Königin Esther - John Irving - E-Book

Königin Esther E-Book

John Irving

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Beschreibung

Jimmy Winslow hat zwei Mütter. Honor, die ihn aufgezogen hat, schickt ihn als Studenten von New Hampshire nach Wien, wo er Vater werden soll. Das Wien der Sechzigerjahre ist ein Ort voller Geheimnisse und Versuchungen, und Jimmy springt kopfüber hinein und ist dabei immer auch auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter Esther Nacht. Was er erlebt, ist eine spektakuläre Achterbahnfahrt, wie sie nur das Leben in John Irvings Büchern schreiben kann – voller großer Gefühle, unglaublicher Wendungen und Figuren, die uns nicht mehr loslassen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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John Irving

Königin Esther

roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg und Eva Regul

Diogenes

Für Marty Schwartz

Denn wir sind verkauft, ich und mein Volk, dass wir vertilgt, getötet und umgebracht werden.

ESTER7,4

1

Die Bürger der Stadt Pennacook

1629 kam in Plymouth, Massachusetts, ein gewisser Josiah Winslow zur Welt. Sein Vater, Edward Winslow, war ein separatistischer Puritaner, der 1620 mit der Mayf‌lower ins Land gekommen war. Edwards jüngerer Bruder John segelte auf der Fortune mit und traf 1621 in Plymouth ein. Seit damals folgten immer neue Winslows nach.

James, der heutige Winslow, als Kind Jimmy genannt, blieb angesichts dieser Ahnenreihe unbeeindruckt; er hatte gelernt, sich nicht um seine Abstammung zu kümmern. »Wenn es um deine Vorfahren geht, steht dir weder Anerkennung zu, noch trifft dich irgendwelche Schuld – man kann sich seine Eltern schließlich nicht aussuchen, oder?«, hatte ihm sein Großvater gesagt, der Englischlehrer gewesen war.

James Winslow sollte nur für ein Jahr im Ausland studieren, doch was ihm dort widerfuhr, bestärkte ihn in seinem Glauben an die eigene Andersartigkeit. Es klang wie ein Widerspruch, wenn Jimmy Winslow sagte, er sei einfach nur ein Junge aus New Hampshire. Für die Bürger der Stadt Pennacook war er längst nicht New Hampshire genug; die Leute dort legten Wert darauf zu wissen, woher die Winslows kamen.

Wenn man in den Neunzehnhundertvierzigern und -fünfzigern in Pennacook im südöstlichen New Hampshire aufwuchs, war es von Bedeutung, woher man kam. Man wusste, dass es in Amerika ein Klassensystem gab, dass es eine herrschende Klasse gab, und man spürte, wo der eigene Platz in dieser Gesellschaft war. Die Ortschaft Pennacook erstreckt sich um die Wasserfälle herum, wo der Süßwasserfluss Pennacook auf den Salzwasser führenden, den Gezeiten unterworfenen Squamscott trifft – einst lebte hier der Stamm der Squamscott, die zu den Pennacook gezählt werden. Der Name Pennacook kommt vom Abenaki-Wort penakuk, »am Fuße des Hügels«. Gegründet worden war Pennacook von einem Puritaner, der England wegen der religiösen Verfolgung verlassen hatte und der dann, weil er die abweichlerischen religiösen Ansichten seiner Schwägerin geteilt hatte, auch noch aus der Massachusetts Bay Colony verbannt worden war. Die Puritaner hatten das Land einem Anführer der Squamscott abgekauft. In ganz Neuengland gab es ähnliche kleine Ortschaften; sie hatten eine Fabrik oder ein Sägewerk, und jeder wusste genau, wo er hingehörte. Dieses Klassenbewusstsein beschränkte sich nicht auf Pennacook, wo es (bereits seit 1830) eine Tuchfabrik und (seit 1884) eine Schuhfabrik gab. Was Pennacook von den anderen Orten unterschied und dafür sorgte, dass das Klassenbewusstsein dort besonders ausgeprägt war, war eine Privatschule für Jungen.

Die Pennacook Academy, gegründet 1781, war eine unabhängige Schule für Internatsschüler und Externe von der neunten bis zur zwölf‌ten Klasse und eine der ältesten weiterführenden Schulen der Vereinigten Staaten. Als James Winslow sie in den Fünfzigern und Sechzigern besuchte, war ihm bewusst, dass sein sozialer Status an der Academy von seinen Mitschülern nicht auf die gleiche Weise bewertet wurde wie in der Stadt.

Anders als die Stadt, war die Academy damals eine Meritokratie; der Schule war es wichtig, dass man etwas leistete, man legte Wert auf gute Noten – die Schüler selbst nicht so sehr. Denen war wichtig, ob man witzig war; sie wollten unterhalten werden, und ein Langweiler zu sein wurde einem nur verziehen, wenn man eine Sportskanone war. Jimmy Winslow leuchtete das mehr ein als die prüfenden Blicke, denen er in der Stadt ausgesetzt war.

Was kümmerte die Jungs an der Pennacook Academy schon die Mayf‌lower? Es waren sicher nicht die ersten Kolonisten, die ihr Klassenbewusstsein weckten, und schon gar nicht das Schiff, auf dem sie eingetroffen waren. An der Academy misstrauten die Externen den Internatlern und umgekehrt. In einer internationalen Schule trifft nichts auf alle zu, doch im Allgemeinen waren die Internatler weltgewandter; die Externen wirkten im Vergleich einfacher gestrickt.

James Winslow misstrauten sowohl die Externen als auch die Internatler, weil er auch unter den Externen ein Sonderfall war – Lehrerkinder hatten es ohnehin schwer, und Jimmy Winslow war nicht irgendein Lehrerbalg. Er war der Enkel des am meisten verehrten Mitglieds des Fachbereichs Englisch an der Academy. ThomasWinslow war der beliebteste Lehrer der Schule; seine Schüler vergötterten ihn. Man hätte also annehmen können, die Jungs hätten James Winslow vertraut und die Lehrer ihn freundlicher aufgenommen als alle anderen – aber Jimmy war kein richtigerWinslow. Jimmy war ein Niemandsjunge. So viel stand fest: Seine Mutter hatte ihn adoptiert, sein Vater war unbekannt. Und was seine leibliche Mutter anging, die behagte niemandem. Schon deshalb, weil sie eine Waise war.

Für die Bürger der Stadt Pennacook war James Winslow der Junge der Waise (und würde es auch für immer bleiben). Die Academy war da nachsichtiger. Jimmy mochte kein echter Winslow sein, aber es gab ja einen ganzen Haufen Winslows, und sie alle liebten diesen Jungen und kümmerten sich um ihn. (Kein Wunder, meinten die Bürger der Stadt Pennacook, Jimmy war ja auch der einzige Winslow-Junge.)

Jahre später, wann immer James Winslow sich bescheiden gab oder sonst um Worte verlegen war – und er sprach immer quälend langsam –, wiederholte er stets, er sei einfach nur ein Junge aus New Hampshire. Natürlich glaubten die Bürger der Stadt Pennacook, es besser zu wissen; die Winslows waren nun mal nicht wie die anderen, und das galt auch für den Jungen der Waise. Bei all ihrer Aufdringlichkeit – mehr als das wussten sie nicht. Doch schon die Umstände von James Winslows Geburt waren höchst ungewöhnlich. Wenn Kinder so auf die Welt kommen und weitergereicht werden, dass man nicht mal mehr weiß, wem sie denn nun eigentlich gehören, zumindest nicht genau – muss so eine Familie nicht völlig aus den Fugen geraten? Die Bürger der Stadt Pennacook warteten nur darauf, dass bei den Winslows alles schiefging. Vor allem bei dem adoptierten Jungen. Dann wären diese Winslows vielleicht nicht mehr so hochnäsig. Die Bürger der Stadt Pennacook hatten die Nase voll von der Anerkennung, die dieser Vorzeigefamilie entgegengebracht wurde, sogar wenn sie den Sohn einer Waise adoptierten.

2

Eine vierte Tochter

Constance war die unerschütterliche Matriarchin der Winslows aus Pennacook. Sie war eine geborene Bradford.William Bradford war an Bord der Mayf‌lower gewesen. Die Bürger der Stadt Pennacook gingen davon aus, dass Constance bereits als Bradford nicht weniger unerschütterlich gewesen war; eine Winslow zu werden bestärkte sie nur noch in ihrer moralischen Gewissheit. Nichts konnte sie beirren. Constance war dafür verantwortlich, dass ihre ersten drei Töchter je eine Tugend als Namen trugen: Faith, Hope und Prudence (in dieser Reihenfolge).

