Königin der Berge - Daniel Wisser - E-Book

Königin der Berge E-Book

Daniel Wisser

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Beschreibung

Herzzerreißend komisch erzählt dieser Roman von den letzten Dingen – und den vorletzten und vorvorletzten, vom Leben in seiner schrecklichen Schönheit und der Unmöglichkeit zu sagen, wann man es gut sein lassen kann.

Robert Turin, Mitte vierzig, will in der Schweiz sterben, denn dort könnte er selbst bestimmen, wann es so weit ist. Lieber noch wäre es ihm, er wäre nicht unheilbar krank, aber an der Diagnose ist nicht zu rütteln: Multiple Sklerose. Um seiner Frau nicht zur Last zu fallen, übersiedelt er freiwillig in ein Heim. Pflegeleicht ist der verschrobene Patient nicht, das merken die Schwestern bald. Während sich sein Zustand verschlechtert, beschließt er, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch so einfach ist das nicht: Auch zum Sterben braucht man Hilfe. Und wer fährt ihn in die Schweiz?

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Robert Turin, Mitte vierzig, will in der Schweiz sterben, denn dort könnte er selbst bestimmen, wann es so weit ist. Lieber noch wäre es ihm, er wäre nicht unheilbar krank, aber an der Diagnose ist nicht zu rütteln: Multiple Sklerose. Um seiner Frau nicht zur Last zu fallen, übersiedelt er freiwillig in ein Heim. Pflegeleicht ist der verschrobene Patient nicht, das merken die Schwestern bald. Während sich sein Zustand verschlechtert, beschließt er, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch so einfach ist das nicht: So wie er im Alltag auf Unterstützung angewiesen ist, um vom Bett in den Rollstuhl zu kommen, damit er in der Kantine sein tägliches Quantum Wein trinken kann, braucht er auch zum Sterben Hilfe. Aber wer fährt ihn in die Schweiz? Und wie kann er ihn (besser: sie) dazu bringen?

Herzzerreißend komisch erzählt dieser Roman von den letzten Dingen – und den vorletzten und vorvorletzten, vom Leben in seiner schrecklichen Schönheit und der Unmöglichkeit zu sagen, wann man es gut sein lassen kann.

DANIEL WISSER, 1971 in Klagenfurt geboren, schreibt Prosa, Gedichte, Songtexte. 1994 Mitbegründer des Ersten Wiener Heimorgelorchesters, zuletzt erschien das Album »Die Letten werden die Esten sein«. 2018 wurde Daniel Wisser für den Roman »Königin der Berge« mit dem Österreichischen Buchpreis und dem Johann-Beer-Literaturpreis ausgezeichnet. Er lebt in Wien.

Daniel Wisser

Königin der Berge

Roman

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Genehmigte Ausgabe November 2020 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 2018 Jung und Jung, Salzburg und Wien Covergestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von Jung und Jung unter Verwendung eines Motivs von © Getty Images/ZenShui/Isabelle Rozenbaum cb · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-14817-1V001

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

für Robert Meran

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie erwarten von mir, daß ich Ihnen etwas aus meinem Leben erzähle. Mein Leben war uninteressant. Mein Leben war kahl, still, ereignislos und eigentlich nicht erwähnenswert. Mein Leben floß so dahin, es war ein unauffälliges Vorbeitreiben an ganz kleinen Bewegungen oder an gar nichts, von Anfang an bis zu diesem Moment, bis jetzt, wo ich vor Ihnen stehe, um Ihnen etwas aus meinem Leben zu erzählen.

ROR WOLF: Die neunundvierzigste Ausschweifung

Ein Kapuziner begleitete einen Schwaben bei sehr regnigtem Wetter zum Galgen. Der Verurtheilte klagte unterwegs mehrmal zu Gott, daß er, bei so unfreundlichem und schlechtem Wetter, einen so sauren Gang thun müsse. Der Kapuziner wollte ihn christlich trösten und sagte: du Lump, was klagst du viel, du brauchst doch bloß hinzugehen, ich aber muß, bei diesem Wetter, wieder zurück, denselben Weg.

HEINRICH KLEIST: Berliner Abendblätter (53. Blatt)

Erster Teil

DUKAKIS

1. Aus der Rollstuhlperspektive

Ich liebe Schwester Aliki. Aliki. Aliki. Aliki. Und keine andere. Schwester Aliki macht alles richtig: Sie lässt die Tür zu meinem Zimmer einen Spaltbreit offen, sie stellt die Schnabeltasse mit dem Früchtetee immer auf meine linke Seite, sie will mir die Whiskeyflasche in meinem Nachtkästchen nicht wegnehmen, sie rügt mich nicht, wenn ich in der Cafeteria Wein trinke, und sie animiert mich nicht dazu, in den Garten zu gehen. Wenn Schwester Aliki Dienst hat, möchte ich ausschließlich von Schwester Aliki betreut werden. Wie oft habe ich ihnen das schon gesagt! Doch obwohl Aliki Dienst hat, schicken sie mir heute eine neue Schwester. Ich kenne sie nicht, ich habe sie nie zuvor gesehen. Ob sie mich wohl in die Schweiz fahren würde?

DIE NEUE: Grüß Gott, Herr Turin!

Alle wissen, dass mein Name auf der ersten Silbe betont wird. Die neue Schwester betont meinen Namen auf der zweiten Silbe, wie die italienische Stadt. Außerdem hasse ich dieses ewige Grüß Gott. Ich muss ihr alles erklären, aber ich weiß nicht, wie sie heißt. Das Namensschild kann ich nicht lesen.

DR. STEINHÄUSER: Dem Krankheitsverlauf entsprechende Visusminderung.

Es wird immer schlimmer mit den Augen. Bald werde ich mit einer Lupe lesen müssen, wie die alte Ditscheiner von Zimmer 407. Manchmal sehe ich tagelang alles verschwommen, dann wieder sehe ich nur auf einem Auge. Schließlich ist alles wieder in Ordnung, und die Schwestern glauben mir nicht. Die Königin der Berge nimmt mir das Augenlicht, schön langsam, bis ich völlig blind sein werde. Die Sehnerventzündung kommt immer wieder, dann beginnt alles von vorne: Augenarzttermine, Gesichtsfeldmessungen, wieder andere Medikamente.

DIE NEUE: Möchte Herr Turin vielleicht in den Garten gehen, ein wenig Sonne tanken?

Hier im Pflegeheim nennen mich alle Herr Turin, aber dass mich diese Schwester in der dritten Person anspricht, irritiert mich. Nein, Herr Turin möchte nicht in den Garten gehen, Herr Turin möchte die Natur überhaupt nicht sehen. Herr Turin hasst die Natur. Weil sie grausam ist und ungerecht. Herr Turin muss nur seinen Körper ansehen, um festzustellen, wie grausam die Natur ist. Der Körper eines Fünfundvierzigjährigen, der aussieht wie der Körper eines Fünfundsechzigjährigen, der aber nicht einmal mehr mit einem Fünfundachtzigjährigen Schritt halten kann: Das ist die Natur! Herr Turin braucht keine Sonne, denn Herr Turin nimmt Vitamin D in Tropfenform zu sich. Und Herr Turin wird auch nicht Sonne tanken. Herr Turin wird in der Cafeteria Veltliner tanken. So sieht das Leben aus, zumindest aus der Rollstuhlperspektive.

Es gefällt mir, von mir selbst in der dritten Person zu sprechen. Es klingt fast so, als ginge es um jemand anderen, als hätte jemand anderer Multiple Sklerose, als säße jemand anderer in diesem Rollstuhl, als würde jemand anderer von einem Harnbeutel überallhin begleitet werden, als wäre jemand anderer Insasse dieses Pflegeheims.

Die neue Schwester verlässt Herrn Turins Zimmer. Ihre Brüste sind sehr klein. Fast alle Schwestern auf der MS-Station haben kleine Brüste. Herr Turin nennt es die Waschbrettbrust. Von seiner Frau Irene hat Turin ein Tablet geschenkt bekommen. Aliki hat es zum Aufladen an die Steckdose gehängt. Nun sollte er es endlich in Betrieb nehmen, damit er Irene am Wochenende etwas zu erzählen hat und ihr nicht wieder wortlos gegenübersitzen muss. Irene kommt jeden Samstag und Sonntag.

