Konfetti im Bier - Toni Gottschalk - E-Book

Konfetti im Bier E-Book

Toni Gottschalk

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Beschreibung

Konfetti im Bier” ist ein Subkultur-Roman. Ein Buch für Fußball-Fans, und zwar nicht nur die der Kiezkicker. Für Leute, die immer schon mal mehr über die Mechanismen von Ultra-Gruppierungen wissen wollten. Für Hamburger. Und für jene, die es immer wieder dort hinzieht. Im Fokus steht das Spannungsfeld zwischen Fußball, Politik, Verein und der eigenen Fan-Gruppe, in dem sich die Mitglieder bewegen. Toni Gottschalk erzählt von Merks, Subbe, Jette und all den anderen. Von denen, für die der FC St.Pauli und die eigene Gruppe viel mehr bedeuten, als nur jedes Wochenende gemeinsam zum Spiel zu gehen. Die Gemeinschaft genießen und gleichzeitig an ihrem Handeln zweifeln. Jenen, die denken, dass sie eigentlich “zu alt für diesen Scheiß” sind und anderen, die doch gar nicht wissen, ob sie da wirklich richtig sind. Choreos vorbereiten, Auswärtsfahrten planen, sich mit den Fans des blau-weiß-schwarzen Nachbarn rumärgern: Toni Gottschalk guckt nicht von außen drauf, sondern steckt seit Jahren mittendrin. “Konfetti im Bier” ist lebendig, humorvoll und schnörkellos.

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Toni Gottschalk

Konfetti im Bier

Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Liesmich Verlag UG (haftungsbeschränkt)

1. Auflage 2019

www.liesmich-verlag.de

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Manja Schönerstedt // Marina Müller

Zeichnungen im Einband:Toni Gottschalk

Foto des Autors: Jenny Schäfer (www.jennyschaefer.de)

Drucksatz:Franziska Nast (www.franziskanast.de)

Lektorat:Jessica Adrian

Korrektorat:Sabrina Friedl

Vorlektorat:Torsten Paape // Alina Tillenburg

Public Relations:Christoph Awe

Produktmanagement und Marketing:Laura Hofmann

Projektmanagement:Karsten Möckel

isbn:978-3-945491-07-2

Heim

Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen

9:24 Uhr (Merks)

Merks hatte eigentlich gar keine Lust, sich mit den HSV‘ern zu prügeln. Doch in ihrer Lage gab es keine zwei Meinungen, deshalb musste er da jetzt durch. Die eigenen Leute hatten aufs Maul gekriegt, deshalb wurde der Spieß nun umgedreht. Diese Regel galt seit Menschengedenken und wird es vermutlich auch immer tun. Auge um Auge. Altes Testament, Krieg der Knöpfe, The Warriors.

Es war schon ein wenig lustig, dass die Situation jetzt tatsächlich genau umgekehrt war wie wenige Minuten zuvor: Die Sechser-Crew der HSV-Fans hatte Subbe und Paul in Überzahl angegriffen und blickte sich nun gehetzt nach eben diesen beiden um. Währenddessen näherte sich von der anderen Seite auch die Gruppe um Merks im Laufschritt, die auf Pauls Anruf hin direkt vom Stadion gestartet war. Merks war kein Mann für die erste Reihe; genaugenommen nicht einmal für die zweite. So waren seine Schritte etwas langsamer als die der Kollegen, die im Gegensatz zu ihm richtig Bock drauf hatten, sich zu wämsen. Sie waren in der Überzahl, deshalb war es nicht wirklich gefährlich. Trotzdem gab es immer die Möglichkeit, dass sich Leute bei solchen Hauereien ernsthaft verletzten; vor allem dann, wenn beide Seiten mit der Lage überfordert waren, einfach nur, weil ausnahmsweise einmal keine Bullenkette dazwischen stand. Das richtige Maß an Gewalt will erstmal gelernt sein.

Merks kannte solche Situationen bisher vor allem aus Erzählungen und Internetforen, und hatte sie sich immer mit viel Geschrei vorgestellt. Doch offenbar waren beide Seiten etwas überrascht. Tatsächlich war Lutz auf ihrer Seite der einzige, der etwas brüllte, als der Feind in Sicht kam: »Da sind die Wichser! Drauf da jetzt!« Diese Blecheimer-Stimme hätte Merks unter Hunderten erkannt. Gleichzeitig sah er eine Flasche, die dicht an seinem Kopf vorbeiflog und an einem Papiercontainer zerbrach. Er selbst fühlte sich wie gelähmt, obwohl er den Gegnern bereits sehr nahe war. Gleichzeitig war er hellwach und nahm viele Details deutlich wahr: die feuchte Morgenluft, die beiden Gruppen, die sich gestikulierend aufeinander zubewegten, eine schwarzweißblaue Mütze, die wie in Zeitlupe zu Boden segelte und die verzerrten Gesichter, die teilweise von Schals verdeckt wurden, sodass nur die weit aufgerissenen Augen zu sehen waren.

Merks lenkte seine Aufmerksamkeit wie seine Freunde vollkommen auf den Feind. Das viele Adrenalin benebelte ihn völlig. Sonst hätte er vermutlich die beiden Gestalten bemerkt, die sich zügig, aber ohne Hast, von der Seite auf den Schauplatz zubewegten. Gerade, als die beiden Gruppen aufeinandertrafen und die ersten Leute zum Schlag ausholten, ertönte eine laute Stimme. »So Sportsfreunde, jetzt ist Schluss!«, rief einer der beiden Männer, die gar nicht wie Beamte aussahen. Fuck. Zivis*. Sogenannte »szenekundige Beamte«.

16:37 Uhr (Jette)

»Ich will ja jetzt nicht wieder davon anfangen, wie wir das früher geregelt hätten, aber nach so einer Scheiße wäre durchaus einiges kaputt gegangen!« Zur Untermalung dieser Worte gab es einen Tritt gegen das nächste Regal. Becker regte sich darüber auf, dass sie sich von der Polizei derartig auf der Nase rumtanzen ließen. Wie so oft bei solchen Gelegenheiten fuhr seine Zunge nervös über die Narbe an seiner Unterlippe. Wenn es beim normalen Gruppentreffen schon oft schwierig war, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, so grenzte es jetzt an ein Ding der Unmöglichkeit. Jede und jeder hatte eine Meinung zu der Situation und wollte sie unbedingt auch loswerden. Völlig unabhängig davon, ob der entsprechende Punkt bereits vorgetragen worden war oder ob er zu einem Ziel führte. Theroeticos aller Länder, vereinigt euch.

In Jette stieg die Müdigkeit auf – noch stärker als an jedem anderen Zeitpunkt dieses langen Tages. Diese Diskussionen gehörten definitiv zu den Dingen, die sie nicht vermisste, wenn sie wie in den letzten Wochen die Gruppe mied. Instinktiv lehnte sie sich an dem Regal etwas zurück, an dem sie stand; doch die Fahne, die dort herausragte, stank so bestialisch nach der Stadion-Todesmischung, dass sie sofort wieder eine aufrechte Haltung einnahm. Jette konnte von ihrem Platz aus nicht alle anwesenden Leute sehen. Aber sie nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Martha und Merks in den Raum huschten. Wenn sie alles richtig mitbekommen hatte, waren die beiden mit Skinhead-Ole beim Schwan gewesen. Auch eine interessante Kombination. Ole hat sich bestimmt gefreut, die beiden Jungspunde an der Backe zu haben. Jette war gespannt, was der Schwan gesagt hatte – und ob sich der alte Haudegen noch einmal in die Geschehnisse einmischen würde. Doch ihre Neugier musste warten; zunächst galt es, das aktuelle Problem zu lösen.