ThomasWinslow, dem kleinen Mann des Hauses, schienen Tugendnamen weniger zu bedeuten. Mr. Winslow war der Inbegriff eines Englischlehrers; die Bürger der Stadt Pennacook konnten sich niemanden vorstellen, der noch lehrerhafter wäre als dieser zierliche Mann. Auch seine Ahnen bedeuteten ihm nichts. »An seinen Vorfahren kann man nichts ändern. Man kann nur sich selbst ändern und seinen Kindern ein Vorbild sein«, sagte ThomasWinslow seinen Schülern an jedem ersten Tag eines Schuljahres. Er meinte damit, dass er ihnen beibringen konnte, gut zu lesen, und das begann schon bei der Auswahl der Lektüre. »Und wenn ihr erst gut schreiben könnt, dann könnt ihr auch gut sprechen«, sagte er zu den Jungen. Was den Lesestoff anging – die Gedichte, Theaterstücke, Geschichten oder Romane –, galt für den Englischlehrer: »Je fantastischer, desto besser.« Was Mr. Winslow dann noch sagte, war der Kern seines Glaubens an Literatur. »Wenn ihr in der Lage seid, euch in andere hineinzuversetzen, kann euch das zu besseren Menschen machen«, sagte ThomasWinslow. Den Bürgern der Stadt Pennacook ging es allerdings auf die Nerven, wenn ThomasWinslow versuchte, sie zu belehren. Die Erwachsenen wollten keinen Englischlehrer, der ihnen erklärte, wie sie zu besseren Menschen werden konnten. Es ging ThomasWinslow nichts an, wie sie ihren Kindern Vorbilder sein konnten.

Vor allem die gutbetuchten Erwachsenen ärgerten sich über den winzigen Englischlehrer. Warum sollten sie sich in jemand anderen hineinversetzen? Was dachte sich ThomasWinslow dabei, sie zu besseren Menschen machen zu wollen? Auch Constance konnte auf ihre eigene Art eine ziemliche Wichtigtuerin sein; sie ging den Bürgern der Stadt Pennacook ebenfalls auf die Nerven. Ständig legten die beiden einem ans Herz, was sie gelesen hatten. Das war nicht das Einzige, womit sie einen bedrängten, aber mit den Büchern fing alles an.

Über seine geringe Größe machte sich ThomasWinslow keine Gedanken. Es verärgerte die Männer des Ortes, dass ihn kein bisschen störte, wie klein er war.

Den Frauen ging es anders. Für sie war ThomasWinslow die Schönheit en miniature. »Ist er nicht ein süßes Kerlchen?«, neckten die Damen des Ortes sich gegenseitig. Denken Sie ja nicht, dass Constance darüber nicht genau Bescheid wusste.

Und doch war es seine Lehrerhaftigkeit, die bei ThomasWinslow jedem zuerst ins Auge fiel; Spontaneität war so ziemlich das Letzte, was den Bürgern der Stadt Pennacook bei dem hübschen kleinen Mann in den Sinn kam. Wenn auch Constance diejenige gewesen war, die ihren Töchtern die Namen Faith, Hope und Prudence gegeben hatte, erinnerte der Abstand von exakt zwei Jahren zwischen den Geburten an die Detailgenauigkeit jener sorgfältig erdachten Romane des 19. Jahrhunderts, die der winzige Englischlehrer so liebte. Der wohlüberlegte Altersunterschied der Tugendtöchter passte auf den ersten Blick perfekt zu ThomasWinslow, nicht wahr?

Nach der Geburt von Prudence (der dritten Tugendtochter) zählten die Bürger der Stadt Pennacook die Jahre. In Anbetracht ihrer Wertschätzung für das süße Kerlchen waren es die Damen des Ortes, die am genauesten mitrechneten. Zwei Jahre nach der Geburt von Prudence sah es ganz danach aus, als hätten die Winslows genug vom Kinderkriegen. Das letzte Kindermädchen ließen sie ziehen, als Prudence fünf war. Die Tugendtöchter hatten eine Reihe von Kindermädchen gehabt – drei hintereinander, die Constance beharrlich »Au-pair-Mädchen« nannte. Auch das sorgte im Ort für Trara. Obwohl es nicht ganz zutraf: Die Mädchen waren nicht aus dem Ausland, sie sprachen Englisch, und sie waren (zu alledem) Waisen. Für die Bürger der Stadt Pennacook war es von Bedeutung, wo die Kindermädchen herkamen.

Constance ließ sich natürlich in ihrem Sprachgebrauch nicht beirren. »Ich nenne unsere Mädchen Au-pairs, französisch für ›auf Augenhöhe‹. Unsere Mädchen helfen im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung gegen Kost und Logis. Sie gehören zur Familie«, sagte Constance. Das Wort ›adoptiert‹ benutzte sie nie, und sie bezeichnete die Winslows auch nie als Pflegefamilie. »Unsere Mädchen bekommen keinen Lohn, sondern ein Taschengeld – wie man das eben bei älteren Kindern macht«, wurde Constance nicht müde zu erklären. »Diese Mädchen sind wie unsere Kinder«, sagte sie über die Waisen, und die Bürger der Stadt Pennacook waren konsterniert. »Wir kleiden sie ein, wir helfen ihnen bei den Hausaufgaben. All unsere Kinder wissen, wie wichtig Schule ist.« Die Winslows sorgten dafür, dass ihre Au-pairs aufs College gingen, und die Mädchen wussten, dass von ihnen erwartet wurde, dort auch gute Noten zu schreiben.

Zumindest bei einem dieser Waisenkinder konnte doch etwas nicht stimmen, hofften jedenfalls die Bürger der Stadt Pennacook. Man wusste nicht genug darüber, wo diese Kinder herkamen. Bei Waisen ist zu vieles unklar; immer gibt es etwas, das man nicht weiß. Die Bürger der Stadt Pennacook hatten eine (wenn auch nur vage) Vorstellung davon, was mit Waisenkindern passierte, wenn sie nicht adoptiert wurden: Mit vierzehn oder fünfzehn wurden sie zu »Mündeln des Staates«, wie man das nannte. Das klang nicht gut. Es gab Damen im Ort, die fanden, Kinderbetreuung sei zu wichtig, um sie Minderjährigen zu überlassen. Und man bekam die Frage gestellt (wenn man es sich nicht schon selbst gefragt hatte): Würden Sie ein Mündel des Staates auf Ihre Kinder aufpassen lassen?

An den ersten drei Au-pairs der Winslows war rein gar nichts auszusetzen. Die drei waren Musterschülerinnen, und so, wie sie das College mit fliegenden Fahnen absolvierten (und danach auch noch auf gute Universitäten gingen), hätte man sie für Winslows halten können. Dass die drei dann auch noch zu Weihnachten oder in ihren Semesterferien »nach Hause« kamen (wie sie es nannten), irritierte die Bürger der Stadt Pennacook zutiefst. Die drei Tugendtöchter freuten sich dermaßen, wenn sie ihre Au-pairs sahen, man hätte sie tatsächlich für Schwestern halten können.

Und die ›Mündel des Staates‹ verloren nie ein schlechtes Wort über die Winslows. »Gleich von Anfang habe ich mich gut aufgehoben gefühlt, als hätte ich schon immer zur Familie gehört – und das werde ich nun auch für immer«, hatte die älteste Waise gesagt. Sie war das Kindermädchen von Faith gewesen, der Erstgeborenen.

»Eigentlich kann man jemandem nicht einfach so ein Zuhause geben, nicht jemandem wie mir, die noch nie ein Zuhause hatte, doch genau das haben sie getan. Sie haben mir das Gefühl gegeben, zu Hause zu sein«, erzählte Lucie, HopesAu-pair, den Müttern ihrer Schulfreundinnen, den Damen des Ortes, denen es (ausnahmsweise) die Sprache verschlug.

