Konflikte nutzen statt vermeiden - Kiran Deuretzbacher - E-Book

Konflikte nutzen statt vermeiden E-Book

Kiran Deuretzbacher

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Beschreibung

Wäre das nicht schön: ein harmonischer Familienalltag, in dem es nie Streit gibt und alle immer einer Meinung sind? „Quatsch!“, sagt Kiran Deuretzbacher. In jeder gesunden Familie gibt es Konflikte und das ist auch gut so. Denn gut ausgetragene Konflikte sind der Wachstumsmotor für eine starke Bindung und ein liebevolles Miteinander. Warum vermeide ich Konfliktsituationen und weshalb ist das nicht gut für die Entwicklung meines Kindes? Wie profitieren wir von (gut geführten) Konflikten? Und was kann ich in konkreten Situationen sagen? Der Ratgeber liefert Wissen und praktische Übungen, um alte Verhaltensmuster zu durchbrechen und damit Familien sich leichter durch die Gefühlswellen des Alltags bewegen.

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Seitenzahl: 267

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

Geleitwort

Vorwort

1. Schritt – Verstehen: So wichtig sind Konflikte

Konflikte als Kollision zwischen Wunsch und Alltag

Konflikte sind Hinweise auf mehr

Konflikte entwickeln sich spiralförmig

Konfliktfähigkeit braucht Vorbilder

Konfliktlösung basiert auf Werten

Konfliktkompetenz ist entscheidend

2. Schritt – Hinschauen: So gehst du Konflikten aus dem Weg

Harmonie idealisieren

Emotionale innere Not entwickeln

Blockieren, ignorieren und relativieren

Alles ganz anders machen wollen

Verschobene Konflikte austragen

3. Schritt – Erkennen: So findest du Sicherheit mit Wurzeln und Flügeln

Sicherheit als Lebensbasis

Das Zusammenspiel von Wurzeln und Flügeln

„Team Wurzeln“ und „Team Flügel“

Sicherheit als Ziel im Konflikt

Flucht, Kampf und Erstarren

Deine Prägung

Elternschaft im „Team Wurzeln“ oder im „Team Flügel“

Deine Notfallstrategie

Konflikte im „Team Wurzeln“ oder im „Team Flügel“

4. Schritt – Lernen: So kann Konfliktlösung gelingen

Der gute Grund

Dein Gehirn im Konflikt

Die Konfliktlösungspyramide

Das mitfühlende Gespräch

Der Perspektivwechsel

Die vier Seiten einer Nachricht

Dein Job: Orientierung, Klarheit und Sicherheit

Die No-Gos des zugewandten Konfliktmanagements

Die Stolperfalle: Vereinbarungen

Die (fehlende) Energie

Das Zeitproblem der Elternschaft

Die Scham

5. Schritt – Umsetzen: So löst ihr Konflikte im Alltag

Klassische Konflikte

Konflikte zweijähriges Kind: „Ich ziehe die Jacke nicht an!“

Konflikte vierjähriges Kind: „Ich will nicht“

Konflikte fünfjähriges Kind: „Ich möchte jetzt ein Eis!“

Konflikte siebenjähriges Kind: „Räum dein Zimmer auf!“

Konflikte neunjähriges Kind: „Ich will keine Hausaufgaben machen!“

Konflikte Kind in der Pubertät: „Mach das Handy aus!“

Konflikte unter Geschwistern: „Müsst ihr euch wieder streiten?“

Konflikte mit anderen Bezugspersonen: „Du musst das so machen, wie ich das immer löse.“

Konflikte wertschätzen: „Aus Scheiße Gold machen“

Vom Zutrauen und Loslassen

Danke!

Anhang

Literatur

Bücher zum Weiterlesen

Podcasts zum Weiterhören

GELEITWORT

Liebe Eltern und pädagogische Fachkräfte!

Wenn wir uns das Leben als Familie vorstellen, bevor wir ein Kind haben, erscheinen oft ausgesprochen sonnige Bilder vor unserem inneren Auge: Kleine Hände, die sich in die unseren schieben. Momente des gemeinsamen Spielens, Vorlesens, Kuschelns. Doch Kinder ins Leben zu begleiten, besteht nicht nur aus diesen Sonnenschein-Momenten. Es gibt auch Krisenzeiten – je nach Alter und Temperament unseres Kindes möglicherweise auch verflixt viele davon. Kinder, die nicht hören. Kinder, die das Gegenteil von dem tun, was man von ihnen will. Die bocken und motzen, treten und schlagen. Und dann?

Wenn es so knirscht und ächzt im Familiengebälk, suchen viele Eltern die Schuld bei sich selbst. „Was haben wir nur falsch gemacht?“, fragen sie sich bang, und gehen innerlich die Liste ihrer möglichen Verfehlungen durch. Waren wir zu streng? Waren wir zu lasch? Ist unser Kind zu früh in die Kita gekommen, oder zu spät?

Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch hoch, dass keiner dieser Gründe ausschlaggebend für das herausfordernde Verhalten ist, das uns da gerade begegnet. Dass unsere Kinder in Widerstand zu uns gehen, sich uns verweigern, mit uns in den Konflikt gehen ist vielmehr eine unglaublich wichtige Entwicklungsaufgabe, die als zentraler Meilenstein ihrer Persönlichkeitsentwicklung in ihnen angelegt ist. Hier bei uns, in ihrem sicheren Hafen können, wollen und müssen sie lernen, wie das geht: Kämpfe austragen, Meinungsverschiedenheiten aushalten, Verletzungen wieder gutmachen. Konflikte als kostbares Lernfeld – das ist eine Perspektive, die dabei helfen kann, die alltäglichen Streit- und Stressmomente in neuem Licht zu betrachten.

