele Obst

Zur 4. Auflage:Warum eine Neubearbeitung nötig ist

Es kommt nicht oft vor, dass ein Buch nicht vom Autor oder der Autorin, sondern von einer anderen Person grundlegend überarbeitet wird. Hier ist es der Fall und das hat Gründe. Der eine ist, dass meine Frau Gabriele Obst seit 2011 das Evangelische Gymnasium Nordhorn leitet und diese Aufgabe so zeit- und kräfteintensiv ist, dass an eine Aktualisierung ihres an der »Basis« weit rezipierten Buches nicht zu denken war. Der zweite Grund liegt darin, dass wir uns seit 2006 (vgl. Obst/Lenhard 2006) in einem Dauergespräch darüber befinden, wie kompetenzorientiertes Lehren und Lernen die Praxis des RU verändern könne. Bis hin zu gemeinsamem Unterricht haben wir unsere Überlegungen konkretisiert und erprobt. Sie, liebe Leserin und lieber Leser, werden also in dieser Neuauflage hoffentlich entdecken, dass der Ansatz konsequent weitergeführt, die inzwischen erfolgten Entwicklungen aufgenommen und die religionspädagogische Diskussion zumindest in wesentlichen Aspekten verarbeitet wurden.

Dass dies notwendig war, leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich die Zeitspanne vor Augen führt, die seit der Klieme-Expertise (2003) vergangen ist. Inzwischen ist die Metastruktur der Kompetenzorientierung im gesamten Schulsystem etabliert worden – trotz gelegentlich heftiger Kritik und vielen »Baustellen«, die nach wie vor bestehen. Gleichwohl ist das Desiderat einer praxisbewährten Einführung in kompetenzorientierten RU noch immer unübersehbar, gerade auch bei Berufsanfängerinnen und -anfängern aller Schulformen. Diesem Desiderat versucht die Neuauflage abzuhelfen.

Wir wünschen dieser 4. Auflage viele Kolleginnen und Kollegen, die das Buch mit Neugier und Spannung lesen. Wir hoffen, dass es ihnen hilft, ihren eigenen Weg beim kompetenzorientierten Lehren und Lernen im RU einzuschlagen und erfolgreich zu unterrichten.

Nordhorn, im März 2015

Hartmut Lenhard

1. Einleitung: Von einer neuen Schule träumen – oder: Wie kommt man dorthin, wo man hin will?

Über die Ergebnisse der ersten internationalen Vergleichsuntersuchungen der 1990er Jahre (z. B. TIMSS 1997) herrschte ungläubiges Staunen, wenn sie denn in der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wurden. Der Schock der PISA-Untersuchung dagegen saß. Das deutsche Bildungssystem, das sich als unangefochtener Spitzenreiter wähnte, war auf ein blamables Mittelmaß geschrumpft – ein Resultat, das Experten zwar schon lange vorausgesagt hatten, das aber erst jetzt die Politiker aufschreckte und sie in hektische Betriebsamkeit verfallen ließ.

Kompetenz- und Standardorientierung war das Paradigma, mit dem das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2003 eine Umsteuerung des nationalen Bildungswesens einzuleiten versuchte. Das vom Ministerium veröffentlichte sog. Klieme-Gutachten (Klieme et al. 2003) plädierte dafür, bundesweit geltende Bildungsstandards zu formulieren, die verbindliche Anforderungen für Schülerinnen und Schüler beschreiben sollten. Die regelmäßige Überprüfung der Schülerleistungen werde dann – so das Kalkül – das Niveau der in der Schule vermittelten Kompetenzen heben und insgesamt zu einer Steigerung der Qualität schulischer Arbeit beitragen. Seither haben die in der Kultusministerkonferenz versammelten Repräsentanten der Bundesländer die Schulsysteme ihrer Länder einer grundlegenden Revision unterzogen und sie im Sinne kompetenz- und standardorientierter Strukturen umgestaltet. Die »Metastruktur Kompetenzorientierung« hat inzwischen alle Bereiche des Schulwesens – von den Kernlehrplänen über Abschlussstandards, Vergleichsarbeiten und zentrale Abituranforderungen bis hin zu Unterrichtswerken und Lehrerfortbildung – erfasst.

Gegen die Erhöhung des administrativen Drucks auf die Schulen, die Schüler und die Lehrer setzten Journalisten wie Reinhard Kahl eindrucksvolle Bilder: Kahl verwies in mehreren Filmdokumentationen auf vorbildhafte skandinavische Schulen (vgl. Treibhäuser der Zukunft), die in der PISA-Untersuchung sehr gut abgeschnitten hatten, oder mahnte an, dem Beispiel deutscher Reformschulen zu folgen. Unter dem Motto »Bildung ist mehr als PISA« trat das von ihm 2007 begründete Netzwerk Archiv der Zukunft (vgl. Kahl Archiv1) an, für eine Erneuerung der Schulen zu sorgen, ohne dass die ausgetretenen Pfade von Leistungsdruck und Vereinheitlichung beschritten werden sollten. »Wäre es nicht ein lohnendes Projekt, Schulen und andere Bildungshäuser zu Kathedralen einer nachindustriellen Gesellschaft zu kultivieren? Orte, an denen die Gesellschaft zeigt, was ihr wichtig ist? Häuser, in denen nicht nur Worte, sondern viele Einzelheiten vom gelungenen Leben und von der Schönheit erzählen?«, fragen die Gründer des Netzwerks (Kahl Archiv2).

Dennoch hat es das reformpädagogische Projekt einer Schule, in der Schülerinnen und Schüler mit Freude bei der Sache sind und in einer anregenden Schulgemeinschaft das Zusammenleben erproben und gestalten, angesichts der aktuellen bildungspolitischen Großwetterlage schwer. Diese Tatsache veranlasste Annemarie von der Groeben, langjährige didaktische Leiterin der Bielefelder Laborschule, zur Formulierung des folgenden Traums:

Als die deutschen Kultusministerinnen und -minister sahen, wie schlecht es um ihre Schulen stand, beschlossen sie, das Bildungssystem grundlegend zu verändern. Sie wurden getragen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens, eine Welle des pädagogischen Umdenkens ging durch das Land. Man suchte und fand Vorbilder.

Von den skandinavischen Ländern lernten die Deutschen, was es heißt, mit dem Grundsatz »Wir dürfen kein Kind verlieren« Ernst zu machen. Sie verstanden: Wir müssen zuallererst dafür sorgen, dass es unseren Kindern und Jugendlichen an Leib und Seele gut geht.