Und dann war da noch Denise, das Au-pair-Mädchen von Prudence, der jüngsten der Tugendtöchter. Denise war die Schweigsame. Ihre Schweigsamkeit brachte die Bürger der Stadt Pennacook auf den Gedanken, sie könne etwas zu verbergen haben. Doch eigentlich war sie nur schüchtern und zurückhaltend, und sie tat gut daran, vor den Damen des Ortes (und deren Hang zum Geschwätz) auf der Hut zu sein. »Ich wurde wie die anderen Kinder behandelt, wir wurden alle gleich behandelt«, erklärte das jüngste der drei Winslow-Kindermädchen. »Von mir hat man nur erwartet, etwas verantwortungsvoller zu sein, weil ich ein bisschen älter war.«

Nahezu händeringend fragte eine der älteren Kleinstadtdamen schließlich: »Aber wie sprecht ihr denn Mr. und Mrs. Winslow an – wie sollt ihr sie nennen?«

»Ach, die sind doch wie große Kinder. Ich nenne sie Tommy und Connie, so nennen sie sich ja selbst!«, antwortete das Kindermädchen aufgeregt; sie war plötzlich gar nicht mehr so zurückhaltend.

Die Damen des Ortes dachten nicht im Traum daran, Constance WinslowConnie zu nennen, genauso wenig wie die Männer sich vorstellen konnten, ThomasWinslow – den kleinen Obermeister der englischen Sprache – Tommy zu nennen. Die Staatsmündel machten sich sogar Constances Abstammung zu eigen – die Sache mit den Bradfords und der Mayf‌lower. Wenn man die Waisen reden hörte, hätte man glauben können, ihre Vorfahren (aus den Familien, die sie weggegeben hatten) seien auf der Mayf‌lower gewesen. »Die arme Dorothy!«, klagten die Au-pairs über das Schicksal von William Bradfords erster Frau. Sie war erst sechzehn gewesen, als sie Mr. Bradford geheiratet hatte. Sie hatten ihr dreijähriges Kind in Holland zurückgelassen, bei Dorothys Eltern. Dorothy ertrank; sie fiel (oder sprang) über Bord, als die Mayf‌lower vor der Küste von Provincetown Harbor vor Anker lag. Die Bürger der Stadt Pennacook hatten keinen Zweifel daran: Dorothy war ganz bestimmt gesprungen! Sie konnte von Deck aus sehen, welche Wildnis sie erwartete; sie wusste, sie würde ihr geliebtes kleines Kind nie wieder sehen. Wir wären jedenfalls gesprungen, dachten die Damen des Ortes und nickten einander zu.

Ganz anders die Kindermädchen. Die wären an Land gegangen und hätten der Wildnis getrotzt. »William Bradford hat wieder geheiratet!«, erklärte FaithsAu-pair, als sei eine erneute Heirat für einen Mann eine Heldentat.

»William Bradford wurde Gouverneur von Plymouth. Er hat ein Buch über die Geschichte der Plymouth Colony geschrieben – Of Plymouth Plantation«, hatte Lucie der ganzen Stadt erzählt.

»Bradfords Buch wird immer noch in Kursen zu amerikanischer Geschichte gelehrt!«, fügte Denise hinzu – sie war immer noch schüchtern, doch mit der Zeit nicht mehr ganz so schweigsam.

Selbst zur Herkunft von Constances Vornamen gab es etwas zu erzählen. »Constance ist französisch, kommt aber aus dem Lateinischen«, wiederholte zuerst Faiths Kindermädchen pflichtschuldig, was man ihr erzählt hatte.

»Es handelt sich um eine mittelalterliche Variante von Constantia – so hieß es auf Latein«, erklärte HopesAu-pair.

»Das war der Name der Tochter von Wilhelm dem Eroberer«, sagte Prudences Staatsmündel Denise gar nicht schüchtern.

Und dann, als Prudence zehn war, stellte sich heraus, dass Constance erneut schwanger war. Ab dem vierten Monat sah man es ihr an. Als sie eine vierte Tochter zur Welt brachte, war Prudence elf; Faith und Hope waren Teenager – alt genug also, dass schon der Gedanke, man könne sie bitten, auf das neue Baby aufzupassen, zu Protest hätte führen können; doch sie waren (ihren Namen gerecht werdend) tugendhaft darauf erpicht. Was die drei Kindermädchen anging, die bereits ausgezogen waren, so hatte eine von ihnen schon eigene Kinder, und doch boten sich alle drei an, »nach Hause« zu kommen (wie sie es weiterhin nannten). Die Staatsmündel wetteiferten miteinander; es kam zum Streit darüber, wer sich um das Neugeborene kümmern durf‌te.

»Ach, meine lieben Mädchen, seid doch nicht albern«, sagte Constance.

»Ihr habt euer eigenes Leben, ihr Lieben«, sagte Thomas.

Es schien den Bürgern der Stadt Pennacook nicht so, als sei die vierte Tochter geplant gewesen. Die Damen des Ortes revidierten nun ihren womöglich voreiligen Eindruck von ThomasWinslow, er sei lehrerhaft; vielleicht war an dem süßen Kerlchen doch etwas Spontanes. Und dann meldete sich die Putzfrau zu Wort; sie verbreitete Geschichten über die Schlafarrangements im Hause Winslow, doch nicht mal in einer Kleinstadt in New Hampshire konnte man davon ausgehen, alles zu wissen, was es darüber zu wissen gab. (Nicht einmal Putzfrauen wissen alles.)

Die Frage der Schlafarrangements im Hause Winslow beschäftigte die Damen des Ortes schon lange. Als die drei ersten Töchter noch klein waren, hatte ThomasWinslow nachts Aufsicht im Wohnheim; die ganze Familie wohnte in einer Lehrerwohnung in der Pennacook Academy. Das muss man sich einmal vorstellen – eine dieser jugendlichen Waisen, die in einem Jungen-Wohnheim wohnt; und doch hatte es keinerlei Geschäker zwischen den Academy-Jungs und den Au-pair-Mädchen gegeben. Thomas und Constance mussten den Jungen im Wohnheim ordentlich ins Gewissen geredet haben. Die Jungs, vor allem die älteren, wussten, dass die Kindermädchen tabu waren. Aber für eine fünfköpfige Familie (plus eins) waren die Wohnverhältnisse recht beengt; Lehrerwohnungen waren nicht für drei kleine Kinder (plus Au-pair-Mädchen) ausgelegt. Und die Bürger der Stadt Pennacook blieben mit der Frage zurück, ob die AcademyThomasWinslow etwas vom Lohn abzog, weil das Kindermädchen mit der Familie am Lehrertisch im Speisesaal aß. (Es ärgerte die Bürger der Stadt Pennacook, dass die Angelegenheiten der Academy den Ort nichts angingen.)

Die leidgeprüf‌te Putzfrau der Winslows ließ jeden wissen, dass sie es bereute, Boston je verlassen zu haben. Sie war ihrem Mann in den Norden nach New Hampshire gefolgt, aber den hatte man eh in der Pfeife rauchen können; auch das ließ sie jeden wissen. Wer ihr noch länger zuhörte, dem erzählte sie außerdem, warum die ganze Familie hätte in Kildare bleiben sollen. Gertie Eustis war Irin; ihr Vorname war von Gertrud zu Gertie geschrumpft worden, vielleicht war sie auch darüber sauer. Sie war von Anfang an die Putzfrau der Winslows gewesen – bereits in der Lehrerwohnung und auch noch nach dem Umzug in ihr eigenes Haus im Ort.

»Beim Schlafen gibt’s keinerlei Regeln, da sind die Winslows sehr liberal«, erzählte Gertie im Ort herum. »Die Kopfkissen der Kinder wandern ständig durchs Haus.« Für die Bürger der Stadt Pennacook war das Wort liberal schon Verurteilung genug, bevor Gertie überhaupt zu den wandernden Kissen kam. Das Bettenbeziehen gehörte zu den Aufgaben der Putzfrau, und mal fand Gertie alle Kopfkissen der Kinder in einem ihrer Betten, mal im Bett des Kindermädchens. In der Lehrerwohnung hatte es nicht genügend Schlafzimmer gegeben – es gab gerade mal genügend Betten. Auch das Kindermädchen hatte dort kein eigenes Zimmer, nur ihr eigenes Bett. »Ständig krabbelt ein Kind, oder sogar alle, bei diesem sogenannten Au-pair ins Bett; da geht’s zu wie im Waisenhaus«, befand Gertie Eustis.

Im Zentrum von Pennacook standen weiße Häuser im Kolonialstil – wie das mit fünf Schlafzimmern, das die Winslows bezogen, nachdem Thomas seine Pflicht als Junglehrer erfüllt und keine Aufsicht im Wohnheim mehr hatte. Nun bekam jede der Tugendtöchter ihr eigenes Zimmer, auch wenn sie sich ein Badezimmer teilten. Das Kindermädchen hatte nicht nur ein Schlafzimmer, sondern auch ihr eigenes Bad. Der »Au-pair-Bereich« (wie Constance es nannte) lag am einen Ende des Flurs im ersten Stock, über der Küche; Elternschlafzimmer und -bad am anderen Ende. Ganz wie die Puritaner selbst (was ja zu Thomas und Constance Winslow passte), war das Haus aus dem 17. Jahrhundert eher schmucklos gehalten. Das steile Dach hatte zwei Schornsteine, der Hauseingang einen Säulenvorbau. Das Haus war mit schmalen Latten verkleidet, die weiß gestrichen waren, die Fensterläden waren schwarz.