Ein altes Thema in ein neues Licht rücken: Das tut dankenswerterweise auch Kiran Deuretzbacher in diesem Buch. Als erfahrene Familienbegleiterin und Mutter von drei Kindern weiß sie, was es heißt, mit Kindern aneinander zu geraten, und wie schwer es Eltern oft fällt, dabei nicht selbst persönlich und verletzend zu werden. Achtsam und mit großem Verständnis für die Kleinen wie die Großen im Familiensystem legt sie deshalb dar, wie Konflikte im Familienleben entstehen, was hinter ihnen steckt und wie Wege aussehen können, sie konstruktiv auszutragen und zu lösen.

Dabei macht sie Mut dazu, tradierte Glaubenssätze zu hinterfragen und ganz neu nachzudenken über Macht und Grenzen in der Familie, über Streit und Versöhnung.

Ich wünsche Ihnen von Herzen große Freude bei der Lektüre und viele hilfreichen Impulse für Ihre ganz persönlichen Herausforderungen. Vor allem aber wünsche ich Ihnen, dass Konflikte in der Familie oder in Ihrer pädagogischen Arbeit für Sie auch mit Hilfe dieses Buches ihren Schrecken verlieren.

Wo Reibung ist, entsteht Wärme – das gilt auch und besonders im Leben mit Kindern.

Ihre

Nora Imlau

VORWORT

Meine erste Klassenfahrt in der 6. Klasse war gleichzeitig der Abschied von einer lieben Klassenkameradin, und ein spannendes Kapitel begann für mich: Miriam, mit der ich sechs Jahre lang in einer Klasse gewesen war, kehrte mit ihrer Familie zurück nach Israel. Ich war zwölf Jahre alt, begann gerade, mich für das Weltgeschehen zu interessieren, und bekam durch ihre Briefe das erste Mal bewusst etwas über den Konflikt im Nahen Osten mit: Krieg in Israel und Palästina.

Einerseits war es für mich nur schwer zu begreifen, dass eine Familie in ein Land mit so einem großen Konflikt zieht. Andererseits war ich sehr berührt von der Perspektive, die uns Miriam mit ihren Briefen schenkte. Sie berichtete nicht von den gewaltvollen Bildern aus den Medien, sondern von vielen Friedensveranstaltungen und Verständigungsprojekten. Es war eine Perspektive voller Hoffnung, Vertrauen und Möglichkeiten.

Knapp 30 Jahre später darf ich meinen ersten Elternratgeber über Konflikte schreiben. Gerade, als ich den Schreibprozess beginne, eskaliert der Konflikt in Israel. Ganz ohnmächtig macht mich diese Nachricht.

Mit Miriam habe ich keinen Kontakt mehr, und doch suche ich auch jetzt gezielt Berichterstattungen von Menschen, die sich gemeinsam für den Frieden einsetzen – und das gibt mir Mut. Mut, während ich diesen Ratgeber schreibe: Ich glaube daran, ja, ich bin davon überzeugt, dass es eine gute Möglichkeit ist, im Kleinen zu starten, wenn wir im Großen etwas verändern wollen.

Die Art und Weise, wie wir unsere Kinder ins Leben begleiten, wird für unsere Zukunft einen Unterschied machen, davon bin ich überzeugt. Deshalb tue ich das, was ich tue, schreibe diesen Ratgeber und begleite und unterstütze Familien. Es ist mir wichtig, dass unsere Kinder einen neuen Umgang mit Konflikten in die Welt tragen. Konflikte können lähmen und erschrecken, die großen wie die kleinen. Ich möchte dich dazu ermutigen und darin bestärken, Konflikte mit deinem Kind neu zu denken, denn die Perspektive zählt!

Mit diesem Buch erhebe ich keinen Anspruch auf die einzige richtige Lösung. Doch ich möchte dir Impulse geben. Wenn dich der eine oder andere Abschnitt im Buch nicht anspricht, überlies ihn gerne erst mal, vielleicht passt er zu anderer Zeit besser und vielleicht auch gar nicht.

Es ist mir ein großes Anliegen, dass du dich beim Lesen dieses Ratgebers nicht angegriffen oder abgewertet fühlst. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass du jede mögliche Wertschätzung verdienst. Gleichzeitig möchte ich deutlich machen, dass du, wenn du Veränderung willst, die Möglichkeit hast, diese Veränderung zu sein. Nicht, weil du die Schuld dafür trägst, wie es in der Vergangenheit gelaufen ist, sondern weil du die Möglichkeit hast, etwas in der Gegenwart und in der Zukunft zu verändern. Ich bin davon überzeugt, dass Veränderung viel einfacher und effektiver ist, wenn wir uns selbst mit Liebe betrachten. Ich habe dieses Buch mit großer Wertschätzung für dich, dein Kind und alle Familien, die ich bisher begleiten durfte, geschrieben. Gleichzeitig kenne ich die enorme Herausforderung, sich selbst wertschätzend zu betrachten. Doch ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass sich dieser wertschätzende Blick auf sich selbst lohnt, für dich, dein Kind und den Veränderungsprozess.