Das hatte weitreichende Folgen. Es begann mit »Kleinigkeiten«, die bald an allen Schulen zu vor-unterrichtlichen Mindeststandards gehörten: ein gutes, nahrhaftes Frühstück oder Mittagessen, ein Gesundheits- und Beratungsdienst, ein flexibler, den Bedürfnissen der Kinder angepasster Tagesrhythmus, gute Möbel, Ausstattung der Schule mit vielfachen Lerngelegenheiten, Ausstattung der Klassen und Arbeitsplätze mit handlichen, anregenden, gut geordneten Materialien.

Zum Kern der Entwicklungsarbeit wurde die Neugestaltung des Unterrichts und der Lernangebote. Die Vorgabe war: Lernen muss Freude machen, mit relevanten Erfahrungen verbunden sein, geschieht am besten in der Auseinandersetzung mit bedeutsamen Gegenständen.

Schon nach wenigen Jahren waren die Schulen nicht wiederzuerkennen. Sie waren einladend, freundlich und anregend gestaltet, Orte, an denen Kinder den ganzen Tag über gern und gut leben und lernen konnten. Niemand wurde beschämt, niemand musste sich als Versager fühlen. Darum hatte man das Sitzenbleiben abgeschafft, die Zensuren durch Beratungsgespräche ersetzt, den Unterricht ganz darauf ausgerichtet, der Unterschiedlichkeit der Kinder gerecht zu werden.

Die Schulen waren in ihrer Arbeit weitgehend autonom, so wurde ihre ganze pädagogische Kreativität für diese Aufgabe freigesetzt. Starre Jahrgangsklassen und -normen erwiesen sich mehr und mehr als kontraproduktiv. Bald schon wurde es hierzulande so normal wie in Schweden, dass Zwölf- und Fünfzehnjährige zusammen Englisch lernen oder im Labor experimentieren konnten. Bewertet wurden ihre Leistungen nach dem individuellen Lernfortschritt.

Als Orientierungsrahmen dienten fachliche Mindeststandards, die die systematische Progression des Lernens abbildeten. Tests wurden den Schulen als diagnostische Hilfsmittel zur eigenen Verwendung angeboten. Am Ende der Schullaufbahn mussten Basisqualifikationen in individueller Abstufung nachgewiesen werden. Was der einzelne Absolvent darüber hinaus vorzuweisen hatte, zeigte sein individuelles Leistungsportfolio. Ein verzweigtes, früh greifendes System von Fördermaßnahmen sorgte dafür, dass 90 von 100 Schülern eines Jahrgangs diese Prüfung bestanden. So gelang es Deutschland mit einer großen gesellschaftlichen Anstrengung, den Anschluss an die Spitzenländer in wenigen Jahren zurückzugewinnen. (Groeben 2005, 78)

Das, was in den Dokumentationen Kahls zu staunenswerten Bildern geronnen ist, entwirft von der Groeben als konzeptionelles Gegenbild zur kultusministeriell verordneten Schulwirklichkeit. Vieles an diesem modernen bildungspolitischen »Märchen«, so nennt es Annemarie von der Groeben, überzeugt sofort – besonders die Überlegungen zu Raumgestaltung, Lernmaterialien, Tagesrhythmus und Ernährung. Dringend notwendige Veränderungen werden beschrieben, ein imponierendes Szenario von der Schule als Lebens- und Lernwelt der Schülerinnen und Schüler entsteht.

Anderes ist differenzierter, manches in dem Traum von der Groebens auch mit Skepsis zu betrachten: So führt etwa die Ersetzung der Zensuren durch Beratungsgespräche keineswegs notwendig zu einer klareren Einschätzung der Leistungen von Schülerinnen und Schülern. Auch die ausschließliche Orientierung am individuellen Lernfortschritt verschafft nicht zwingend eine realistische Selbsteinschätzung der eigenen Leistungsmöglichkeiten und -grenzen: Individuelle Unterforderung ist dabei ebenso wenig ausgeschlossen wie ständige Überforderung einzelner Schüler.

Märchen überzeugen, weil sie die Realität überschreiten, weil sie davon erzählen, wie es auch und wie es besser sein könnte. In guten Märchen aber wird die Brutalität der Realität nicht ausgeklammert: der böse Wolf, der die heile Welt von Rotkäppchen stört, die eifersüchtige Stiefmutter, Hunger und Tod. Diese Härte der Wirklichkeit fehlt jedoch in dem Märchen von Annemarie von der Groeben, so z. B.:

– lärmende, aggressive Jugendliche, die ihren Mitschülern und Lehrern verbal und brachial Gewalt antun,

– Schülerinnen und Schüler, für die alles andere als die Schule von höchstem Interesse ist und die daher dem Lernen in ihren praktischen Tagesvollzügen nur eine nachrangige Bedeutung zumessen,

– die Allgegenwart digitaler Medien, die zu ständiger virtueller Präsenz in sozialen Netzwerken verführen und gemeinschaftszerstörendes Cyber-Mobbing geradezu herausfordern,

– Lehrer und Lehrerinnen, die überfordert, ausgebrannt und demotiviert sind oder einfach schlecht unterrichten,

– die Leistungsanforderungen einer globalisierten Welt, in der Jugendliche ohne Hauptschulabschluss und auch mit Hauptschulabschluss, z. T. sogar mit Realschulabschluss, keine Chance mehr auf einen Ausbildungsplatz haben,

– und last, but not least: die notorisch klammen Finanzen der Städte und Länder, die oft nicht einmal die Grundinstandhaltung der Schulen gewährleisten können.

Auch als Märchen würde von der Groebens Traum mehr überzeugen, wenn beides, die Wirklichkeit, wie sie ist, und die Vision davon, wie sie sein könnte, stärker aufeinander bezogen wären. Nur dann ist ein Traum keine Illusion und ein Märchen eine Geschichte, die die Wirklichkeit verändern kann.

Annemarie von der Groeben selbst kommt in ihrem Traum nicht ohne die Thematisierung von Standards und Kompetenzen aus, sie greift zentrale Elemente der Diskussion auf, wandelt sie aber in charakteristischer Weise ab. Ihre »vor-unterrichtlichen Mindeststandards« beziehen sich auf die schülergerechte Ausstattung und die gesundheitsförderliche Einrichtung, die »fachlichen Mindeststandards« markieren nur das Minimum der Basisqualifikationen, die Schüler nachweisen sollen – allerdings in »individueller Abstufung«. Tests werden nicht von oben verfügt, sondern den Schulen als diagnostisches Hilfsmittel und Dienstleistung angeboten. Von der Groeben ist – wie ihre reformpädagogischen Mitstreiter (vgl. die entsprechenden Verlautbarungen der vornehmlich von reformpädagogischen Schulen getragenen Initiative Blick über den Zaun, 2003 und 2006, vgl. von der Groeben et al. 2005) – davon überzeugt, dass dies der pädagogisch einzig verantwortbare Ansatz zu einer erfolgreichen Bildungsreform sein wird.