Doch wie die Putzfrau der Winslows den Bürgern von Pennacook erzählte, konnten weder die guten, alten Sitten Neuenglands noch die passende Anzahl an Schlafzimmern die Tugendtöchter und das Staatsmündel dazu bringen, in ihren eigenen Betten zu schlafen. »Die Kinder und das Waisenmädchen schlafen, wo sie wollen«, erzählte Gertie im Ort. Die Putzfrau hielt sich für die persönliche Haushälterin der Winslows; Gertie hatte eine gewisse Führungsmentalität. Und weil die Bettwäsche zu ihren Aufgaben gehörte, war es für Gertie von Bedeutung, wo die Kissen der Kinder landeten – vom Kissen des Kindermädchens ganz zu schweigen. Meistens lagen morgens alle Kissen in einem Bett, fast immer in dem des Kindermädchens. Selbst nachdem die scheinbar letzte Waise ans College gegangen war, quetschten sich die Tugendtöchter in ein Bett. »Ich schätz mal, selbst Wanderarbeiter in ihren Baracken halten beim Schlafen mehr Abstand«, sagte Gertie Eustis allen, die es hören wollten.

Den Bürgern der Stadt Pennacook war es piepegal, ob sich die Töchter der Winslows alle in ein Bett quetschten. Was sie hingegen brennend interessierte, war, wie viel Abstand Thomas und Constance beim Schlafen hielten. Thomas hatte den leeren »Au-pair-Bereich« bezogen. Zwar gab es in der Stadt mit Sicherheit noch andere Ehepaare, die in getrennten Zimmern schliefen, doch in Pennacook war man geradezu besessen von der Entfernung zwischen den beiden Zimmern, in denen Thomas und Constance schliefen. Um zum Elternschlafzimmer zu kommen, musste Thomas auf Zehenspitzen an den Kinderzimmern vorbeischleichen, oder er musste erst die Treppe hinunter- und dann die auf der anderen Seite wieder hinaufsteigen, nachdem er das ganze Haus durchquert hatte.

Dass die Bürger der Stadt Pennacook dieser Reise zwischen den Zimmern so viel Bedeutung beimaßen, hatte damit zu tun, als wie anders die vierte Tochter sich erwies. Zunächst einmal wurde die womöglich ungeplant (vielleicht sogar spontan) gezeugte Tochter nicht nach einer Tugend benannt – nicht ganz. Für die Damen des Ortes mochte der Name vielleicht tugendhaft klingen, doch Constance stellte zwei Dinge klar: Tommy hatte ihn ausgesucht, und Honor, also Ehre, war ein Name, der eine Erwartung ausdrückte. »Honor ist so ein Name wie Chastity – eine Erwartung ist ja nicht zwingend eine Tugend«, erklärte Constance. Für die Bürger der Stadt Pennacook, vor allem die Damen des Ortes, klang Honor dennoch wie ein Name, dem man nur schwer gerecht wurde.

So viel zu der armen Dorothy, der Bradford, die über Bord gegangen und ertrunken war, als die Mayf‌lower in Provincetown Harbor ankerte. Die vierte Tochter der Winslows sollte keine Dorothy, nein, sie sollte eine Honor, eine Ehre, sein – nicht gerade ein leichtes Kreuz, das sie da zu tragen hatte. Und bestimmt fragten sich die Bürger der Stadt Pennacook: Was tun Tommy und Connie jetzt? Jetzt, wo die beiden an entgegengesetzten Enden des Hauses schliefen, wer sollte da für die Winslows auf Honor aufpassen?

Wir würden uns nicht noch eine Waise holen, dachten die Damen des Ortes und nickten sich gegenseitig zu. Ihrer Ansicht nach würden die Winslows mit einem vierten Staatsmündel ihr Glück herausfordern. Dabei wussten die Bürger der Stadt Pennacook gar nicht viel über Waisenhäuser. Doch wie so viele Menschen in Kleinstädten in Neuengland hatten sie irgendwo etwas darüber gehört, und was sie irgendwo gehört hatten, genügte ihnen.

3

Woher die Waisen kamen

Viele Bewohner Neuenglands hatten schon vom New England Home for Little Wanderers gehört. In Pennacook war man der Auf‌fassung, es wäre 1865 von Bostoner Geschäftsleuten gegründet worden, um den Waisen des Bürgerkriegs zu helfen. Tatsächlich wurde es schon 1799 gegründet. Wie nur wenige Menschen in Pennacook wussten, war es Bostons erstes Waisenhaus für kleine Mädchen; damals hieß es Boston Female Asylum. Die kleineren Waisenhäuser im Norden Neuenglands waren längst nicht so bekannt wie das Little Wanderers.

Der erste Zug mit Waisenkindern hatte Boston 1850 verlassen und heimatlose Kinder in den Norden, nach New Hampshire und Vermont, gebracht. Thomas und Constance hatten Fotografien der Kinder in den Waisenzügen gesehen. Sie sahen nicht alt genug aus, um Mündel des Staates zu werden. Vielleicht waren einige dieser Kinder bei guten Eltern untergekommen, aber die Winslows hatten auch Geschichten von Kindern gehört, die ausgebeutet worden waren; man hatte sie wie Sklaven gehalten oder sonst wie misshandelt.

Zu Beginn, als die Winslows sich nach älteren Waisen umschauten, die bald Mündel des Staates werden würden, beschränkte ThomasWinslow seine Suche auf New Hampshire. Ihre ersten drei Au-pairs fanden sie in Waisenhäusern dort, doch Constance erkannte eher als Thomas, dass sie die Suche nach einem vierten Au-pair würden ausweiten müssen. Also erinnerte sie Tommy daran, dass es auch in Maine Waisenhäuser gab. Das in St. Cloud’s war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Holzfällercamp gewesen – zu der Zeit, als die Camps ihren Schaden anrichteten, bis die Wälder dann verschwunden waren. St. Cloud’s war eins dieser Städtchen an einem Fluss, die es auch dann noch gab, nachdem die Holzfäller weitergezogen waren. Geblieben waren die Sägemühle (wenn auch nur für kurze Zeit), zusammen mit dem Holzplatz (etwas länger). Es war eine dahinsiechende Ortschaft, die von den Holzfällern zurückgelassen worden war. In ihren Baracken schliefen nun die Waisen, das Kochhaus war die Küche, in der die Kinder auch aßen. Aus den Waisenhäusern, die sie in New Hampshire kannten, hatten die Winslows widersprüchliche Geschichten über den Arzt zu hören bekommen, der das Waisenhaus von St. Cloud’s, Maine, leitete.

Zunächst einmal waren die Winslows beeindruckt, dass der Leiter ein Arzt war, zudem galt er als belesen. Er las den Kindern laut vor, ja er ermutigte die Kinder, auch selbst zu lesen. Aber man verschwieg den Winslows nicht, dass der Waisenhausarzt »zu Tiraden neige«.

»Worüber?«, hatte ThomasWinslow gefragt. Für einen Englischlehrer waren Tiraden an sich noch nichts Schlechtes, solange es einen Grund dafür gab.

Der Arzt wetterte über »die Schändung des Waldes«; er sagte, die Holzfällerkompanien und die Papierhersteller hätten es versäumt, neue Bäume für die zu pflanzen, die sie gefällt hatten. »Als das Flusstal rings um St. Cloud’s gerodet war und das Unterholz überall wucherte wie Sumpfunkraut, was war da noch geblieben?«, fragte der Waisenhausarzt. Und dann sagte er es einem: »Das Sägemehl, das narbige Flussufer, aus dem die Flöße eine neue Küstenlinie herausgeschabt hatten; das Sägewerk mit den zerborstenen Scheiben ohne Fensterläden; das Hurenhotel; die katholische Kirche für die Frankokanadier, die zu sauber und ungenutzt wirkte, um nach St. Cloud’s zu passen, wo sie nicht halb so beliebt war wie die Huren, die so viel Verstand hatten, mit den Holzfällern weiterzuziehen.« Der Waisenhausarzt machte eine Pause, um Luft zu holen oder sich zu zügeln.