22:54 Uhr (Subbe)

Vermutlich gab es bald wieder einfache Fahnenchoreos oder der Gegner wurde ohne Umwege direkt gedisst. Mit holprigen Reimen. Im Stil von »Ihr haltet euch für die besten Ultras* der Welt? Dafür haben wir den Style und das Geld.« So zumindest stellte sich Subbe die Kurvenoptik vor, wenn Leute wie Lutz das Ruder in der Hand hielten. Die weder nach rechts noch nach links guckten und stur durch jede Wand durchrennen wollten. Subbe nahm einen tiefen Schluck Bier – und sich fest vor, in nächster Zeit mehr Einsatz in diesem Bereich zu zeigen. Den Arsch hochkriegen, wie im Film Wild Style. Schließlich lag es auch an ihm, wie die Gruppe und damit auch die ganze Fanszene nach außen wirkte. Eine Choreografie wird von den Betrachtern fast immer sofort automatisch »den Fans« zugeschrieben, sei es von Uwe zu Hause vor dem Fernseher oder von dem Sportredakteur, der schnell seinen Artikel fertig tippen muss. Umso wichtiger war es, dass Leute aus der Gruppe dafür die Verantwortung übernahmen, die Ahnung von Style hatten. Und im besten Fall auch Humor. Subbe nahm den letzten Schluck. Warme Plörre aus dem Plastikbecher. Deliziös. Konzert oder Stadion, wohin er auch kam, immer gab es nur schales Bier aus Bechern. Wenigstens beim Malen konnte er Bier aus Flaschen trinken, sofern sein Rucksack nicht bis zum Rand mit Dosen gefüllt war. Und natürlich im Raum der Gruppe.

Mindestens genauso wichtig wie die aktuelle Stilpflege bei Choreografien war es aber auch, junge Leute behutsam an das Feld heranzuführen. Die nächste Generation Schritt für Schritt vorzubereiten. Es müssen nicht alle Fehler immer wieder neu gemacht werden. Dazu gab es doch schließlich ältere Leute in der Gruppe wie ihn – mit Erfahrung und dem Willen, sie auch weiterzugeben. Stichwort: Synergieeffekte nutzen. Subbe musste bei solchem Werbesprech üblicherweise kotzen, jetzt passte es ausnahmsweise einmal. Junger Tatendrang unter der behutsamen Leitung der alten Garde. Subbe schob sein Cap in den Nacken und sah zur Bühne. Madball spielten gerade ein neues Lied an: »Demonstrating my Style«. Wir sind nicht alleine. Wie Arsch auf Eimer. Plastikeimer, versteht sich.

5:07 Uhr (Subbe)

S-Bahn-Haltestelle Mittlerer Landweg. Es dämmert. Die Kameras hier sind nicht einmal mehr als Attrappen zu gebrauchen, so offensichtlich sind sie kaputt. Es ist kühl. Ein Anflug von Tau zeigt sich bereits auf den Büschen zwischen den beschmierten Werbetafeln. Die umliegenden Felder mit Kühen und Pferden vervollständigen die alles andere als urbane Szenerie. Noch 7 Minuten bis zum planmäßigen Eintreffen des Zuges.

Fröstelnd hob Subbe den Kopf und betrachtete die Zeiger der Uhr, die sich nur quälend langsam vorwärts bewegten. Immerhin bewegten sie sich überhaupt und waren damit eines der wenigen intakten Dinge an diesem trostlosen Ort. Er fand es immer wieder erstaunlich, dass man vom Hauptbahnhof aus nur ein paar S-Bahn-Stationen fahren musste, um das Gefühl zu bekommen, die Zivilisation weit hinter sich gelassen zu haben. Von seinem Sitzplatz aus hatte er die Uhr im Blick. Er musste nur den Kopf anheben und leicht drehen. Diese Bewegung hatte er nun schon zum gefühlt tausendsten Mal wiederholt, doch der Minutenzeiger der Uhr schien zwischen der Drei und der Vier festzuhängen.

Was das Bemalen von Zügen anging, war Subbe eher ein Einzelkämpfer. Und das, obwohl erdurchaus auf einen Pool von Leuten zurückgreifen konnte, die ihm liebend gerne geholfen hätten. Er war sich auch bewusst, dass eine größere Zahl an Mitstreitern die Sicherheit erhöhte und flächendeckende Bilder in kürzerer Zeit ermöglichte. Aber er betrachtete es als Herausforderung, als sein Ding, und obwohl er den Namen der Gruppe verbreitete, wollte er den ohnehin anonymen Fame nicht teilen. Außerdem wollte er zugegebenermaßen auch nicht mit jeder x-beliebigen Person losziehen, nur weil diese in der Nacht zuvor bekifft Whole Train gesehen hatte. Er lebte das Ultrà-Leben nun schon so lange, dass das Trainwriting für ihn eine willkommene Abwechslung darstellte, einen Adrenalin-Kick, der ausnahmsweise einmal kein kollektives Erlebnis war. Trotzdem war es gerade dieses gemeinschaftliche Erleben von Extremsituationen, das für ihn den Reiz an Fußball allgemein und Ultrà im Speziellen ausmachte. Außerdem liebte er Fußballstadien und sammelte die Besuche dort wie andere Leute Platten oder Aufkleber. Der Sport selbst hatte dabei für ihn eher den Charakter eines schmückenden Beiwerks.

Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken. Seine müden Augen brauchten eine Weile, bis sie den Bahnangestellten erkannten, der mit ausladender Gestik den Fahrplanaushang kontrollierte und Subbe dabei kurz mit einem gleichgültigen Blick musterte. Dieser sank auf der Bank zurück und tastete mit der rechten Hand nach der Kamera. Die ihn umgebende Stille, nur unterbrochen durch verhaltenes Vogelgezwitscher, nahm ihn ganz ein, während die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die kalte, klare Luft durchschnitten. Wieder waren nur zwei Minuten vergangen.

Manchmal ist der Adrenalinstoß hart und behindert ein konzentriertes Arbeiten, hemmt die Genauigkeit, wie wenn sich ein Gebäudereiniger im achtzigsten Stockwerk weit aus dem Fenster lehnen muss, um alle Stellen zu erreichen. Meistens jedoch fördert er die Kreativität, lässt ein Abbild der Skizze entstehen, das den Moment der Entstehung einfängt. Dieser besondere Moment zeichnet diese Form der Kunst aus, bestimmt ihr Wesen, gehört dazu wie der durchdringende Geruch nach Aerosol, lässt einen die Farben und Formen nicht nur sehen, sondern auch hören, schmecken und fühlen. Er bewirkt jenes Suchtgefühl, welches in irgendeiner Form einer jeden Subkultur anhaftet. Und einen Ausstieg so ungemein erschwert.

Subbes Blick wanderte von der Uhr über den Bahnsteig zu seinem Spiegelbild im zerbrochenen Glas des nächsten Werbekastens. Seine Kleidung war gezeichnet von zahllosen schlaflosen Nächten, von Farbspritzern, von halsbrecherischen Fluchten und harten Auseinandersetzungen. Allen voran sein Cap hatte wahrscheinlich schon weitere Strecken zurückgelegt als das Auswärtsbanner der Gruppe; man sah ihm an, dass es bereits gelebt hatte.

Subbe liebte die Herausforderung, den ständigen Standortkampf, das Wechselspiel zwischen der Ruhe am Schreibtisch beim Zeichnen und der Aktion selbst. Den Reiz des Verbotenen, die erzwungene Kommunikation, die Respekt von den selben Personen einfordert, die sie verspottet, das Hochgefühl beim Betrachten und Ablichten des fertigen Bildes. Wie viele kreative Menschen wusste er die Nacht als einen Zeitpunkt der fließenden Inspiration zu schätzen und den Morgen als den Moment der Wahrheit.

Sein Blick hatte sich längst in der Ferne verloren, doch nun wurde er von dem sich stetig vergrößernden Lichtfleck des nahenden Zuges angezogen. Er erhob sich, dehnte die verspannten Muskeln und brachte die Kamera in Anschlag. Maschinenlärm ertönte, das Kreischen der Bremsen und das Zischen beim Entsichern der Türsperre. Subbe erstarrte. Es grenzte ja schon an ein Wunder, dass der Zug überhaupt fuhr. Die meisten gebombten Züge wurden sofort aus dem Verkehr gezogen, um den Writern nicht auch noch die Genugtuung zu geben, dass ihr Kunstwerk in Bewegung war. Doch diesmal hatte er es geschafft. Das Stellwerk, das er ausgespäht hatte, war wohl so weit draußen, dass am frühen Morgen kein Ersatz organisiert werden konnte. Nicht nur, dass sein Zug wahrscheinlich den ganzen Derby-Tag über mit »Fuck HSV!« quer durch die Stadt fahren würde; die Krönung lag darin, dass er selbst praktisch in seinem Bild fahren konnte. Es war kein Meisterwerk geworden, aber nach seinem Urteil durchaus ansehnlich. Immerhin bunt und nicht nur Chromsilber und Schwarz. Den halben Waggon hatte er geschafft, die altbekannten Buchstaben mit der seinem etwas eigenen Stil zugehörigen Typographie: »Focus it back!« . Man kann nicht immer nur Vivian benutzen – bei dem Gedanken musste er unwillkürlich grinsen. Der Character daneben war einfach fett. Ein fertig aussehender Freak mit einer Fahne, auf der »still movin’« stand. Abgerundet wurde das Bild durch eine nicht zu große, aber dafür extrem gelbe Mentalitätsbanane. Auch diese trug Text: »Ihr lebt in eurer Nostalgie… Fuck HSV!« Subbe schoss ein paar Bilder, winkte fröhlich dem verdutzten Bahnbeamten zu und stieg im letzten Moment in »seinen« Waggon ein, der ihn zurück ins Viertel bringen sollte.