Lässt sich zwischen einer immer stärker an Kompetenzen und Standards ausgerichteten Schule einerseits und reformpädagogischen Impulsen andererseits ein gemeinsamer Weg finden? Und wie steht es in dieser widersprüchlichen Situation um den RU? Wird er – wie die einen befürchten – seiner spezifischen Merkmale beraubt, wenn er sich auf Kompetenzen und Standards einlässt, oder gewinnt er – wie die anderen erhoffen – ein überzeugenderes Profil, wenn er die Schullaufbahn der Schülerinnen und Schüler vom Ende her denkt und von hier aus religiöse Lehr- und Lernprozesse überzeugend und schülergerecht gestaltet?

2. Annäherungen: Kompetenzen und Standards – ein Paradigmenwechsel

2.1 Schule nach dem PISA-Schock

[…] [D]as Erschreckende an den PISA-Studien war und ist doch, dass 50 Jahre Bildungsreform nicht bewirkt haben, das, was wir vor 50 Jahren über systematische Defizite wussten, in 50 Jahren in nennenswerter Weise in Richtung auf Gleichheit zu verändern. (Tenorth 2003, 158)

Heinz-Elmar Tenorth fasst mit dieser Bilanz wesentliche Erkenntnisse der erstmals im Jahr 2000 durchgeführten internationalen Vergleichsuntersuchung zu Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001) in pointierter Form zusammen. Dass mit dem deutschen Bildungssystem etwas im Argen lag, hatte bereits die Veröffentlichung der TIMSSErgebnisse (vgl. Bayrhuber) gezeigt. Konnte man sich aber bei der TIMSS-Untersuchung noch damit beruhigen, dass nur ein Teilbereich der schulischen Bildungsarbeit in den Blick genommen wurde – nämlich der Bereich der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung –, so deckte die PISA-Untersuchung umfassende Mängel in allen zentralen Bereichen, insbesondere bei der Lesekompetenz, auf. Darüber hinaus lieferte die PISA-Untersuchung strukturelle Erkenntnisse, die aufschreckten (vgl. Klieme et al. 2003, 11–14):

1. Die in den Lehrplänen formulierten Ziele werden in vielen Fällen nicht erreicht. So erzielen etwa ein Viertel der 15-Jährigen im Bereich der Lesekompetenz und der mathematischen Grundbildung nicht das Niveau, das für den mittleren Abschluss unabdingbar notwendig ist. Einem Viertel eines Jahrgangs fehlen also elementare Voraussetzungen zur aktiven und selbstständigen Teilhabe an der Gesellschaft. Damit aber verfehlt das Bildungssystem bei 25 % der jungen Menschen sein Ziel.

2. Die Bandbreite der Leistungen in Deutschland ist so groß wie in keinem anderen der untersuchten Länder. Während die guten Schülerinnen und Schüler dem Vergleich mit den meisten OECD-Teilnehmern standhalten konnten, zeigten sich im unteren Bereich in verschärfter Weise die Defizite deutscher Schülerinnen und Schüler.

3. In Deutschland wirkt sich in besonderer Weise die soziale Herkunft auf den Schulerfolg aus. Besonders schlecht schnitten Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ab.

4. In Deutschland gibt es große regionale Differenzen zwischen den einzelnen Bundesländern – und zwar sowohl im Blick auf die Leistungen als auch im Blick auf die Bewertung von Leistungen.

5. Länder, in denen es eine systematische Qualitätssicherung gibt, schneiden insgesamt besser, zum Teil sehr gut ab. Eine solche regelmäßige Qualitätssicherung fehlt bislang im deutschen Schulsystem.

Das Ergebnis war deshalb so deprimierend, weil es zeigte, dass es dem deutschen Bildungssystem weder gelungen war, gleiche Teilhabechancen für Menschen noch individuelle Entwicklungsmöglichkeiten sicherzustellen. Individualisierung und Bildungsgerechtigkeit sind aber die beiden entscheidenden Zielvorgaben für das Bildungssystem (vgl. Tenorth 2003, 158): Menschen müssen sich bilden können – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sozialen und regionalen Herkunft. Dass dies in Deutschland nicht in ausreichendem Umfang der Fall ist, war schon lange klar. Nun aber war die Erkenntnis unausweichlich, dass sich an dieser Situation trotz jahrzehntelanger Bemühungen nichts Entscheidendes geändert hat. Tenorth folgert:

Wir leben also in einer Situation, dass die basalen Verfassungsprinzipien der modernen, aufklärerischen, demokratischen Gesellschaften elementar verletzt werden, indem wir nämlich sowohl das Geschlecht (immer weniger) wie die soziale Herkunft (nahezu ungebremst) bei Bildungsprozessen durchschlagen lassen, aber nicht die ›Natur‹ zur Geltung bringen [also die Möglichkeit des Individuums, sich durch Lernanstrengung zu bilden, d.Vf.] und die Möglichkeiten des Menschen hinreichend fördern. (Tenorth 2003, 158)

Um nichts Geringeres als um Verfassungsbruch handelt es sich also, wenn vor allem die soziale Herkunft der Kinder und Jugendlichen ihre Bildungschancen und Lebensperspektive maßgeblich bestimmt, nicht aber das organisierte Bildungssystem.

Wie haben die deutsche Bildungspolitik und die Bildungsadministration auf diese Ergebnisse reagiert?

Gefangen in bildungspolitisch zementierten Stellungen klammerte die Kultusministerkonferenz die Systemfrage »Ist das dreigliedrige Schulsystem schuld an der Misere?« aus. Allerdings gab auch die PISA-Untersuchung selbst keine eindeutigen Hinweise auf leistungsfähigere Schulstrukturen. Stattdessen wurde das bisherige Verfahren der Steuerung von Bildungsprozessen über inhaltliche Vorgaben wie Lehrpläne, administrative Vorgaben, Finanzmittel und andere Instrumente einer kritischen Revision unterzogen.

Der PISA-Vergleich zeigte nämlich, dass viele Länder mit hohen Leistungserfolgen einerseits den Schulen große Freiheitsräume gewährten, andererseits aber die erzielte Qualität ihres Bildungssystems und dessen Resultate überprüften. Statt also Ressourcen bereitzustellen und Prozessnormen zu definieren, richteten diese Länder den Blick auf die Ergebnisse, die am Ende des Bildungsprozesses von den Schülerinnen und Schülern erreicht werden sollten.

