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Ein Neuanfang mit Zuckerstreuseln, bitte! Wahre Schönheit kommt von innen heraus – oder? In den letzten Jahren fällt es Clara leider immer schwerer zu lieben, was sie im Spiegel sieht. Daran können auch quälende Fitnesskurse und eintönige Diäten nichts ändern. Auch ihr Mann Sebastian scheint nicht mehr allzu viel Enthusiasmus für die gemeinsame Ehe übrig zu haben. Frustriert und ratlos versucht Clara sich abzulenken und lernt in einem Forum für Opernliebhaber den gutmütigen Carl kennen. Nach und nach nähern die beiden sich über ihre gemeinsame Liebe zur Musik an und Carls köstliche Tortenkreationen, die er in seiner Konditorei Sternberg zaubert, lassen Clara für kurze Zeit ihre Sorgen vergessen. Schon bald kann sie ihre Gefühle für Carl nicht mehr ignorieren – aber hat sie wirklich den Mut, noch einmal ganz neu anzufangen? Der erste Band der warmherzigen »Konditorei Sternberg«-Reihe – für die Fans von Julie Caplin und Manuela Inusa. In Band 2, »Kuchenküsse«, muss Carla einem Freund helfen, der sich die falsche Traumfrau ausgesucht hat … Alle Bände der Reihe: Band 1: Konditorei Sternberg: Tortenträume Band 2: Konditorei Sternberg – Kuchenküsse Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.
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Seitenzahl: 482
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wahre Schönheit kommt von innen heraus – oder? In den letzten Jahren fällt es Clara leider immer schwerer zu lieben, was sie im Spiegel sieht. Daran können auch quälende Fitnesskurse und eintönige Diäten nichts ändern. Auch ihr Mann Sebastian scheint nicht mehr allzu viel Enthusiasmus für die gemeinsame Ehe übrig zu haben. Frustriert und ratlos versucht Clara sich abzulenken und lernt in einem Forum für Opernliebhaber den gutmütigen Carl kennen. Nach und nach nähern die beiden sich über ihre gemeinsame Liebe zur Musik an und Carls köstliche Tortenkreationen, die er in seiner Konditorei Sternberg zaubert, lassen Clara für kurze Zeit ihre Sorgen vergessen. Schon bald kann sie ihre Gefühle für Carl nicht mehr ignorieren – aber hat sie wirklich den Mut, noch einmal ganz neu anzufangen?
eBook-Neuausgabe September 2025
Dieses Buch erschien bereits 2016 unter dem Titel »Ziemlich schwerwiegend« bei Montlake Romance, Luxemburg
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Elizabeth Horn
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: A&K Buchcover, Duisburg, unter Verwendung eines Bildmotives von depositphotos/numismarty, depositphotos/toloubaev, depositphotos/casejustin, creativefabrica/Luv Bijou
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (ah)
ISBN 978-3-98952-888-8
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Elizabeth Horn
Roman
Für Wolfgang und Thomas
Marion hatte sie mit ihrer quietschgrünen kleinen Schüssel abgeholt. Wie immer war sie schon mächtig aufgekratzt und konnte kaum erwarten, was auf sie zukam.
Clara hingegen wäre am liebsten wieder umgekehrt. In neuen Situationen fühlte sie sich immer unwohl. Erst recht, wenn sie auch noch mit körperlichen Aktivitäten zu tun hatten. Aber irgendetwas musste sie tun. Sie konnte nicht immer nur jammern, ohne Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Wenn auch die Erfolge bis jetzt äußerst mäßig gewesen waren, so beruhigten sie doch das Gewissen.
Vor dem Eingang des Gymnastikraums lagerte bereits eine Herde graziler Gazellen. Die meisten waren schon umgezogen. Leggings und meist bauchfreie Stretchtops waren die Regel. Warum nannte man die eigentlich »bauchfrei«? Bäuche gab es da jedenfalls nicht zu sehen. Einige reifere Exemplare trugen zwar weite Hosen und lässige T-Shirts, aber auch darunter verbargen sich Leiber, die eine jahrelange Laufbahn als Primaballerina vermuten ließen. Clara schlurfte hinter Marion zur Umkleidekabine.
»Marion, du ... mir ist irgendwie schlecht. Ich glaube, ich hab was Falsches gegessen. Am besten, du schaust es dir an, und ich komme nächstes Mal dazu?«
»Mensch, manchmal hab ich das Gefühl, wir stecken in einer Zeitschleife und sind immer noch im Schulsport. Zieh dich endlich um! Und wenn’s dir nicht gefällt, brauchst du nicht wiederzukommen. Dann musst du nicht mal blechen. Aber heute sehen wir’s uns an. Klar!?«
Schweigend stieg Clara in ihre Yogahose und ihr schwarzes Riesenshirt.
Eine von den Gazellen könnte in dem Ding campen.
Marion hatte sich in ein paar Leggings und in ein orangegrün gemustertes Schlabbershirt geworfen. Die Farben bildeten einen interessanten Kontrast zu ihrem karottenroten Haar, aufgrund dessen sie noch nie gefragt worden war, wo sie ihren Spitznamen »Möhrchen« herhatte. Basti, Claras Mann, behauptete immer, Marion habe einen lausigen Geschmack. Besonders in diesem Sportdress sah sie aus wie der erwachsen gewordene Pumuckel.
Aber irgendwie fand Clara Marion als Gesamtkunstwerk immer überzeugend. Vielleicht lag es auch daran, dass sie ihr seit Kindertagen der liebste Mensch und die engste Vertraute war – außer Mutti vielleicht, als sie noch klein war ... und Basti natürlich! Oder?
Marion trug den Schlabberlook übrigens, um ihre herausstehenden Rippen zu verbergen. Clara hätte ihre eigenen eigentlich ganz gern mal wieder gesehen.
Im Raum legten sie sich wie die anderen auch eine Matte zurecht. Clara fühlte sich immer elender.
Dann betrat der Star der Veranstaltung die Bühne. J. Gruber gab den Kurs, hatte im Programm gestanden.
Grundgütiger!
J. war ein Mann.
Bitte nicht!
Clara wollte echt nach Hause. Sofort.
Nicht nur ein Mann, nein, auch noch ein junger Mann.
Nicht nur ein junger Mann, auch noch ein sehr gut gebauter, junger ... MANN!
Nicht zart gebräunt wie Basti, sondern karibikbraun.
Nicht schlank bis hager wie Basti, sondern schlank mit perfekt definierter Muskulatur ... überall. Das hautenge weiße Shirt und die radlerhosenähnlichen Shorts ließen keinen Zweifel daran zu.
»Wie ich sehe, bin ich mal wieder allein unter Frauen«, verkündete er in einem angenehmen Bariton. »Da fühle ich mich zwar immer sehr, sehr wohl« (lässiges Zwinkern), »aber, Mädels, sagt euren Männern noch mal, dass Pilates nicht nur Frauensache ist. Nennt mich einfach Jojo. Ich leite diesen Kurs. Einige Wiederholungstäterinnen habe ich schon entdeckt, aber für die Neuen stelle ich mich noch einmal vor. Setzt euch doch bitte so lange auf die Matten. Ich muss auch noch einiges erklären.« (Schnick mit dem Kopf, um die blonde Tolle vor den veilchenblauen Augen zu entfernen.) »Ich bin hauptberuflich Tänzer, im Moment bei der Explosion Dance Company, einer Truppe für experimentellen Tanz. Ich gebe euch nachher einen Flyer mit und würde mich sehr freuen, wenn ihr mal schauen kämt, was wir so treiben.«
»Viel lieber würde ich selbst was mit dir treiben«, wisperte eine hübsche Brünette direkt hinter Clara.
»In Form halte ich mich nicht mit Krafttraining, Ausdauersport oder Ähnlichem, sondern ausschließlich mit Pilates. Mit dem Ergebnis bin ich recht zufrieden.« (Verschmitztes Grinsen und lässiges Zwinkern.)
»So schöne Männer sind immer schwul«, flüsterte es rechts neben Clara.
»Der nicht, was man so hört. Nur gut, dass mein Freund nicht weiß, dass so ein ›Sahneschnittchen‹ den Kurs leitet. Der würde ausflippen!«
Also an Sahneschnittchen musste Clara bei Jojo nicht denken, eher an Proteinriegel oder so was. Sebastian wäre nicht eifersüchtig, wenn er wüsste, wer den Kurs leitet.
So viel Vertrauen ist doch schön!
Oder war es eher Sinn für die Realität. Ihm musste ja klar sein, dass die Kerle nicht gerade Schlange standen, um Clara auf den Pfad der Untreue zu locken. Und schon gar nicht solche wie der da, ob nun schwul oder nicht.
Sebastian hatte ihr heute Morgen nicht widersprochen, als sie gesagt hatte, sie sei dick geworden. Na ja, es stimmte ja auch. Aber trotzdem hätte sie sich gern was vorlügen lassen.
Verdammt!