5:13 Uhr (Merks)

Raum. Buntes Chaos. Couch, Sessel, Sofa, Stuhl. Ultrà-Devotionalien aus aller Herren Länder. Es riecht nach Kaffee, Abtönfarbe und nach süßlichem Rauch. Alter Kasendreher mit »Mood for Ska« von Laurel Aitken und den Skatalites. »Die haben den Blick für die Orte, wo man sich die Seele hängen und baumeln lassen kann.« (Gerhard D.)

Du befestigst das Klebeband an einer Ecke der Tapetenrückseite, läufst die Bahn auf ganzer Länge entlang und rollst dabei das Band ab. Anschließend lässt du es vorsichtig runter, sodass es möglichst am Rand der Tapete landet. Dann gehst du die Bahn auf ganzer Linie wieder zurück, immer Fuß vor Fuß, damit das Band auch wirklich klebt. Du wiederholst die ganze Prozedur beim gegenüberliegenden Rand; und dann noch jeweils einmal schräg von einer Seite zur anderen, damit das Spruchband in der Kurve dem Zug standhält, wenn mehrere Menschen es erst ausrollen und festhalten – auch bei Regen. Je nachdem, wie lang der Spruch werden soll, musst du das Abkleben über Kreuz mehrmals vornehmen – so jägerzaunmäßig.

»Wenn du noch ein wenig mehr Tapete am Klebeband befestigst, kann man es fast bemalen«, bemerkte Torre, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Seinen Humor mit »trocken« zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Merks blickte ein wenig irritiert auf die Tapete, die er mehr oder weniger sorgfältig mit Klebeband versehen hatte.

»Wozu eigentlich dieses umständliche Abkleben? Die Tapete wird doch eh nur ein paar Sekunden hochgehalten.«

Torre grinste. »Wenn sie es überhaupt ins Stadion schafft und hochgehalten wird. Aber wenn sie es schafft, wäre es doch nett, wenn sie nicht gleich zerreißt, nur weil ein paar betrunkene Hegel nicht aufpassen.« Dagegen fiel Merks nichts ein. Er checkte nur nicht, was ein »Hegel« sein sollte. Seines Wissens nach war Hegel doch Philosoph gewesen, oder nicht? Aber es gab so viele dieser Insider-Wörter und zu wenige wussten überhaupt noch, wo sie herkamen oder wer sie zuerst benutzt hatte. Er seufzte und befreite seine Hände von Klebebandresten. Torre klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. »Mensch, hier kann man doch ganz gut arbeiten. Wer jemals bei Minusgraden in der Flora auf den Knien ‘rumgerutscht ist, um rechtzeitig die Choreo des Jahres fertig zu machen, weiß, wovon ich rede.«

Merks wusste es nicht; so lange war er noch nicht dabei. Die Zeit, als die Gruppe die Rote Flora* zum Malen und Abhängen genutzt hatte, hatte er verpasst. Für ihn war es anstrengend genug, um diese Uhrzeit überhaupt wach zu sein. Aber grundsätzlich fand er die einfachen Arbeiten fett. Vor allem in diesem Moment. Er konnte sich beteiligen, ohne dabei viel reden zu müssen. Erstmal in Ruhe aufwachen. Klarkommen. Außerdem musste er einfach dabei sein. Choreographien waren etwas Greifbares, Handfestes. Kein theoretisches Gelaber über Stimmung im Stadion oder die Ziele der Gruppe. Und für ihn war der Raum eh wie ein zweites Zuhause. Wenn die Schule vorbei war, kam er eigentlich immer her. Er hätte sonst auch weder gewusst, wohin, noch wofür. Der Raum war für ihn stets der erste Anlaufpunkt. Hier blieb der ganze Alltags-Scheiß einfach draußen.

Um überhaupt etwas zu sagen, fragte er, wo Torre seine Adidas-Sneakers gekauft hatte. Torre lachte. »Lagerverkauf in Billwerder. Ist ein uraltes Modell, aus deiner Sicht. Aus meiner Sicht ist es Old School. Gab drei Paare für insgesamt 90 Ois – da musste ich zuschlagen. Jetzt bin ich erst mal wieder für eine Weile ausgestattet.«

»Ich find’ ja die New Balance 574 richtig fett« meinte Merks. Torre grinste. »In welchem Ultras-Forum hast du das denn gelesen? Die sind ja nun wirklich Old School. Mitte der Neunziger muss das gewesen sein, als die rauskamen.«

»Puh, da war ich, warte mal, so in der ersten Klasse. Fuck, das ist derbe lange her.«

»Wenn Du einen Alleskönner suchst, der nicht so teuer ist, nimm den Samba von Adidas. Der hält gut was aus«, riet ihm Torre. »Und der ist noch old-schooliger, nicht totzukriegen seit den Mods und Skins in den Siebzigern.« Merks nickte. Natürlich kannte er Sambas. Aber er ließ sich nur zu gerne von älteren Mitgliedern der Gruppe Tipps geben, wenn es um Musik, Klamotten und auch Meinungen ging. Deshalb sagte er Torre nicht, dass er Sambas für sich längst ausgeschlossen hatte. Zu dünne Sohle – und schon viel zu lange auf dem Markt.

Überhaupt sog er gierig alles in sich auf, was mit dem Thema Fußball zu tun hatte, ohne sich groß einen Kopf über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen des Fandaseins oder der unterschiedlichen Stile der Subkulturen zu machen, die den Fußball beeinflussten. Das Gruppengefühl war dabei maßgeblich, aber ebenso kannte er den Transfermarkt, verfolgte die Berichterstattung im Fernsehen und hatte eine Meinung zum modernen Fußball. Aber dieses Abgeklebe… Er seufzte erneut. Dann machte er sich an die nächste Tapete. Zum Glück gab es Entertainment in Form von Anekdoten: Becker, eines der ältesten Mitglieder und Mitbegründer der Gruppe, hielt einen seiner berühmt-berüchtigten Monologe. Für die Jüngeren war es oft unverständlich, und vielen ging er mit der »Früher war alles besser«-Leier oft auf den Keks. Aber auch seine schärfsten Kritiker mussten neidlos anerkennen, dass er mit Leib und Seele Ultrà war. Becker sah immer ein wenig verwahrlost aus, was seinen gelegentlichen Wutausbrüchen eine scharfe optische Note verlieh. Wenn dir als junger Butscher ein Choleriker mit Dreitagebart und verschlissenem Trenchcoat eine Ansage macht, der schon hart auf die Vierzig zugeht, überlegst du es dir dreimal, ob du widersprichst. Vor allem dann, wenn vor Erregung auf der linken Seite des kurzgeschorenen Kopfes eine mehrere Zentimeter lange Narbe pulsiert. Gerade ging es um den Vergleich zwischen Gegengerade und Südkurve; ein Thema, über das sich Becker stundenlang auslassen konnte, wenn er wollte – oder wenn die weichen Drogen in seinem Kopf ihn dazu trieben.