Für die deutschen Bildungspolitiker bedeutete dies einen radikalen Perspektivenwechsel: Der gesamte Bildungsprozess sollte künftig von seinem erwünschten Ende her konzipiert werden, also von seinem »Outcome« her. »Outcome« ist dabei nicht formalistisch im Sinne der Vergabe von Zertifikaten zu verstehen, sondern umfasst

den Aufbau von Kompetenzen, Qualifikationen, Wissensstrukturen, Einstellungen, Überzeugungen, Werthaltungen – also von Persönlichkeitsmerkmalen bei den Schülerinnen und Schülern, mit denen die Basis für ein lebenslanges Lernen zur persönlichen Weiterentwicklung und gesellschaftlichen Beteiligung gelegt ist. (Klieme et al. 2003, 12)

Nicht mehr durch die detaillierte Festlegung von Inhalten und Wegen des Unterrichts sorgt also der Staat für Qualität, sondern dadurch, dass verbindliche Standards festgelegt werden und geprüft wird, ob diese auch tatsächlich erreicht worden sind. Mehr Freiheit und Autonomie auf dem Weg bei größerer Verbindlichkeit der definierten Ziele und des Ergebnisses – so könnte man den eingeleiteten Paradigmenwechsel knapp zusammenfassen.

Mit dieser Outcome-Orientierung war aber zwangsläufig der Versuch verbunden, verbindlich festzulegen, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler zu welchem Zeitpunkt erlangt haben sollen. Die Kultusministerkonferenz beschloss daher bereits 2002, Bildungsstandards in Kernfächern zu erarbeiten und landesweite Orientierungs- und Vergleichsarbeiten durchzuführen (vgl. KMK Beschlüsse).

2.2 Die Expertise »Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards«

In welchem Verhältnis stehen allgemeine Bildungsziele und Standards? Von welchen Standards ist eigentlich die Rede und was genau ist mit Kompetenzen gemeint? Wie sind Bildungsstandards zu entwickeln, einzuführen und zu nutzen?

Mit der Klärung dieser und anderer Fragen beauftragte das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2002 das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung DIPF. Unter Federführung von Eckhard Klieme entstand ein Gutachten, das die weitere Diskussion grundlegend bestimmt hat (vgl. Klieme et al. 2003).

2.2.1 Im Wirrwarr der Begriffe

Um eine tragfähige Grundlage für die bildungspolitischen Handlungsperspektiven zu schaffen, bemühte sich die Klieme-Expertise um größtmögliche Klarheit bei der Definition und Verhältnisbestimmung der Begriffe. Dabei standen die Eckpfeiler des gesamten Konzepts, die »Bildungsziele«, »Bildungsstandards« und »Kompetenzen« im Mittelpunkt.

Bildungsziele

Bildungsziele sind relativ allgemein gehaltene Aussagen darüber, welche Wissensinhalte, Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Einstellungen und Werthaltungen, Interessen und Motive die Schule vermitteln soll. (Klieme et al. 2003, 20)

Bildungsziele haben eine normative Funktion. Sie sollen dem Bildungsprozess eine Richtung geben und ihn kritisch begleiten. Durch sie legt eine Gesellschaft den Auftrag der Schule fest und bestimmt daraufhin, an welchen Gegenständen und innerhalb welcher Systeme Bildung erworben werden kann. In den Bildungszielen verdichtet sich daher der jeweilige gesellschaftliche Konsens über allgemeine Bildung, genauer: über dasjenige Verständnis von Bildung, das sich in dem demokratischen Prozess der Meinungs- und Willensbildung durchgesetzt hat. Bildungsziele implizieren darüber hinaus eine Verständigung darüber, welche Lernbereiche und Fächer zu dieser allgemeinen Bildung dazugehören und was den jeweiligen »Kern von Lernbereichen und Fächern« (Klieme et al. 2003, 20) ausmacht.

Die Zeiten, in denen eine mehr oder weniger fraglose Übereinkunft über allgemeine Bildungsziele herrschte, sind längst vorbei; in der Moderne erweisen sich allgemeine Bildungsziele als überaus strittig, abhängig von gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, Machtverhältnissen und Problemlagen. Kontrovers ist vor allem die Frage, ob es heute noch einen Kanon von Wissen und Können geben könne und wie dieser festzulegen sei: ein Kanon, der trotz des beschleunigten Verfalls von Wissen und Fertigkeiten nicht veraltet und gerade darin zukunftsoffen ist. Sofern an Bildungszielen grundsätzlich festgehalten wird, wird ihnen keine operative, wohl aber eine regulative Bedeutung zuerkannt, die in ihrem über die Bildungswirklichkeit hinausweisenden Utopieüberschuss begründet liegt:

Hier werden die schönsten Zukünfte von Mensch und Welt formuliert, und erkennbar wird die Schule als ein Ort gesehen, diese Zukünfte herbeizuführen und die Normen und Ziele, Haltungen und Fähigkeiten zu realisieren, die in der Gesellschaft vermisst werden. (Klieme et al. 2003, 58)

Die Expertise formuliert den normativen Überschuss an dieser Stelle eher skeptisch und weist auf die Überforderung hin, die daraus für die Schule entstehen kann. Überforderung entsteht aber nur dann, wenn Bildungsziele als Handlungsanweisungen statt als Maßstäbe, die Bildungsprozesse kritisch begleiten, verstanden werden. Allgemeine Bildungsziele sind also keine messbaren Vorgaben für Bildungsprozesse, wohl aber Leitideen, auf die hin Bildungsprozesse letztlich angelegt sind. Darüber wird, darüber kann und darüber muss gestritten werden.

Bei allem Streit über Bildungsziele, so urteilt die Expertise, gibt es in modernen Gesellschaften einen »praktischen Konsens« (Klieme et al. 2003, 62):

Dieser Konsens bezieht sich sowohl, gesellschaftlich gesehen, auf die Erwartung, dass das Bildungssystem mit daran arbeitet, auf die Staatsbürgerrolle vorzubereiten, also zur Teilhabe am öffentlichen Leben zu befähigen, als auch, im Blick auf die Subjekte, auf die Erwartung, dass im Bildungswesen die Fähigkeiten erworben werden, das eigene Leben als Lernprozess selbst gestalten zu können, trotz der Unsicherheit von Beruf und Arbeit, Karriere und sozialer Lage. (Klieme et al. 2003, 62 f.)