»Und warum hat die katholische Kirche den Ort aufgegeben, nachdem die Huren und Holzfäller weitergezogen waren?«, fragte der Arzt beinahe unschuldig. »Weil es niemanden mehr gab, der etwas zu beichten hatte. Waisen haben ein reines Gewissen.«

»Der Arzt klingt tatsächlich ein wenig verrückt, Tommy«, meinte Constance.

Die katholische Kirche hatte Interesse daran gezeigt, sich an der Leitung des Waisenhauses von St. Cloud’s zu beteiligen; der Arzt hatte sich dagegen ausgesprochen. »Wir sind kein konfessionelles Waisenhaus«, sagte er, das war alles. Die Winslows waren keine Kirchgänger und gehörten auch keiner Konfession an. Sie kannten sich mit den angeblichen Übeln der Holzfällerei oder der Papierherstellung nicht aus. Vielleicht war der Waisenhausarzt ein wenig verrückt, was die Schändung des Waldes anging oder wessen Schuld es war, dass keine neuen Bäume gepflanzt worden waren; die Winslows wussten so gut wie nichts über Wälder oder Bäume.

»Ich mag das mit dem Lesen. Die Kinder zum Lesen zu ermutigen klingt für mich nicht verrückt, Connie«, sagte Thomas zu seiner Frau. Constance war die Bibliothekarin der PennacookPublic Library, ein Gebäude aus gelben Ziegeln vom Ende des 19. Jahrhunderts, gleich neben dem Campus der Academy an der Front Street. Die Bürger der Stadt Pennacook fanden Constance Winslow ebenso lästig wie ihren Mann; ständig erzählten einem die beiden, was man lesen sollte.

»Mir gefällt das mit dem Lesen auch, Tommy, aber ich wette, die Vorstellung von einem konfessionslosen Waisenhaus gefällt dir sogar noch besser«, sagte Constance. Abgesehen davon, dass sie ihren Mann unzählige Male hatte sagen hören, dass Religion der Fluch der Zivilisation sei, wusste sie auch, dass er einen Groll gegen den Staat Maine hegte.

»St. Cloud’s ist sehr schwer zu erreichen. Maine ist einfach zu weit weg, Connie«, sagte ThomasWinslow. (St. Cloud’s liegt mitten im Nirgendwo, das sagt man in ganz Neuengland.) In den Wintermonaten war das Landesinnere von Maine eingeschneit, und der Frühling unterschied sich davon nur durch den auf‌tauenden Matsch. Die alten Forststraßen waren in dem Schlamm unpassierbar. Wollte man im Winter oder Frühling dorthin, so war man gut beraten, den Zug zu nehmen.

Allerdings, so erfuhren die Winslows, würden die Mitreisenden auf einen herabsehen, wenn man in St. Cloud’s ein- oder ausstieg. Außer dem Waisenhaus gab es dort nichts. Und mit den Waisen in Verbindung gebracht zu werden war ein Stigma. Diese drohende Verachtung der Mitreisenden bekräftigte ThomasWinslows Groll gegen Maine nur noch.

In Maine finden sich von 1840 und 1841 die frühesten Anti-Abtreibungsgesetze des ganzen Landes; sie stellten jeden Versuch einer Abtreibung bei einer Frau, »die schwanger geht«, unter Strafe, »gleich ob das Kind sich regt oder nicht« und unabhängig von den benutzten Methoden. Die Durchführung einer Abtreibung wurde mit einem Jahr Gefängnis oder tausend Dollar Geldstrafe oder beidem geahndet. War man Arzt, konnte man seine Zulassung verlieren. Andere Staaten folgten. Bis 1910 war die Abtreibung in den ganzen Vereinigten Staaten verboten; das blieb so bis 1973, als die Entscheidung des Obersten Gerichts in Sachen Roe gegen Wade fiel, das Recht der Frau auf Abtreibung sei ein Grundrecht.

Die Winslows waren Befürworter des Rechts auf Abtreibung, bevor die restlichen Bürger der Stadt Pennacook überhaupt groß über das Thema nachdachten. Hörte man sich in unter ihnen um, hätte man glauben können, Abtreibung sei schon immer verboten gewesen. Die meisten Amerikaner wussten nicht viel über die Geschichte der Abtreibung in Amerika; dazu zählten auch die Bürger der Stadt Pennacook.

Aber das war nicht der Grund für die Einführung der Town Talks – Constances Beitrag zur Erwachsenenbildung in Pennacook. Die Winslows gingen allen damit auf die Nerven, dass sie die Beziehungen zwischen Stadt und Academy verbessern wollten. Dabei waren die Beziehungen seit jeher angespannt und ganz bestimmt verbesserungswürdig.

Die Town Talks mochten die Idee der Bibliothekarin sein, aber die Bibliothek von Pennacook, in der Ruhe die erste Regel war, war für eine Vortragsreihe nicht der ideale Ort. Einen anderen zu finden war leicht; die Hörsäle der Academy standen unter der Woche leer, wenn die Studenten an den Abenden lernten. Was jedoch die Themen anging, über die gesprochen werden sollte, Themen, die sowohl den Bürgern der Stadt als auch den Lehrkräften der Academy genehm waren, da wurde es schon schwieriger. »Tommy ist der Lehrer, die Themen sind seine Sache«, sagte Constance jedem, der fragte.

Die Damen des Ortes waren an Literatur interessiert. Für ThomasWinslowsTown Talks über Romane und Autoren fanden sie sich in Scharen ein. »Literatur wird von Frauen gelesen. Wir leben stärker in unserer Vorstellung, als Männer das tun«, sagte Constance Winslow. (In dem Versuch, einem weiszumachen, dass sie rein als Bibliothekarin sprach und nicht die geringste Ahnung hatte, dass die Damen des Ortes fanden, ihr Mann sei ein süßes Kerlchen.)

Thomas hielt zwei Vorträge über Charles Dickens; er hatte die Damen gebeten, Klein Dorrit und Große Erwartungen zu lesen (und zwar in dieser Reihenfolge), um dann dafür zu plädieren, dass Große Erwartungen der bessere Roman sei. ThomasWinslow sollte feststellen, dass die Damen (selbst jene, die sich in ihn verguckt hatten) sich nicht so leicht von ihrem Lehrer überzeugen ließen wie die Academy-Jungs. Die Damen liebten die Vom-Gefängnis-zum-Millionär-Geschichte und die herzensgute Klein Dorrit. Männer waren bei den Town Talks zu Dickens kaum anwesend. »Du redest zu einem Haufen Frauen, Tommy. Frauen werden ein Heiratsmelodram dem Bildungsroman eines Jungen vorziehen«, sagte Constance.

»Recht hast du, Connie«, sagte Thomas. Er hielt zwei Vorträge über George Eliots Middlemarch. Beim ersten der Town Talks zu Eliots Roman saßen überraschend viele Männer im Publikum. »Ich habe sieben oder acht Männer gesehen, Connie«, sagte Thomas. Beim zweiten Vortrag waren allerdings keine Männer anwesend. ThomasWinslow war ganz geknickt.

»Vielleicht wussten die Männer, die beim ersten Vortrag waren, nicht, dass George Eliot eine Frau war, Tommy«, sagte Constance zu ihm.

»Recht hast du, Connie«, sagte Thomas. Er hielt vier Vorträge über die bekanntesten Romane der Brontë-Schwestern; die ersten beiden über Emilys Sturmhöhe, die letzten beiden über Charlottes Jane Eyre. Constance fragte ihn, warum er mit Emily anfangen wollte. Wusste Thomas denn nicht, dass Charlotte die ältere der beiden gewesen war, ganz abgesehen davon, dass Jane Eyre vor Sturmhöhe erschienen war, wenn auch nur ein paar Monate davor? »Recht hast du, Connie«, erwiderte ihr Mann nur.

Constance kannte ihn gut; sie war sich sicher, er hatte einen Grund dafür, mit Emily anfangen zu wollen, nicht sicher war sie sich jedoch, warum er ihr den Grund nicht verriet. Als kein einziger Mann bei seinen Town Talks über die Brontë-Schwestern erschien, blieb Thomas gelassen. »Zumindest wissen wir jetzt genau, wie klug die Bürger der Stadt Pennacook sind, Connie, klug genug, um zu wissen, dass die Brontë-Schwestern Frauen waren«, sagte Thomas zu ihr.