In meine Beratungen kommen viele Eltern, die mit aller Anstrengung Konflikte mit ihrem Kind vermeiden. Und zu Beginn meiner Elternschaft erging es mir ähnlich. Doch dieses Verhalten belastet die Eltern-Kind-Beziehung mehr, als dass es sie stärkt. Mit diesem Buch lade ich dich auf ein Abendteuer ein: Lass uns gemeinsam erforschen, wie Konflikte eure Beziehung zueinander stärken.

In diesem Buch begleite ich dich durch 5 Schritte, mit deren Hilfe es dir gelingen kann, einen neuen klaren und liebevollen Umgang mit Konflikten zu leben.

• In Schritt 1 schauen wir, warum es sinnvoll ist, Konflikte anzunehmen und mit ihnen zu wachsen.

• Im 2. Schritt wirst du dich in manchen Situationen wiedererkennen: in der Art, wie du den ein oder anderen Konflikt vermeidest oder wie er vielleicht in deiner Ursprungsfamilie vermieden wurde. Sich liebevoll zu erkennen ist eine wichtige Grundlage für Veränderungen.

• Mit dem 3. Schritt geht es dann tiefer: Du darfst dich ein Stück besser kennenlernen und deinen Weg zur Sicherheit finden.

• In Schritt 4 binden wir einen bunten Blumenstrauß aus vielfältigen Möglichkeiten für einen klaren und liebevollen Umgang mit Konflikten.

• Im 5. Schritt zeige ich dir ganz konkret, wie das mit den Konflikten im Alltag aussehen kann. Hier findest du Alltagsbeispiele für Kinder unterschiedlichen Alters und in verschiedenen Konfliktsituationen; du kannst gerne das für dich Spannendste zuerst lesen.

Seit 20 Jahren darf ich Familien auf ihrem sehr individuellen Weg begleiten. Auf den folgenden Seiten findest du daher viele Beispiele aus meinem Beratungsalltag, denn dieses Buch ist aus der Praxis für die Praxis.

Am Ende jedes Kapitels fasse ich die wichtigsten Inhalte nochmal für dich „Auf einen Blick“ zusammen. So kannst du sie ganz einfach für dich mit in den Alltag nehmen. Oder vielleicht möchtest du nach einer Weile bestimmte Kapitel noch mal vertiefen, um dich zu bestärken; auch dafür ist es sinnvoll, diese Übersichten zu nutzen.

Am sinnvollsten ist es, wenn du die fünf Schritte nacheinander gehst. Du kannst dich aber auch zuerst für das entscheiden, was dich am meisten anspricht, was du jetzt brauchst.

Konflikte dürfen in der Beziehung zu deinem Kind für euch beide Wachstumsmomente voller Vertrauen sein.

Ich freue mich von Herzen, dass ich dich auf diesem Weg ein Stück begleiten darf. Lass uns jetzt ein paar Schritte gemeinsam gehen.

Deine

Dir werden in diesem Ratgeber einige Symbole häufiger begegnen. Sie geben dir Hinweise, worauf es an den jeweiligen Stellen ankommt:

Achtung! An dieser Stelle musst du aufpassen.Du bist dran! Hier gibt es eine Übung für dich.Spannend! Hier gibt es weitere hilfreiche Informationen.Diese Sätze tun euch gut.Sei sanft! Schau genau auf dich und/oder dein Kind.Diese Sätze können verletzen, Konflikte verschärfen oder zu Missverständnissen führen.

1. SCHRITT – VERSTEHEN: SO WICHTIG SIND KONFLIKTE

Wünschst du dir Konflikte mit deinem Kind? Nein? Vielleicht ändert sich das, wenn du diesen ersten Teil des Buches gelesen hast. Denn Konflikte sind ein wichtiger Baustein für echte und warme Beziehungen. Und das ist genau das, was du mit deinem Kind leben möchtest, oder? Ich verstehe, dass man Konflikte dennoch nicht herbeisehnt. Sie können herausfordernd und anstrengend sein und auch ängstlich und hilflos machen. Doch sie lohnen sich! Warum? Das erfährst du, wenn du hier weiterliest.

Konflikte als Kollision zwischen Wunsch und Alltag

Ich war Anfang 20, es ging mir nicht besonders und ich stellte mir einige Fragen über das Leben. Da sagte ich zu einer Freundin: „Weißt du, auch wenn es im Moment schwierig ist, weiß ich, dass alles wieder gut wird. Ich werde den richtigen Partner finden und wir werden Kinder haben und glücklich sein.“ Ich hatte ein ganz bestimmtes Bild im Kopf, ein Bild, das nicht von meinen eigenen Erfahrungen geprägt war, sondern von der Welt da draußen, der Werbung für Cola oder Schokocreme, und von den romantischen Filmen, die immer genau an der Stelle aufhören, wo das Leben spannend wird. Strahlende Gesichter bei Eltern und Kindern, liebevolle Berührungen, verliebte Blicke, vielleicht mal eine Diskussion über den Müll, das war‘s. Familie, das ist Harmonie, das ist genau das, was man sich immer gewünscht hat. Früher gab es Konflikte, aber jetzt, jetzt ist alles friedlich und harmonisch. Was für ein Quatsch!