Mit dem Hinweis auf diesen gesellschaftlichen Konsens erinnert die Expertise daran, dass es im Bildungsprozess grundsätzlich um die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft geht, die durch diesen Prozess stimuliert werden (oder eben auch nicht). Die Schule soll es auf der einen Seite allen Heranwachsenden ermöglichen, unabhängig von Herkunft, Religion und Geschlecht am gesellschaftlichen und kulturellen Leben selbstständig teilhaben zu können – damit ist das Recht des Individuums auf Bildung begründet. Die Schule soll auf der anderen Seite ein Mindestmaß an kultureller Gemeinsamkeit sichern, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren kann – darum braucht eine Gesellschaft die Schule.

Sobald dieser Konsens jedoch konkreter ausgestaltet wird, entsteht Dissens bzw. beginnt die bildungstheoretische Debatte. Lesen, Schreiben, Rechnen – die traditionellen basalen Kulturtechniken – reichen nach Ansicht der Expertise nicht aus, damit junge Menschen am sozialen und kulturellen Leben moderner Gesellschaften teilhaben können.

Die Heranwachsenden müssen vielmehr fähig werden für den Gebrauch der Computer, für den Umgang mit Medien, für die Herausforderungen einer multikulturellen Welt, und sie müssen zugleich in der Form der Welterfahrung von den einfachen Formen des Ich-zentrierten Umgangs mit Welt auf die grundlegenden wissenschaftlichen Modi der Welterfahrung übergehen können. (Klieme et al. 2003, 67)

Die basalen Kulturtechniken müssen daher ergänzt werden um weitere Kenntnisse und Kompetenzen in den verschiedensten Bereichen. Mit dieser Erweiterung entstehen auf der einen Seite neue Begründungsfragen und -notwendigkeiten, denn es ist ja keineswegs geklärt, sondern hängt wiederum vom Verständnis allgemeiner Bildung ab, um welche Kenntnisse und Kompetenzen es sich dabei handeln soll bzw. muss. Auf der anderen Seite verlangt die Unübersichtlichkeit dessen, was man heute wissen und können soll, nach einer Ordnung: Wie kann es gelingen, Bereiche zu bestimmen, die helfen, die Unübersichtlichkeit zu ordnen und zugleich die Breite gesellschaftlicher Wirklichkeit und menschlichen Lebens abzudecken? Können Strukturen entdeckt und überzeugend begründet werden, die das, was allgemeine Bildung ist, darstellbar machen?

Bereits die klassische Bildungstheorie kennt solche fundamentalen Dimensionen allgemeiner Bildung (vgl. Tenorth 2003, 161), grundlegende und unverzichtbare Bereiche, in denen das »Lernen des Lernens« (so bereits die klassische Formulierung von Friedrich Schleiermacher 1808, 238 und Wilhelm von Humboldt 1809, 218) gelernt wird, ein Lernen, das dauerhaft wirksam ist und das von seinen Ursprungssituationen abgelöst angewendet werden kann.

Wilhelm von Humboldt nennt vier solcher Dimensionen: die historische, die mathematische, die linguistische und die ästhetisch-expressive Dimension der Bildung (vgl. Humboldt 1809, 170). Diese Dimensionen sind keine Unterrichtsfächer, sondern bezeichnen unterschiedliche Lernbereiche, denen Unterrichtsfächer zugeordnet werden können. Religion ist bei Humboldt keine eigene Dimension, sondern Teil des historischen Lernbereichs. Anders ist dies etwa bei Johann Gottfried Herder, für den Religion als Quelle und Krone der Humanität eine zentrale Domäne allgemeiner Bildung ist (vgl. Herder 1784).

An diese klassischen Systematisierungen knüpft auch die Klieme-Expertise an und referiert zustimmend den anregenden Versuch Jürgen Baumerts, die Grundstruktur der Allgemeinbildung und des Kanons abzubilden. Baumert beschreibt als Modi der Weltbegegnung

– die »kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt«,

– die »aesthetisch-expressive Begegnung und Gestaltung«,

– die »normativ-evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und

Gesellschaft«

– und schließlich den die Religionspädagogik besonders interessierenden Bereich »Probleme konstitutiver Rationalität« (Klieme et al. 2003, 68) – d. h. einen Bereich, der sich auf rationale Weise mit den Fragen der Letztbegründung menschlichen Daseins beschäftigt.

In diesen vier Bereichen sollen Schülerinnen und Schüler »kanonisches Orientierungswissen« (Klieme et al. 2003, 68) erhalten. Kanonisches Orientierungswissen meint hier eine verbindliche Festlegung von Wissen, das dazu befähigt, sich gegenwärtig und zukünftig in der Welt zurechtzufinden. Diesem kanonischen Orientierungswissen sind »basale Sprach- und Selbstregulationskompetenzen« zugeordnet, »Kulturwerkzeuge« (Klieme et al. 2003, 68), die die notwendige Voraussetzung dafür darstellen, sich in den verschiedenen Bereichen der Welt bewegen zu können.

Bildungsstandards

Bildungsstandards orientieren sich an Bildungszielen, denen schulisches Lernen folgen soll, und setzen diese in konkrete Anforderungen um. (Klieme et al. 2003, 20)

Bildungsstandards müssen sich an der Frage messen lassen, ob sie den Zugang zu den oben genannten allgemeinen Bildungszielen ermöglichen.

Der Begriff »Standard«, der etymologisch mit der »Standarte« im Zusammenhang steht, später das Richt- bzw. Eichmaß und die Norm bezeichnete, hat im Deutschen eine eher negative Konnotation: Eine Standardbehandlung verspricht nicht gerade eine individuelle Betreuung und bei der Standardausführung darf man keine Luxusausstattung erwarten. Der Ausdruck »weit über dem Standard« signalisiert eine überdurchschnittliche Leistung. »Standard« meint in diesen drei Beispielen einen wenig erstrebenswerten Durchschnitt. Vielleicht liegt es auch an unserem Sprachgebrauch, dass manche Kollegen auf den Standardbegriff im Zusammenhang mit Bildung emotional und negativ reagieren. Standard – das klingt nach Nivellierung von Unterschieden, nach Gleichmacherei und passt nicht zu dem aus idealistischen Traditionen schöpfenden deutschen Bildungsverständnis.

Während der Standardbegriff deshalb in Deutschland in der Vergangenheit keine Rolle in der Bildungsdiskussion gespielt hat, ist er in den anglo-amerikanischen Ländern, aber auch in den Niederlanden schon seit langer Zeit eingebürgert (vgl. Klieme et al. 2003, 31). Erstmals wurden 1860 in England Standards festgelegt, von deren Erreichen die Budgetierung der Elementarschulen abhängig war. Ganz unbegründet ist also der Verdacht nicht, dass mit der Einführung von Standards auch eine Ökonomisierung von Bildung verbunden sein kann.