»Früher, im D-Block, habe ich grundsätzlich die schäbigsten Klamotten angezogen, die ich überhaupt finden konnte. Eher solche, die unter der Wäschetruhe lagen, wo man schon die Form und Farbe kaum noch erkennen konnte. Denn wann habt ihr da mal keine Bierdusche abgekriegt? In der Euphorie bei einem Tor flogen alle nur erdenklichen Körperflüssigkeiten durch die Luft! Oder durch die ständigen Anfeindungen der sogenannten ›Singing Area‹… Da ist der Name auch schon lange nicht mehr Programm.« Becker leckte sich die Lippe und schauderte kurz bei der Erinnerung. »Kurz gesagt: Der D-Block war mehr Punkrock. Damals war ›Song 2‹ noch etwas wert, gänsehaut- und freak-out-technisch. Logo gab’s Pogo. Und die 100 Ultras: unisono. Heutzutage kann man ohne Gefahr seinen Herr-von-Eden-Anzug in der Kurve spazieren tragen… Gleichschaltung, Konsumhaltung, Style over Substance! Ohne Vorsänger würde da keiner das Maul aufkriegen, außer zum Biertrinken. Oder, um sich über die letzte Simpsons-Folge zu unterhalten! Und dann die Choreos… Erinnert ihr euch nicht an das krasse Gefühl bei unserer ersten Blockfahne? Dieses heftige Kribbeln unter der Haut gibt’s heute kaum noch. Zettel, Fahnenmeer, Vereinssymbol… Langeweile! Alles schon tausendmal gesehen, wie jeden Winkel der A7…«

»Verdammt, Becker, halt’s Maul! Früher waren nur Freaks unterwegs, wie? Alle hatten die Mentalität mit Löffeln gefressen, oder was? Jede Choreo der Hammer und jedes Heimspiel legendär?« Torre gab sich Mühe, echte Empörung vorzuspielen. Im Grunde stimmte er aber mit Becker überein. In der Südkurve hatte man sich zu sehr an die »kontrollierte Anarchie« gewöhnt, das Besondere war dem Alltäglichen gewichen. Oder dazu geworden.

»Vielleicht nicht nur Freaks, aber mehr als jetzt auf jeden Fall. Und dann guck dir mal die gelackten Antifa-Kiddies auf der Süd an. Risiko bedeutet für diese Mittelstandskinder, sich einen Fisch-Mac zu bestellen und keinen Royal TS!«

»Jaja, früher war alles besser… Denk doch mal an den ganzen Ärger zurück! Jetzt gibt es weniger Totalausfälle, weniger Suff und Sexismus, weniger Stress untereinander und weniger Verletzungen…«

Merks grinste. Er konnte gar nicht anders. Wenn die Älteren, insbesondere Torre und Becker, sich solche Wortgefechte lieferten, bekam er sofort gute Laune. Und darum ging es doch schließlich. Um Spaß. Mit guten Freunden eine gute Zeit haben. Abseits von Schule, Kirche und dem ganzen Kack. Oder nicht? Natürlich gab es auch ernstere Leute, gerade bei den alten Hasen. Aber die Mischung machte es doch aus: reine Ultras, den ein oder anderen Hippie, die Kifferfraktion, Berbers, ein paar Hauer, Politikers. Wo war eigentlich Jette? Merks hatte sie schon länger nicht mehr im Raum gesehen.

5:17 Uhr (Jette)

A7, kurz nach Allertal. Allertal. Antifascista. Die Straße ist relativ frei, es dämmert. In dem kleinen VW versucht die Fahrerin, sich mit Kaffee und dem Mitsummen der relativ leisen Musik wachzuhalten, ohne ihre drei schlafenden Mitfahrer zu wecken. Vom Rückspiegel baumelt ein echter Eightball. Insgesamt herrscht eine sympathische Unordnung, die man fast gemütlich nennen könnte.

Jette kannte die Strecke mittlerweile wie ihre Westentasche. Dabei hatte sie gar keine Weste. Woher kommt dieser Spruch eigentlich? Nur mühsam konnte sie ein Gähnen unterdrücken. Zu ihrer rechten Seite rasten die Schemen des Rastplatzes Wolfsgrund vorbei. Von hier aus waren es weniger als 100 km bis Hamburg.

Es waren ja nicht nur die Auswärtsfahrten, auch Politik und Hedonismus hatten sie immer wieder auf diese Strecke geführt. Aber vor allem der Fußball. Seit sie das erste Mal mit ihrem Vater bei irgendeinem Amateur-Spiel im Westen der Stadt gewesen war, hatte dieser Sport mehr oder weniger ihr Leben bestimmt. Und ihre Routen. Wie oft man als Hamburger Allesfahrer – egal von welchem Verein – in seinem Leben wohl schon am Vogelpark Walsrode vorbeigekommen war? Und an der Viebrockhaus-Mustersiedlung mit dem Jette-Joop-Design-Haus? Irgendwann wollte Jette das mal von innen sehen. Einfach nur, um es abhaken zu können. Nicht, weil die Millionen-Erbin genauso hieß wie sie. Deshalb bestimmt nicht. Wenn Namen eine Bedeutung hätten, müsste sie ja auch eine natürliche Affinität zu Zitronen haben. Die Kassette war schon wieder durchgelaufen, es kam »Antifa Hooligans«. Jette hasste dieses Lied mittlerweile. Spätestens seit dem Auftritt von Los Fastidios auf dem RAI* vor mehreren Jahren hatte es viel von seiner ursprünglichen Faszination verloren – und seit es im Stadion in jeder Halbzeitpause gespielt wurde. »Come on, come on« rangierte in der Topliste der ihr verhassten Slogans auf Platz zwei, gleich nach »Hass, Hass, Hass wie noch nie…«. Das ging nur bei Herri Norte klar, die »Jamon, Jamon – un Bocadillo – con Jamon« sangen. Genervt schaltete sie auf Radio um. Sie versuchte erfolgreich, mit einer Hand Kaffee und Zigarette zu halten und gleichzeitig den Sender zu wechseln. Auf FSK lief bestimmt gerade was Cooles. Könnte die Wiederholung der Rap-Sendung vom Vorabend sein. Aber FSK war hier noch nicht zu empfangen. NDR 1, NDR2 – keine Alternativen. Auf NDR 4 smooth Jazz. Das ging durch.

Auf der linken Seite tauchte das Autozentrum Kiesing kurz aus dem Nebel auf, um sofort wieder darin zu verschwinden. Also jetzt kein »junger Gebrauchtwagen«. Jette drehte sich kurz um. Ihr Freund Heiner schlief auf dem Beifahrersitz und sah dabei relativ entspannt aus. Auf den Rücksitzen Ralle und Rica, beides gestandene Polit-Profis, ebenfalls am Pennen. Warum sie unbedingt am Freitagabend noch mal raus gemusst hatten, um mit Genossen von außerhalb den Plan für die heutige Action in Harburg zu besprechen, war ihr immer noch ein Rätsel. So oder so – der Plan war gut durchdacht und sie empfand Freude bei dem Gedanken daran, während sie gleichzeitig eine kurze, angenehme Adrenalin-Welle durchfuhr.

Deutsches Panzermuseum Munster, dicht gefolgt von der Abfahrt zum Heidepark Soltau. In beiden war sie noch nie gewesen, und beide Lokalitäten würde sie wohl auch niemals besuchen; es sei denn, sie hätte in ferner Zukunft Kinder, die begeistert Achterbahnen testeten und einen Hang zum Militarismus aufwiesen. Der Gedanke an Nachwuchs erschreckte und faszinierte sie gleichermaßen. Das erschien ihr noch so unglaublich weit weg…

Endlich tauchte die Silhouette des Snow-Dome Bispingen in der Ferne auf – individuell, aber keinesfalls schön. Ein weiterer Wegpunkt, den sie vermutlich niemals als Ziel ansteuern würde. Aber er hatte neben seiner Hässlichkeit auch etwas Positives: Von hier aus waren es nur noch 55 km bis Hamburg.