Kennst du das auch, hast du auch diese Bilder im Kopf? Bilder von einem friedlichen Familienleben, wo sich alle immer lieb haben und einer Meinung sind? Hast du manchmal das Gefühl, dass du versagt hast, weil es Streit und Konflikte in eurer Familie gibt?

Möchtest du, dass die Beziehung zu deinem Kind von freundlichen Worten, liebevollen Gesten, Singen und Lachen geprägt ist? Wenn es doch einmal zu einem Konflikt kommt, hast du dann das Gefühl, versagt zu haben, nicht gut genug gewesen zu sein und machst dir Sorgen, ob dieser Konflikt jetzt die Beziehung zu deinem Kind gefährdet? Erkennst du dich darin wieder? Vielleicht ein bisschen? Damit bist du nicht allein! In jeder gesunden Familie gibt es Konflikte.

Auch wenn ich schon sieben Jahre mit Familien gearbeitet hatte, bevor ich Mutter wurde, dachte ich lange Zeit, dass es gerade als bedürfnisorientierte Mutter meine Aufgabe sei, dafür zu sorgen, dass Harmonie und Zufriedenheit in unserer Familie ein Dauerzustand würden. Ob uns das gelang? Nein! Ob ich frustriert war? Ja! Ob uns dieser Versuch geschadet hat? An manchen Stellen sicher.

Ich möchte mit diesem Buch erreichen, dass sich deshalb keine Mama und kein Papa als Versager fühlen muss, auch du nicht. Konflikte müssen keine Gefahr für das Miteinander sein. Im Gegenteil, Konflikte können ein Wachstumsmotor sein und Teil eures liebevollen Miteinanders.

Ja, in jeder Familie gibt es Konflikte. Aber je mehr wir sie bekämpfen, desto mehr belasten sie uns, desto schlechter fühlen wir uns und desto unzufriedener sind wir. Es ist sogar ein Zeichen von Vertrauen und Geborgenheit, wenn dein Kind mit dir streitet, wenn es nicht deiner Meinung ist und seine eigenen Interessen vertritt.

Vielleicht kennst du das auch, dass du mit deinem Partner häufiger und emotionaler in Konflikt gerätst als mit dem Verkäufer in der Bäckerei oder der Kollegin im Büro. Bei Menschen, die uns sehr vertraut sind, bei denen wir uns sicher fühlen, zeigen wir uns emotional „echter“, auch wenn es uns nicht so gut geht. Beim Bäcker reißen wir uns eher zusammen, bei unserer Partnerperson zeigen wir wirklich, was bei uns los ist – so gibt es zu Hause mehr Konfliktpotenzial.

Eine sichere Bindung, eine vertrauensvolle Beziehung zu deinem Kind funktioniert nicht ohne Konflikte. Deshalb lade ich dich an dieser Stelle und als ersten Schritt ein, zu akzeptieren, anzunehmen: Ja, in der Beziehung zu deinem Kind gibt es und wird es immer Konflikte geben. Doch diese Konflikte müssen keine Gefahr sein, weder für dich noch für dein Kind noch für eure Beziehung.

„Je größer die Sehnsucht nach Harmonie,

desto größer die Enttäuschung beim Konflikt.“

Allein durch diesen Schritt werden mehr Zufriedenheit und Gelassenheit in euer Familienleben einziehen. Denn wie zufrieden du mit der Beziehung zu deinem Kind bist, hängt nicht von der Anzahl eurer Konflikte ab, sondern von der Übereinstimmung zwischen deinen Erwartungen und der gelebten Realität.

Wenn du die Erwartung hast, dass ein guter Tag konfliktfrei ist, und es dann fünf Konflikte gibt, dann bist du unzufrieden. Wenn du stattdessen akzeptierst, dass fünf bis zehn Konflikte am Tag normal sind, und es dann acht Konflikte gab, wirst du im Rückblick auf den Tag zufriedener sein.

Du kannst also an dieser Stelle für mehr Zufriedenheit akzeptieren, dass es diese Konflikte gibt. Deine Aufgabe ist es nicht, all diese Konflikte zu vermeiden, sondern sie achtsam zu begleiten. Wie das geht? Das zeige ich dir in diesem Buch.

Wahrgenommene Zufriedenheit in der Familie

Auf einen Blick

Wunsch vs. Realität in der Familie: Die inneren Bilder eines immer harmonischen Familienlebens sind oft durch Werbung und Filme geprägt und völlig unrealistisch. Es ist normal und auch gesund, dass es in jeder gesunden Familie Konflikte gibt.

Die Bedeutung von Konflikten in Beziehungen: Konflikte sind kein Zeichen des Scheiterns. Im Gegenteil, sie sind Zeichen des Vertrauens und können das Miteinander stärken und Wachstum fördern. Eine sichere Bindung zu deinem Kind entsteht nicht ohne Konflikte. Akzeptiere, dass Konflikte normal sind, und lerne, sie klar und liebevoll zu begleiten.

Akzeptanz für mehr Zufriedenheit: Deine Zufriedenheit hängt nicht von der Anzahl der Konflikte ab, sondern von der Übereinstimmung zwischen deinen Erwartungen und der Realität. Daher lohnt es sich, zu akzeptieren, dass Konflikte ein wichtiger Teil des Familienlebens sind.