HERR TURIN: Ich habe auf dem Tablet schon ein Youtube-Video angeschaut.

HERR TURIN: Wir haben eine neue Schwester auf der Station. Sie betont meinen Namen auf der zweiten Silbe.

HERR TURIN: Die alte Ditscheiner sitzt die halbe Nacht im Sozialraum vor dem Fernseher, und weil sie so schlecht hört, dreht sie die Lautstärke voll auf. Auf der ganzen Station muss man sich das anhören.

HERR TURIN: Heute hat Schwester Aliki Dienst. Du weißt doch, die kleine Griechin mit dem Ohrring in der Nase.

All das wird Irene nicht interessieren. Herr Turin liebt das Leben im Heim, sobald er aber Irene davon erzählt, kommt ihm alles lächerlich vor. Irene wird kurz von der Zeitung aufblicken und Herrn Turin zunicken, als hätte sie ihm zugehört. Schwester Aliki kommt mit dem Mittagessen.

SCHWESTER ALIKI: Herr Turin, geht es nicht ein wenig freundlicher?

HERR TURIN: War ich unfreundlich?

SCHWESTER ALIKI: Warum ist Schwester Nata gerade heulend zu mir gekommen?

Herr Turin muss den Namen einer neuen Schwester dreimal laut vor sich hersagen, damit er ihn nicht vergisst. Jeden Abend übt er das Schwesternalphabet. Aliki. Aliki. Aliki. Barbara. Barbara. Barbara. Jessy. Jessy. Jessy. Und jetzt also: Nata. Nata. Nata. War der Name auf dem Schild wirklich so kurz? Die neue Schwester tut Herrn Turin leid, aber er heißt nun einmal Turin mit Betonung auf der ersten Silbe und er will nicht in den Garten gehen, er will nicht, er will nicht, er will nicht. Er möchte, dass Aliki ihn betreut und nicht irgendeine neue Schwester, das hat er doch schon hundertmal gesagt. Wenigstens bringt Aliki ihm jetzt das Mittagessen.

HERR TURIN: Was gibt es denn heute?

SCHWESTER ALIKI: Geschnetzeltes.

HERR TURIN: Geschnetzeltes! Warum soll ich heute essen, was ich gestern schon zurückgeschickt habe?

Aliki zieht die Tischplatte aus dem Nachtkästchen, dann geht sie und kommt mit dem Tablett wieder. Herr Turin mag alles an Aliki, außer dass sie ein Piercing in der Nase hat.

HERR TURIN: Schwester Aliki, Sie haben den Ohrring an der falschen Stelle.

SCHWESTER ALIKI: Das verstehen Sie nicht, Herr Turin.

Das Abendessen lässt Herr Turin fast immer aus, da er abends lieber in der Cafeteria sitzt. Das Mittagessen isst er nur, wenn es ihm von seiner Lieblingsschwester gebracht wird. Wenn Schwester Margit, die Leiterin der Station, ihm das Essen bringt, rührt er es nicht an. Herr Turin nimmt den Deckel von der Suppenschüssel, Kondenswasser tropft auf das Tablett. Herr Turin hasst nasse Tabletts. Er hasst nasse Tische. Er hasst Feuchtigkeit überhaupt, da ist er wie die Katzen.

SCHWESTER ALIKI: Wie schmeckt es Ihnen?

HERR TURIN: Essbar.

Aliki bleibt im Zimmer, während Herr Turin isst. Sie weiß, dass es nicht lange dauert. Essen braucht Zeit, wertvolle Zeit, in der er schon in der Cafeteria sitzen könnte.

SCHWESTER ALIKI: Haben Sie das Tablet schon ausprobiert?

HERR TURIN: Wenn Sie mir Ihre private E-Mail-Adresse geben, schreibe ich Ihnen.

SCHWESTER ALIKI: Herr Turin, bei so vielen Verehrerinnen ist für mich kein Platz.

HERR TURIN: Wer sind denn meine Verehrerinnen?

SCHWESTER ALIKI: Frau Dr. Payer zum Beispiel, die neue Psychologin. Sie hat schon dreimal nach Ihnen gefragt. Heute Nachmittag kommt sie wieder.

Aliki nimmt das Tablett von Herrn Turins Tischchen. Herr Turin mag sie wirklich, wie schade, dass sie so kleine Brüste hat. Aber in ihrem Fall gefällt ihm sogar das. Aliki weiß, dass er es eilig hat, in die Cafeteria zu kommen.

HERR TURIN: Schwester Aliki, fahren Sie mich in die Schweiz?

SCHWESTER ALIKI: Nicht schon wieder, Herr Turin! Sie brauchen nicht in die Schweiz zu fahren.

HERR TURIN: Ich muss in die Schweiz, dort ist die Freitodbegleitung erlaubt.

SCHWESTER ALIKI: Sie sterben auch so. Ganz bestimmt.

HERR TURIN: Vielleicht kann ich mit Uber in die Schweiz fahren. Wissen Sie, wie das mit diesem Uber funktioniert?

Herr Turin fährt jeden Tag zwischen 12:00 und 13:00 Uhr in die Cafeteria, die sich in der Eingangshalle des Heims befindet. Dort sitzt er, bis die Cafeteria schließt, und trinkt Wein. Aliki ist die Einzige, die ihn deswegen nicht rügt und ermahnt, alle anderen Schwestern weisen ihn ständig zurecht und erklären ihm, wie schädlich Alkohol ist. Aber was könnte ihm Besseres passieren, als am Veltliner zugrunde zu gehen?

2. Das Muttermal

Tisch 1, so nennen die beiden Zivildiener Marcus und Dejan den Tisch, an dem Herr Turin sitzt. Wenn Turin mit dem Rollstuhl aus dem Lift fährt, ist schon alles für ihn vorbereitet. Ein Stuhl wurde entfernt, damit er zufahren kann. Auf dem Stuhl rechts von ihm liegt die Tageszeitung. Wenn Marcus Herrn Turin kommen sieht, gießt er ein Glas Veltliner ein und stellt es auf Tisch 1. Das Weinglas muss immer auf der linken Seite stehen. Und Herr Turin trinkt kein Wasser zum Wein.

HERR TURIN: Wasser ist zum Waschen da.

Mit dem ersten Glas Veltliner spült Herr Turin die Geschmacksreste des Mittagessens weg. Beim zweiten Glas wird er von hinten an der Schulter gepackt.

SCHWESTER MARGIT: Nicht zu viel Wein trinken, Herr Turin!

Turin hasst diese Zurechtweisungen. Den meisten Schwestern hat er das schnell ausgetrieben, doch Schwester Margit hört nicht damit auf. Sie bildet sich nicht nur ein, für Herrn Turins Zustand verantwortlich zu sein, sie will auch seine Seele retten. Sie hat noch immer nicht verstanden, dass er gar keine Seele hat. Trotz der edlen Absichten empfindet Turin solche Einmischungen als Überschreitung. Er ist ein freier Mensch und zahlender Kunde in diesem Heim. Er zahlt so viel, dass Irene sich mit jedem weiteren Tag seines Lebens Sorgen um ihre finanzielle Situation machen muss. Laut ruft Herr Turin dem Zivildiener Marcus durch die Cafeteria zu, dass er ihm ein großes Bier bringen soll. Dann dreht er sich zu Oberschwester Margit.

HERR TURIN: Ich werde heute nicht zu viel Wein trinken, Schwester Margit. Heute werde ich ausnahmsweise einmal zu viel Bier trinken.

Schwester Margit geht ohne Gruß davon, und Herr Turin kann sich endlich wieder der Zeitung widmen. Hacker haben die Daten von 500 Millionen Yahoo-Nutzern erbeutet: Namen, E-Mail-Adressen, Geburtsdaten. Vielleicht ist die Adresse von Aliki dabei? Herr Turin wird das Tablet benutzen, das ihm Irene geschenkt hat. Er wird Hacker werden. Er wird Alikis E-Mail-Account hacken, um noch mehr über sie zu erfahren.

SCHWESTER ALIKI: Ein Patient hat mich, halb im Scherz, nach meiner privaten E-Mail-Adresse gefragt. Ist es richtig, dass ich mich abgrenze und ihn abweise?