Jette schüttelte mit einer Kopfbewegung ihre dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und sah auf die Uhr. Sie erinnerte sich daran, dass jetzt wohl die letzten Choreo-Vorbereitungen im Raum liefen. Sie spielte ganz kurz mit dem Gedanken, noch dabei zu helfen, verwarf diesen Einfall aber sofort wieder. Natürlich musste noch eine Menge gemacht werden. Wie so oft war die Beteiligung an den einfachen Arbeiten mangelhaft gewesen, und natürlich war nicht alles rechtzeitig fertig geworden. Wenn »alles Handarbeit« die Grundlage für den Stil der Gruppe darstellt, müssen eben gewisse Leute in den sauren Apfel beißen. Warum bleibt immer alles an denselben Personen hängen? Sie seufzte innerlich. Verdammt! Wie oft war sie diejenige gewesen, die sich den Arsch aufgerissen hatte. Und die Anerkennung? Ging wie immer hinterher an alle. Manchmal ist das Gruppenprinzip einfach scheiße, vor allem, wenn es um den Fame geht. Aber es machte den Sport Fußball überhaupt erst interessant, zumindest für Jette. Sie überlegte, wer sie vermissen oder darauf ansprechen würde, wenn sie beim Basteln nicht auftauchte. Ihr fiel niemand ein. Es würde aber alles zusammen für einen Samstag sowieso zu viel werden: Choreo-Vorbereitung, Naziaufmarsch, kleines Derby… Die Verantwortung konnte nicht nur bei wenigen Personen liegen. Trotzdem war da dieses nagende Gefühl des schlechten Gewissens. Und die nur schwer abzulegende Gewohnheit, überall dabei sein zu wollen.

Endlich erschienen die ersten Ortseingangsschilder vor ihr, verziert mit nicht zu übersehenden Aufklebern des Stadtrivalen. Jetzt nur noch über die Elbbrücken, vorbei am Hauptbahnhof und am Michel, dann endlich wieder im Viertel für viel zu wenige Stunden Schlaf. Die letzten Meter sind immer die Schlimmsten…

5:21 Uhr (Walter)

Villa Kunterbunt

Walter kippt einen Mexikaner.

5:23 Uhr (Subbe)

Hauptbahnhof. Die große Halle ist um diese Zeit noch relativ leer. Die ersten Menschen, die zur Arbeit müssen, treffen auf die letzten Nachtschwärmer, die den Absprung nicht rechtzeitig geschafft haben. In Subbes Waggon das gleiche Bild: Die Frühaufsteher verstecken sich gähnend hinter ihren Zeitungen, die noch Wachen fixieren mit leerem Blick einen Punkt auf dem Boden oder an der Decke.

Subbe befand sich von seinem geistigen Zustand her irgendwo zwischen diesen beiden Gruppen: Zwar war er immer noch wach, aber dafür nüchtern, wenn man vom Adrenalin absah. Das war allerdings langsam am Abklingen und machte Platz für Hunger und Müdigkeit. Er konzentrierte sich auf den Ohrwurm, der ihn seit Tagen verfolgte, von Blu and Exile, der Name des Liedes fiel ihm nicht ein. Geiler Track, auch wenn er von homophoben Sprüchen durchsetzt war. Eine der Sachen, die ihn an Hip-Hop nervten. Und an Reggae. Und manchmal auch an Hardcore.

Eine größere Gruppe Männer betrat den Waggon, die Subbe zunächst nur unterbewusst wahrnahm. Erst als einer aus dem Haufen eine abfällige Bemerkung über sein Bild draußen machte, in der die Bezeichnung »Scheiß-Zecken« vorkam, wurde er hellhörig. Er warf einen genaueren Blick auf die Gruppe und schnell wurde ihm klar, mit welcher Klientel er es hier zu tun hatte. Es gab weder Skinheads noch Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln, keine Bomberjacken oder aggressive Blicke, wenige hatten eine Glatze oder eindeutige Tätowierungen – es waren die Symbole und Parolen auf Jacken und Pullovern, die einige eindeutig als Nazis kennzeichneten. Thor Steinar gehörte hier noch zu den harmloseren Marken. Subbe identifizierte einen Masterrace-Pullover, ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Asgard. Keltische Wut«, das auf dem Ärmel eine schwarze Sonne hatte und einen »Good Night Left Side«-Aufdruck mit einem zertretenen Stern. Mittendrin sah Subbe auch einen 1887-Pullover, das Kennzeichen für die HSV-Mitglieder. Subbe war klar, dass seit den späten Neunzigern auch im Volkspark eine alternative Fankultur Einzug gehalten hatte; aber die alten Wichser waren immer noch da, nur dass sie sich jetzt etwas bedeckter hielten. Trotzdem war es unvorstellbar für Subbe, mit denen ein Stadion zu teilen und die gleichen Lieder zu singen. Aber man hat wenig Einfluss auf tausende andere Fans – auch am Millerntor nicht. Trotz dieses Pullovers wirkte die Gruppe insgesamt eher ortsfremd. Die Nazis aus dem Hamburger Umland waren doch eher vom Typ Lebensverlierer und weniger vom Typ Modul. Außerdem traten sie selten so selbstbewusst auf wie dieser Haufen. Insgesamt wirkten sie eher heterogen. In Zeiten, in denen die Faschos mehr und mehr autonome Codes kopierten, war auch hier die dominierende Farbe schwarz, aber es gab keinen einheitlichen Look. Zehn Jahre Knasterfahrung und so was wie zwanzig Jahre Kneipenschlägereien auf einem Haufen.

Unwillkürlich schrumpfte Subbe in seinem Sitz etwas zusammen; gegen diese Gruppe hatte er alleine nicht den Hauch einer Chance. Außerdem sah er sich selbst eh nicht als Gewalt-Antifa. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Doch genau in diesem Moment bemerkte einer der Faschos seinen abweisenden Blick und wandte sich ihm zu. »Hey Jungs, hier ist ein Deutschlandhasser!« Siedend heiß fiel Subbe ein, dass er seinen alten »No Border No Nation«-Pulli trug und damit eindeutig nicht in das Weltbild dieser Menschen passte.

Casual ist meistens sicher. Farben tragen hingegen cool.

Sofort umringten ihn mehrere der Nazis und verhöhnten ihn grinsend. »Na, Zecke, mal wieder die Welt verbessern!«, »Heute schon geschnorrt?« In Subbe brodelte es. Mit einem Mal hellwach, schossen mehrere Gedanken gleichzeitig durch seinen Kopf. Er war am Arsch! Das sind zu viele. Warum war er genau jetzt alleine? Wo wollen die denn um diese Uhrzeit hin? Da fiel ihm der Naziaufmarsch in Harburg ein, der heute stattfinden sollte. Das liegt doch in einer ganz anderen Richtung?! Und es ist noch viel zu früh. Was sollte er jetzt tun?

Rational betrachtet gab es zwei Alternativen: seiner Abscheu über die Gesinnung der Nazis Ausdruck verleihen und derbe kassieren. Das war die »Mit wehenden Fahnen untergehen«-Möglichkeit. Oder die Fresse halten und auf ein Wunder hoffen. Das war die Hasenfuß-Variante. Auf die anderen Passagiere konnte er nicht zählen, das wusste er aus Erfahrung. Wenn die Kacke am Dampfen ist, kannst du dich in öffentlichen Verkehrsmitteln nur auf dich selbst verlassen. Den Ausschlag gab die Bemerkung eines riesigen Nazi, der eine Hornbrille trug, die nicht zu seinem Gesamtbild passte: »Deine Nase gefällt mir gar nicht, du Judenschwein!«

Dann also die wehenden Fahnen…

5:24 Uhr (Walter)

Bad Taste Club

Walter bestellt Rum-Cola. Rum ist alle. Walter bestellt Cola-Korn.

5:25 Uhr (Subbe)

S-Bahn Dammtor

Wenn es etwas gibt, das als Glück bezeichnet werden kann, so tritt dieses Glück oft in Begleitung seines guten Kumpels Zufall auf. Wenn dann jemand die Eigenschaft besitzt, das gleichzeitige Erscheinen der beiden als guten Moment zu erkennen und die Gelegenheit beim Schopf zu packen, kann dieser Mensch sich definitiv auf die Schulter klopfen.