Sie hatte es schon wieder gemacht. Basti hatte völlig recht. Sie konnte einfach nicht bei der Sache bleiben. Jetzt hatte sie verpasst, was der schöne Jojo über ein »Powerhouse« erzählte.
»Mädels, das ist einer der Kernpunkte dieser Trainingsmethode, deshalb erkläre ich es gleich noch mal an einem anderen Beispiel ...«
Glück gehabt!
»So, jetzt alle bitte auf den Rücken legen, und wir üben als Erstes die Atemtechniken. Es klingt sonderbar, aber wir versuchen jetzt so in den Brustkorb zu atmen, dass die Rippen sich öffnen und schließen. Das ist ungewohnt und anfangs schwierig, deshalb gehe ich herum und helfe euch. Ich mache es vor, und ihr probiert es einfach aus.«
Clara musste sich etwas aufrichten, um ihn im Liegen sehen zu können, da sie nicht über ihren Busen gucken konnte.
»Den Kopf und die Schultern bitte ganz entspannt liegen lassen!«
Nicht das auch noch!
Jetzt ging er herum, legte jeder die Hand auf die Rippen und gab leise Anweisungen. Wie in aller Welt sollte er ihre Rippen überhaupt orten können? Vielleicht schickte er sie ja einfach nach Hause. Da näherte er sich auch schon.
»Na, Gerda, du bist ja schon Profi. Du kannst das inzwischen besser als ich«, sagte er zu einer der Ballerinen im Ruhestand.
Nun war Marion dran. Irgendwie machte sie es nicht richtig, und er versuchte es ihr wieder und wieder zu erklären.
Schließlich nahm er ihre Hand und legte sie auf seine Rippen. »Siehst du? So! Aber das erfordert viel Übung, nur nicht den Mut verlieren.«
Jetzt kniete er neben Clara und strahlte sie an. »Nun mal los!«
Irgendwie hatte sie einfach die Luft angehalten. Es kam ihr vor, als würde seine Hand regelrecht in ihrem Speck versinken, als er versuchte, ihre Atmung zu fühlen. Trotzdem probierte sie es.
»Hast du schon mal Pilates gemacht?«
»Nein«, sagte eine Stimme, die gar nicht wie ihre eigene klang.
»Wirklich? Dann ist das schon sehr gut. Du hast offenbar ein tolles Körpergefühl.«
Clara merkte, wie sie dunkelrot anlief. Marion grinste sie stolz von der Seite an.
Hast du eine Ahnung. Mein Körpergefühl wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht.
Die sechzig Minuten waren Klara endlos erschienen. Von außen betrachtet sah es sicher aus, als würde man die ganze Zeit nur herumliegen, aber sie war fix und fertig. Der Weg über den Parkplatz schien furchtbar lang zu sein.
»Wenn du eine wahre Freundin bist, holst du mich hier mit dem Wagen ab. Ich bin komplett bedient. Ich bin zu fett für so was, ich kann mich kaum noch rühren.«
»Wenn es daran liegt, bin ich auch zu fett«, feixte Marion. »Mir tun Muskeln weh, von denen ich nicht mal wusste, dass ich sie überhaupt habe. Komm, wir setzen uns einfach hier hin und ruhen uns aus, bis wir uns erholt haben oder einer kommt und uns rettet.«
Zu Claras Entsetzen machte sie wirklich Anstalten, sich auf den Boden zu setzen. »Spinnst du? Also wirklich!«
»Na gut, schleppen wir uns zum Auto.«
In dem Moment erschien der schöne Jojo auf einem alten Fahrrad an ihrer Seite.
»Na, Mädels, alles gut? Sehen wir uns nächste Woche? Ich würde mich freuen.«
»Aber sicher doch! Da kennen wir nix! Gell, Clara?!«
Clara nickte nur gottergeben.
»Dann bis nächste Woche. Super!« Lässig winkte er ihnen zu und radelte davon.
Marion war stehen geblieben und kramte in ihrer riesigen Handtasche herum.
»Findest du etwa den Autoschlüssel nicht?« Clara wurde leicht panisch, es wäre nicht das erste Mal gewesen. Eine Zeit lang hatte Marion ein Techtelmechtel mit einem Typ von einer Autowerkstatt gehabt, der ihr mehrmals den Wagen aufgemacht hatte.
»Nein, wie kommst du denn darauf? Wir dürfen nur nicht loslaufen, bevor er außer Sichtweite ist, damit er nicht sieht, dass wir uns bewegen wie zwei altersschwache Gänse.«
Das machte absolut Sinn. Als Jojo schließlich um die Ecke verschwunden war und auch sonst keiner sie beobachtete, schlichen sie zum Wagen. Kraftlos ließen sie sich in die Polster sinken.
»Zu dir oder zu mir? Wie gerne würde ich das mal wieder von einem Kerl gefragt werden«, seufzte Marion.
»Zu mir! Bei dir müssen wir eine Etage hoch.«
»Zu mir! Bei dir gibt’s nichts zu essen. Bis wir da sind, schaffen wir die Treppen schon wieder. Ich fahre dich auch später heim.«
Clara hatte echt keine Kraft, um Widerstand zu leisten. Also machten sie sich auf in Marions Wohnung.
Diese lag im ersten Stock, und irgendwie war der Treppenaufgang viel länger und steiler als sonst.
Endlich angekommen, ließen sie sich im Wohnzimmer auf das Sofa fallen und sagten eine ganze Weile beide nichts.
Marions Heim bestand aus zwei Zimmern und einer kleinen Küche. Wenn man LSD nahm, musste die Wirkung so ähnlich sein, wie wenn man sich bei ihr umschaute. Es war unglaublich, wie viele Farben und Muster man auf kleinstem Raum unterbringen konnte. Das Schönste an der Wohnung war der verglaste kleine Balkon, der auf Hinterhöfe hinausging. Auf ihm wuchsen unzählige Blumensorten in allen erdenklichen Farben und Formen. Marion war Floristin, und Pflanzen waren ihre Leidenschaft, neben Männern. Irgendwie hatte sie für Erstere aber ein entschieden besseres Händchen. Nach unzähligen gescheiterten Romanzen war sie momentan mal wieder seit einer ganzen Weile solo.
»Sag mal, Möhrchen, wollen wir da wirklich noch mal hin?«
»Aber selbstredend! Wir wollen doch fitter werden. Wenn uns das so fertigmacht, heißt das doch, dass es effektiv ist. Außerdem ist es eine einmalige Gelegenheit, für einen minimalen Obolus eine Stunde lang einen fantastisch gebauten Kerl in spärlicher Bekleidung anschauen zu dürfen, ohne dass jemand Anstoß daran nehmen kann. Und was das Tollste ist, wenn man sich blöd genug anstellt, darf man ihn sogar mal anfassen. Ohne Aufpreis!«
»Also, Möhrchen, wirklich!«
»Hast du eine Ahnung, was eine Eintrittskarte für die California Dream Boys oder so was kostet?!«
»Nein, wirklich nicht, und ich hoffe aufrichtig, dass du es auch nicht weißt.« Misstrauisch schaute Clara Marion von der Seite an.
»Nein, weiß ich auch nicht. Du kannst gut von oben herab tun. Eine Frau hat auch Bedürfnisse. Du hast ja deinen Göttergatten. Nicht dass ich den wollte, aber besser als nix. Und ich?«
»Du sollst nicht immer so abfällig über Sebastian reden. Er ist ein toller Mann. Was hast du nur an ihm auszusetzen? Ich glaube, du bist einfach ein bisschen eifersüchtig.«
»Ich hab überhaupt nichts an ihm auszusetzen, aber dein Traumprinz findet sich selbst so toll, dass es absolute Verschwendung wäre, wenn ich ihn auch noch gut fände.«
»Ist gar nicht wahr. Basti hat einfach ein gesundes Selbstbewusstsein. Und das braucht er auch in seinem Job.«
»Na klar, er ist der Beste! So, und jetzt zu angenehmen Dingen. Ich koche uns einen Kaffee. Ich muss unbedingt meine Kraftreserven auffüllen.«
»Ich helfe dir.«
»Lieber nicht, wenn du mir umkippst, krieg ich dich nie wieder hoch. Ich mach das schon.«
Das war leider nur zu wahr. Wahrscheinlich wog Clara fast doppelt so viel wie Marion. Genau wussten sie das aber nicht. So vertraut sie auch miteinander waren, so war ihr jeweiliges Gewicht für die andere dennoch ein gut gehütetes Geheimnis.
Möhrchen schleppte eine Platte mit Negerküssen — korrekterweise wohl Schaumküssen – heran. Eigentlich war es egal, wie die Dinger hießen. Der Name – und schon gar nicht die Dinger an sich – war seit Ewigkeiten nicht mehr über Claras Lippen gekommen.
Als der Kaffee auf dem Tisch stand, schob sich Marion genüsslich einen Schaumkuss in den Mund. Sie seufzte und verdrehte die Augen. »Nichts macht so glücklich wie raffinierte Kohlehydrate. Na ja, zumindest nichts, was so günstig und einfach zu kriegen ist.«
Clara hätte schreien können.