So oder ähnlich wird Schwester Aliki die Hauspsychologin um Rat oder Bestätigung fragen, und genau in diesem Moment kommt die Psychologin durch die Eingangshalle direkt auf Herrn Turin zu.

DIE PSYCHOLOGIN: Herr Turin, darf ich mich zu Ihnen setzen?

Herr Turin hat vergessen, wie sie heißt, dabei hat ihm Aliki den Namen doch heute noch gesagt. Er muss sie ins Schwesternalphabet aufnehmen. Gerade will Turin der Psychologin den Platz an seiner linken Seite anbieten, da setzt sie sich schon auf den Stuhl rechts von ihm.

HERR TURIN: Könnten Sie sich bitte links von mir setzen?

Die Psychologin hebt kurz eine Augenbraue. Gut sieht das aus, es gefällt Herrn Turin, dass sie wütend ist, wütend gefällt sie ihm gleich viel besser. Herr Turin hat es lieber, wenn man an seiner linken Seite sitzt, denn auf der rechten Seite des Rollstuhls hängt der Harnbeutel, und er will nicht, dass man im Gespräch mit ihm ständig seinen Urin anstarrt. Die Psychologin gehorcht und setzt sich auf den Stuhl links von Turin.

DIE PSYCHOLOGIN: Payer, Katharina Payer, ich habe mich ja schon kurz bei Ihnen vorgestellt. Ich bin die Psychologin und für das Personal und die Patienten zuständig.

Katharina. Katharina. Katharina. Es gefällt Turin nicht, dass sie ihn mit einem sehr gespielten Lächeln begrüßt, aber alles andere gefällt ihm. Sie ist groß gewachsen und hat langes lockiges brünettes Haar. Und sie hat Brüste. Richtige, sichtbare, schöne Brüste.

KATHARINA PAYER: Wie geht es Ihnen, Herr Turin?

HERR TURIN: Sehen Sie, liebe Frau Doktor …

KATHARINA PAYER: Lassen Sie die Frau Doktor einfach weg.

HERR TURIN: Sind Sie denn nicht Akademikerin?

KATHARINA PAYER: Wenn Sie es ganz genau wissen wollen: Ich bin Bachelor.

Herrn Turin stört der Name Payer, noch mehr aber stört ihn ihr Akzent. Bestimmt kommt sie aus dem südöstlichen Niederösterreich, Herr Turin erkennt das an ihrer Aussprache. Wo er herkommt, hat man die Menschen dort als Pregner bezeichnet. Eine Pregnerin also! Und doch hat diese Ungegend eine so imposante Frau mit richtigen Brüsten hervorgebracht. Herr Turin sollte sie nach ihrer privaten E-Mail-Adresse fragen.

HERR TURIN: Haben Sie eine Yahoo-Adresse?

KATHARINA PAYER: Herr Turin, ich wollte gerne über Sie sprechen. Wie geht es Ihnen?

HERR TURIN: Frau Payer, ich habe eine Krankheit, die ich die Königin der Berge nenne.

Die Pregnerin verzieht keine Miene, sie fragt auch nicht, woher der Ausdruck Königin der Berge kommt. Das ist typisch für Psychotanten, sie täuschen Verständnis vor. Herr Turin bezahlt für das Heim Geld, viel Geld, und er bezahlt es, damit er tun kann, was er will. Er hat keine Lust, sich von Psychotanten analysieren zu lassen.

HERR TURIN: Liebe Frau Doktor, Ihre Wissenschaft ist an mir verschwendet. Sie beschäftigen sich mit der Seele, aber ich habe gar keine. Wenn es eine Seele gäbe, würde ich mir dort ein Piercing machen lassen.

KATHARINA PAYER: Eigentlich wollte ich Sie nicht therapeutisch betreuen, Herr Turin. Sie sind ja ein ganz gewöhnlicher Mensch, wie ich feststelle, und können daher auch ganz gewöhnlich behandelt werden.

Auf dem Hals der Pregnerin befindet sich ein großes Muttermal. Rundherum ist die helle weiße Haut ein wenig gerötet. Herr Turin könnte diesen Hals küssen, er könnte in dieses Muttermal beißen.

KATHARINA PAYER: Eigentlich wollte ich Sie etwas über das Heim fragen. Sie könnten in mein Büro kommen. Sagen wir, Montag um 15:00 Uhr?

Die Pregnerin steht auf und geht. Bis Montag sind es drei Tage. Drei lange Tage. Ich liebe Katharina. Katharina. Katharina. Katharina.

3. Das Schwesternalphabet

Herr Turin kommt erst nach dem Abendessen auf die Station zurück. Um 18:00 Uhr findet die Dienstübergabe statt, danach machen die Nachtschwestern die Pflegerunde. Turin nimmt das Tablet, das Irene ihm geschenkt hat, in die Hand, es ist vollständig aufgeladen. Herr Turin sucht ein Youtube-Video über Sterbehilfe, und schon ist er mitten in einer Doku, die einen deutschen ALS-Patienten in die Schweiz begleitet, wo er sich für die Freitodbegleitung beworben hat. Das Schlimmste an dieser Doku ist die Musik. Dieses andauernde Klaviergeklimper.

Als das Video zu Ende ist, sieht Turin in der Liste vorgeschlagener Videos auf der rechten Seite eine große Zahl ähnlicher Dokumentationen, und Turin schaut eine nach der anderen an. Dann öffnet Turin das Mailprogramm. Noch ist kein E-Mail-Account eingerichtet. Herr Turin öffnet den Browser. Er könnte tun, was er schon lange tun möchte: mit einer Organisation Kontakt aufnehmen, die Freitodbegleitung anbietet. Er hat gehört, dass es solche Organisationen in der Schweiz gibt. Schon oft hat Herr Turin mit Irene darüber gesprochen und sie gefragt, ob sie ihn in die Schweiz fahren würde, und jedes Mal endete es in Streit.

Sehr spät erscheint Schwester Jessy in Herrn Turins Zimmer und entschuldigt sich dafür. Jessy kommt aus Südindien, sie ist ruhig und arbeitet gewissenhaft. Zum Beispiel kontrolliert sie, ob die Box mit den Latexhandschuhen, die sich an der Wand neben dem Waschbecken befindet, befüllt ist. Da sie fast leer ist, holt Jessy aus dem Pflegearbeitsraum eine neue Box mit Handschuhen, öffnet sie und steckt sie in die Halterung. Herr Turin beobachtet jeden ihrer Handgriffe und bewundert die Leichtigkeit und Gelassenheit, mit der Jessy ihre Arbeit erledigt. Sie will alles richtig machen. Wahrscheinlich aus Angst vor Oberschwester Margit, die die Schwestern ständig kontrolliert und immer etwas auszusetzen hat. Eigentlich ist es verboten, dass eine Schwester allein pflegt. Früher war es die Ausnahme, doch aufgrund des Personalmangels ist es inzwischen zur Normalität geworden. Niemand beklagt sich mehr darüber. Jessy stellt sich vor den Rollstuhl, dreht die Füße quer und stemmt Turin hoch. Nach einer Drehung um neunzig Grad setzt sie ihn auf das Bett. Zwei Handgriffe und Turin liegt im Bett. Nun wird er in diesem Bett gefangen sein, bis ihn die Morgenschwester wieder in den Rollstuhl setzt. Eine Person wie Jessy würde Herr Turin brauchen: eine sanfte, ruhige Schwester, die ihn in die Schweiz fährt.

HERR TURIN: Schwester Jessy, bitte legen Sie mir das Tablet auf das Nachtkästchen.

Als Jessy fertig ist und geht, lässt sie die Tür einen Spaltbreit offen. So muss es sein. Turin liebt die Nacht auf der Station. Er hört das gleichmäßige Summen der Klimaanlage. Nur der Fernsehapparat im Sozialraum, wo die alte Ditscheiner sitzt und schläft und ihre Träume mit dem Fernsehprogramm verwechselt, ist in der Ferne zu hören. In dieser Geräuschkulisse singt Turin gerne ein Lied. Ein Lied, das er immer mit dem Vater gesungen hat. Ein Lied, das der Vater sich für den Sohn ausgedacht hatte, als Herr Turin ein Kind war, und in dem die Familienmitglieder, Verwandten und Bekannten der Reihe nach besungen wurden.

Nach Hause, nach Hause,

nach Hause fahren wir.

Und wenn Robert nicht mehr kann,

dann kommt sofort Heinrich dran.