Die Klieme-Expertise versteht »Standards« als normative Zielgröße, an der sich Schule und Unterricht auszurichten haben: Standards sind hier ergebnisbezogen, also outcome-orientiert. Sie formulieren

Anforderungen an das Lehren und Lernen in der Schule. Sie benennen Ziele für die pädagogische Arbeit, ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler. (Klieme et al. 2003,12)

Um als Steuerungsinstrument wirken zu können, werden Bildungsstandards in der Expertise nicht auf der Ebene allgemeiner Bildungsziele angesiedelt, sondern auf der Ebene bereichsspezifischer Kompetenzen. Das, was Schülerinnen und Schüler am Ende eines Bildungsabschnitts können sollen, wird durch möglichst präzise definierte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften beschrieben. In dieser Form sind sie »nach oben und unten anschlussfähig« (Klieme et al. 2003, 33): nach oben, weil sie sich an Bildungszielen orientieren, nach unten, weil sie prinzipiell in Aufgaben und Tests umsetzbar sind.

Schließlich unterscheidet die Expertise drei verschiedene Zielniveaus: Das basale Niveau von Mindeststandards, das von (fast) allen Schülern erreicht werden kann, den Regelstandard, der einem durchschnittlichen Erwartungsniveau entspricht sowie den Maximal- oder Exzellenzstandard. Die Expertise empfiehlt, bei der Ausarbeitung von Kompetenzmodellen eine Stufe als Mindeststandard zu definieren. Das zugrunde liegende Modell der Klieme-Expertise sieht demnach folgendermaßen aus:

Abbildung 1: Modell der Klieme-Expertise, 2003

Kompetenzen und Kompetenzmodelle

Bildungsstandards konkretisieren die Ziele in Form von Kompetenzanforderungen. Sie legen fest, über welche Kompetenzen ein Schüler, eine Schülerin verfügen muss, wenn wichtige Ziele der Schule als erreicht gelten sollen. Systematisch geordnet werden diese Anforderungen in Kompetenzmodellen, die Aspekte, Abstufungen und Entwicklungsverläufe von Kompetenzen darstellen. (Klieme et al. 2003, 21)

War bei den Bildungszielen die Schule als Ganze im Blick, so geht es bei den Kompetenzen um die Fähigkeiten des einzelnen Schülers, der einzelnen Schülerin. Die Schule wird dadurch auf die Aufgabe verpflichtet, systematisch für den Aufbau und Erwerb der Kompetenzen der einzelnen Schülerin, des einzelnen Schülers Sorge zu tragen. – Was sind »Kompetenzen«?

Die Expertise greift den Kompetenzbegriff auf, der von dem Psychologen Franz E. Weinert im Rahmen eines OECD-Projektes entwickelt wurde (vgl. Weinert 2001). Dabei setzte Weinert sich mit anderen Kompetenzkonzepten auseinander, so etwa mit der sprachwissenschaftlichen Unterscheidung von Kompetenz und Performanz bei Noam Chomsky (vgl. Chomsky 1980), aber auch mit dem Ansatz, von »Schlüsselproblemen« ausgehend notwendige Schlüsselkompetenzen zu formulieren, die die Schule vermitteln soll (vgl. Münzinger/Klafki 1995; Klafki 1993b). Nach Weinert zeichnet sich der Kompetenzbegriff durch folgende Merkmale aus:

1. Kompetenzen beziehen sich auf die notwendigen Fähigkeiten, die ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen in die Lage versetzen, komplexe Anforderungen erfolgreich zu bewältigen.

2. Die erfolgreiche Bearbeitung der Anforderungen verlangt primär kognitive, aber in vielen Fällen auch motivationale, ethische, volitionale (d. h. den Willen betreffende) und soziale Fähigkeiten und Bereitschaft.

Unter Kompetenz versteht die Expertise unter Rückgriff auf Weinert deshalb

die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Klieme et al. 2003, 72)

Die Expertise vertritt damit ein enges Kompetenzverständnis, das schwerpunktmäßig auf kognitive Leistungen ausgerichtet ist. Im Unterschied zur frühen Lernzieldiskussion der 1970er Jahre setzen Kompetenzen in viel stärkerem Maße die »Handlungssouveränität der Subjekte« voraus (Dressler 2007a, 28). Die Entscheidungsfreiheit des Subjekts, seine »Bereitschaft«, Kompetenzen zu nutzen, wird zugleich mit emotionalen, sozialen und willensmäßig bestimmten »Fähigkeiten« gekoppelt, die die Expertise als Bedingung für Transferfähigkeit (»in variablen Situationen«) und Erfolg der Problemlösung sowie für Verantwortung bei ihrer Nutzung versteht.

Nach Auffassung der Expertise genügt es also nicht, über bestimmte Kompetenzen zu verfügen, wenn nicht gleichzeitig andere Dispositionen und Fähigkeiten hinzutreten. Dass dabei auch ethische Gesichtspunkte, also wertorientierte Einstellungen im Sinne der Übernahme von Verantwortung, berücksichtigt werden, sollte – auch im Blick auf den RU – hervorgehoben werden.

Zwar kommen Kompetenzen bei der Experten-Kommission wie bei Weinert zunächst als Problemlösungspotential in den Blick; in charakteristischer Weise öffnen die Autoren diesen Fokus aber durch den Hinweis, es gehe darum, »konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen« (ebd.), Kompetenz sei »als Befähigung zur Bewältigung von Situationen bzw. von Aufgaben zu sehen. Jede Illustration oder Operationalisierung einer Kompetenz muss sich daher auf konkrete Anforderungssituationen beziehen.« (Klieme et al. 2003, 73) Im Unterschied zu einem engen Verständnis von Problemen als didaktischer Leitkategorie weitet der Begriff der Anforderungssituation das Spektrum unterrichtsrelevanter Lernanlässe und Aufgaben:

Die Entwicklung und Förderung von Kompetenzen muss daher eine ausreichende Breite von Lernkontexten, Aufgabenstellungen und Transfersituationen umschließen. (Klieme et al. 2003, 74)

Kompetenzen entwickeln sich nach der Klieme-Expertise durch systematischen Aufbau, intelligente Vernetzung und variierende Einbettung von Wissen in fachlich bestimmten Domänen. Damit grenzen sich die Verfasser von einem unspezifischen weiten Kompetenzbegriff ab, der auf den Erwerb überfachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten abhebt und alle Bereiche schulischer Lernprozesse mit Hilfe des Kompetenzbegriffs erfassen will. Ausdrücklich wird deshalb das in der Berufspädagogik vertretene Modell der Sach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz abgelehnt, auch wenn seine Komponenten als bedeutsam eingeschätzt werden (vgl. Klieme et al. 2003, 75).