Konflikte sind Hinweise auf mehr

Konflikte entstehen dort, wo Wünsche, Anliegen und Bedürfnisse aufeinandertreffen. Manchmal sind uns die Wünsche und Bedürfnisse sehr bewusst, z. B., wenn unser Kind morgens früh aufstehen und spielen möchte, wir aber noch müde sind und weiterschlafen wollen. Dann stehen beide Anliegen nebeneinander: Das Kind will aufstehen und spielen – der Elternteil liegenbleiben und schlafen.

Es gibt aber auch Situationen, in denen wir uns unseres Anliegens (noch) nicht bewusst sind. Kennst du solche Situationen, in denen du plötzlich aus der Haut fährst? Zum Beispiel: „Immer dieses Theater am Abend, warum können die Kinder nicht einfach einmal ohne Streit ins Bett gehen?“ Gerade neulich erzählte mir eine befreundete Mutter, dass sie beim friedlichen Abendessen wegen einer Kleinigkeit in die Luft gegangen ist: Die Apfelsaftschorle war nicht im richtigen Verhältnis gemischt. Im Nachhinein konnte sie herausfinden, dass ihre große Müdigkeit, Konflikte am Arbeitsplatz und mangelnde Wertschätzung die Ursachen für ihren plötzlichen Ausbruch waren. Die Apfelsaftschorle war nur der Auslöser.

Die klassische Erziehung früherer Generationen zielte auf Anpassung, Gehorsam und Fleiß; die eigenen Bedürfnisse und Anliegen der Kinder hatten da keinen Platz. So haben viele von uns nie gelernt, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen ernst zu nehmen. Im Gegenteil, es ging darum, sie zu unterdrücken und sich anzupassen. Als Ergebnis haben heute viele Erwachsene keinen Zugang zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen.

Wenn wir dann Eltern werden, berühren uns unsere Kinder plötzlich sehr intensiv an diesen Stellen und wir erleben mit unbändiger Kraft all das, was nie Platz haben durfte und wozu wir keinen Zugang mehr haben. Wie wenn du versuchst, einen aufgeblasenen Wasserball unter Wasser zu drücken. Es kostet viel Kraft, und für eine Weile kann man es schaffen. Aber sobald du ein wenig loslässt oder noch ein wenig nachdrückst, kommt der Ball mit ordentlich Druck an die Wasseroberfläche und schießt weit in die Luft.

So oder so ähnlich geht es vielen Menschen mit ihren eigenen Bedürfnissen, Gefühlen und Anliegen. Sie wurden jahrelang mit viel Druck unter der Wasseroberfläche gehalten, und jetzt, im Alltag mit Kind, passiert es immer wieder, dass sie mit aller Kraft an die Oberfläche kommen – und das erschreckt viele. Als Reaktion wird dann meist versucht, den Ball (die Gefühle) mit noch mehr Kraft wieder nach unten zu drücken, auch, um Konflikten mit aller Kraft aus dem Weg zu gehen. Denn die Angst vor der ganzen Wucht des Wasserballs ist groß.

Doch Überraschung: Das ist nicht die ideale Lösung. Viel hilfreicher ist ein anderes Bild: Der Konflikt, den du mit deinem Kind hast, ist die Spitze eines Eisbergs. Und unter der Eisbergspitze sind viele wichtige Dinge verborgen. Der größte Teil des Eisbergs liegt unter der (Wasser-)Oberfläche, wie auch ein großer Teil eurer Konflikte. Wichtig ist, dass du dann nicht allein auf der Konfliktebene bleibst und dich über das Verhalten und den Konflikt ärgerst und empörst. So können Konflikte die Beziehung zu deinem Kind belasten.

Schau stattdessen unter die Wasseroberfläche, auf den Rest des Eisbergs, dann kannst du viel über dich und dein Kind lernen. Dann wächst die Bindung zwischen dir und deinem Kind, dann überwindet ihr Konflikte gemeinsam.

Blick unter die Wasseroberfläche

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN WUNSCH UND BEDÜRFNIS

Bedürfnisse haben alle Menschen gleichermaßen. Es ist wichtig für die körperliche und seelische Gesundheit, dass Bedürfnisse beachtet und weitgehend befriedigt werden. Körperliche Bedürfnisse sind Hunger, Durst, auf die Toilette zu gehen oder zu schlafen. Die für mich wichtigsten vier emotionalen Bedürfnisse sind: Selbstwirksamkeit, Verbundenheit, Sicherheit und Lustgewinn.

Wünsche sind individuell, sie sind nicht bei allen Menschen gleich. Oft steckt hinter einem Wunsch ein Bedürfnis. Darauf gilt es zu achten.

Das Ernstnehmen der eigenen Wünsche und der Wünsche des Kindes führt zu einer tieferen Verbindung. Gleichzeitig müssen Wünsche nicht zwangsläufig erfüllt werden. Oft reicht es schon, darüber zu sprechen und zu schauen, welches Bedürfnis dahintersteckt.

Stell dir vor, du gehst mit deinem Kind nach dem Kindergarten in den Supermarkt, es möchte unbedingt eine Schokolade. Der Wunsch ist die Schokolade, das Bedürfnis dahinter könnte Hunger sein, vielleicht auch Müdigkeit oder Selbstwirksamkeit. Dem Wunsch nach der Schokolade musst du nicht unbedingt nachkommen (kannst du aber), doch die Bedürfnisse dahinter solltest du ernst nehmen.