Nach Hause, nach Hause,

nach Hause fahren wir.

Es folgte die Mutter:

Nach Hause, nach Hause,

nach Hause fahren wir.

Und wenn Heinrich nicht mehr kann,

dann kommt sofort Anita dran.

Nach Hause, nach Hause,

nach Hause fahren wir.

Seit er im Pflegeheim ist, singt Turin dieses Lied, um die Schwestern alphabetisch durchzugehen. Heute sind gleich zwei neue Namen hinzugekommen.

Nach Hause, nach Hause,

nach Hause fahren wir.

Und wenn Jessy nicht mehr kann,

dann kommt sofort Katharina dran.

Nach Hause, nach Hause,

nach Hause fahren wir.

Wie schnell ihn die Pregnerin um den Finger gewickelt hat, ist schon erstaunlich. Was will sie denn von ihm wissen? Dass die Pflegerinnen meist alleine pflegen? Dass Schwester Margit hin und wieder Dienst macht, ohne es in den Dienstplan einzutragen, damit die Station überhaupt ausreichend besetzt ist? Dass sie ihm manchmal von ihren missratenen Söhnen erzählt, die sich mit fast dreißig noch von ihr aushalten lassen, weil sie es nicht übers Herz bringt, sie aus dem Haus zu werfen? Dass Aliki sich das ganze Jahr darauf freut, nach Griechenland zu fahren? Dass es für sie von Jahr zu Jahr schwieriger wird, am Stück fünf Wochen Urlaub zu bekommen? Dass Pfleger Bernhard sich immer wieder Schmerzmittel und Psychopax-Tropfen aus dem Medikamententresor nimmt? Dass die Physiotherapeutin Mila fast täglich mit Pater Reisinger, dem Seelsorger, essen geht?

Nach Hause, nach Hause,

nach Hause fahren wir.

Und wenn Mila nicht mehr kann,

dann kommt sofort Nata dran.

Nach Hause, nach Hause,

nach Hause fahren wir.

Herr Turin weiß alles über die Schwestern, nur über Nata weiß er nichts. Noch nichts. Sie hatte heute Tagdienst, also wird sie vermutlich auch morgen Tagdienst haben. Tag – Tag – Nacht – frei – frei – frei, so geht das Dienstrad. Herr Turin mag es, wenn Aliki es wie ein Mantra aufsagt.

Ich musste den Befund einer Lumbalpunktion abholen, der die Gewissheit brachte, dass ich an Multipler Sklerose leide, und saß im Wartezimmer der Privatordination eines Neurologen. Neben mir wartete eine Mutter mit einem Mädchen, das sieben oder acht Jahre gewesen sein muss. Irgendwann wurde ich aufgerufen, das Gespräch war unvermeidlich. Als ich wieder ins Wartezimmer zurückkam, um meine Jacke von der Garderobe zu nehmen, wurde die Mutter mit dem Kind aufgerufen. Während die beiden an mir vorbeigingen, blickte mir das Mädchen tief in die Augen.

DAS MÄDCHEN: Ich weiß nicht, wer du bist, aber ich, ich bin die Königin der Berge.

Bis heute weiß ich nicht, ob die Mutter oder die Tochter die Patientin war. In meiner Vorstellung war es die Mutter. Können Kinder in dem Alter überhaupt an MS erkranken? Herr Turin weiß es nicht. Er weiß vieles nicht. Jetzt könnte Turin einschlafen. Könnte. Stattdessen überprüft er, ob er genug Geld in seinem Portemonnaie hat. Nur mehr einen Zehner. Immer muss er Irene mit seiner Karte zum Bankomat schicken, damit sie ihm Bargeld bringt. Er würde das Geld gerne selbst holen, aber die Bank ist zu weit weg. Und er hat niemand anderen, der ihm Geld bringen kann. Er hat auch niemand anderen, der ihm Whiskey bringt, wenn die Flasche in seinem Nachtkästchen leer ist. Herr Turin liebt irischen Whiskey wie Redbreast oder Jameson. Hat Jessy die Tür offen gelassen? Wenn die Tür geschlossen ist, kann Turin nicht schlafen.

DR. STEINHÄUSER: Taphophobie. Die Angst, lebendig begraben zu werden.

4. Michael und Kitty

Herr Turin wacht um 03:06 Uhr auf. Die schwarze Stunde kommt immer zwischen 02:00 und 04:00 Uhr. Turin ist schweißüberströmt, er befürchtet einen neuen Krankheitsschub, bemerkt sogar schon erste Anzeichen. Seine Oberschenkel sind seit Wochen fast völlig gefühllos. Gestern ist ihm in der Cafeteria das Mobiltelefon aus der Hand gefallen, es landete in seinem Schoß, aber er hat es einfach nicht gespürt. Er spürt nichts mehr. Doch dann beginnen die Schmerzen wieder. Ein Ziehen, Herr Turin kann es nicht anders beschreiben, ein ständiger Drang, die Beine zu bewegen, damit sie leichter werden, ein Gefühl, dass die Beine, dass der gesamte Körper verzogen ist. In diesem Moment spürt Herr Turin, wie etwas auf dem Bett landet und sich zwischen seine Oberschenkel legt, so wie es früher sein Kater Dukakis getan hat. Dukakis kam 1988 zur Welt.

Ich erinnere mich, es war im Herbst 1988 während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs, als der Vater vom Vorzimmer aus in den Garten blickte und mich zu sich rief. Eine Tigerkatze lief, ein winziges Kätzchen im Maul tragend, auf der Mauer entlang, die unser Grundstück von dem der Nachbarn trennte. Wenig später kam die Katze ohne das Kätzchen im Maul denselben Weg zurück und verschwand in unserem Keller. Sie kam mit einem zweiten Kätzchen wieder und trug es hinüber zum Nachbargrundstück. Und dann noch ein drittes Kätzchen. Zwei oder drei Tage später ging ich mit dem Vater zur Nachbarin, um die neugeborenen Kätzchen anzuschauen. Einem getigerten und einem rotbraunen Kätzchen hatte man bereits Namen gegeben. Man forderte uns auf, das dritte Kätzchen zu taufen. Der Vater stellte fest, dass es ein Männchen war, und nannte es Dukakis. Dukakis hatte schwarzes Fell mit einem winzigen weißen Fleck auf der Brust. Zwei Monate später brachte die Nachbarstochter Dukakis in einem Karton.

ANITA TURIN: Wer wird sich um die Katze kümmern? Nächstes Jahr ziehst du nach Wien.

HERR TURIN: Es ist keine Katze. Es ist ein Kater.

Herr Turin kann nicht schlafen. Der Samstag hat schon begonnen, Turin hasst das Wochenende im Heim. Die vielen Besucher, die stinkenden Blumensträuße, die Fahrtendienste, die Gottesdienste in der Hauskapelle, die überfüllte Cafeteria, das reduzierte Personal – all das gefällt ihm nicht.

DUKAKIS: Weißt du, wo meine Ausgaben von The Quayle Quarterly sind?

Die Morgenrunde kommt einfach nicht. Vielleicht ist es noch viel zu früh? Herr Turin ist wieder eingenickt. Eine Schwester weckt ihn, es ist die neue. Herr Turin hat ihren Namen nicht vergessen.

HERR TURIN: Guten Morgen, Schwester Nata.

Schwester Nata macht sich schweigend an die Arbeit. Es ist ihr zweiter Tagdienst, genau, wie Turin sich das gedacht hat. Herr Turin möchte sein Verhalten von gestern wiedergutmachen, aber er weiß einfach nicht, was er zu Nata sagen soll.

HERR TURIN: Ich sollte mich entschuldigen.

DUKAKIS: Wofür?

HERR TURIN: Ich brauche eine Vertraute auf der Station. Damit sie mir von der Bank Geld holt und Whiskey bringt.

DUKAKIS: Sie soll einen Lottoschein mitbringen.

Endlich hilft Schwester Nata Herrn Turin aus dem Bett auf und setzt ihn in den Rollstuhl. Turin verträgt das lange Liegen in letzter Zeit schlechter als das Sitzen. Die erste halbe Stunde im Rollstuhl ist eine Wohltat. Plötzlich ist der Schmerz in den Beinen weg, und wenn seine Atemwege nicht zu stark verschleimt sind, kann Turin ein paar Mal tief durchatmen.