»Immer noch nichts für dich? Wirklich nur Kaffee, nach dieser Tortur auch nicht?«
»Ich hab jetzt seit fünf Monaten keine Süßigkeiten mehr gegessen und kaum Kohlehydrate. Ich trinke morgens und abends einen Diätshake und nehme mittags eine eiweißreiche Mahlzeit zu mir.«
»Wahnsinn! Ich denke schon die ganze Zeit, du siehst einfach klasse aus, Clara!« Spontan nahm Clara Marion in den Arm und küsste sie herzhaft auf die Stirn. »Willst du wissen, wie viel ich abgenommen habe?«
»Ja, sag’s mir!«
Clara ließ die Spannung ansteigen, bevor sie verkündete: »Eineinhalb Kilo!«
»Toll! Das heißt ... das sind drei Pfund, oder? In fünf Monaten mit einer Mahlzeit am Tag? ... Sag mal, Clara-Maus, weinst du?«
Wie blöd ist das denn! Nun sitze ich hier und heule, bei Möhrchen, die alles, aber das nun ganz und gar nicht verstehen kann.
»Ach, ich bin so frustriert!«
»Gehst du nicht in so eine Art Praxis? Was sagen die denn dazu?«
»Ich weiß nicht, wer mehr leidet, die Ernährungsberaterin oder ich. Ich sehe richtig, wie ihr der Schweiß auf die Stirn tritt, jedes Mal, wenn es bei mir ans Wiegen geht. Wahrscheinlich glaubt sie mir nicht, dass ich alles so mache, wie ich soll, aber sie tut zumindest so. Ich bin doch nicht so bescheuert, dass ich denen mein Geld hintrage, heimlich esse und mich dann wundere, dass es nichts bringt. Sie meint, ich bin zu verkrampft und blockiere mich selber.«
»Klingt gut. Ich denke nie darüber nach, was ich esse. Und ich nehme nie zu, selbst wenn ich gerne würde. Iss einen Schaumkuss, das entkrampft.«
»Wenn ich das tue, verachte ich mich wieder selbst. Das einzig Gute an dieser Diät ist, dass ich nur noch frustriert bin, mich aber nicht selbst hassen muss für meine Schwäche. Ich weiß, du kannst dir das alles gar nicht vorstellen, du halbe Portion.«
»Kann ich echt nicht! Ich sehe das Problem einfach nicht. Du siehst doch prima aus, du bist charmant und schlau, du hast einen Mann, den du zumindest gut findest ...«
»Lass das, bitte!«
»Sorry! Du hast einen akzeptablen Mann, der dich liebt ... Oder nervt der dich wegen des Gewichts? Das würde mich echt nicht ...«
»Tut er nicht! Aber ich will einfach nicht mehr so aussehen.«
Und schon wieder fing sie an zu tropfen.
Marion zog sie an sich. An ihrer knochigen Schulter schniefte sie verschämt weiter. Sie kam sich vor, als wären sie wieder im Kindergarten oder hormongestörte Teenies.
»Mensch, Clara! Du weinst doch nicht etwa im Ernst, weil du nicht aussiehst wie Kate Moss?«
»Nein, ich weine nicht, weil ich nicht aussehe wie Kate Moss, ich weine, weil ich aussehe wie Cindy aus Marzahn. Ich hab sogar fast die gleiche Frisur.«
Energisch schnäuzte sie sich die Nase und versuchte sich zu fangen. Das war wirklich lächerlich. Andere Menschen hatten ganz andere Probleme.
»Du siehst überhaupt nicht aus wie die! Du bist zwar ein bisschen mollig, aber gar nicht prollig!«
Marion liebte Wortspiele. Dieses war so doof, dass Clara lachen musste.
»Die Ernährungsberaterin meint, ich sollte mal einen Kurs in autogenem Training machen, um zu lernen, mich zu entspannen. Dann schütte ich nicht mehr so viele Cortisole aus, und mein Stoffwechsel funktioniert besser. Kommst du vielleicht mit?«
»Keine schlechte Idee! Wenn ich lerne, mich zu entspannen, bin ich vielleicht nicht mehr so zappelig und nehme etwas zu. Bei meinem Talent krieg ich aber garantiert einfach nur einen dicken Ranzen statt Kurven. Komm, du Schaf, ich hole den Laptop, und wir suchen uns einen Kurs. Sicher bringt das was. Alles wieder gut?«
Zärtlich tätschelte sie Claras Arm. Die nickte nur verlegen. Versonnen schob sich Möhrchen den vierten Schaumkuss in den Mund, bevor sie den Laptop holen ging.
Endlich stand der zweite Theaterabend für Clara und Sebastian an. Da Clara eine leidenschaftliche Operngängerin war, hatte ihr ihr Mann ein Abonnement für die Premieren des Opernhauses geschenkt. Sie hatte sich riesig darüber gefreut, einerseits, weil sie die Oper liebte, andererseits, weil es ihnen die Gelegenheit bot, regelmäßig etwas zusammen zu unternehmen, das nichts mit Bastis Job zu tun hatte. Zwar gingen sie oft zusammen aus, aber in der Regel handelte es sich um Unternehmungen, die der Pflege von Geschäftsbeziehungen dienten. Clara fühlte sich dabei meist sehr unwohl. Die anderen Ehefrauen waren fast durchweg in Topform, selbstbewusst und perfekt gestylt. Sie hingegen fühlte sich plump und verkrampft, obwohl sie sich stets die größte Mühe gab, charmant und verbindlich rüberzukommen.
Auch heute hatte sie sich mit ihrem Aussehen ewig verkünstelt. Leider kam als einziges langes Kleid das dunkelblaue knöchellange Etuikleid mit Jacke infrage. Darin sah sie zwar ganz passabel aus, hatte es aber bereits das letzte Mal getragen. Mit der Schmuckauswahl und einer anderen Frisur versuchte sie diese Tatsache zu vertuschen. Der Friseur hatte ihre unbändigen Locken zu einem Chignon hochgesteckt. Dazu trug sie lange Ohrringe und eine lange, dicke Goldkette in der Hoffnung, »die Vertikale zu betonen«, wie es in einem Stilratgeber für kleine Dicke geheißen hatte. Na ja, so schlecht sah sie nun wirklich nicht aus.
Sebastian trug seinen Smoking mit der Coolness eines James Bond. Er wusste, dass er prima darin aussah. Ganz sicher versüßte ihm das diese Ausflüge, die nicht so ganz seine Sache waren. Clara band ihm die Fliege und sagte sich, wie glücklich sie sein könne, einen so attraktiven Mann zu haben, der auch noch mit ihr in die Oper ging, nur weil er wusste, wie gern sie das tat. Wie immer stellte sie sich auf den Treppenabsatz im Flur, um besser an ihn heranzukommen. Als sie fertig war, beugte er sich vor und küsste sie auf den Hals.
»Mmmm, du riechst wunderbar, mein Engel.«
Clara war glücklich!
»Sag mal, hast du das Kleid nicht schon letztes Mal angehabt?«
»Ja ...«
»Das sieht aber blöd aus, meine Liebe. Die Leute könnten auf die Idee kommen, ich kann dir keine zwei Abendkleider kaufen. Hast du denn kein anderes?«
»Nein, leider kein anderes langes.«
Zumindest keins, in das ich mich noch reinquetschen kann.
»Na ja, dann muss es heute mal so gehen. Aber vor der nächsten Aufführung musst du dir was Neues kaufen, hörst du!«
»Mach ich, Schatz! Ich bin sicher, es fällt keinem auf. Die meisten Menschen haben nicht so einen guten Blick fürs Detail wie du, Basti.«
»Schon wahr! Dann lass uns aufbrechen.«
Clara war froh, dass nun einige Wochen Theaterpause folgten. Kleider kaufen war für sie immer eine Strafe. Dabei liebte sie schöne Dinge. Aber irgendwie schienen all die schicken Fummel nicht für sie gedacht zu sein. Am Ende eines Einkaufstrips fühlte sie sich immer noch unförmiger als vorher.
Auf dem Weg ins Theater vergaß sie das leidige Kleiderthema und stellte sich auf die Aufführung ein. Die erste Premiere, die sie zusammen besucht hatten, war die Inszenierung einer modernen Oper gewesen, die ihr nicht wirklich gefallen hatte. Clara liebte Melodien und große Gefühle. Die letzte Vorstellung war für sie zu akademisch gewesen. Heute aber stand Rigoletto auf dem Programm. Eine wirklich krude Geschichte, deren wunderbare, ergreifende Musik sie aber immer wieder zu Tränen rührte. Die Vorfreude wuchs mit jedem Kilometer, den sie sich dem Opernhaus näherten. Auch Sebastian schien beschwingt und zufrieden.