Subbe hatte jegliche Hoffnung auf externe Hilfe aufgegeben, als er sich für die stilvolle Variante seines Untergangs entschied. Er sprang auf und legte seine ganze Verachtung in ein einziges Wort: »Naziscum!«

Just in dem Augenblick, als Subbe sich innerlich gegen die unvermeidlichen Schläge wappnete, ertönte eine durchdringende Stimme: »Nächste Haltestelle: Sonderangebot! Justin Timberlake!«

Der Zeitpunkt war Zufall. Und das Glück kam in merkwürdiger Form daher, doch Subbe war nicht wählerisch. Gerade eingestiegen war einer jener erinnerungswürdigen Menschen, die noch bis zur Jahrtausendwende zahlreich die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt bevölkert hatten, mittlerweile aber rar geworden waren. Sie hatten in dem Bild der sauberen, freundlichen Hochbahn, die im europäischen Wettbewerb steht, keinen Platz mehr. Ein fröhliches »Showtime in der U-Bahn!« hatte Subbe schon lange nicht mehr vernommen. Dieses frisch zugestiegene Exemplar war ihm schonmal aufgefallen. Ein Paradiesvogel mit langem Mantel, verfilzten Haaren und wirrem Blick. Subbe tippte auf Alkohol und vermutete auch den Einfluss einer anderen Substanz, hätte aber nicht genau sagen können, von welcher. Da ihn der Anblick nicht verwirrte, brauchte Subbe nur den Bruchteil einer Sekunde, um die Situation zu erfassen. Die Nazis hingegen drehten alle gleichzeitig die Köpfe und konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf die merkwürdige Erscheinung, die fröhlich vor sich hinkrakeelte. »Vorwärts, rückwärts, seitwärts ran – präsentieeeert – das Bier!« Der komische Kauz zog selbst die Blicke der anderen Fahrgäste auf sich, die zuvor die in der Luft liegende Gewalt durch gekonntes Wegschauen ignoriert hatten. Subbe nahm die sich ihm bietende Gelegenheit wahr, ohne zu zögern. Mit einer eleganten Drehung schwang er sich über den Sitz und war zur Tür hinaus, die sich direkt hinter ihm schloss.

Klar, dass er anschließend die einmalige Gelegenheit nicht verstreichen ließ, seine Feinde aus sicherer Distanz verhöhnen zu können. Er verzichtete auf obszöne Gesten, sondern grinste einfach in die entgeisterten Gesichter, während er mit der schnell gezückten Dose auf die freie Fläche eines Fensters ein Keltenkreuz malte, das am Galgen hing. Seine Lippen formten stumm die Silben »fuck you«, doch er bezweifelte, dass die Nazis dies durch die bemalten Scheiben erkennen konnten. Er hatte nicht nur den guten Moment erkannt und genutzt, sondern dem Ganzen quasi noch die Krone aufgesetzt. »Das war total surreal, mit dem Penner und seinen Sprüchen«, würde er später den anderen erzählen. Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob der Vagabund mit seinem Ausfall einfach einer inneren Stimme gefolgt war, oder ob er ihm bewusst geholfen hatte. Eigentlich war es ihm auch egal. Er hoffte nur, dass die Faschos ihre Wut über seinen Abgang nicht an seinem Retter in der Not ausgelassen hatten. Der Kelch war also noch einmal an ihm vorübergegangen. Wehende Fahne, aber ohne Untergang. Keine Gewalt, aber trotzdem eine saftige Demütigung des Feindes. Das gefiel ihm.

Als Subbe klar wurde, wie haarscharf er noch einmal davongekommen war, musste er unwillkürlich grinsen. Vor Nachtwächtern der Bahn im Yard weglaufen war eine Sache, aber in dieser Situation waren die Umstände schon einmalig gewesen. Derbe! Die Kuppel des Bahnhofs kam ihm schöner vor als sonst, die Moorweide leuchtete grün von unten herauf und selbst die sonst eher lästigen Tauben schienen Fröhlichkeit auszustrahlen.

Glück und Zufall freuten sich ebenfalls und gingen erst einmal in die Bar namens Schicksal, um auf ihr Zusammentreffen anzustoßen.

5:27 Uhr (Merks)

Raum. Statt Ska läuft jetzt Elektro, Kollektiv Turmstraße. Die Musik wirkt nur geringfügig belebend auf die Gruppe. Stattdessen wird eine gemeinsame Pause gemacht, um die Tapeten trocknen zu lassen.

Torre beendete sein Telefonat und seine Miene war deutlich ernster als zuvor. »Leute, es gibt Ärger. Subbe hat in der Bahn ein paar Nasen getroffen, die kommen vielleicht gleich durchs Viertel. Er weiß aber nicht, wo sie hin wollen. Wir ziehen mal los, Richtung Sternschanze, Jette kommt mit einer Auto-Besatzung von der anderen Seite.« Sofort machte sich Hektik breit, geredet wurde kaum noch. Merks passte dieser Stress überhaupt nicht in den Kram. Wie so oft machte man sich auf den Weg, ohne genau zu wissen, was einen erwartete. Das ungute Gefühl nahm zu, als er sich umsah: Fast keine Hauer am Start. Da nahm er sich selbst nicht aus: Seine letzte körperliche Auseinandersetzung hatte in der Grundschule auf dem Pausenhof stattgefunden. Am Ende hatte er eine blutige Nase und der andere eine kaputte Brille gehabt. Und ab zum Schulleiter… Die Kandidaten, die sich gerne schlugen, würde man aber auch kaum um 5:30 Uhr beim Malen antreffen. Merks wusste, dass er mit dieser Einschätzung nicht alleine dastand. Auch auf Torres Stirn hatten sich sorgenvolle Falten gebildet. Nur Becker schaffte es wie üblich, seine Unsicherheit durch das Herunterspielen der Gefahr zu überdecken. Aber angesichts seines reichhaltigen Erfahrungsschatzes war es auch nicht verwunderlich, dass er seinen Adrenalinspiegel halbwegs unter Kontrolle hatte. »Ha, das ist doch mal ein gelungener Ersatz für ein Frühstück! Wann bekommt man schon mal ein paar Faschos auf dem Silbertablett serviert?«

Schwarze Regenjacken wurden übergezogen und viele Personen schnappten sich ein Schlagwerkzeug, um sich sicherer zu fühlen. Das Sammelsurium reichte von Regenschirmen über hölzerne Fahnenstangen bis hin zu dem Knüttel, der immer griffbereit neben dem Eingang lag. »Knüttel« - auch irgendwie ein geiles Wort. Wie »Prügel« oder »Stecken«. Wenn es ein Gewehr wäre, würden sie es wohl als »Schießeisen« oder »Flinte« bezeichnen. Aux Armes!

»Los geht’s!« Torre hatte seine Sorgen über die Schlagkräftigkeit der Gruppe verdrängt und wirkte nun wie eine respektable Führungsfigur. Die Gruppe folgte seiner Aufforderung und eilte nach draußen. Kurz sammeln, dann ging es schnurstracks in Richtung Sternschanze. Merks hielt sich instinktiv am Ende der Gruppe. Andere Kandidaten waren für die erste Reihe besser geeignet als er. Er war sich allerdings nicht sicher, ob die lauten Töne von einigen seiner Freunde nicht etwas übertrieben waren. Es würde sich zeigen, was nur Prahlerei gewesen war, wenn es irgendwann einmal ernst wurde – vielleicht ja schon jetzt gleich.

Nur wenige Menschen waren um diese Uhrzeit im Viertel unterwegs. Das war auch ganz gut, denn sonst hätte sich bestimmt jemand über die militant aussehende Gruppe junger Menschen gewundert, von der die eine Hälfte sehr still war und die andere versuchte, die Aufregung durch flache Witze zu überspielen. Merks versuchte es mit einem, den er von Marco gehört hatte: »Was ist matschig und kann Karate? Mus Lee!«

Doch damit konnte er nicht einmal ein nervöses Kichern bei den anderen hervorlocken. Martha, die zwar zu den jüngeren Mitgliedern gehörte, aber trotzdem schon deutlich länger als Merks dabei war, meinte schnippisch: »Sehr komisch. Und so neu. Was ist mit: Wie viele Seiten hat das Buch, in dem alle Texte aller Ultras-Gesänge aller Zeiten stehen?« Erwartungsvolles Schweigen.

»Eine. Auf der steht groß: La.« Zustimmendes Schmunzeln, aber ein herausragender Heiterkeitserfolg war auch das nicht. Martha kam aus einem Elternhaus, das sie weitestgehend vernachlässigt hatte. Die Gruppe war für sie eine Familie, der Sport selbst stand dabei weniger im Mittelpunkt. Sie hatte durchaus einen Sinn für Humor und war immer da, ohne aufdringlich zu sein. Merks konnte sie gut leiden. Vielleicht sogar etwas mehr als nur gut, dessen war er sich selbst nicht so ganz sicher. Er fand sie auf jeden Fall süß. Auch ihre leichten X-Beine waren kein Makel – spätestens seit Jessica Jones. Und er war beeindruckt davon, wie tough sie auf einmal sein konnte, wenn es darauf ankam, trotz ihrer zierlichen Gestalt. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie sich hinter ihrer Härte versteckte. Er wischte die Gedanken erstmal beiseite und stieg in die Witzerunde ein.