Constance lächelte, drohte ihm mit dem Zeigefinger und flüsterte ihm zu: »So etwas solltest du nicht in aller Öffentlichkeit sagen.«

Sie war überrascht, wie ihr Tommy den ersten Vortrag über die Brontë-Schwestern einleitete. Der Hörsaal war bis zur obersten, hintersten Reihe gefüllt. Constance bewunderte, wie ihr Mann ohne irgendwelche Notizzettel vor dem Rednerpult stand; hätte er dahinter gestanden, dann hätten die Damen in den ersten Reihen ihn nicht sehen können, so klein war er. »Ich frage mich«, begann er, »ob Sie mir sagen können, ob Emily oder Charlotte das hier geschrieben hat.« Als er aus dem Gedächtnis zitierte, nahm er den Blick nicht von den Gesichtern der Frauen im Publikum. ThomasWinslow trug vor, was Emily oder Charlotte Brontë geschrieben hatte, aber Constance sah, was ihr Mann tat; er studierte die Gesichtsausdrücke der Frauen. Von ihrem Platz aus, einem einsamen Stuhl auf dem Podium neben dem Pult, konnte Constance ebenfalls die Gesichter lesen. Die Damen wurden von dem, was sie da hörten, kalt erwischt; dieses eine Mal konnten die Gesichter dieser gerissenen Frauen nicht verbergen, was sie fühlten. Beileibe nicht alle Damen des Ortes wurden so entlarvt; nur jene, die sich von dem, was sie hörten, angegriffen fühlten, nur die Frauen, die Widerstand oder Feindseligkeit gegenüber dem spürten, was der Englischlehrer ihnen sagte.

»›Konventionen sind nicht mit Moral gleichzusetzen‹«, zitierte er und bemerkte die Damen, die ein Gesicht machten, als hätte man sie geohrfeigt. »›Selbstgerechtigkeit ist nicht dasselbe wie Religiosität‹«, fuhr Thomas fort, »›Erstere anzugreifen bedeutet nicht, sich an Letzterer zu vergehen.‹« Und damit schloss Thomas sein Zitat mit rügender Stimme.

Da erkannte Constance die Kirchgängerinnen im Publikum, die Damen mit den geschürzten Lippen und den zu Schlitzen verengten Augen; die Kirchgängerinnen waren es, die das Zitat ihres Mannes entlarvt hatte. Constance Winslow hatte sich näher mit den Damen des Ortes befasst als ihr Mann. Er hatte sie aus der Reserve locken wollen, begriff Constance. Aber warum war ihm das wichtig, fragte sie sich. Sie lasen doch nur die Brontë-Schwestern. Und der Absatz, den er zitiert hatte, verwirrte Constance  – wenn auch nur zu Anfang und nicht für lange.

Die Damen hatten zuerst Emily Brontë lesen sollen. Beim ersten Vortrag waren sicherlich einige von ihnen noch nicht fertig mit Sturmhöhe, und kaum eine war bis zu Jane Eyre vorgedrungen, bis auf diejenigen, die den Roman vielleicht in der Schule oder am College gelesen hatten. Und woran würden die sich noch erinnern? Vielleicht an den wundervollen ersten Satz. Constances Lippen bewegten sich ganz leicht, als sie ihn sich stumm selbst vorsagte. (»An einen Spaziergang war an diesem Tag nicht zu denken.«)

Warum würde ihr Tommy vor einer Gruppe von Damen, die gerade erst mit dem Lesen von Sturmhöhe begonnen hatten, aus Charlotte Brontës Vorwort zur zweiten Ausgabe von Jane Eyre zitieren? Dann erkannte Constance, warum er mit Emily eingestiegen war. ThomasWinslow wollte, dass Charlottes Themen – Konvention und Moral, Selbstgerechtigkeit und Religion – alle Frauen im Publikum überraschten. Constance wusste, was ihr Mann von dem religiösen Ende von Jane Eyre hielt, und sie begriff, dass Thomas das Feld bereitete für das, was er über Janes zwiespältige Gefühle zum Christin-Sein sagen wollte. Jane entscheidet, glücklich mit Rochester verheiratet zu sein, zu ihren eigenen Bedingungen, statt St. John Rivers zu heiraten, den sie (auf ihre eigene christliche Art) sehr bewundert. Jane entscheidet sich nicht dafür, ihm in Indien zur Seite zu eilen, wo St. John im Sterben liegt und auf seinen lieben Herrn Jesus wartet. Constance schätzte sehr, was für ein guter Lehrer ihr Mann war, aber sie kannte ihren Tommy zu gut. Er bereitete nicht nur seinen Vortrag zum Ende von Jane Eyre vor – zu einem Zeitpunkt, zu dem er noch kein Wort über den Anfang von Sturmhöhe verloren hatte. Constance wusste, dass Thomas alles vorausplante. Er dachte weiter als nur bis zu seinem Vortrag zum Ende von Jane Eyre;Constance erkannte, dass er seinen Vortrag über die Geschichte der Abtreibung in Amerika vorbereitete. Sie wusste, dass der ihm Sorge bereitete, das ging ihr genauso.

Constance bemerkte auch, dass keine der Damen im Hörsaal sich zu raten trauen würde, von welcher der Brontë-Schwestern Thomas’ Zitat stammte. Diese Frauen träumten von Heathclif‌f und Catherine, oder aber sie hatten genug von Sturmhöhe gelesen, um Alpträume über dieses Monstrum von Mann zu haben. Sie dachten nicht an Jane Eyre, schon gar nicht an Charlotte Brontës Vorwort zur zweiten Auf‌lage.

»Ich nehme an, Connie weiß, um welche Brontë es sich handelt«, sagte Thomas, ohne sich zu ihr umzudrehen. (Constance begriff, dass ihr Tommy sich die ungehaltenen Mienen der Kirchgängerinnen einprägte.)

»Klingt für mich nach Charlotte, Tommy«, sagte Constance.

»Recht hast du, Connie«, sagte er und seufzte. Unter den versammelten Frauen gab es bei denen, die ihn für ein süßes Kerlchen hielten, etwas Gekicher, doch ThomasWinslow machte einfach weiter. »Zu Charlotte kommen wir später«, sagte Thomas den Damen des Ortes. »Heute ist Emily unsere Brontë-Schwester. Und was für eine Schauergeschichte sie da geschrieben hat!«, rief er plötzlich und hob die Arme über den Kopf. »Aber halten wir uns nicht damit auf, was für ein Monstrum Heathclif‌f ist«, ermahnte er sie. »Sie sollten sich eher Sorgen um Catherine machen. Arme Catherine«, sagte er sanft.

Constance sah, wie sich die Lippen der Damen bewegten. Unwillkürlich und lautlos wiederholten diese Frauen, was Thomas zu ihnen gesagt hatte – arme Catherine. In ihrem Herzen konnte ConstanceCatherines eigene Worte hören, als Catherine krank ist und an die Vergangenheit denkt, als sie ungehindert mit Heathclif‌f zusammen sein konnte. (»Wäre ich wieder ein Mädchen, kühn, halb wild, frei!«, sagte Catherine.)

Ungeachtet ihres Mitgefühls für Catherine ignorierte Constance die Anweisung ihres Mannes. Während sie reglos auf dem Podium saß und Thomas weiterredete, erlaubte Constance sich, in Gedanken bei Heathclif‌f zu verweilen. Sie wusste, welcher Aspekt an Heathclif‌f der beunruhigendste war. Heathclif‌f ist ein Waisenkind und kein besonders liebenswertes, wie sich herausstellt.

Der drängendere Grund zur Sorge im Leben der Winslows war Honor, die vierte Tochter. Nachdem die früheren Au-pair-Mädchen das Haus regelrecht überrannten und ungebeten ihre Hilfe anboten, schliefen im Hinterzimmer häufig zwei erwachsene Frauen in einem Doppelbett. Noch dazu bekamen die Winslows von Faith und Hope (und sogar von Prudence) zu hören, dass diese, ihre eigenen Kinder, vollkommen in der Lage seien, selbst auf die neugeborene Schwester aufzupassen. Thomas schlief jetzt wieder im Elternschlafzimmer. Schrie Honor in der Nacht und wollte man dem armen Kind zu Hilfe eilen, konnte man glatt über den Haufen gerannt werden.