JEDER KONFLIKT IST AUCH EIN GESCHENK

Jonas geht seit ein paar Wochen in die 2. Klasse. Er kommt von der Schule nach Hause, stellt seinen Ranzen in die Ecke und weigert sich auch nach mehrmaliger Aufforderung, ihn aufzuräumen. Seine Mutter wird wütend und droht ihm.

Jetzt kann sie an der Spitze des Eisbergs bleiben und den Konflikt entweder ignorieren oder eskalieren lassen. Oder sie kann bereit sein, unter die Wasseroberfläche zu schauen und im Gespräch herausfinden, dass er sich mit seinem Freund Tim gestritten hat und außerdem die Mathearbeit heute schwerer war als gedacht. Weil er sich über den Streit so geärgert hat, hat er sich keine Zeit zum Essen genommen. Jonas ist also erschöpft, frustriert und hungrig. Seine Mutter horcht genauer in sich hinein und merkt, dass sie sich vor allem darüber geärgert hat, dass ihr Sohn nicht auf sie gehört hat. Außerdem hatte sie heute Morgen viel Stress und ist ebenfalls nicht zum Essen gekommen.

Der Konflikt ist sozusagen der Wink mit dem Zaunpfahl dafür, dass beide Hunger haben und dringend eine Pause brauchen. Vielleicht merkt Jonas Mutter auch, dass es sie zwar schon gestört hat, dass Jonas ihr nicht zugehört hat, aber eigentlich waren es heute Morgen ihr Kollege Ralf und am Abend zuvor die Schwiegermutter, die ihr nicht zugehört haben – sie hat das nur auf Jonas projiziert.

Kennst du solche Situationen? Blick einmal zurück, was du beim letzten Konflikt mit deinem Kind über es erfahren hast. Was war unter der Eisbergspitze deines Kindes versteckt? War es müde? War es frustriert? Hat es sich nicht ernst genommen gefühlt? Wollte es selbst bestimmen oder vielleicht Nähe und Sicherheit?

Im weiteren Buchverlauf werde ich das Wort Anliegen nutzen.

Jedem Anliegen liegt ein Bedürfnis zugrunde, mal in Form eines Wunsches und mal in Form von Gefühlen.

Auf einen Blick

Konflikte als Wegweiser: Konflikte entstehen, wenn unterschiedliche Wünsche, Anliegen und Bedürfnisse aufeinanderprallen. Manchmal sind wir uns dessen bewusst, oft aber auch nicht. Daher hier die wichtige Erinnerung: Konflikte weisen auf tieferliegende Anliegen hin.

Unterdrückte Bedürfnisse: In früheren Generationen wurde in der Erziehung meist Wert darauf gelegt, eigene Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche zu unterdrücken, um sich anzupassen und zu gehorchen. Dadurch haben viele Eltern einen erschwerten Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, was zu einem hohen inneren Druck führt. Dieser Druck entlädt sich oft in Konflikten mit den eigenen Kindern, die Ursache für diesen Druck ist aber nicht der Konflikt mit dem Kind, sondern die lange Unterdrückung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse.

Versteckte Ursachen erkennen: Konflikte sind nur die Spitze des Eisbergs. Wer bereit ist, unter die Wasseroberfläche zu schauen, wird viel über seine eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Anliegen erfahren.

Unterscheide zwischen Wunsch und Bedürfnis: Bedürfnisse sind grundlegend für die physische und psychische Gesundheit und bei allen Menschen ähnlich. Emotionale Bedürfnisse lassen sich auf die emotionalen Grundbedürfnisse nach Selbstwirksamkeit, Bindung, Sicherheit und Lustgewinn zurückführen. Wünsche sind individuell und auf Bedürfnisse zurückzuführen.

Wunsch und Bedürfniserfüllung: Je jünger die Kinder sind, desto hilfreicher ist es, auf die Bedürfnisse prompt und zeitnah einzugehen. Bei älteren Kindern und vor allem bei Erwachsenen ist es erst mal hilfreich, die Bedürfnisse bewusst und wertschätzend wahrzunehmen. Erst im zweiten Schritt kann es dann um die Bedürfniserfüllung gehen, die mal schneller und mal langsamer in einem Familienleben möglich ist. Wünsche ernst zu nehmen ist schön und wichtig, doch nicht jeder Wunsch muss erfüllt werden. Manchmal ergibt es auch mehr Sinn, zu schauen, welches Bedürfnis eigentlich unter dem Wunsch verborgen ist.

Konflikte entwickeln sich spiralförmig

Du bist gerade auf dem Weg zur Toilette und hörst dein Kind rufen, unbedingt jetzt braucht es den roten Stift und findet ihn nicht. Bevor es jetzt laut wird und ein Konflikt entsteht, gehst du den roten Stift suchen. Wenn dein Kind dich braucht, dann bist du für es da, das ist dir wichtig. Kennst du das? Du hast Durst, doch dann muss dein Kind auf die Toilette und dein Kind braucht deine Unterstützung, natürlich gibst du dem Priorität. Du möchtest dich mit einem Freund austauschen, aber dein Kind will nicht, dass du gehst, dann geht es eben nicht. Solche oder ähnliche Situationen kommen gefühlt 32.352-mal täglich vor?