Ein isoliertes fächerübergreifendes Lern- und Methodentraining jedenfalls kann sich nicht auf den Kompetenzbegriff der Klieme-Expertise berufen. Stattdessen gehen die Verfasser davon aus, dass Kompetenzen in einem speziellen Erfahrungs- und Inhaltsbereich (»Domäne«) ausgebildet werden, der im Schulsystem durch Fächer repräsentiert wird (vgl. Klieme et al. 2003, 134 f.).

Es kann daher nicht verwundern, dass die Klieme-Expertise die Hauptaufgabe bei der Entfaltung des Kompetenzbegriffs den Fächern, insbesondere den Fachdidaktiken, zuweist. Diese haben darzulegen, in welcher Weise fachbezogene Kompetenzen gestuft sind und wie sie aufgebaut werden können. Deshalb benötigen die Fächer Kompetenzmodelle als »wissenschaftliche Konstrukte« (Klieme et al. 2003, 23), die

den Standards eine Orientierungskraft für den Unterricht [geben], indem sie unmittelbar einsichtig und nachvollziehbar, illustriert an konkreten Anforderungen, demonstrieren, welche Entwicklungs- und Niveaustufen fachliche Kompetenzen haben. »Kompetenzmodelle« haben die Aufgaben, die Ziele, die Struktur und die Ergebnisse fachlicher Lernprozesse zu beschreiben. Sie bilden die Komponenten und Stufen der Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern ab und bieten somit eine Orientierung für schulisches Lehren und Lernen. (Klieme et al. 2003, 135)

Fachbezogene Kompetenzmodelle beschreiben also zum einen die Niveaustufen der Kompetenzen, die zugleich einen unumkehrbaren konsekutiven Entwicklungsprozess einschließen:

Jede Kompetenzstufe ist durch kognitive Prozesse und Handlungen von bestimmter Qualität spezifiziert, die Schülerinnen und Schüler auf dieser Stufe bewältigen können, nicht aber auf niedrigeren Stufen. (Klieme et al. 2003, 76)

Die Klieme-Expertise führt als Beispiel die mathematische Kompetenz (vgl. Klieme et al. 2003, 76 f.) an: Auf der untersten Stufe verfügen Schülerinnen und Schüler über arithmetisches Wissen, das abgerufen und unmittelbar angewendet werden kann. Auf der obersten Stufe können Schülerinnen und Schüler komplexe Modellierungen vornehmen und innermathematisch differenziert argumentieren.

Zum anderen entwerfen Kompetenzmodelle den Zusammenhang von Lernprozess und Kompetenzentwicklung. Das Lehren und Lernen in den Fächern ist auf den Erwerb von Kompetenzen anzulegen und umgekehrt ist der Aufbau von Kompetenzen auf einen adäquaten Lehr-Lern-Prozess angewiesen. Das Spezifikum eines kompetenzorientierten Lehr-Lern-Prozesses besteht darin, dass es durch ihn zu einer Verknüpfung von Wissen und Können kommt, dass also das angeeignete Wissen von vornherein auf Anwendungssituationen bezogen wird, in denen die Kompetenzen zugleich entwickelt, erprobt und nachgewiesen werden können:

Die Verknüpfung von Wissen und Können darf also nicht auf Situationen »jenseits der Schule« verschoben werden. Vielmehr ist bereits beim Wissenserwerb die Vielfalt möglicher Anwendungs-Situationen mit zu bedenken. (Klieme et al. 2003, 79)

Bezogen auf den Unterricht zieht dieser Ansatz eine tief greifende Wendung des didaktischen Denkens nach sich: Im Vordergrund steht das Arrangement von geeigneten Situationen, die Herausforderungscharakter haben und in denen bestimmte kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bearbeitung und Bewältigung der Situation erworben und bereits früher entwickelte Kompetenzen variabel aktualisiert werden müssen. Dass Kompetenzen in signifikanten Lernsituationen erworben, aber in multiplen Situationen genutzt werden können, ist eine zentrale Voraussetzung der Kompetenzmodelle. Deshalb kommt alles darauf an, die Vernetzung des Wissens in den Lehr- und Lernprozessen anzustreben und seine Transfermöglichkeiten auszubauen.

Überprüfbarkeit

Bildungsstandards zielen auf die Überprüfbarkeit der Lernergebnisse, d. h. es soll erhoben werden, in welchem Umfang und auf welcher Niveaustufe sich Schülerinnen und Schüler fachbezogene Kompetenzen angeeignet haben. Deshalb gewinnen zwangsläufig professionelle Testverfahren an Bedeutung, die die Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleisten und damit Aufschluss geben über die Qualitätsentwicklung der Schulen und Schulsysteme. Dezidiert ausgeschlossen wird aber in der Expertise, dass das Ergebnis von Tests für die Benotung der Schüler herangezogenen wird: Tests »dienen NICHT der zentralisierten Examinierung« (Klieme et al. 2003, 84). Die Entwicklung und Erprobung solcher Tests ist allerdings nur im Zusammenspiel von Experten aus der Fachdidaktik, der empirischen Bildungsforschung und der pädagogischen Psychologie zu leisten, handelt es sich doch um ein außerordentlich komplexes und ambitioniertes Projekt, das das gesamte Bildungssystem auf unterschiedlichen Ebenen betrifft.

Weitaus alltagsrelevanter ist die Formulierung von Aufgaben bei der Unterrichtsvorbereitung und der Leistungsbewertung durch die Lehrkräfte selbst. Hier können Standards nicht nur individuell orientierend wirken, sondern auch die Abstimmung der Ziele und der Kriterien für Leistungsbewertung in den Fachgruppen fördern. Dass die Koordination von Klassenarbeiten, die als Parallelarbeiten geschrieben werden, auf gemeinsam verabredete Standards bezogen sein sollten, wird von der Expertise ausdrücklich begrüßt.

Kontrolle der Ergebnisse heißt aber auch, dass die Lehrerinnen und Lehrer selbst, darüber hinaus aber auch die Schule als System auf dem Prüfstand stehen. Heinz-Elmar Tenorth spricht in diesem Zusammenhang von einer »Umkehr der Beweislast bei Erfolg und Misserfolg schulischer Arbeit« (Tenorth 2005, 47). Nicht mehr die Schülerinnen und Schülern, die man bislang bei Misserfolg von einer Schulart zur anderen durchreichte, sind für den Erfolg haftbar zu machen, sondern jetzt stehen die Anstrengung und die Arbeit der Institution Schule im Fokus, die dafür verantwortlich sei, dass ein Mindestniveau von allen Schülerinnen und Schülern erreicht werde.