HERR TURIN: Sind Sie neu im Haus, Schwester Nata?

SCHWESTER NATA: Ich arbeite auf Station 6, hier bin ich nur Vertretung. Ich würde lieber hier arbeiten, aber Schwester Margit sagt, das geht nicht.

Herr Turin hat Mitleid mit Nata, Station 6 ist das Schlimmste. Es ist eine geriatrische Station, die Endstation. Bestimmt hat Schwester Margit etwas gegen Nata, Turin ist ganz sicher. Sie akzeptiert Schwestern, die muslimisch oder orthodox sind, nicht. Die meisten von ihnen bleiben nicht lange auf der Station, oder Schwester Margit lehnt sie von vornherein ab. Herr Turin möchte sich bei Schwester Nata für gestern entschuldigen, aber er findet nicht die richtigen Worte.

SCHWESTER NATA: Gut, ich bringe Ihnen eine Flasche Mineralwasser. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?

HERR TURIN: Das Wasser, Schwester Nata, das Wasser … das ist eine gute Idee. Schwester Nata, könnten Sie für mich Geld abheben? Ich brauche zweihundert Euro – drei Fünfziger und fünf Zehner.

SCHWESTER NATA: Ich kann erst am Abend nach der Dienstübergabe gehen. Am Wochenende darf ich das Haus während des Dienstes nicht verlassen, wir sind nur zu zweit.

Herr Turin gibt Nata seine Bankomatkarte und teilt ihr den vierstelligen Code mit. Sie wiederholt den Code. Schwester Nata geht. Mit seiner Bankomatkarte wird sie schon nicht flüchten, und wenn, dann kommt sie nicht weit. Turin ist müde, kurz nickt er ein. Aber er darf nicht müde sein, heute kommt Irene.

Die ersten Tage hielt Dukakis sich unter der Kommode im Vorzimmer versteckt. Hin und wieder legte ich mich auf den Boden vor die Kommode und las dem Kater aus der Zeitung vor. Als ich mit meinem Vater am Morgen des 9. November die Berichterstattung über die Präsidentenwahl im Fernsehen verfolgte, lief Dukakis schon manchmal mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu uns im Haus auf und ab. Der geschlagene Präsidentschaftskandidat Michael Dukakis trat irgendwann frühmorgens mit seiner Frau Kitty vor die Journalisten.

HEINRICH TURIN: Michael und Kitty. Wir werden uns noch eine Katze zulegen, die nennen wir dann Kitty!

5. Das japanische Mädchen

Irene ist heute so schön wie nie zuvor. Wer sie sieht, ihren perfekten Körper, ihre glatte Haut, der kann nicht glauben, dass sie dreiundvierzig ist. Schon als Jugendliche war ihre Erscheinung so elegant, dass man sie dasjapanische Mädchen nannte. Herr Turin beneidet den Mann, mit dem Irene Sex hat. Oder die Männer. Öfter schon wollte er mit Irene darüber sprechen, aber sie blockt jedes Mal ab oder behauptet, dass es keinen Mann in ihrem Leben gibt. Herr Turin weiß, dass sie lügt. Seit er hier im Heim ist, erkennt er jede Lüge sofort. Er kann sogar Gedanken lesen. Er weiß, was die Besucher, die am Wochenende mit ihren alten Müttern, die nicht und nicht sterben wollen, in der Cafeteria sitzen und Irene anstarren, denken.

EIN BESUCHER: Sieh doch, da sitzt das schöne japanische Mädchen. Den ganzen Tag muss sie neben ihrem alten Vater im Heim sitzen.

Auch Pater Reisinger wirft Irene immer bedeutungsvolle Blicke zu. Sogar Marcus, der Zivildiener, hat ein Auge auf Irene geworfen. Wenn Turin alleine in der Cafeteria sitzt, kommt Marcus immer, wenn Turins Glas leer ist, mit einem neuen Glas und serviert das alte ab. Wenn Irene zu Besuch ist, kommt er zwei Mal, einmal zum Abservieren und ein zweites Mal zum Servieren. Er stellt sich dabei neben Irene, sodass er von oben auf ihre Brüste blicken kann.

HERR TURIN: Bitte vergiss nicht den Notartermin nächste Woche.

IRENE TURIN: Hier steht: Der texanische US-Senator Ted Cruz unterstützt Donald Trump.

Kommenden Donnerstag haben Herr Turin und Irene einen Termin beim Notar. Irene blickt nicht von der Zeitung auf. Sie weiß, dass Turin ihr die Wohnung und seinen gesamten Besitz überschreiben und ein Testament machen möchte.

HERR TURIN: Geh jetzt, sonst sperren die Geschäfte zu.

IRENE TURIN: Willst du mich loswerden? Die Geschäfte haben am Samstag bis 18:00 Uhr geöffnet.

Wieder wird lange geschwiegen. Turin muss sich etwas einfallen lassen. Der alte Kelemen, der auch auf der MS-Station liegt, sitzt zwei Tische weiter und wartet auf seine Nichte, die sich wie jeden Samstag verspätet. Wenn Turin und Irene zu lange schweigen, kommt Kelemen mit dem Rollstuhl zu ihnen gefahren. Vor zwei oder drei Wochen erzählte er Irene eine Stunde lang, dass die Firma seines Vaters in den Sechzigerjahren Textilien für die britische Designerin Mary Quant hergestellt habe.

HERR KELEMEN: Mary Quant war die Erfinderin des Minirocks. Aber ich störe nicht länger, meine Nichte muss gleich da sein.

Doch Kelemen erzählte weiter, war bald bei der Hochkonjunktur der späten Sechzigerjahre, bei der Ölkrise, den autofreien Tagen und seinem ersten Auto, einem weißen Ford Cortina, angelangt und kam dann darauf zu sprechen, wie schön die alten Nummerntafeln gewesen seien.

HERR KELEMEN: Können Sie sich daran noch erinnern, Gnädigste?

IRENE TURIN: Selbstverständlich. Ich bin Jahrgang 1973.

HERR KELEMEN: Was Sie nicht sagen! Sie sehen fünfzehn Jahre jünger aus. Sie könnten einen Minirock tragen, mit Ihrer Figur!

Damit die Attacke Kelemens heute unterbleibt, muss Turin jetzt etwas sagen. Irene blickt von der Zeitung auf. Wenn sie blass ist und aussieht, als wäre sie eben erst aufgestanden, ist sie am schönsten.

IRENE TURIN: Hast du das Tablet schon ausprobiert?

Herr Turin antwortet nicht. Er möchte das Thema wechseln, denn er will nicht darüber ausgefragt werden, was er im Internet sucht, und Irene lehnt es ab, über Freitodbegleitung ernsthaft zu diskutieren. Herr Turin will, dass Irene nach Hause geht, und benutzt die Katze als Ausrede.

HERR TURIN: Geh jetzt, Melissa wird schon hungrig sein. Und vergiss nicht auf den Notartermin am Donnerstag.

IRENE TURIN: Wenn du es noch einmal sagst, vergesse ich es wirklich. Morgen kommt vielleicht die Beba mit.

Seit einem halben Jahr war Irenes Schwester Christiane, die in der Familie die Beba genannt wird, Turin nicht besuchen. Das macht ihm nichts aus, denn wenn sie mitkommt, ist ein Gespräch mit Irene nicht möglich. Irene hat Mitleid mit ihrer Schwester, weil sie gerade zum zweiten Mal geschieden wurde. Die Beba ist Anästhesistin im Allgemeinen Krankenhaus.

DUKAKIS: Die Beba ist eine unpraktische Ärztin.

Eigentlich mag Herr Turin seine Schwägerin, in früheren Jahren gefiel sie ihm sogar außerordentlich. Über die kurze Affäre zwischen den beiden wird in der Familie geschwiegen.

DIE BEBA: Du warst nicht gerade ein Engel, lieber Robert.

ANITA TURIN: Ich habe nie verstanden, warum Irene und Robert geheiratet haben. Kinder haben sie keine. Und jeder hat doch gesehen, dass sie nicht zueinanderpassen.

GREGOR MENTULA: Es waren andere Zeiten, wir hatten eben viel Spaß mit den Mädels. Also, bei uns war immer klar: Hände weg von den Frauen der Freunde! Das war Ehrensache. Aber Irene, die war schon wirklich scharf.