Sollten die Bürger der Stadt Pennacook ruhig denken, dass die Winslows mit einem vierten Staatsmündel ihr Glück herausforderten, doch Glück war nicht das, worüber sich Constance Sorgen machte. Die ganze Familie hatte von drei fabelhaften Au-pair-Mädchen profitiert, die nun zu drei wunderbaren jungen Frauen herangewachsen waren. Aber Constance verstand auch, warum diese Waisenkinder nicht adoptiert worden waren. Menschen, die mutig genug waren, um ein Kind zu adoptieren, wollten in der Regel ein Neugeborenes. Sie wollten ein Kind ohne Geschichte, keins, das man im Waisenhaus sitzenlassen hatte, kein Kind, das alt genug war, um sich an ein früheres Leben (und die Menschen darin) zu erinnern.

Waren es denn nicht die Waisenkinder, die sich erinnerten, dass man sie hatte sitzenlassen, die vielleicht voller Zorn waren? Man konnte es ihnen ja nicht zum Vorwurf machen, wenn sie wütend waren, dachte Constance; aber sie wusste, dass es das letzte Waisenkind war, das Thomasund sie zu retten versuchten, und wollte keins der schlechten Sorte in die Familie holen.

Ach, Tommy, dachte Constance, denn ans Beten glaubte sie nicht, bitte gib den Groll auf, den du gegen Maine hegst! Ihre Lippen bewegten sich nicht dabei; mit Blick auf die Damen des Ortes saß sie reglos wie ein Stein. Constance wollte es mit dem Waisenhausarzt aus St. Cloud’s versuchen, dem Leser, wie sie den Arzt im Geiste nannte, der das Haus leitete. Constance war es gleich, ob es schwer war, dorthin zu kommen, oder dass man den Zug nehmen musste. Sie teilte den Groll ihres Mannes gegen religiöse Institutionen. Die Winslows waren nicht gläubig; sie hüteten sich vor jenen Menschen, die sich nichts dabei dachten, einem ihre Religion aufzuzwingen. Was den Waisenhausarzt anging, der St. Cloud’s leitete, so sprach der Teil, dass er nicht religiös war, die Winslows durchaus an; nur der Teil mit Maine stand ihnen im Weg.

4

Ein Brief von Dr. Larch

In Maine gab es noch andere Waisenhäuser. Das in Augusta, das Maine Children’s Home, war weiter nördlich als St. Cloud’s, aber leichter zu erreichen – man kam mit dem Auto hin. Constance erfuhr, dass es den Ruf genoss, Kinder in vertrauenswürdigen Pflegefamilien unterzubringen. »Trotzdem Maine, Connie«, sagte Thomas nur zu Augusta.

Dann gab es noch das in Lewiston, das Constance gar nicht erst erwähnte, und nicht nur, weil es ein Waisenhaus für Jungen war. Es wurde von den Schwestern der Barmherzigkeit geleitet; die Nonnen waren Ende des 19. Jahrhunderts aus Saint-Hyacinthe, Quebec, nach Maine gekommen. Constance konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihr Mann den Akzent jenes unglücklichen Kindes nachahmen würde, das bei französischsprachigen Nonnen Englisch gelernt hatte.

Constance wusste, dass von Nonnen geführte Waisenhäuser nicht auf der Liste ihres Tommys standen, nicht mal in New Hampshire. St. Peter’s in Manchester wurde ebenfalls von den Schwestern der Barmherzigkeit geführt. (»Diese Nonnen aus Quebec sind einfach überall!«, rief Thomas.) Das St. Mary’s Waisenhaus in Dover leiteten sie schon seit 1887. »Keine Nonnen, Connie«, sagte Tommy nur. Nicht, dass er sich Sorgen machte, Honor könnte aus Versehen durch den Rosenkranz eines Au-pair-Mädchens erdrosselt werden, auch wenn es Gerüchte gab, die Schwestern der Barmherzigkeit hätten Bettnässer geschlagen. Worüber ThomasWinslow sich Sorgen machte, waren potenzielle Missionarinnen – unter den nicht adoptierten Waisen (und baldigen Mündeln des Staates), die von den Nonnen indoktriniert worden waren.

Auch beim Gedanken an das zweite Waisenhaus, das es in Dover gab, war den Winslows nicht wohl. Das Dover Children’s Home war von Temperenzlerinnen gegründet worden, der Woman’s Christian Temperance Union.

»Sie sagen ja nicht, dass sie nur Kinder von Alkoholikern nehmen, Tommy«, gab Constance ihm zu bedenken.

»Sie sagen auch nicht, dass sie uns einen Alkoholtest machen lassen, Connie«, entgegnete Thomas. Sie alberten nur herum; es war nicht die Nüchternheit, die ihnen Sorgen bereitete, sondern das Christentum.

Im Coit House in Concord, einem der vielen Waisenhäuser, die für die Waisen des Bürgerkriegs gegründet worden waren, brauchten sich die Winslows nicht mehr blicken lassen. Sie hatten Faiths Kindermädchen dort gefunden, hatten aber zu viele Fragen nach der Verbindung zwischen dem Waisenhaus und der St. Paul’s School sowie der Episkopalkirche gestellt. Im Laufe der Zeit duldeten die Winslows nicht mal mehr den Hauch einer Konfessionszugehörigkeit. Mit dem Daniel Webster Home in Franklin verabredeten sie gar nicht erst einen Termin, nachdem sie erfahren hatten, dass es von einem Kaplan August Mack gegründet worden war; allein das Wort »Kaplan« hielt die Winslows ab.

»Brechen wir nicht zu viele Brücken hinter uns ab, Tommy?«, hatte Constance gefragt. Faiths Kindermädchen war ein großartiges Mädchen, obwohl sie aus dem Coit House gekommen war; sie hatte nicht versucht, Faith zu indoktrinieren, episkopal zu werden. Ursprünglich hatten die Winslows daran gedacht, FaithsAu-pair aus einem nicht religiösen Waisenhaus in Berlin im nördlichen New Hampshire zu holen, keine hundert Kilometer von Quebec entfernt.

Die Wasserkraft in Berlin stammte vom Androscoggin River und betrieb die Zellstoff- und Papiermühlen. »Paper City« lag so weit im Norden und so nah an Quebec, dass es viele Bewohner gab, die frankokanadischer Herkunft waren, aber das örtliche Waisenhaus war schon immer von einem Arzt und Krankenschwestern betrieben worden, nicht von Nonnen.

Ein von einem Arzt geleitetes, nicht religiöses Waisenhaus war genau richtig für die Winslows, nur der Name des Hauses schreckte Thomas ab: die Androscoggin Children’s Mission klang ihm arg katholisch. Möglicherweise legte der Englischlehrer das Wort »Mission« zu streng aus. »Ich verstehe unter Mission die ›Aussendung des Heiligen Geistes in die Welt‹, Connie«, erklärte Thomas.

»Vielleicht meinte der Arzt Mission nicht im lateinischen Sinn, Tommy«, gab Constance ihm zu bedenken; aber eben die lateinische Bedeutung des Wortes »Mission« war der Grund gewesen, warum die WinslowsFaithsAu-pair (ihr erstes nicht adoptiertes Waisenkind) aus dem Coit House geholt hatten. In der Zeit darauf durchlief der Name des nicht religiösen Waisenhauses in Berlin immer neue Veränderungen. Als Erstes verschwand das Wort »Mission«. Aber der neue Name war in anderer Hinsicht irreführend.

Bei »Androscoggin Wayward Children’s Home« kam ThomasWinslow auf den Gedanken, dass der Waisenhausarzt wohl ein gescheiterter Schriftsteller sein müsse – einer, der sich keine Titel ausdenken konnte. Das Wort »wayward«, auf Abwegen, klang, als seien die Kinder selbst schuld an ihrem Waisendasein. Dann erfuhren die Winslows, dass dank einer der Krankenschwestern ein dritter Name gefunden worden war. »Diesem Arzt sollte man nicht erlauben, irgendetwas zu benennen, Connie, nicht mal ein neues Medikament!«, sagte Thomas.

»Und noch viel wichtiger, Tommy, auch kein Waisenkind«, stellte Constance richtig.

»Recht hast du, Connie«, sagte Thomas; er blieb ganz liebenswürdig, wenn er mal übertrumpft wurde. Und weil eine der Krankenschwestern (aber nicht der Arzt) das mit dem Namen hinbekommen hatte, holten die Winslows das zweite und dritte Staatsmündel aus dem Androscoggin Children’s Shelter in Berlin. Und das aus keinem besseren Grund, fragte sich Constance, als dass das Waisenhaus nicht in Maine war?