Zusammenfassung

Die Klieme-Expertise entwirft ein bildungspolitisches Konzept, in dem Bildungsziele, Bildungsstandards, Kompetenzen und Testverfahren in einem genau beschriebenen Verhältnis zueinander stehen und gemeinsam den Bezugsrahmen für eine weitreichende Umsteuerung des Bildungswesens darstellen:

Bildungsstandards […] greifen allgemeine Bildungsziele auf. Sie benennen die Kompetenzen, welche die Schule ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln muss, damit bestimmte zentrale Bildungsziele erreicht werden. Die Bildungsstandards legen fest, welche Kompetenzen die Kinder und Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erworben haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können. (Klieme et al. 2003, 19)

Die Bildungsstandards sind also ein »zentrales Gelenkstück« (Klieme et al. 2003, 19) zwischen den allgemeinen Zielen und den tatsächlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Durch sie soll die Kluft zwischen den normativen Vorgaben und den empirischen Ergebnissen überbrückt werden, ohne das eine oder das andere aus den Augen zu verlieren. Für Lehrerinnen und Lehrer sind die Bildungsstandards deshalb ein »Referenzsystem für ihr professionelles Handeln« (Klieme et al. 2003, 19), weil sie an ihnen ihre Arbeit orientieren können.

2.2.2 »Religion« in der Klieme-Expertise

In der Klieme-Expertise ist nur an einer einzigen Stelle von Religion die Rede und dort auch nur in einer abgedruckten Grafik von Jürgen Baumert (vgl. Klieme et al. 2003, 68).

Baumert hatte seinen – auf Herders Bildungsverständnis rekurrierenden – Ansatz bereits 2002 in einem Vortrag unter dem Stichwort »Struktur eines Kerncurriculums« skizziert (vgl. Baumert 2002). Er differenzierte zwischen unterschiedlichen Formen der Rationalität, von denen jede in besonderer Weise im menschlichen Handeln zur Geltung komme. Die kognitiv-instrumentelle Rationalität der Mathematik, der Technik und der Naturwissenschaften stellte er neben die ästhetisch-expressive in Kunst, Literatur, Musik und der körperlichen Übung, die evaluativ-normative Logik des Rechts, der Wirtschaft und der Gesellschaft steht neben den »Fragen des Ultimaten«, die im Horizont »konstitutiver Rationalität« zu bearbeiten sind (vgl. Baumert 2002, 7).

Die unterschiedlichen Rationalitätsformen eröffnen jeweils eigene Horizonte des Weltverstehens, die für Bildung grundlegend und nicht wechselseitig austauschbar sind. Schulen moderner Gesellschaften institutionalisieren die reflexive Begegnung mit jeder dieser unterschiedlichen menschlichen Rationalitätsformen. (Baumert 2002, 7)

Damit entwirft Baumert ein stimmiges Konzept für »die latente Struktur eines kanonischen Orientierungswissens, das die Grundlage moderner Allgemeinbildung darstellt« (Baumert 2002, 7). Insgesamt bilden also die Fächer diese »Modi der Weltbegegnung« (Baumert 2002, 7) ab, auch wenn die Auswahl und der Zuschnitt von Unterrichtsfächern und der Inhalte kulturell bedingt sehr unterschiedlich sein können. Bei der Institutionalisierung des Zugangs zu religiöskonstitutiven Fragen konstatiert Baumert die größten kulturabhängigen Unterschiede, zumal in diesem Bereich nicht einmal in jedem Fall der Vorrang des reflexiven Zugangs selbstverständlich sei.

Dieses auf die Modi der Weltbegegnung bezogene Orientierungswissen korreliert Baumert mit basalen Kulturwerkzeugen. Daraus ergibt sich folgende Matrix (Baumert 2002, 11; Klieme et al. 2003, 68): Baumert ordnet die Probleme konstitutiver Rationalität primär den Fächern Philosophie und Religion zu und begründet damit ihr Eigenrecht im Fächerkanon. Diese Zuordnung ist nicht unumstritten (vgl. Tenorth 2005, 45), sondern hängt davon ab, ob eher der Bildungsbegriff Humboldts oder der Herders in Anspruch genommen wird. Die Klieme-Expertise verhält sich an dieser für den RU neuralgischen Stelle unentschieden.

Abbildung 2: Matrix, Baumert 2002, 11 und Klieme et al. 2003, 68

Baumert hat dieses Konzept bisher nicht weiter ausgeführt. Allerdings ist es wohl weniger so zu verstehen, dass Philosophie und Religion die Aufgabe zugewiesen wird, »problematisch werdendes Wissen in den anderen Modi der Weltorientierung in seinem Charakter, seinen Konstitutionsbedingungen und in seinen Grenzen« (Nipkow 2005, 118) zu durchleuchten und nach dem »Charakter von ›Rationalität‹ überhaupt zu fragen, nach dem, was sie ›konstitutiv‹ begründet« (Nipkow 2006, 21) – so Karl Ernst Nipkow in seiner Interpretation der Klieme-Expertise. Damit erhielten Philosophie und Religion »Aufgaben quer zu den anderen Lernbereichen« (Nipkow 2005, 118) und bildeten eine Art »Meta-Fächer«.

Auch wenn diese aufklärungskritische Problemstellung immer auch einen Aspekt des Philosophieunterrichts und RUs ausmacht, so scheint Baumert selbst eher grundlegende anthropologische Fragen im Blick zu haben, die »das Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens« (Baumert 2002, 7) betreffen. Es liegt freilich nahe, mit dem Komplex des »Ultimaten« auch Kants elementare Fragen »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?« und »Was darf ich hoffen?« (Kant 1781, A 805/B 833) zu verbinden.

Festzuhalten ist, dass sich von der Klieme-Expertise her ein Rückgriff auf Baumert anbietet, der dem Fach Religion die unausweichliche, systematische Auseinandersetzung mit Fragen konstitutiver Rationalität zuweist und ihm daher einen ausgewiesenen unvertretbaren Ort im Fächerkanon der Schule zubilligt. Die Entfaltung einer solchen bildungstheoretischen Begründung des RUs steht erst in den Anfängen (vgl. Kuld 2012, 31; Dressler 2006; 2007a).

2.2.3 Was leistet die Expertise?

Es scheint ein Anliegen der Verfasser der Klieme-Expertise zu sein, zwischen der idealistischen deutschen Bildungstradition (»Bildungsziele«)