Die Inszenierung gefiel ihr ausgezeichnet. Der Sänger des Rigoletto hatte eine wunderbare kraftvolle Stimme, und Chalmers als berechnender Verführer sang ganz traumhaft. Die Sängerin der Gilda war anrührend mädchenhaft, so wie man es sich wünschte. Clara genoss es in vollen Zügen. Sebastian neben ihr strahlte allerdings eine Unruhe aus, der sie sich nicht ganz verschließen konnte. Wie hieß diese Störung noch mal, die in letzter Zeit immer öfter bei Schulkindern diagnostiziert wurde? ABS? Nein, das war doch irgendwas mit den Bremsen. ADS, so hieß es. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob Basti nicht daran litt. Das war ungerecht. Er war eben ein Macher. Zuschauer zu sein widersprach einfach seinem Naturell.
Mist, jetzt hab ich gar nicht richtig zugehört, dabei ist gerade diese Stelle so schön.
Aufmerksamkeitsstörungen waren ihr nun wirklich auch nicht ganz fremd. Kaum fiel der Vorhang zur Pause, war Basti schon aufgestanden.
»Beeil dich, mein Engel, dann können wir schön einen Sekt trinken, ohne ewig Schlange stehen zu müssen.«
Im Foyer herrschte trotzdem bereits dichtes Gedränge. Sebastian platzierte seine Frau an einem Stehtisch.
»Bleib du hier, ich hole uns schnell was. Sekt ist okay oder, meine Liebe?«
»Gerne, Basti!«
Clara schaute ihm nach, wie er in der Menge verschwand. Sie hatte das Gefühl, dass sie nicht die einzige Frau war, die ihm hinterhersah. Ob sie sich weniger unattraktiv gefühlt hätte, wäre ihr die Diskrepanz zwischen Bastis Äußerem und dem ihren nicht so extrem vorgekommen?
Schluss damit! Genieß den schönen Abend!
Irgendwie dauerte das Sektholen ziemlich lange. Clara vertrieb sich die Zeit damit, die teils sehr eleganten Roben der Damen zu betrachten. Wo in aller Welt sollte sie in ihrer Größe etwas wirklich Schickes herbekommen? Sie würde sich einen langen Rock kaufen und ein, vielleicht zwei elegante Oberteile dazu. Damit standen ihre Chancen besser.
Wo bleibt er denn nur!
Clara fühlte sich langsam wie ein vergessener Koffer.
Ein älterer Herr, der schon eine Weile in ihrer Nähe gestanden hatte, kam auf sie zu. »Eine sehr gelungene Aufführung, finden Sie nicht?«
»Ja, ganz wunderbar. Chalmers singt wieder fantastisch, oder?«
»Unbedingt. Hoffentlich bleibt er dem Haus noch eine Weile erhalten.«
»Ja, das wäre schön.« Clara war dankbar, nicht mehr allein blöd herumzustehen. Wo blieb Basti denn nur?
»Waren Sie auch in der letzten Premiere?«
»Ja, mein Mann und ich haben ein Premierenabonnement. Er holt uns gerade ein Glas Sekt.«
»Na, davon werden Sie nicht mehr viel haben. Die Pause ist gleich zu Ende.«
In dem Moment gongte es zum zweiten Teil.
»Na, dann weiterhin viel Vergnügen!«
»Danke, Ihnen auch.«
Was nun? Sollte sie schon allein auf ihren Platz gehen?
In dem Moment fasste sie Sebastian am Arm. Er strahlte. »Du glaubst nicht, wen ich getroffen habe. Konsul Großholz. Er hat sich direkt an mich erinnert. Ich hab dir doch erzählt, dass ich ihn beim letzten Treffen des Gewerbevereins kennengelernt habe.«
»Wolltest du uns nicht einen Sekt holen?«
»Was? Ach so, ja! Wir gehen lieber hinterher in das romantische kleine Weinlokal, das dir so gefallen hat, und trinken gemütlich noch ein Gläschen zusammen. Seine Frau ist übrigens sehr charmant. Da merkt man gleich, diese Leute haben Format.«
Ach, Basti! Na, die Idee mit der Weinlaube ist jedenfalls nett.
Der zweite Teil mit seiner Dramatik fesselte Clara sofort. Im Schlussakt musste sie, wie so oft, mit den Tränen kämpfen. Während Rigoletto seine Verzweiflung heraussang, riss sie aber etwas aus ihrer Versenkung. In unregelmäßigen Abständen erschienen Lichtpunkte auf der Rückenlehne von Bastis Vordermann.
Was ist das denn!
Basti schaute auf seine beleuchtete Armbanduhr.
Also wirklich! An der dramatischsten Stelle.
Mit Mühe konzentrierte sich Clara wieder auf die Bühne. Trotz der Ablenkung berührte sie die Musik sehr. Als der Vorhang fiel, hatte sie Tränen in den Augen.
Hoffentlich bemerkte Basti es nicht. Sentimentalität war ihm zuwider.
Das Publikum reagierte mit tosendem Applaus. Kaum betraten die Sänger nochmals die Bühne, erhoben sich alle von den Plätzen.
Sebastian nahm Clara am Arm. »Komm, schnell. Wenn wir jetzt gehen, stehen wir nicht ewig in der Schlange im Parkhaus. Ich möchte nicht, dass es zu spät wird. Ich habe morgen früh einen wichtigen Termin.«
Die intensive Musik schwirrte noch in Claras Kopf herum, als sie zum Weinlokal fuhren. Bastis Plan war aufgegangen. Sie waren ohne Verzögerung aus dem Parkhaus gekommen. Darüber freute er sich wie ein kleines Kind.
»Hat’s dir denn auch gefallen, mein Schatz? Ich bin noch ganz hin und weg.«
»Sehr schön war es, mein Engel. Frau Konsulin Großholz war von diesem Chalmers ganz begeistert. Das war der jüngere Blonde, oder? Den fanden wir auch gut, Clara, oder?«
»Ganz ausgezeichnet. Er hat eine wunderschöne Stimme. Auch seine Partnerin ...«
»Diese Frau Konsulin – sehr aparte Person übrigens – scheint eine echte Fachfrau zu sein. Sehr kultiviert, kann man sich ja vorstellen. Ihr Mann – sehr eindrucksvolle Erscheinung – könnte enorm hilfreich für unser Geschäft sein. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wen der alles kennt. Beziehungen sind einfach alles ...«
»Besonders gelungen fand ich das Bühnenbild im ersten Akt, du nicht auch?«
»Unbedingt, mein Engel. Schade, dass du die beiden nicht gesehen hast. Klasse ... ja genau, Klasse, das ist es, was sie ausstrahlen. Sehr interessante Menschen.«
Hättest du mich nicht schlicht und einfach an diesem blöden Stehtisch vergessen, dann hätte ich sie gesehen. Naja, ganz ehrlich, ich hätte wieder Panik gekriegt, weil ich nicht unbedingt Klasse ausstrahle.
»So, da sind wir. Nun noch ein schönes Glas Wein zum Abschluss eines rundum gelungenen Abends.«
»Ja, Basti. Wie schön. Mit dem Abo hast du mir wirklich eine große Freude gemacht, das weißt du, nicht wahr?«
»Oh ja. Ich weiß doch, was meinem Engel gefällt.«
Kaum betraten sie das Lokal, kam auch schon ein Kellner beflissen auf sie zu. Trotz der späten Stunde an einem Wochentag war das Lokal gut besucht. Die kleinen Nischen am Rand waren fast alle besetzt.
»Mein Name ist Nagel, ich habe eine Reservierung für vier Personen!«
Der Kellner wies ihnen den Weg zu einer günstig gelegenen Nische.
»Warum denn für vier, Basti?«, flüsterte Clara ihrem Göttergatten zu.
»Ich habe Anfang der Pause die Knapps getroffen. Sie kommen auch gleich.«
Wie romantisch, ein Abend mit den Knapps!
Claras Stimmung verdüsterte sich schlagartig.
Die Knapps, das waren Bastis Freund und Partner Jürgen und dessen Ehefrau Veronika. Jürgen war ein jungenhafter, leicht pummeliger Bär, den Clara sehr gern mochte. Er sie wohl auch. Sebastian hingegen war sein Held. Obwohl sie beide fast gleich alt waren und zusammen die Firma gegründet hatten, war Basti ganz eindeutig der Leitwolf. Jürgen seinerseits war für den gemeinsamen Erfolg unentbehrlich, aber bereitwillig hielt er sich mehr im Hintergrund. Die beiden Männer ergänzten sich offenbar ideal, auch wenn Clara manchmal das Gefühl hatte, Basti könnte Jürgens Beitrag mehr würdigen. Auf wen Clara im Moment überhaupt keine Lust hatte, das war Jürgens Angetraute, die »unvergleichliche Veronika«, wie Clara sie heimlich nannte. Veronika war hübsch und schlank und, was noch schlimmer war, mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein ausgestattet. Wenn sie ehrlich zu sich war, dann war Claras Hauptproblem mit Veronika einfach, dass sie sich in ihrer Gegenwart stets noch unzulänglicher fühlte als sonst.