Je jünger die Kinder sind, desto öfter ist es notwendig, dass die Eltern ihr Anliegen zurückstellen können. Die spannende Frage an dieser Stelle ist aber: Geht es wirklich darum, dass das Anliegen des Kindes Priorität braucht, oder ist das sofortige Reagieren auch eine Strategie, um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen?

Vielleicht steckt dahinter auch die Angst, dass der Konflikt dem Kind oder der Beziehung zum Kind schaden könnte? Vielleicht ist das eine sehr alte Strategie aus deiner Kindheit, die eigenen Anliegen zu unterdrücken, um eine oberflächliche Harmonie aufrechtzuerhalten?

Dieses Unterdrücken der eigenen Anliegen geht jedoch nicht ewig gut, meist kommt dann unbemerkt und sehr plötzlich der Punkt, an dem ein Konflikt völlig eskaliert. In diesem Kapitel werden wir einmal auf die Slow-Motion-Taste drücken, um zu verstehen, was genau in diesen Situationen passiert.

Ein Konflikt entsteht, weil verschiedene Anliegen aufeinandertreffen. Diesen Anliegen liegen Bedürfnisse und Gefühle zugrunde, die wichtig sind. Wenn wir nun versuchen, das alles zu ignorieren, um den Konflikt zu vermeiden, dann gelingt das vielleicht für den Moment, doch der innere Druck steigt.

Das Ignorieren der eigenen Anliegen funktioniert eine Zeit lang, und vielleicht nimmst du den inneren Druck gar nicht wahr, der stetig steigt, weil du aufgrund deiner Geschichte sehr geübt darin bist, deine eigenen Anliegen zu unterdrücken. Doch der Druck steigt unbemerkt weiter und gefühlt ganz plötzlich platzt die Bombe und der Konflikt ist groß und heftig.

Weil der Konflikt jetzt so groß, heftig und aufgeladen ist, ist er viel schwieriger zu lösen und Machtkämpfe entstehen viel schneller. Das schürt die Angst vor Konflikten und die Spirale beginnt: Schuld- und Schamgefühle führen meist zusätzlich dazu, dass eigene Anliegen noch mehr unterdrückt werden, um den Ausbruch wiedergutzumachen.

Durch die Heftigkeit des Konflikts steigt die Angst davor und treibt unbewusst die Konfliktvermeidungsspirale an. Diese führt auch dazu, dass du dich eigentlich aus dem Kontakt und der Beziehung zurückziehst. Du möchtest deinem Kind nahe sein und wählst die Strategie der Konfliktvermeidung. Aber dadurch vermeidest du es, dich mit deinen Anliegen zu zeigen, was dazu führt, dass die Beziehung weniger echt und nah ist. Du versuchst, Ausbrüche, Tränen und auch Verletzungen zu vermeiden, doch das langfristige und häufige Ignorieren deiner eigenen Anliegen führt zu viel mehr Ausbrüchen, Tränen und emotionalen Verletzungen.

Ich stimme dir zu, dass es gut ist, Explosionen, Tränen und Verletzungen zu vermeiden, jedoch nicht, indem man seine Anliegen ignoriert, sondern im Gegenteil, indem man sie viel früher ernst nimmt. Wenn dir das gelingt, hast du weniger Druck und mehr Kapazitäten, um Konflikte mit deinem Kind in Klarheit zu lösen und es mit seinen Gefühlen und Anliegen zu begleiten.

Konfliktspirale nach Kiran Deuretzbacher

DER DIREKTE WEG IN DIE ESKALATION

Sebastian ist mit seinem Sohn Noah auf dem Spielplatz; es ist ein schöner Nachmittag, sie haben eine gute Zeit. Dann muss der Vater auf Toilette und beim Blick auf die Uhr sieht er auch, dass es jetzt nötig ist zu gehen, damit sie noch genügend Zeit fürs Abendessen haben und Noah rechtzeitig ins Bett kommt. Außerdem spürt Sebastian, dass er vom Tag müde ist.

Noah will noch nicht gehen. Also wartet sein Vater, denn der Tag war so schön, da passt ein Konflikt nicht rein. Auch nach weiteren zehn Minuten will Noah nicht gehen. Sebastian erklärt, sie bräuchten noch Zeit für das Abendessen und er habe Hunger. Noah will immer noch nicht gehen. Nach weiteren zehn Minuten trifft sein Vater eine Abmachung: „Fünfmal rutschen und dann gehen wir.“

Nachdem Noah zehnmal gerutscht ist und dann zur Schaukel rennt, platzt Sebastian der Kragen: Er schimpft, droht mit Fernsehverbot, setzt das Kind wütend in den Kinderwagen und geht mit einem weinenden Kind erschöpft nach Hause. Der Konflikt ist eskaliert, Vater und Kind sind frustriert und fühlen sich schlecht.

Kennst du diese Spirale und auch die Reaktion? Vielleicht schaust du einmal zurück auf den letzten Konflikt, der mit deinem Kind eskaliert ist: Wo hast du dein Anliegen oder das Anliegen deines Kindes nicht beachtet, um den Konflikt zu vermeiden?

Wie soll es denn anders gehen? Wenn deine Bedürfnisse und Anliegen mit denen deines Kindes nicht miteinander vereinbar sind, muss einer zurückstecken, oder? Entweder du steckst zurück oder dein Kind – einer muss leiden, richtig?