Als man auf einer der Motorradfahrten, die sie alle gemeinsam mit Roberts Arbeitskollegen Gregor Mentula und anderen unternahmen, an einem kleinen See stehen blieb, dessen Ufer menschenleer war, schlüpfte Irene als Erste aus ihren Kleidern, ging nackt an allen anderen vorbei und sprang ins Wasser. Bis heute kann Turin das Gesicht nicht vergessen, das Mentula bei diesem Anblick gemacht hat. Irene war damals knapp über zwanzig und so schlank und perfekt, man hätte sie mit Daumen und Zeigefinger am Schlüsselbein nehmen und hochheben können. Bei diesem Gedanken treten Herrn Turin Tränen in die Augen. Er hasst sich dafür. Glücklicherweise ist er jetzt alleine.

Vor wenigen Wochen wollte Irene ihn überreden, auf ein Smartphone umzusteigen. Sie hat ihm auf ihrem Mobiltelefon Fotos gezeigt, alte Fotos aus den Familienalben, die sie eingescannt hatte. Darunter ein Foto von Robert im Alter von zwei Jahren unter dem Weihnachtsbaum. Irene blätterte nicht weiter, sondern betrachtete das Bild lange.

IRENE TURIN: Du hast dich kaum verändert.

Nein, Herr Turin braucht sie nicht, die Erinnerung und die Vergangenheit. Herr Turin ist durstig, vier Gläser Veltliner haben nicht ausgereicht. Nachdem Irene gegangen ist, winkt er Marcus, der heute einen harten Tag hat; am Wochenende ist in der Cafeteria immer mehr Betrieb als unter der Woche.

HERR TURIN: Ach, Herr Marcus, eine kommt noch dazu für den Abend.

Marcus nickt. Herr Turin und er haben eine geheime Abmachung. Wenn Herr Turin abends nach dem Schließen der Cafeteria weiter Wein trinken will, hinterlässt Marcus in einer schwer zugänglichen Nische in der Eingangshalle für ihn eine Flasche Veltliner samt Glas.

6. Simbabwe

Nach 19:00 Uhr herrscht in der Eingangshalle des Pflegeheims Ruhe. Herr Turin kann die Flasche Wein und das Glas aus dem Versteck holen und sich an einen Tisch setzen.

DUKAKIS: Ich habe dir gesagt, sie wird kommen. Deine Nervosität war unbegründet.

Als Nata das Geld um 18:05 Uhr noch immer nicht gebracht hatte, war Turin außer sich. Vor lauter Nervosität hat er sogar das Abendessen zu sich genommen. Nata kam um 18:09 Uhr und brachte das Geld und die Karte. Turin gab ihr zwanzig Euro dafür, die sie zuerst zurückwies, dann aber doch annahm. Dabei hat Turin erfahren, dass sie mit vollem Namen Natalija heißt und aus Serbien kommt. Dann fuhr Herr Turin in die Cafeteria und bezahlte Marcus, der zwar die Cafeteria schon geschlossen hatte, aber noch mit der Abrechnung beschäftigt war. Nun sitzt Turin schon beim ersten Glas Veltliner, während Marcus die Kasse beim Portier abgibt und, nachdem er Turin noch einmal gewunken hat, durch die große Glastür in der Eingangshalle verschwindet. Es gehen so wenige Menschen durch die Eingangshalle, dass es Turin nicht peinlich ist, das Vergrößerungsglas auszupacken, um zu lesen. In einer medizinischen Fachzeitschrift hat er einen Artikel mit dem Titel Ein möglicher Durchbruch im Kampf gegen Multiple Sklerose gefunden. Der Titel gefällt Turin nicht. Kampf? Was für ein Kampf? Turin kämpft nicht. Die neue Hoffnung der Experten heißt Zyklotid. Bei genauer Betrachtung geht es – wie immer bei neuen Medikamenten – nur darum, die Frequenz von Schüben zu verlangsamen. Und dann steht dort: Erste Studien könnten bereits Ende 2019 starten. Sehr gut! Dann kann man Turin bestimmt im Jahr 2019 exhumieren, um ihn zu heilen. Auf der nächsten Seite ist eine Statistik über die MS-Kranken in verschiedenen Ländern der Welt abgedruckt. An der Spitze liegt Norwegen: Auf eine Million Einwohner entfallen dort 1.900 MS-Kranke. Deutschland, Österreich und die Schweiz liegen mit 1.250 Fällen im Mittelfeld. An letzter Stelle liegt Simbabwe: nur drei MS-Kranke pro eine Million Einwohner.

DUKAKIS: Laut Wikipedia hat Simbabwe dreizehn Millionen Einwohner.

Das heißt, dass es in Simbabwe insgesamt neununddreißig MS-Patienten gibt. Bestimmt kennen einander alle persönlich. Und dann liest Turin noch, dass der Name Simbabwe übersetzt Steinhäuser bedeutet. Der Name seines Internisten, so ein Zufall! Herr Turin trinkt die nächsten zwei Gläser auf den Zufall. Und dann noch ein Glas auf die Pregnerin. Herr Turin ist in die Pregnerin verliebt, aber er wird am Montag nicht zu ihr gehen. Er wird sich hier nicht tagein, tagaus von Weibern herumkommandieren lassen. Weiber. Weiber. Weiber. Wohin man schaut! Und mit keinem Einzigen kann er wirklich reden.

Wenn Herr Turin jemandem erklären will, dass er eine Person braucht, die ihn in die Schweiz fährt, damit er sein Leben beenden kann, dann werden alle stumm. Die Schwestern sind plötzlich mit anderen Tätigkeiten beschäftigt, Irene wischt auf ihrem Mobiltelefon. Und wenn es doch zu einem Gespräch darüber kommt, einmal im Monat höchstens, dann erklärt man ihm, dass er noch nicht sterben muss, dass er geistig fit ist, dass es zu früh ist für den Tod. Die Menschen verstehen nicht, dass er bei völliger geistiger Gesundheit sein muss, um die Freitodbegleitung in Anspruch zu nehmen. Wenn er nicht mehr sprechen und nicht mehr denken kann, ist es zu spät. Turin hat doch auch in den Youtube-Videos gesehen, dass die Menschen, die in die Schweiz fahren, wie normale Menschen aussehen. Das ist eben so. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Jetzt und nicht später.

DR. STEINHÄUSER: Leider müssen wir nach dem Bild, das sich uns bietet, vom sekundär progredienten Verlaufstyp Ihrer Erkrankung ausgehen.

DUKAKIS: Immer dieser Dr. Steinhäuser. Was ist mit Mila? Du musst sie etwas fragen!

HERR TURIN: Mila, können wir einmal unser Therapieziel vergessen und etwas anderes machen?

MILA: Was würden Sie denn gerne machen, Herr Turin?

HERR TURIN: Ich würde gerne Ihre Brüste anfassen, Mila. Machen Sie Ihren Oberkörper frei.

DUKAKIS: Sie macht es! Sie macht es! Ich schwöre dir, sie macht es!

Herr Turin muss lachen. Die ersten Tränen rinnen über seine Wangen, aber bald kann er nicht mehr unterscheiden, ob die Tränen gelacht oder geweint wurden. Herr Turin spürt es, langsam und warm. Er senkt den Kopf und blickt nach unten. Wenn er seinen Penis betrachtet, wird ihm klar, dass dieser Penis zu nichts mehr gut ist. Er kann noch pissen, aber selbst das Pissen ist kein Pissen mehr, sondern nur mehr das elende Tropfen in einen Plastiksack. Keine Frau wird dieser Penis mehr sehen. Nein, nicht mehr in diesem Leben. Und ein anderes Leben gibt es nicht. Dieses Leben. Die erste Hälfte war gar nicht so schlecht.

Herr Turin bringt die leere Weinflasche und das Glas ins Versteck zurück. Er muss leise sein, denn manchmal machen die Nachtwächter ihren Rundgang. Die Nachtwächter sind von einer Fremdfirma und verstehen keinen Spaß. Meistens aber sitzen sie ohnehin im Hinterzimmer der Portiersloge und schauen Fußball. Viele von ihnen trinken nachts Bier, obwohl Alkohol im Dienst streng verboten ist.

DUKAKIS: Darf ich dir einen Witz erzählen?