»Wo bleiben die denn? Lass uns schon mal einen Wein bestellen!«
Basti hasste nichts so sehr wie warten zu müssen. Der Wein wurde gebracht, und Basti gab Clara einen Eindruck von dem Geschäftsimperium des Konsuls Großholz. Nach fünfundzwanzig Minuten hatte Clara plötzlich das Gefühl, dass es in dem Lokal schlagartig ruhiger wurde. Jürgen und die »unvergleichliche Veronika« näherten sich ihrem Tisch. Alle Blicke, nicht nur die der Männer, schienen ihr zu folgen. Veronika trug ein bodenlanges Kleid, das eine Schulter frei ließ. Das metallisch-silberne Material erweckte den Eindruck, als sei ihr Körper damit übergossen worden, so perfekt schmiegte es sich an jede ihrer makellosen Kurven. Ihre Art, sich zu bewegen, machte den Eindruck perfekt. Sie wackelte nicht etwa mit den Hüften oder machte irgendetwas ähnlich Prosaisches. Sie bewegte sich geradezu majestätisch. Sie von Weitem zu bewundern schien einfach die einzig logische Reaktion. Jürgen lief ein paar Schritte hinter ihr und konnte seinen Stolz nicht verbergen.
Unfassbar, sie ist mindestens fünf Jahre älter als ich. Dagegen sehe ich aus wie ... Ach, verdammt, aber auch ...
Clara hatte das Gefühl, als würde sie, mit jedem Schritt, den die beiden auf sie zu machten, dicker. Ihr Etuikleid, das sie recht gern mochte, kam ihr spießig und altbacken vor. Sie glaubte, ihre Frisur würde sich auflösen und ihr Gesicht wäre blaurot.
Reiß dich zusammen! Du bist eine erwachsene Frau. Du benimmst dich, als wärst du noch im Kindergarten.
Der Vergleich war nicht ganz zutreffend. Im Kindergarten hatte sie sich immer wohl unter ihresgleichen gefühlt, während sie sich jetzt wie ein hässliches Entlein oder vielmehr wie eine fette Kuh fühlte. Auch Jürgens überschwängliche Begrüßung und seine lieb gemeinten Worte über ihr Outfit trugen wenig dazu bei, dass es ihr besser ging.
Veronika beugte sich katzengleich über den Tisch zu ihr und küsste die Luft neben ihrem Ohr. »Jürgen hat recht. Hübsches Kleid. Ich habe es schon bei der letzten Aufführung bewundert.«
Basti schaute sie nur vielsagend an. »Dein Kleid ist auch einfach toll!«
»Nicht wahr! Ich hab es gesehen und wusste, das muss ich haben! Als Jürgen den Preis gehört hat, ist er fast umgefallen. Aber seit er mich darin gesehen hat, sind keine Klagen mehr gekommen, stimmt’s, mein Schatz?« Schelmisch kraulte sie ihren Mann unterm Kinn.
»Wo bleibt ihr denn? Wir warten schon fast eine halbe Stunde.« Warten mochte Sebastian nun wirklich nicht.
»Wir mussten doch warten, bis der Applaus vorbei war. Es gab sage und schreibe zehn Vorhänge. Ich finde den Schlussapplaus immer faszinierend. Die Sänger haben eine große Leistung abgeliefert und bekommen ihren Lohn. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern; das Abfallen der Anspannung — einfach erlebenswert.«
Ausnahmsweise sind wir uns mal einig. Ich liebe das auch. Aber ich sitze hier und warte auf euch!
»War die Aufführung nicht wunderschön?«, fragte Clara optimistisch.
Zu gern hätte sie darüber gesprochen.
»Das war sie, mein Engel! Sag, Veronika, wie läuft’s in deinem Geschäft?«
»Lieb, dass du fragst, Sebastian. Jürgen kann es echt nicht mehr hören, wenn ich davon rede. Natürlich könnte es besser laufen, aber es macht einfach so viel Spaß. Letzte Woche ...«
So stürzte sich die »Unvergleichliche« in einen Bericht über eine Messe, die sie besucht hatte, um ihr Geschäft für Innenausstattung aufzustocken. Sie beschrieb detailliert ihre Einkäufe, erzählte lebhaft und anschaulich. Trotzdem faszinierte Clara die Tatsache mehr, dass beide Männer am Tisch geradezu an ihren Lippen hingen. Hätte sie versucht, Basti von Kleinmöbeln oder Dekoartikeln zu erzählen, hätte er sie gleich gestoppt oder zumindest diesen glasigen Blick bekommen, den er immer hatte, wenn er nicht direkt sagen wollte, dass ihn etwas nicht interessierte, sondern einfach seine Gedanken ganz woanders hinlenkte. Nahtlos ging Veronikas Erzählung über in eine nette Geschichte von einem Mann, der etwas bei ihr bestellt hatte. Als es dann kam, war es nicht recht, und er bestellte etwas anderes. So ging es wieder und wieder, bis Veronika völlig ratlos war. Schließlich stellte sich heraus, dass er gar nichts kaufen wollte, sondern versuchte, den Mut aufzubringen, sie nach einem Date zu fragen. Als sie ihre Pointe geliefert hatte, lachte sie mädchenhaft auf. Ihre Haltung verriet, dass sie es hätte viel früher wissen müssen. Denn schließlich passierte so etwas ständig. Clara konnte ihre Verzweiflung nachvollziehen.
Diese ewigen Verehrer sind eben oft echt lästig, man kommt ja zu sonst nichts mehr. Wie gut ich das kenne. Haha!
Als Veronika notgedrungen mal Luft holen musste, wandte sich Clara an Jürgen: »Sag mal, Jürgen, kommst du bei all der Arbeit, die ihr habt, überhaupt noch zum Golfspielen?«
Jürgen strahlte sie an. Jürgen liebte Golf. Sonst eher unsportlich, hatte er dafür wirklich Talent. »Letztes Wochenende habe ich ein kleines Turnier gespielt. Es lief toll. Ich konnte mein Handicap um zwei Punkte verbessern, obwohl ich kaum trainiert hatte. Meine Gegner waren zwei Typen, die seit fast zwanzig Jahren spielen. Die waren richtig beeindruckt.«
Spontan küsste ihn seine Frau auf den Mund. »Sicher waren sie das, aber bitte tu uns das nicht an, Liebling. Nichts ist langweiliger, als zuzuhören, wenn jemand erzählt, wie toll er ist.«
Manchmal sagst du richtig schlaue Sachen!
»Golf ist so ein ödes Gesprächsthema. Das will kein Mensch hören!«
»Aber Clara hat mich doch gefragt!«
»Clara ist einfach nur nett. Sie will es auch nicht hören.«
»Das ist gar nicht wahr!«
Irgendwie reagierte aber keiner auf ihren Einwurf.
Basti begann mit Jürgen über Geschäfte zu reden. Das behagte Veronika aber noch weniger.
»Bitte, Jungs, alles, nur das nicht! Über das Geschäft könnt ihr reden, wenn ihr unter euch seid. Clara, ihr habt noch gar nichts von eurem Urlaub in Andalusien erzählt.«
Clara setzte an, die Lage des schönen Hotels zu beschreiben, in dem sie gewesen waren. Veronika kannte es auch, und ehe Clara sich’s versah, erzählte sie von Knapps letztem Urlaub dort, von drolligen Verwechslungen, die entstanden waren, weil ihr Spanisch sehr gut ist, sie mit dem lokalen Idiom aber noch nicht vertraut war. Das Ganze war deshalb so komisch, weil ihr Stammkellner – der sich wohl ein bisschen in sie verguckt hatte, obwohl er ihr Sohn hätte sein können – aufgrund ihrer Aussprache angenommen hatte, sie sei Spanierin ...
Das einzig Spanische, was Clara gerade einfiel, war »porca miseria«. Bei genauerem Überlegen war das wahrscheinlich eher italienisch.
Alles sehr witzig und geistreich.
Ich weiß, es ist die reine Eifersucht, der reine Neid, aber es gibt kaum jemand, der mich so nervt wie du!
Clara war müde. Hatte Basti nicht gesagt, er müsse früh raus? Unauffällig schielte sie auf seine Armbanduhr. 23.40 Uhr.
Basti schien es nicht eilig zu haben. Vergnügt lachte er über Veronikas Abenteuer.
Naja, sicher macht das Lokal um vierundzwanzig Uhr zu.