»Okay, einen habe ich noch, passt gerade: Wie viele Antifas braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln? Na? Vier! Einer macht’s, zwei halten ein Seitentranspi und einer schmeißt aus der zweiten Reihe eine Flasche.«

Jetzt lachten einige und auch Martha musste grinsen. Mittlerweile hatten sie ihr Ziel fast erreicht.

5:31 Uhr (Jette)

S-Bahn Sternschanze. Einer der Orte im Viertel, der immer in Bewegung zu sein scheint. Die üblicherweise halbwegs ausgewogene Mischung aus Yuppies, linken Subkulturen, Touris und Alkoholikern fällt gerade zu Gunsten der letztgenannten Gruppe aus. Über allem thront das Hotel im angrenzenden Park, als wollte es hämisch sagen: »Seht her, ich bin immer noch da!«

Eigentlich war es so klar gewesen wie der Himmel in genau diesem Moment. Keine Verschnaufpause, kein Essen und schon gar kein Schlaf. Subbes Anruf hatte sie in der Sekunde erreicht, als sie sich und die anderen schon zu Hause wähnte. In Gedanken hatte sie schon die Schuhe in die Ecke gepfeffert, die Hände gewaschen, schnell noch ein Müsli verputzt und sich mit Heiner unter die Decke gekuschelt. Stattdessen suchte sie jetzt einen Parkplatz auf Höhe des Schwarzmarktes und erklärte ihren verschlafenen Mitfahrern die Situation. Ralle und Rica wirkten wenig begeistert und Jette konnte es ihnen nicht verdenken. »Immer die gleiche Scheiße«, meckerte Rica, »warum nehmen die dummen Arschgeigen nicht mal Rücksicht auf meinen Schönheitsschlaf?«

Jette verkniff sich einen sarkastischen Kommentar bezüglich Ricas Aussehen und musterte verstohlen Heiner von der Seite. Sie waren erst seit ein paar Monaten zusammen und hatten zwar schon einiges erlebt, aber dies war für sie eine Premiere. Die richtig aktiven Zeiten lagen für beide schon eine Weile zurück, und sie hatten in unterschiedlichen Städten und Zusammenhängen ihre jeweils eigenen Erfahrungen gesammelt. Für Heiner war Gewalt scheinbar etwas Normales. In einem kleinen mecklenburgischen Ort mit »-ow« am Namensende aufgewachsen, hatte er schon früh die Bedeutung des Faustrechts kennengelernt. Hamburg kam ihm dagegen wie ein Ponyhof vor. Jette hatte ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Thema Gewalt. Sie wollte den Nazis nicht die Straße überlassen, war aber prinzipiell kein Freund von körperlicher Züchtigung. Und für sie war es wichtig, trotz der widerwilligen Akzeptanz dieses Mittels eine klare Trennungslinie zwischen sich und dem Feind zu ziehen. Sie betrachtete Nazis immer noch als Menschen und wollte sie dementsprechend so behandelt wissen. Das hieß im Zweifel, eine Übermacht nicht auszunutzen.

Egal wo, egal wer: Wenn der Gegner am

Boden liegt, ist der Kampf vorbei. Immer.

In diesem Moment suchte sie vergeblich nach einer sichtbaren Gefühlsregung bei ihrem Freund. Er hatte sich wohl in das Schicksal gefügt, erst einmal keine Ruhe zu finden und versuchte nun, die kleine Gruppe zu motivieren. »Kommt schon, Verstärkung aus eurem Raum ist unterwegs. Wer weiß, was da gleich passiert. Ihr kennt das doch in Hamburg – wahrscheinlich gar nichts. Ich bin vielleicht noch nicht lange hier, aber das habe ich mitbekommen.« Jette musste trotz der Anspannung schmunzeln. Doch irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass es keine gute Idee war, einen solchen Tag mit allen seinen Fallstricken und Unwägbarkeiten zusammen mit ihrem Freund durchzuziehen. Dafür war alles noch zu frisch. Zwar kannten sie sich so gut, dass Jette ihm zum Beispiel trotz seines Namens kein »Storch Heinar«-Shirt geschenkt hätte, weil sie wusste, dass er das nicht lustig fand. Aber ein eingespieltes Team war definitiv etwas anderes. Jette hatte einfach Angst, dass sie irgendwann von ihm genervt sein könnte oder er irgendetwas tat, was sie als unangebracht empfand; oder dass es einem ihrer Freunde so ging, mit denen sie schon viel erlebt hatte. Sie seufzte und sagte sich: Es geht eh nicht zurück, also reiß dich zusammen und vertrau ihm einfach!

5:39 Uhr (Walter)

Cobra Bar

Walter trinkt einen Schnaps, wahrscheinlich Jägermeister.

5:40 Uhr (Merks)

Brücke, Sternschanze. McDonalds hat noch zu. Das mindestens genauso hässliche Auftrags-Graffiti auf der anderen Straßenseite ist längst verschwunden – die Werbefläche ist für die vielen Plakatierer des Viertels zu groß und verlockend.

Die Gruppe kam unter der Brücke hervor und bog um die Ecke. Bis auf die ersten Trinker, die jetzt schon auf ihren Bänken gegenüber des S-Bahn-Ausgangs saßen, war niemand zu sehen. Die Anspannung ließ langsam nach. Merks lehnte sich an den Obststand, der neben dem Eingang aufgebaut war. Trotz der Müdigkeit sah er einen Aufkleber, der direkt vor seiner Nase an dem feuchten Holz klebte. Er war minimalistisch gehalten, eine Katze in braun-weiß stolzierte mit erhobenem Schwanz aus dem ansonsten roten Bild. Merks erkannte das Motiv wieder, obwohl das Viertel, und insbesondere diese Ecke, mit Street Art geradezu überladen war. Schlecht fand er es nicht, aber er stand mehr auf Schrift. Bunte, verschlungene Buchstaben mit Schatten und dicken Outlines. Merks mochte Street Art. Er genoss es, zu Hause in Ruhe Aufkleber vorzubereiten und diese dann in einem kurzen Moment der Aufregung draußen anzubringen. Richtiges Graffiti war ihm zu anstrengend, zu nervenaufreibend, zu vorbelastet. Deshalb bewunderte er Leute wie Subbe, die Nacht für Nacht rausgingen, um ihren Namen oder den der Gruppe zu verbreiten. Ihm fiel die Liedzeile ein »Liest es auf Schildern, Wänden und auf Stufen!« Zack, hatte er wieder einen Ohrwurm, der ihn vermutlich für die nächsten Stunden begleiten würde. Das war immer so: Sobald ihm der Text aus einem Kurvenlied in den Sinn kam oder er an eine Melodie erinnert wurde, bekam er es lange nicht aus dem Kopf. An Spieltagen war es am schlimmsten.

Martha riss Merks aus seinen Gedanken: »Komm, erzähl mal noch einen!«

Merks ließ sich nicht lange bitten: »Okay, einen habe ich noch: Ein Ultrà wird Redakteur und muss dann zur Schach-WM. Er schreibt: ›Lautstärke-technisch wäre mehr gegangen. Aber der durchgängige Damen-Einsatz und gelegentliche Hüpf-Einlagen des Springers wussten durchaus zu überzeugen….«

Er wurde von Torre unterbrochen: »Da sind Jette und ihre Leute.«

Aus Richtung Schwarzmarkt kamen die anderen vier mit schnellen Schritten auf sie zu. Nach einer kurzen Begrüßung ging die Gruppe geschlossen nach oben in die Station. Zwei Züge in Richtung Altona fuhren durch, aber die erwarteten Nazis waren in keinem der beiden auszumachen. Also bewegten sich alle wieder nach unten, um zu beratschlagen und scharrten sich um Jette und Torre.