HERR TURIN: Bitte!

DUKAKIS: Austria Wien spielt gegen einen Schachcomputer. Nach fünfundvierzig Minuten führt der Computer mit 1:0. Der Trainer der Austria stürmt in der Pause aufgeregt in die Kabine und beginnt zu brüllen: Reißt euch zusammen, Burschen! Vielleicht können wir diesen Spielstand bis zum Schluss halten!

7. Der suprapubische Blues

Im Juni 1989 zog ich nach Wien, wo ich im Herbst mit dem Jusstudium beginnen wollte. Juli und August arbeitete ich im Postzentrum Wien-Süd, um Geld zu verdienen. Ich hatte immer zwei Tagdienste von 06:00 bis 18:00 Uhr, dann einen Nachtdienst von 18:00 bis 06:00 Uhr und dann drei Tage frei. Genauso wie die Schwestern hier. Am Morgen des 21. August rief meine Mutter mich um die Mittagszeit an. Sie weckte mich, ich war nach dem Nachtdienst kurz vor 07:00 Uhr zu Bett gegangen. Die Mutter sagte, mein Vater sei am Morgen in den Keller gegangen. Da er bis Mittag nicht mehr zurückgekommen sei, sei sie in den Keller hinunter, um nach ihm zu sehen, und habe ihn dort, am Boden liegend, tot aufgefunden. Ich fuhr noch am selben Tag aufs Land. Alles musste organisiert werden, Parte, Sarg, Begräbnis, ein Termin beim Notar, alles ging schnell. Mein Vater war vierundsechzig Jahre alt, als er starb. Meine Mutter sagte, sie könne sich nicht mehr um die Katze kümmern und müsse sie weggeben, und so nahm ich Dukakis mit nach Wien in meine kleine Wohnung. Während der Fahrt wimmerte er die ganze Zeit. Dann versteckte er sich zwei Wochen lang unter einer Kommode.

Schwester Margit kommt ins Zimmer. Kein Gruß. Als Erstes öffnet sie die Fenster.

SCHWESTER MARGIT: Ich muss lüften, Herr Turin. Es stinkt erbärmlich hier.

HERR TURIN: Wo ist Jessy?

SCHWESTER MARGIT: Schwester Jessy hat sich krankgemeldet.

Natürlich, Oberschwester Margit, die Unersetzbare, macht Vertretung. Wenn Schwester Margit selbst krank ist, nimmt sie einen Urlaubstag. Ihre Statistik ist makellos. In den über zwölf Jahren, die sie im Haus ist, war sie keinen einzigen Tag im Krankenstand. Schwester Margit macht alles richtig, die anderen Schwestern machen alles falsch. Sie stellt fest, dass der Harnkatheter gewechselt werden muss.

SCHWESTER MARGIT: Ich habe gerade Ihre CRP-Werte im Blutbild gesehen, Herr Turin. Wahrscheinlich haben Sie wieder einen Harnwegsinfekt. Wenn es so weitergeht, müssen wir einen suprapubischen Katheter setzen lassen.

Damit will sie Herrn Turin quälen. Sie weiß, dass er dagegen ist. Der suprapubische Katheter wird in die Bauchdecke gelegt, das wäre das Aus für die allerletzte Funktion von Turins Penis. Er ist diesen Angriff von Schwester Margit gewohnt. Glücklicherweise kommt es nicht oft vor, dass Schwester Margit selbst pflegt. Turin hofft immer noch, dass sie im Haus Karriere macht, dass sie von der Station wegbefördert wird. Herr Turin will an diesem Tag im Bett bleiben, er will nicht in den Rollstuhl. Er hat das Gefühl, dass er das Sitzen nicht lange aushalten wird. Über den Gang hört man die alte Ditscheiner beständig rufen.

SCHWESTER MARGIT: Wann hat man bei Ihnen zuletzt Blutdruck gemessen? Ein Wahnsinn, die Mädchen! Sie denken an nichts.

FRAU DITSCHEINER: Schweeester! Schweeeeeeester!

SCHWESTER MARGIT: Und zu Frau Ditscheiner geht auch wieder niemand.

HERR TURIN: Sie wissen genau, dass die Mädchen hier unter enormem Zeitdruck stehen. Sie müssen immer alleine pflegen, obwohl das gesetzeswidrig ist.

SCHWESTER MARGIT: Na und? Ich pflege hier auch alleine. Und ich denke dabei noch an Ihren Blutdruck. Die Mädchen tun nichts.

HERR TURIN: Da ist Ihnen die Erziehung zu Hause wohl besser gelungen.

SCHWESTER MARGIT: Jetzt reicht es mir aber mit Ihnen!

Schwester Margit geht und wirft die Tür hinter sich zu. Herr Turin liegt ungewaschen im Bett. Dann schläft er ein.

Kurz nach 11:00 Uhr hört er Schritte auf dem Korridor. Er erkennt die Schritte, den Klang der Absätze. Irene. Bestimmt haben sie die Besucher, die mit ihr im Lift gefahren sind, angestarrt, vor allem ihre Brüste. Und sie haben versucht, ihren Geruch einzuatmen. Langsam kommt Irene den Gang entlang. Sie öffnet die Tür.

IRENE TURIN: Warum ist die Tür zu?

HERR TURIN: Schwester Margit hat sie aus Zorn zugeworfen.

Irene kommt auf Turin zu und küsst ihn auf beide Wangen. Dann nimmt sie etwas aus ihrer Handtasche.

IRENE TURIN: Die neue Trainingshose, bitte wirf die alte weg. Hast du getrunken?

HERR TURIN: Irene, ich habe gestern nichts getrunken. Null.

IRENE TURIN: Immer wenn dein Satz mit meinem Namen beginnt, lügst du. Immer.

Irene legt die Trainingshose zur Seite und setzt sich an den Bettrand. Sie streichelt Turins Wange. Dann steht sie auf, zieht die Jacke aus und hängt sie auf den Haken an der Tür. Der schwarze Rollkragenpullover sitzt perfekt. Irene trägt das Haar heute streng zusammengebunden und hochgesteckt.

IRENE TURIN: Den Notartermin am Donnerstag müssen wir wohl absagen.

HERR TURIN: Nein, kommt nicht infrage!

Wieder setzt sich Irene an den Bettrand. Sie sitzt sehr gerade da, ihr Rücken ist durchgestreckt. Bewundernswert, wie lange Irene regungslos in dieser vornehmen Haltung ausharren kann. Es gibt keine schönere Frau als Irene. Wer das nicht sieht, der leidet an Visusminderung.

IRENE TURIN: Du Armer! Was kann ich für dich tun?

HERR TURIN: Lass mich deine Brüste festhalten, nur kurz!

Irene lacht. Sie steckt die Hände unter den Rollkragenpullover und hebt ihn vorsichtig, um ihre Frisur nicht zu zerstören. Dann öffnet sie ihren BH. Es ist ein Sport-BH, der vorne geöffnet wird. Herr Turin riecht schon lange nichts mehr, seine Nase ist ständig verschleimt, aber seine Fingerkuppen spüren immer noch alles. Diesen Moment darf Turin niemals vergessen. Es ist wahrscheinlich der schönste Moment vor seinem Tod. Er atmet tief ein und versucht Irenes Geruch in seine verschleimte Nase zu bringen.

DUKAKIS: Sie macht es aus Mitleid. Glaub nicht, dass es ihr gefällt!

HERR TURIN: Das ist mir egal.

Plötzlich ist Pfleger Bernhard an der Tür. Als er Irene mit nacktem Oberkörper auf dem Bett sitzen sieht, entschuldigt er sich eilig und geht. Er geht und zieht die Tür hinter sich zu. Irene lacht.

DUKAKIS: Wenn du verliebt bist, bist du unerträglich.

HERR TURIN: Du verstehst vielleicht etwas von Fußball, Dukakis. Von Fußball, Politik und den Rolling Stones. Du hörst und siehst und riechst besser als ich, aber davon – davon verstehst du nichts.

DUKAKIS: Zum Glück! Sonst würde ich am Ende so reden wie du.

HERR TURIN: Du mochtest Irene nie. Als wir die große Wohnung gekauft haben und zusammengezogen sind, hast du vier Jahre lang nicht gesprochen.