Clara und ihre moralische Unterstützung fandensich circa zehn Minuten vor Beginn des Kurses für autogenes Training in der Klinik ein. Zum Glück wurde um bequeme Kleidung gebeten, nicht um Sportmontur. Das empfand Clara schon mal als mehr als positiv. Was Marion trug, unterschied sich trotzdem nicht sehr von ihrem Pilates-Dress. Der Hauptunterschied war, dass sie das äußerst farbenfrohe Ensemble mit ein paar bunten Perlenketten zusätzlich aufgepeppt hatte. Die zehn bis zwölf Leute, die sich vor dem Übungsraum eingefunden hatten, erfüllten Clara auch mit Zuversicht. Es war eine gemischte Truppe, altersmäßig etwa zwischen Ende zwanzig und Anfang sechzig, überwiegend Frauen. Einer der wenigen Männer stand in ihrer Nähe an die Wand gelehnt und schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. Etwas älter als die beiden, in gepflegtem Freizeitlook mit relativ langem grau meliertem Haar, schaute er äußerst missvergnügt drein.
»Haben Sie schon mal autogenes Training gemacht?«
Schon wieder musste Marion wehrlose fremde Menschen anfallen. Clara trat einen Schritt zurück und kam sich deswegen gleich illoyal vor.
»Nein«, lautete die knappe Antwort.
»Wir auch nicht, meine Freundin Clara und ich. Also, ich würde gerne zunehmen und Clara gerne ab, gell, Clara. Ulkig, nicht? Wo hakt es denn bei Ihnen?«
Clara begann sich zu wünschen, sie könnte in den Erdboden versinken.
»Burn-out!«
»Wie bitte?«
»Burn-out, ich leide unter Burn-out und soll mich entspannen.«
»Echt! Das muss offenbar ein echtes Allheilmittel sein, dieses autogene Training. Ich bin schon sehr gespannt. Sie auch?«
»Ich entspanne am besten, wenn es um mich herum still ist.«
»Das verstehe ich ja nur zu gut! Die Welt ist so laut geworden. Von den Medien wird man zugetextet, Fluglärm, Straßenlärm, mich macht das auch fertig. Besonders stressig finde ich ...«
Clara überlegte verzweifelt, wie sie Marion stoppen konnte, ohne sie total bloßzustellen, da tauchte zum Glück die Kursleiterin auf. Mitte vierzig, konservativ gekleidet, schloss sie den Raum auf und bat erst mal alle herein. Drinnen standen entlang der Wand einige Stühle. Ein Großteil des Raums aber war leer. An der rückwärtigen Wand stapelten sich Gymnastikmatten, wie beim Pilates auch. Die Leiterin stellte sich als Frau Dr. Mayerbeer vor. Offenbar war jeweils der erste Dienstag im Monat dazu gedacht, im Rahmen des fortlaufenden Kurses eine Einführung für Einsteiger zu bieten. Das Ziel war, sich erst mal auf ihre Stimme zu konzentrieren und nach und nach alle äußeren Eindrücke auszublenden. Gedanken, die einem dabei kamen, sollte man ruhig zulassen. Jeder sollte sich aussuchen , ob er lieber sitzen oder liegen wollte. Clara und Marion entschieden sich für Stühle an der Wand. Andere Teilnehmer holten sich Matten und breiteten sich meist Handtücher darauf aus. Das waren wohl die Entspannungsprofis. Einer der Jüngsten, ein hagerer junger Mann mit Brille, holte sich auch eine Matte und legte sich etwas von Clara entfernt auf den Boden. Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie, dass er eine Brille trug, deren Gläser so dick waren wie Glasbacksteine. Irgendwie sah man so was heute kaum noch, wahrscheinlich weil es bessere Materialien gab als früher. Diese Gläser waren aber so dick, dass die Augen dahinter aussahen wie Stecknadelköpfe. Offenbar sah er trotzdem nicht sehr viel, denn er bewegte sich sehr vorsichtig und tastend. Das war jemand mit echten Problemen. Wie alt mochte er sein, höchstens Ende zwanzig?
Mist, jetzt hab ich wieder einen Teil der Anleitung verpasst. Hoffentlich war es nichts Wichtiges.
Der Mann mit der Brille hatte nicht nur ein Handtuch dabei, sondern auch eine dünne Decke. Mit der deckte er sich zu und legte die Brille neben sich in Kopfhöhe. Irgendwie hatte Clara das Gefühl, ihm über den Kopf streicheln und ihm einen Gutenachtkuss geben zu wollen. Er sah jetzt schon ganz entspannt und zufrieden aus.
»Wenn wir nun alle bequem sitzen oder liegen, dann können wir ja anfangen. Ich bitte Sie ausdrücklich, auch wenn Sie die Augen lieber nicht schließen wollen, nicht die anderen Teilnehmer anzuschauen.«
Sehr angenehm. Vielleicht ist das wirklich was für mich.
Die Leiterin begann mit ruhigen Anweisungen wie: »Wir atmen ganz ruhig.« Dabei merkte Clara schon, dass sie das sehr nasale langgezogene N gar nicht beruhigte, ganz im Gegenteil. Trotzdem bemühte sie sich, den Anweisungen zu folgen. Kaum waren fünf Minuten vergangen, da fing sie an, über Möhrchens Überfall auf den Mann vor der Tür nachzudenken. So was machte sie immer wieder. Clara, der es eher schwerfiel, spontan auf Fremde zuzugehen, fand das immer peinlich, zumal Marion offenbar gar kein Gespür dafür besaß, wenn sie auf keine Gegenliebe stieß.
»Unser Herzschlag wird gaaannnz ruhig!«
Nicht wirklich!
»Nun werden unsere Arme gaaannnz schwer!«
Warum kann Möhrchen das einfach nicht lassen, es bringt doch auch gar nichts.
Clara hörte neben sich ein leicht schabendes Geräusch. Entgegen den Instruktionen linste sie zu Marion hinüber. Die schlief tief und fest.
Toll!
»Wir fühlen uns gaaannnz schwer ...«
Ich fühle mich nicht schwer. Ich bin schwer. Ich will mich nicht mehr schwer fühlen, deswegen bin ich doch hier, verdammt noch mal.
Irgendwie war auch Claras Herzschlag gar nicht gaannz ruhig.
Konzentrier dich auf das, was sie sagt, sonst kann es ja nicht gehen!
»Wir fühlen uns gaaannnz schwer ...«
Ich muss das umformen: Ich fühle mich ganz leicht ...
»... unsere Beine sind gaaannnz schwer ...«
... ganz leicht!
Irgendwie wurde Clara schnell klar, dass es so bestimmt nicht funktionierte. Verstohlen schaute sie nach dem jungen Mann unter der Decke. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Vielleicht schlief er auch.
Schau ihn dir an, er ist so jung und kann sich offenbar nur mehr oder weniger durchs Leben tasten. Schäm dich mit deinen Luxusproblemen.
Und Möhrchen! Warum quatscht sie gnadenlos fremde Männer an? Weil sie einfach schrecklich einsam ist. Sie ist kein Mensch, der gern alleine lebt. In ihrem Job ist sie glücklich, und wenn sie Feierabend hat, geht sie mutterseelenallein in ihre Flower-Power-Wohnung, wenn andere Zeit mit ihrer Familie verbringen. Ach, wenn du nur nicht so durchgeknallt wärst, Möhrchen, dann könnte man vielleicht gleich sehen, was für ein feiner Mensch du bist. Sebastian hat das bis heute noch nicht erkannt ...
»Alles, was uns belastet, ist gaaannnz weit weg ...«
Nicht so wirklich.
»Gaaannnz langsam kehren wir zurück ins Hier und Jetzt. Wir fühlen uns ausgeruht und entspannt.«
Clara tat der Nacken weh. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich total zu verspannen in dem Bemühen, ganz, beziehungsweise gaaannnz, ruhig zu sitzen. Die anderen begannen sich wieder zu bewegen, nur Möhrchen schnurkelte noch zufrieden vor sich hin. Clara stupste sie sanft, und sie schaute sie an.
»Das war toll, oder?«
Bevor Clara antworten konnte, hatte sie den grau melierten Typ wieder geortet.
»Faszinierende Erfahrung, nicht?«, rief sie ihm zu, worauf er irgendetwas Unverständliches murmelte und fluchtartig aufbrach.
Der junge Mann mit der Brille machte sich daran, seine Sachen zusammenzusuchen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Clara ihn. Vielleicht brauchte er ja Hilfe. Aber sicher war ihm das auch nicht recht. Als er es geschafft hatte, ging er an ihnen vorbei. Er blieb stehen und trat etwas näher an sie heran als üblich.
»Ihr seid neu, oder?«
»Ja, ich bin Marion, und das ist Clara.«
»Ich bin der Paul. Hat es euch was gebracht? Am Anfang erfordert es Geduld, aber mir tut es immer sehr gut.«
»Also für mich war es eine fantastische Erfahrung. Ich habe das Gefühl, ich bin in eine ganz andere Bewusstseinsebene eingedrungen.«
»Schön, dann sehen wir uns sicher wieder.«
In dem Moment rief es »Paul!« von schräg hinter ihnen. Der Gerufene wandte sich in die Richtung und lächelte. Eine junge Frau kam auf ihn zu und küsste ihn zärtlich auf den Mund. »War es wieder gut für dich, Schatz?«
Paul strahlte sie an. »Alles prima, tschüss, ihr zwei. Dann bis nächste Woche.«
Die junge Frau, oder eher das junge Mädchen, nickte ihnen verbindlich zu, hakte sich bei Paul unter, und die beiden machten sich fröhlich plaudernd auf den Weg.