Ich möchte dir hier einen Weg zwischen „entweder“ und „oder“ zeigen, einen bewussten Weg mit „sowohl, als auch“. Dabei geht es zunächst darum, die unterschiedlichen Anliegen wahrzunehmen und auch anzusprechen:

• „Ich sehe, du willst noch rutschen, mir ist jetzt kalt.“

• „Du hast viel Spaß hier und ich habe jetzt Hunger.“

• „Mir ist wichtig, dass wir pünktlich zu Abend essen und du möchtest noch schaukeln.“

Im Sehen der Anliegen verändert sich schon etwas: Das Gefühl, dass die eigenen Anliegen wichtig sind und ernst genommen werden, nimmt oft schon ein Stück Druck.

Dann kommt das Abwägen. Wie wichtig sind die jeweiligen Anliegen für die jeweilige Person, was bedeutet es für die jeweilige Person, ihr Anliegen zurückzustellen? Vielleicht auch: Wie oft hat jede Person heute schon die eigenen Anliegen zurückgestellt und wie viel „Druck“ liegt unter den Anliegen? Die Entscheidung kann dann unterschiedlich ausfallen. Manchmal wirst du dich für den Konflikt entscheiden und manchmal dagegen. Das ist völlig in Ordnung so.

Wenn du dich für den Konflikt entscheidest, dann tust du das bewusst, und du bist auch klarer in deiner Haltung. Wichtig ist dabei, dass du dich möglichst rechtzeitig entscheidest, denn dann hast du noch genügend Energie. Hätte Sebastian in meinem Fallbeispiel früher darauf bestanden zu gehen, dann hätte er noch mehr Kapazität gehabt und wäre nicht so schnell explodiert. Kalkuliere also ein, dass ein Konflikt deine Energie (ver-)braucht.

Nachdem du dein Anliegen und das Anliegen deines Kindes liebevoll angeschaut hast, kannst du dich auch bewusst dafür entscheiden, nicht in den Konflikt zu gehen, das ist auch in Ordnung.

Vielleicht fragst du dich jetzt: Wo ist der Unterschied zwischen dem Aufschieben eines Anliegens, um den Konflikt zu vermeiden, und dem Aufschieben, um den Konflikt zu lösen?

Ich kann dir sagen, dass es ein großer Unterschied ist. Einmal gehst du aus der Beziehung heraus, du schaust nicht, worum es geht, sondern dein Ziel ist es, den Konflikt zu vermeiden; und einmal gehst du sehr bewusst in Kontakt, dein Anliegen und das deines Kindes zählen und du triffst eine bewusste Entscheidung für einen gemeinsamen Weg, mit oder ohne Konflikt.

Auf einen Blick

Die Konfliktspirale entlarven: Wenn Eltern eigene Anliegen zu oft und zu lange ignorieren, entsteht ein innerer Druck, der dazu führt, dass Konflikte dann plötzlich eskalieren. Die eskalierenden Konflikte und die damit verbundenen Schuld- und Schamgefühle führen wiederum dazu, dass beim nächsten Mal Anliegen noch länger ignoriert werden und Konflikte erneut eskalieren.

Aus der Konfliktspirale aussteigen: Indem Eltern ihre Anliegen rechtzeitig wahrnehmen und ernst nehmen, solange der Druck noch nicht zu groß ist und noch Energie vorhanden ist, haben sie die Möglichkeit, Konflikte mit ihrem Kind zugewandt zu lösen.

Konfliktvermeidung bedeutet auch Beziehungsvermeidung: Wenn eigene Anliegen immer wieder und dauerhaft nicht gezeigt werden, zieht sich die Person aus der Beziehung zurück. Echte und lebendige Beziehungen leben davon, dass alle Beteiligten sich auch mit ihren Anliegen zeigen.

Anliegen ernst nehmen: Es geht nicht immer darum, dass Anliegen sofort gelöst werden müssen, doch es macht einen entscheidenden Unterschied, ob sie ignoriert oder ob sie gesehen und dann bewusst und zugewandt zurückgestellt werden. Mit dem Ernstnehmen von Anliegen ist schon die Hälfte des Drucks genommen.

Konflikte entstehen dort, wo Menschen sich mit ihren Anliegen zeigen: Konflikte gehören zu warmen und echten Beziehungen und sie dürfen auch Teil deiner Beziehung zu deinem Kind sein. Nicht die Konflikte belasten die Beziehung, sondern der Druck, die Abwertungen, die Verletzungen, die entstehen, wenn Konflikte eskalieren.

Konfliktfähigkeit braucht Vorbilder

Wenn Eltern zu mir in die Beratung kommen, stehen meist die Kinder im Mittelpunkt. Eltern wünschen sich für ihre Kinder eine harmonische und friedvolle Kindheit und die Möglichkeit, alle ihre Potenziale entfalten zu können.

Gerade bei Eltern, die es besonders gut machen wollen, ist dies ein häufiges Phänomen: Je mehr der Fokus auf die Belange der Kinder gerichtet wird, desto mehr verschwindet der Fokus der Eltern auf ihre eigenen Anliegen. Es entsteht ein neues Ungleichgewicht. In früheren Generationen war es oft umgekehrt, da waren die Anliegen der Kinder unwichtig und preußische Tugenden wie Gehorsam, Disziplin, Fleiß und Pflichtbewusstsein standen im Mittelpunkt.