»Hier ist niemand. Die können überall hin sein. Es ist wahrscheinlich am besten, wenn wir zurück zum Raum gehen. Oder wir schwärmen aus – dann sind wir aber nur in Kleingruppen unterwegs.«

Alle dachten über Torres Vorschläge nach. Merks wäre am liebsten straight zum Raum zurückgegangen, ins Warme, ohne die Möglichkeit, dass ein paar üble Gestalten ihm an den Kragen wollten. Andererseits war Subbe bedroht worden und er hatte keine Lust, dass die Faschos einfach hier im Viertel herumliefen. Merks meinte, dieses Hin- und Hergerissensein auch in den Mienen der anderen sehen zu können. Jette hatte von allen die müdesten Augen, wirkte aber trotzdem am lebendigsten. »Haben wir ein Fahrrad hier? Damit könnten wir doch schnell die wahrscheinlichen Punkte wie Reeperbahn und so checken.«

Wenig Begeisterung. Merks gab sich einen Ruck und meinte: »Ich würde fahren.«

Ein aufmunternder Blick von Jette. Heiner meldete sich zu Wort. »Wir haben heute echt einen langen Tag vor uns. Also die Frage: Was wollen wir wirklich? Hier rumstehen ist auf jeden Fall für niemanden von uns gut.«

Merks stimmte ihm innerlich zu. Er kannte Heiner noch nicht lange, hatte ihn aber auf Anhieb sympathisch gefunden. Alleine aufgrund des höheren Alters war Merks sowieso geneigt, seinem Urteil einen höheren Stellenwert beizumessen. Instinktive Unterordnung.

Becker schaltete sich ein, dem das Ganze offensichtlich mal wieder zu theoretisch und insgesamt zu viel Gerede war. »Wir haben noch eine Menge für die Choreo zu tun. Die Farbe muss doch auch noch trocknen. Hier ist niemand. Oder irre ich mich?« Er schirmte seine Stirn mit der Hand ab und imitierte einen suchenden Blick in die Runde. »Hallo, Nazis, wo seid ihr?« Wie Merks ihn kannte, vermutete er wieder mal eine Verschwörung, die ihn von der Fertigstellung der Choreo abhalten wollte. Für Becker war alles, das nicht in greifbare Aktionen mündete, gerade nur ein Alibi, um sich vor der Arbeit zu drücken.

Torre runzelte die Stirn. »Ihr habt ja Recht. Lass uns gemeinsam noch einmal Richtung Feldstraße laufen, vielleicht sehen wir was. Wenn nicht, gehen wir zurück zum Raum und Jette und die anderen fahren weiter. Wir sehen uns dann ja später.«

Ralle und Rica seufzten wegen des Umwegs, fügten sich aber der Allgemeinheit. Die Truppe setzte sich zur nächsten Bahnstation in Bewegung, wobei die Stimmung etwas gelöster war als auf dem Hinweg. Das lag sicherlich an dem Umstand, dass Gewalt in naher Zukunft relativ unwahrscheinlich geworden war. Die allgemeine Gemütslage erinnerte ein wenig an die Rückfahrt von einem Auswärtsspiel in Rostock: Sobald du an Bad Kleinen vorbei bist, denkst du, dass nicht mehr viel Schlimmes passieren kann. Und stellst dir einen rein.

5:43 Uhr (Subbe)

Schanzenpark. Die Fläche erstrahlt noch nicht im Mai-Grün, ist aber auch nicht mehr völlig winterkahl. Zu früh für Studenten auf Fahrrädern und Mövenpick-Hotel-Gäste. Die Schienen der Bahn trennen den Park von den Hallen der Hamburger Messe und dem Fernsehturm. Die angrenzende Mauer trägt ein Bild von OZ, das an den krassesten Sprayer der Stadt erinnert.

Subbe schwebte immer noch auf der Welle der Euphorie, die durch die Geschehnisse des jungen Tages ausgelöst worden war. Er hatte sich am Dammtor für den Fußweg entschieden, da es die nicht ganz unwahrscheinliche Möglichkeit gab, dass die Nazis ihn an einer der nächsten Stationen abpassen wollten. Wenn er Glück hatte, traf er Torre und den Rest, um sie dann gemeinsam zu erwischen. Doch das Glück hatte sich am Tresen des Schicksals fest gesoffen und war nicht zur Stelle. So war es auch gut, dass er, als er mit – wegen der Dosen – klöterndem Rucksack am Schanzenstern vorbeigelaufen war, der Versuchung widerstand, die Fassade des Hotels mit ein wenig Farbe zu dekorieren. Daran hatten sich andere schon die Finger verbrannt. Und Subbe war erfahren genug, um sich wegen eines glücklichen Moments nicht dauerhaft für unbesiegbar zu halten. Er beließ es dabei, dem Portier eine Grimasse zu schneiden und rannte weiter.

Als er am S-Bahnhof Sternschanze ankam, war von den anderen weit und breit nichts zu sehen. Auch der Bahnsteig war leer, bis auf zwei oder drei von unten undefinierbare Gestalten. Nicht mehr ganz so enthusiastisch wie vorher, aber auch nicht allzu enttäuscht wandte er sich Richtung Feldstraße. Das wäre ja auch zu viel des Guten gewesen, die Nasen direkt noch einmal zu erwischen. Aber ein wenig merkwürdig fand er es schon. Wo sind die denn hin? So langsam waren die anderen nicht, und in Luft aufgelöst haben können sich die Ärsche doch auch nicht. Telefonieren wollte er jetzt nicht, sicherheitshalber. Man konnte nie wissen, wer zuhörte. Subbe zuckte mit den Schultern und lief wieder los. Er musste an einen Spruch von Marco denken, den dieser zwar auf dem Klo gebracht hatte, der aber auch zur jetzigen Situation passte: Laufen und laufen lassen. Das Grinsen kehrte auf Subbes Gesicht zurück. »Nowhere to run to, nowhere to hide« oder wahlweise auch »Can’t keep running away…«.

5:50 Uhr (Jette)

Schanzenstraße. Immer den Nasen nach.

Jette mochte die Schanze um diese Zeit. Genau genommen war es die einzige Zeit, zu der sie diesen Teil des Viertels noch ertrug. Keine Hippster, keine Yuppies, keine Touris und keine Shopper. Friedlich - das war das passende Wort. Auch für den Laden, der die Spraydosenmaler dieser Stadt seit über einem Jahrzehnt mit Farben versorgte, und der einer der letzten coolen Spots in dieser Straße war. Zusammen mit dem griechischen Restaurant gegenüber und der Schanzenburg bildete er eine der letzten Bastionen gegen den Scheiß, vor allem, seit die Kneipe Dschungel weggezogen war. Alle diese Orte waren der Übermacht von Bioläden, stylischen Friseuren und diversen Feinkost-Cafés nicht gewachsen und selten Anreiz genug, um sich hier länger aufzuhalten. Aber es fühlte sich in diesem Moment gut an, diesen Bereich gemeinsam mit Leben zu füllen – trotz oder vielleicht auch wegen der allgemeinen Müdigkeit. Sie wandte sich an Merks, der neben ihr lief, und brachte dieses Gefühl zum Ausdruck. »Man muss es den Graffiti-Crews echt zugutehalten, dass sie diesem ganzen gelackten Scheiß ihren Dreck entgegensetzen. Guck dich mal um: Da ist doch nicht viel übrig vom alten Flair. Mit mehr Schmutz würden sich hier viele von den Wohnungseigentümern nicht mehr wohlfühlen!«

Merks nickte, war aber nicht vollständig überzeugt. »Mit Schmutz meinst du aber nicht Menschen, oder?«

»Ich nicht. Aber für viele der jetzigen Bewohner sind einige Menschen wie Müll. Es ist doch kein Zufall, dass die Offensive vom Schill-Senat damals vor allem die Schanze drogenfrei machen sollte. Nicht nur den Hauptbahnhof und den Hansaplatz. Du kennst das nicht mehr, aber früher wurde auf der Piazza heftig mit Heroin gedealt. Da war mir schon manchmal mulmig zumute, wenn ich in die Flora wollte. Stell dir mal vor, jemand würde sich vor dem Portugiesen einen Schuss setzen – die Leute würden schreiend weglaufen! Ich will jetzt nicht die offene Drogenszene zurück, aber ein wenig mehr Punkrock würde schon reichen. Zum Beispiel, wenn der Wagenplatz Zomia etwas mehr in der Schanze liegen würde als jetzt.«

Merks nickte. »Was nicht passt, wird passend gemacht, oder vertrieben.«