8. Der Wein korkt

Keinen Tropfen Alkohol hat Herr Turin am Vortag getrunken. Keinen Whiskey, keinen Veltliner. Seit seinem letzten großen Krankheitsschub vor zwei Jahren hat er gestern zum ersten Mal nichts getrunken. Dennoch ist er heute schon zu Mittag erschöpft. Der Gedanke, weitere acht Stunden im Rollstuhl sitzen zu müssen, macht ihm bereits jetzt zu schaffen. Das Nichttrinken hilft also nicht, er wird sofort wieder damit aufhören.

DIE KLEINE BARBARA: Haben Sie gut geschlafen, Herr Turin?

HERR TURIN: Nein, ich habe schlecht wach gelegen. Danke. Es geht so.

DIE KLEINE BARBARA: Ich öffne einmal das Fenster, Sie brauchen Frischluft.

Mit Schwester Barbara hat Herr Turin so seine Probleme. Er muss sich ständig von ihr zurechtweisen lassen, wenn er sie aber bittet, den Harnbeutel zu leeren oder andere Kleinigkeiten zu erledigen, dann belehrt sie ihn, dass sie die Pflegerin ist, nicht er. Auf der Station wird Schwester Barbara diekleine Barbara genannt, denn auch die Leiterin der Pflege des gesamten Hauses heißt Schwester Barbara – das ist die große Barbara.

Wenn sie Turins Zimmer betritt, reißt die kleine Barbara immer zuerst das Fenster auf. Eine typische Krankenschwester! Irgendwann wird sie die Zugluft dorthin zurückwehen, wo sie hergekommen ist: in die Hügellandschaften der Slowakei. Das Zweite, was an der kleinen Barbara unerträglich ist: ihre Aussprache des L. Ihre Zunge klebt so lange am Gaumen, dass man Gänsehaut bekommt, wenn sie von einem lauen Lüftchen spricht.

HERR TURIN: Am Donnerstag Vormittag brauche ich den Fahrtendienst.

DIE KLEINE BARBARA: Jetzt machen wir einmal die Pflegerunde.

Hat Herr Turin es verdient, so behandelt zu werden? Er hat schließlich einen wichtigen Termin außer Haus, auf den er sich lange vorbereitet hat. Den Vormittag verbringt er damit, die Dokumente für Donnerstag in einer grünen Mappe zu sammeln. Immer wieder schläft er dabei ein. Als die kleine Barbara danach noch immer nicht gekommen ist, um die Bestellung des Fahrtendienstes zu bestätigen, reicht es Turin, und er fährt auf den Gang und zum Stationsstützpunkt. Bevor er dort ankommt, hört er, dass ein Gespräch im Gang ist. Turin sieht fast nichts mehr, sein Geruchssinn ist tot, aber er hört noch gut, sehr gut sogar. Er hört, dass die kleine Barbara und Katharina Payer miteinander sprechen, und zwar über ihn. Turin hat das Glück, dass er mit dem Rollstuhl vor der Korkwand steht, auf der unter anderem der Dienstplan angeschlagen ist. Die kleine Barbara und Katharina Payer stehen hinter der Pinnwand und können Turin nicht sehen. In ihrem Gespräch geht es um die schlechten Zucker- und Leberwerte im Blutbefund von Herrn Turin. Schwester Barbara beschwert sich wortreich über den täglichen Alkoholkonsum des Patienten und seine Uneinsichtigkeit, dann aber wird sie von der Pregnerin unterbrochen.

KATHARINA PAYER: Mein Gott, der Mann trinkt eben, das würde ich an seiner Stelle auch machen.

Die beiden beginnen einen kurzen Streit und verlassen dann den Stützpunkt. Herr Turin versucht noch schnell den Gang entlang in sein Zimmer zu fahren, doch zu spät, schon begegnet er den beiden streitenden Frauen. Turin grüßt freundlich.

KATHARINA PAYER: Herr Turin, nicht vergessen, wir haben heute einen Termin!

Die kleine Barbara grinst.

DIE KLEINE BARBARA: Huu-huuuuuuuuuuh! Herr Turin hat ein Rendezvous!

Turin fährt zurück ins Zimmer, um die Dokumente in der grünen Mappe noch einmal zu überprüfen. Hat er auch nichts vergessen? Reisepass, Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, die Grundbuchauszüge von der Wohnung und den zwei Grundstücken, die er von seiner Mutter geerbt hat. Es ist 10:45 Uhr, und der Tag nimmt schon am Morgen kein Ende. Turin muss am Donnerstag zum Notar, das ist in vier Tagen. Vier Tage muss er überleben. Wenn das erledigt ist, wird er sich mit dem Tablet beschäftigen, dann wird er sich für die Freitodbegleitung anmelden. Er kennt Irenes Taktik, die Sache zu verzögern, immer und immer wieder, bis er nicht mehr dazu fähig sein wird, auch nur ein E-Mail zu schreiben.

Vielleicht ein Schluck Whiskey? Aber Turin ist zu schwach, um mit der Hand nach unten zu greifen und nach der Flasche zu tasten. Turins Rücken schmerzt im Sitzen so stark, dass er zurück ins Bett will. Aber er muss durchhalten, sonst bietet man ihm für den Tag den Pflegerollstuhl an. Der Pflegerollstuhl ist in Wahrheit eine Liege auf Rädern, die letzte Station vor dem Sarg. Turin wartet geduldig auf das Mittagessen. Was immer Schwester Barbara zu ihm sagen wird, er wird nicht darauf antworten.

DUKAKIS: Eine Frechheit, wie sie dich heute behandelt hat, diese slowakische Schlampe.

HERR TURIN: Jedes Land hat die Bewohner, die es verdient.

DUKAKIS: Und die Jugos, die es verdient.

HERR TURIN: Slowaken sind keine Jugos!

In aller Ruhe isst Herr Turin das Mittagessen, um 12:20 Uhr fährt er in die Cafeteria. Leider hat heute nicht Marcus Dienst, sondern Dejan. Herr Turin braucht etwas, das ihn stärker macht, doch heute schmeckt der Veltliner in der Cafeteria nicht. Turin bittet Dejan, nachzuschauen, ob mit der Flasche alles in Ordnung ist.

HERR TURIN: Ich glaube, der Wein korkt.

HERR DEJAN: Unmöglich. Schraubverschluss.

Alles wissen sie besser! Auch die Zivildiener wissen alles besser! Wenn Herr Turin sagt, dass der Wein nicht in Ordnung ist, dann ist er nicht in Ordnung. Wer außer ihm hat so viele Flaschen von diesem Wein getrunken? Wer könnte das also besser beurteilen?

HERR DEJAN: Haben Sie schon gehört, Herr Turin? Die Cafeteria soll ausgelagert werden.

HERR TURIN: Ausgelagert?

HERR DEJAN: Ja, eine Fremdfirma soll die Cafeteria übernehmen. Wir müssen dann in der Pflege weiterarbeiten, in der neuen Cafeteria dürfen keine Zivildiener beschäftigt werden.

HERR TURIN: Wann soll denn diese Auslagerung stattfinden?

HERR DEJAN: Im Jänner.

Herr Turin weiß, dass ihn diese Nachricht betrifft, andererseits will er sich von Dejan nicht in Untergangsstimmung versetzen lassen. Wie viele Privatisierungen, Einsparungen, Rationalisierungen hat er in den Neunzigerjahren miterlebt! Und niemand ist daran zugrunde gegangen. Natürlich sind alle fürchterlich betroffen, wenn man sie dazu zwingt, ihre Blumenvase von der Vorzimmerkommode auf den Schrank im Wohnzimmer zu übersiedeln, doch nie ist jemand daran gestorben.

Turin wartet, bis Dejans Gejammer vorbei ist. Heute hat er einen Termin bei Katharina, er muss hingehen. Noch klingt der Satz, den sie zu der kleinen Barbara gesagt hat, in seinem Ohr: Mein Gott, der Mann trinkt eben, das würde ich an seiner Stelle auch machen. Ausgeruht wollte er zu ihr gehen, aber jetzt ist er schon müde. Und Dejan hört nicht auf, auf ihn einzureden und ihm die Hiobsbotschaft zum wiederholten Mal in anderem Wortlaut mitzuteilen. Herr Turin bestellt noch ein Glas Veltliner. Obwohl der Wein korkt.

9. Seeleopard