Auch Clara und Marion machten sich auf zu Claras Auto. Marion plapperte vergnügt vor sich hin.
»Also es war einfach fantastisch, ich habe mich gefühlt, als würde ich meinen Körper verlassen, und war unsagbar befreit. So intensiv hatte ich mir das nicht vorgestellt.«
Clara verkniff es sich unter Aufbietung all ihrer Selbstbeherrschung, sie zu fragen, warum ihr Körper allein vor sich hin schnarchte, wenn er gerade verlassen war.
»Der war doch echt schnuckelig, findest du nicht?«
»Paul?«
»Ach was, der ist sicher nett, aber viel zu unreif. Nein, der Typ mit den grauen Haaren. Ich glaube fast, ich habe einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht. Was meinst du, der wirkte doch ganz angetan?«
Clara wurde so elend zumute, als sie an die Flucht des Kerls dachte, dass sie hätte weinen mögen.
Wenn der angetan war, wie reagieren dann die, die kein Interesse haben. Ach, Möhrchen!
»Ich weiß nicht. Er wirkte sehr gestresst, oder?«
»Schüchtern! Ich kenne den Typ.«
»Was willst du mit einem Kerl, der schon Burn-out hat, bevor er mit dir zusammen ist?«
»Irgendwie klingt das gar nicht nett, Clara. Willst du damit sagen, dass Männer, die mit mir zusammen sind ...«
»Nein, nein! Das kam ganz anders heraus, als ich es gemeint habe. Ein Mann mit psychischen Problemen ist doch wirklich kein Hauptgewinn.«
»Natürlich nicht!« Marion klang jetzt echt gereizt. »Ein Trostpreis wäre im Moment auch schon was.«
»Ach, Marion! Versuch doch, nicht so verbissen zu sein. Ich habe das Gefühl, du hättest viel bessere Chancen, wenn du die Männer kommen lassen würdest, meinst du nicht?«
»Da kann ich warten, bis ich schwarz werde. Wann hat uns zuletzt ein Mann angesprochen? Okay, eben, dieser Paul. Sicher hat es nichts zu sagen, dass er halb blind ist.«
»Also wirklich, Möhrchen! Irgendwann kommt schon der Richtige für dich. Du kannst so etwas nicht erzwingen.«
»Wenn er nicht bald kommt, dann kann er mich nur noch mit der Schnabeltasse füttern.«
So stiegen sie missvergnügt ins Auto.
Clara musste noch mal an den jungen Paul denken. Wie er gestrahlt hatte, als ihn seine Freundin abholte, war er direkt ein attraktiver Kerl trotz der dicken Brillengläser. Wie schön, dass er jemanden hatte, der ihn so mochte, wie er war. Ob er überhaupt sehen konnte, was für ein hübsches Mädchen seine Freundin war? Und er war so freundlich und ausgeschlossen. Das, obwohl er sein Gegenüber gar nicht richtig sehen konnte. Bewundernswert. Und sie machte sich ständig Gedanken, weil sie nicht mehr so hübsch und schlank war wie früher. Und Möhrchen? Sie wünschte sich so sehr einen Gefährten und fand einfach keinen. Das war so traurig. Sicher, in letzter Zeit war sie auch oft allein, weil Basti so viel arbeitete. Aber sie wusste, dass sie einen Partner hatte, der alles mit ihr teilte.
Heute Abend würde sie ganz besonders lieb zu ihm sein, damit er sah, wie froh sie war, ihn zu haben.
»Clara, bist du sauer, oder warum sagst du nichts?«
»Nein, nein, warum sollte ich denn auf dich sauer sein. Ich bin so froh, dass du mitgekommen bist. Ich war nur in Gedanken.«
Gehen wir was essen? Wie wär’s mit einem Burger? Da kannst du einen Salat essen, wenn du willst.«
»Hast du wieder eine Flasche Ketchup in der Tasche?«
»Ja, und? Diese kleinen Tütchen, die bringen doch gar nichts.«
»Trotzdem, Möhrchen, ich finde das richtig peinlich.«
»Wieso ist es dir peinlich, wenn ich meinen eigenen Ketchup mitbringe?«
»Fremdschämen wahrscheinlich. Wir halten auf dem Weg zu mir einfach und holen dir was. Zu Hause führe ich dir dann auch unsere unglaubliche neue Kaffeemaschine vor, okay?«
»Irgendwie bist du nicht sehr entspannt, muss ich sagen. Ich fühle mich wunderbar erfrischt. Na gut, lass uns zu dir fahren.«
Nachdem sie sich an Fastfood gelabt hatten – Marion an zwei Burgern mit Pommes, Clara an einem kleinen Salat –, erzählte Clara von ihrem Opernabend. Auch Marion war nicht die ideale Gesprächspartnerin. Sie interessierten eher die Opernbesucher und ihre Garderobe. Schließlich beklagte sich Clara, dass sie keine echte Gelegenheit hatte, sich über ihre Eindrücke auszutauschen.
»Warum gehst du nicht in ein Forum, die gibt es doch über einfach alles.«
»Ich weiß nicht ...«
»Du, das ist toll. Ich bin bei einem Floristenforum angemeldet, da kriegt man die tollsten Anregungen. Natürlich ist das rein geschäftlich. Was echt Spaß macht, sind Flirtchats und so was. Da bin ich in drei.«
»Ernsthaft jetzt?«
»Ja, klar. Wir schauen mal, was es für dich so gibt. Hol mal deinen Laptop her. Komm, zier dich nicht! Das ist toll, du findest Gesprächspartner für echt alle Lebenslagen.«
Also schleppte Clara brav ihren Rechner heran. Der Gedanke, dass Marion ihre Gesprächspartner im Netz suchte, deprimierte sie aber schon wieder. Ruckzuck fand Marion eine Plattform für Opernfreunde, die jedoch eine Anmeldung erforderte.
»Ich weiß nicht. Ich will meine Daten nicht im Netz verbreiten.«
»Brauchst du ja auch nicht. E-Mail-Adresse, das reicht. Die richtest du natürlich extra dafür ein. Du benutzt zum Chatten ja eh einen Nickname. Wie soll er lauten?«
»Clara geht nicht, oder?«
»Geht schon, aber wenn man heißen kann, wie man will und eher anonym bleiben will ...«
»Gut! Wie wäre es mit ... Karin?«
»Das glaub ich jetzt nicht. Wenn du heißen kannst, wie du willst, willst du ernsthaft Karin heißen? Da ist ja Clara aufregender. Also ich heiße bei dem einen Portal Gloria, bin eins achtzig, langbeinig und schwarzhaarig. Die Kerle fahren voll auf mich ab. Im anderen heiße ich Clarissa, bin ein vollbusiger blonder Engel und richtig gebildet. Ich glaube, Clarissa ist ein bisschen von dir inspiriert, nur weiß sie, dass sie toll ist.«
Clara musste unwillkürlich schmunzeln. »Ich verstehe nicht, was das soll. Was ist, wenn dich jemand ernsthaft kennenlernen will?«
»Solche Chats sind das nicht. Da lügt jeder so viel, dass persönliche Kontakte unmöglich sind. Bei dem dritten wäre so etwas eher drin. Dort heiße ich Margot und habe nur ein paar zarte Rundungen dazugeschummelt. Da hoffe ich immer mal, dass sich was ergibt, was nicht über das Netz läuft.«
»Sei ja vorsichtig, wenn du dich mit jemandem verabredest, den du nicht kennst.«
»Ich bin doch schon groß. Na ja, nicht sehr, aber immerhin. Also, wie willst du nun heißen? Vielleicht fällt dir eine Opernfigur ein, die du gut findest, das würde doch passen.«
»Gute Idee! Antonia. Antonia aus Hoffmanns Erzählungen, das ist doch gut, oder?«
»Prima, also Antonia. Ach, gibt’s schon. Wie wäre es mit dieser Puppe aus dem ersten Teil, Olympia, oder?«
»Mensch, Möhrchen, ich bin platt. Du kennst die Oper ja richtig gut.«
»Da waren wir doch mal zusammen drin. Also?«
»Ach, nein, der Olympia-Teil gefällt mir eigentlich am wenigsten. Außerdem klingt das unabhängig von der Oper so sportlich, also eher nicht.«
»Na, wie wär’s mit der Frau aus dem letzten Akt? Die mit der Gondelnummer.«
»Giulietta? Vielleicht sendet das irreführende Signale aus, die war schließlich eine Kurtisane.«
»Okay, und wie wäre es mit einem Zusatz zu Antonia?«
»Mein Geburtsjahr vielleicht?«
»Soll wirklich jeder wissen, wie oll wir schon sind, wenn es nicht sein muss?«
»Ja, was denn dann?«
»Hat die Antonia denn noch einen Nachnamen?«
»Glaub ich nicht. Aber ich weiß was. Antonia J.O. für Jacques Offenbach. Ist das gut?«
»Mal sehen! Ja, das geht. Okay. So, wenn du jetzt die Seite aufrufst, loggst du dich als Antonia J.O. ein und kannst mit den ganzen Opernfans plauschen. Hoffentlich hast du dann überhaupt noch Lust auf einen Plausch mit mir.«
»Ach Möhrchen, dich kann doch keine Armee von Opernfreunden ersetzen.«
Zum zweiten Mal machten sich Marion und Clara auf den Weg zum autogenen Training. Clara trug eine bequeme Leinenhose und einen dunkelblauen Pullover, wie so oft.
Marion hingegen hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Sie trug eines ihrer Lieblingsstücke, ein violettes Shirt mit einem bunten Muster, das stark an die lebhaften Farben des Regenwaldes erinnerte. Als Clara es näher inspizierte, um zu sehen, ob es ein abstraktes Muster war oder ob sich in dem Farbenrausch Tiere verbargen, kam es ihr so vor, als sei Marion heute nicht ganz so knabenhaft wie sonst. Dort, wo die meisten Frauen Busen haben, wölbte sich auch ihr Top, zumindest leicht. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit hatte sie ihre hellgrauen Augen mit Kajal betont. Die Wirkung war recht spektakulär. Außerdem hatte sie türkisfarbene Ohrringe angelegt — runde Scheiben so groß wie Untertassen. Sie wirkte noch zappeliger als sonst. Bevor sie aus dem Auto stiegen, wandte sie sich an Clara. »Sehe ich hübsch aus, Clara? Aber bitte ehrlich!«
Clara betrachtete sie genau, weil sie spürte, dass es ihrer Freundin wichtig war.« Du siehst sehr hübsch aus, Möhrchen!« Und das stimmte auch. Marion hatte ein sehr feines, gut geschnittenes Gesicht. Ihre großen hellen Augen waren wunderschön. Mit weiblichen Formen konnte sie nicht aufwarten, aber Clara hätte bereitwillig mit ihr getauscht. Ihre etwas schräge Art, sich zu kleiden, machte sie darüber hinaus zu einer interessanten Erscheinung, ganz im Gegensatz zu Clara, die sich oft fühlte wie eine graue Maus oder eher wie ein grauer Zwergelefant. Manchmal schoss Möhrchen einfach etwas über das Ziel hinaus.
»Sind die Ohrringe nicht zu viel?«
Clara dachte einen Moment nach. Sie selbst hätte so etwas nie getragen, doch das war nun wirklich kein Bewertungskriterium. »Vielleicht schon. Sie lenken sehr von deinem Gesicht ab. Das Make-up ist aber toll. Deine schönen Augen kommen so super zur Geltung.«
»Gut!« Entschlossen entfernte Möhrchen die Ohrgehänge und verstaute sie in ihrer Tasche.
»Warum machst du dir denn solche Gedanken über dein Aussehen?«
»Ach, ich will nur mal was Neues probieren. Komm, lass uns losgehen!«
Energisch eilte sie vor Clara her, dabei waren sie früh dran. Als sie den Übungsraum erreichten, schaute sich Marion suchend um. Endlich dämmerte es Clara. Sie hatte sich für den »ausgebrannten Grauhaarigen« so hübsch gemacht. Was für eine Verschwendung!
Noch war er nicht da. Mit jeder Minute, die ohne sein Erscheinen verstrich, verdüsterte sich Möhrchens Miene, und Clara war wieder mal zum Heulen zumute.
In dem Moment erschien Paul, langsam und tastend. Und wieder trat er dicht an sie heran. »Ah, da sind ja die mutigen Anfänger! Schön, dass ihr weitermacht. Gut, dass du dich so farbenfroh kleidest, Marion. So heißt du doch? Das macht es mir leichter, dich wiederzuerkennen.«
»Ja, mich übersieht man nicht so leicht, gell, Clara! Wirst du wieder abgeholt, Paul?«
Du bist sicher der neugierigste Mensch der Welt, Möhrchen!
»Ja, Jenny hat immer ein Seminar in der Nähe, da können wir dann zusammen nach Hause gehen. Das ist prima. Ich komme zwar auch gut alleine zurecht, aber so ist es einfacher, wenn ich wo bin, wo ich mich nicht perfekt auskenne.«
»Deine Freundin ist wirklich bildhübsch. Kennt ihr euch schon lange?«
Bitte, Möhrchen. Du bist wieder mal unmöglich!
Paul schien ihre Dreistigkeit aber keineswegs zu irritieren. »Ja, sie ist hübsch und schlau und lieb und hat die Geduld, es mit einem Blindfisch wie mir auszuhalten!« Als er das sagte, strahlte er über das ganze Gesicht und sah wieder richtig attraktiv aus. »Jenny und ich kennen uns nun schon fast drei Jahre. Vor einem halben Jahr sind wir zusammen in eine richtig schöne Wohnung in der Nähe meiner Firma gezogen. Es läuft super gut. Ich hab ein Riesenglück!«
»Na, sie aber auch, so einen charmanten, hübschen Kerl wie dich abzukriegen. Wärst du einige Jährchen älter, wäre ich selbst in Versuchung, dich zu becircen. In meinem Fall wäre es sogar ein Vorteil, dass du so schlecht siehst!«
Bitte, Möhrchen, das kann man doch nicht sagen!
Paul aber schüttete sich aus vor Lachen. »Das halte ich für glatt gelogen. Du hast so eine attraktive Ausstrahlung, du musst einfach gut aussehen. Aber bitte verrat Jenny nicht, dass ich das gesagt habe. Sie motzt oft, weil sie meint, wenn man einen sehbehinderten Freund hat, dürfte man wenigstens hoffen, dass er nicht anderen Weibern hinterherglotzt. Ich muss zugeben, dass ich attraktive Frauen schon bemerke, aber sie ist einfach die Schönste.«
»Was arbeitest du denn? Das muss doch kompliziert sein ...«
Paul erzählte Marion von seinem IT-Job und dem speziellen Computer, an dem er trotz seiner Behinderung arbeiten konnte. Und Möhrchen wollte alles ganz genau wissen. Wenigstens schien der Grauhaarige vergessen, der immer noch nicht aufgetaucht war, als die Leiterin den Saal aufschloss.
Wie letztes Mal nahmen sie alle ihre bevorzugten Plätze ein. Diesmal wurde nicht groß erklärt, sondern es ging gleich los. Clara bemühte sich verzweifelt, die Anweisungen umzusetzen. Irgendwie war ihr aber klar, dass dieser Ansatz falsch war. Sie sollte sich lieber einfach fallen lassen. Dieses Bild löste aber schon wieder unangenehme Assoziationen von einem unförmigen, unbeweglichen, am Boden liegenden Körper aus ... höchstwahrscheinlich ihrem eigenen. Neben sich hörte sie ein leises, gleichmäßiges Sägen. Ein verstohlener Blick zu Paul zeigte ihr, dass auch er schon tiefenentspannt war. Sein Gesicht war völlig ruhig und zufrieden, und er sah aus wie ein Teenager.
Los, entspann dich! Das musst du doch auch können.
Statt die Augen wieder zu schließen, suchte sich Clara einen Punkt im Kastanienbaum vor dem Fenster und schaute dorthin. Irgendwie war das besser.
... gaaannnz ruhig, unser Herzschlag ist gaaannnz ruhig ...
Die Idee mit dem Opernforum war echt gut gewesen. Über die Suchzeile hatte sie tatsächlich die Aufführung gefunden, in der sie mit Basti gewesen war. Zuerst hatte Clara eine Stellungnahme einer gewissen Fortissima zu der Rigoletto-Vorstellung gelesen. Die Autorin hatte sich über die konventionelle Inszenierung mokiert und innovative Ansätze für das lokale Opernhaus gefordert. Anschließend hatte sie die vorherige Premiere, die Clara gar nicht gefallen hatte, als »Grund zu hoffen« bezeichnet.
Obwohl Clara völlig anderer Meinung war, konnte sie sich nicht vorstellen, sich dazu zu äußern. Ein anderer Forengast tat das aber für sie.
Ein gewisser Max XXVII verteidigte die Vorstellung vehement und gebrauchte genau die Argumente, die Clara selbst vorgebracht hätte, so sie denn was dazu hätte sagen müssen. Anschließend beschrieb er, wie ihn die Oper berührt hatte, ganz ohne Kritikerjargon, sondern sehr persönlich. Was er schrieb, war genau das, was sie selbst empfunden hatte.
Ein weiterer Schreiber mit dem bescheidenen Nickname Genius hielt Max vor, mit dieser konservativen Einstellung sei kein Fortschritt in der Kunst zu erreichen. Seine sentimentale Sichtweise zeuge davon, dass er keinen echten intellektuellen Zugang zu der Materie habe.