Die Winslows mochten Dr.Roland Remillard und seine Krankenschwestern sehr. »Sicher, sie waren Frankokanadier, Connie, aber weit und breit kein Kruzifix«, hatte Thomas zu seiner Zufriedenheit festgestellt. Schwester Bergeron mochten sie am liebsten, aber auch Schwester Pinette war sehr nett. Lucie und Denise, die beiden Au-pair-Mädchen, die die Winslows aus dem Androscoggin Children’s Shelter holten, waren unadoptiert gebliebene Frankokanadierinnen. Diese beiden Staatsmündel waren wunderbare junge Frauen. Wie die Winslows bemerkten, ging Lucie ab und zu einmal in die Messe, Denise hingegen gar nicht.

Pennacook lag im südöstlichen New Hampshire, die Bürger der Stadt waren nicht so vertraut mit Frankokanadiern wie ihre Nachbarn weiter im Norden; doch selbst die Damen des Ortes liebten Lucie und Denise. An diesen Waisen gab es nichts auszusetzen, was Constance als schlagender Beweis präsentiert wurde. Sie wusste, ihr Tommy war absolut dagegen, Honors Kindermädchen irgendwo anders als in Berlin zu holen.

Constance machte sich Sorgen über einen Mangel an vierzehn- oder fünfzehnjährigen Mädchen im Androscoggin Children’s Shelter. Doch sie hätte sich keine Gedanken machen müssen, dass Berlin die nicht adoptierten Waisen ausgehen könnten. Wie Lucie eines Tages den Winslows gegenüber sagte: »Wir waren die ganze Zeit dort über transitoire und haben nur darauf gewartet, dass uns jemand nimmt.«

»Wenn einen keiner will, bis man vierzehn oder fünfzehn ist, dann bleibt man für immer transitoire. So ist das eben als nicht adoptierte Waise«, sagte Denise den Winslows. Die beiden sprachen ausgezeichnet Englisch. Constance sagte immer, Lucie und Denise hätten es wohl weniger schmerzlich gefunden, »übergangsweise« auf Französisch zu sagen.

»Recht hast du, Connie«, sagte ihr Mann. Ihre beiden Töchter Hope und Prudence sollten später dank der Hilfe dieser wunderbaren Frankokanadierinnen in der Schule in Französisch glänzen.

Was die frankokanadischen Kinder anging, die sie in der Pennacook Public School kennenlernten, so freundeten Lucie und Denise sich mit ihnen an. Zu ihrer Überraschung sprachen die meisten Frankokanadier in Pennacook kein Französisch. (In Berlin war das anders.) Die frankokanadischen Kinder aus Pennacook gingen in der Schule noch nicht mal in den Französisch-Unterricht. Lucie und Denise hatten auch einige der Eltern ihrer Schulkameradinnen kennengelernt, und selbst die sprachen daheim kein Französisch. Ab und an gab es Großeltern, die Französisch sprachen, aber auch nur ungern, erzählten Lucie und Denise den Winslows. Französisch zu sprechen habe sie gesellschaftlich isoliert, hatten die Großeltern Lucie und Denise gesagt. »Ich möchte nicht, dass meine Enkel Französisch sprechen; sonst sind sie genauso isoliert wie ich!«

Wie sich herausstellte, stammte die Hälfte der frankokanadischen Kinder, die Lucie und Denise kennengelernt hatten, aus einer einzigen Familie. Das überraschte die Winslows nicht. Die Beaudettes waren berühmt für ihre Zeugungskraft. Die Bürger der Stadt Pennacook waren den Beaudettes gegenüber ebenso abweisend wie den Winslows, wenn auch auf andere Weise. Niemand im Ort hätte die Winslows zu vieler Kinder beschuldigt, aber selbst die Damen des Ortes meinten, die Beaudettes »vermehrten sich wie die Karnickel«.

Die Kindermädchen der Winslows hatten Mitleid mit den Beaudettes, wie auch Thomas und Constance Winslow. Ungeachtet des ständigen Gebärens waren die Beaudettes zu allen freundlich. Mutter und Vater, Josephine und Antoine, hatten nur Mädchen bekommen, eins nach dem anderen, bis Josephine dafür zu alt wurde. Die Beaudette-Mädchen ertrugen es gutmütig, dass sie mehr Schwestern hatten, als man zählen konnte.

Die Bürger der Stadt Pennacook waren der Ansicht, dass der alte Antoine wohl einen Sohn hatte haben wollen; deshalb habe er nicht aufhören können. Die Damen des Ortes waren eher der Ansicht, dass Josephine nicht Nein sagen konnte. Man musste sich nur die Beaudette-Mädchen ansehen. Ein paar von ihnen wurden schon schwanger, als sie noch zur Schule gingen. Fast alle Beaudette-Mädchen bekamen Kinder, statt aufs College zu gehen. Die Einzige, die aufs College ging, war Chantal, und sie sprach als Einzige Französisch. Und die Beaudette-Mädchen bekamen noch mehr Mädchen, in der ganzen Familie gab es nur vier Jungs. Diese Jungs benahmen sich ordentlich. Sie blieben in der Schule und beendeten das College. Bis auf Arnaud heirateten alle spät und hatten kleine Familien.

Arnaud Beaudette sollte Jimmy Winslows Freund werden; er war der einzige Beaudette, der die Pennacook Academy besuchte.

Chantal war die kleinste und jüngste von Antoines und Josephines Töchtern. Es war schon merkwürdig, dass Chantal nur ein paar Jahre älter war als Arnaud, ihr Neffe – der Sohn einer ihrer Schwestern. Die arme Chantal, fanden die Damen des Ortes und bedauerten sie stillschweigend untereinander; damit meinten sie ihre Kleidung, die aufgetragenen Sachen. Chantal trug die übergroßen Blusen und Pullover ihrer älteren, größeren Schwestern auf. »Und das ist auch gut so, Tommy, diese Beaudette-Mädchen sind viel zu üppig ausgestattet, das ist nicht gut für sie«, sagte Constance Winslow.

»Recht hast du, Connie. Chantal verdient eine Chance, die Schule zu beenden und nicht übermäßige Aufmerksamkeit zu erregen«, erwiderte Thomas. »Für mich bist du gut genug ausgestattet, Connie«, konnte er sich nicht bremsen zu sagen.

»Hör bloß auf, Tommy«, antwortete sie immer darauf, denn Constance und ihre Töchter waren nur mäßig ausgestattet.

ChantalBeaudette war auch längst nicht so breit in den Hüften wie ihre älteren, größer gewachsenen Schwestern; deren Röcke und Kleider konnte sie nie tragen. Niemand in Pennacook hatte Chantal je in Rock oder Kleid gesehen. Sie trug nur Jeans oder Hosen; sie passten ihr genau, es konnten also keine aufgetragenen Sachen sein. Jimmy Winslow liebte sie.

Selbst die Bürger der Stadt Pennacook waren klug genug, um sich vorzustellen, dass Chantal den Beaudette-Busen geerbt haben musste. Sogar unter ihren locker sitzenden Oberteilen, diesen ausgebeulten Blusen und schlabbrigen Pullovern, glaubten die Damen des Ortes, Großes zu erkennen. ChantalBeaudette musste doch große Brüste haben, oder etwa nicht? Sehr viel später, lange nachdem die Winslows ihr viertes nicht adoptiertes Waisenkind fanden, verbreitete sich die grausamste Theorie bezüglich der fehlenden Umrisse von Chantals Brüsten in ihrer weiten Kleidung. Was, wenn sie mit nur einer einzigen, großen Brust zur Welt gekommen war – wenn sie nun einen Einteiler hatte?

Bevor die Bürger der Stadt Pennacook so in den Bann der vollbusigen Beaudettes gerieten – lange vor Jimmy Winslows Geburt –, konzentrierten sich die unbeirrbaren Winslows weiterhin darauf, eine vierte Waise zu suchen. Die letzten beiden, die wunderbaren Frankokanadierinnen, hatten ihnen gute Dienste geleistet. Verständlich, dass die Winslows erneut ein Mädchen aus dem Waisenhaus in Berlin wollten.

Aus dem, was in jenen Tagen in New Hampshire als Nachrichten durchging, ließ sich keineswegs recht erklären, was sich im Androscoggin Children’s Shelter genau zugetragen hatte. Zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs waren Waisen nicht die Einzigen, die einen Mangel an Beständigkeit spürten, aber die Winslows begriffen, dass es Waisen durchaus gestattet sein sollte, diese Vergänglichkeit persönlich zu nehmen. Ein Waisenkind ist mehr Kind als die anderen, wenn es um den Wunsch geht, die Dinge, die sie lieben, mögen täglich und nach Plan geschehen. Ein Waisenkind verzehrt sich ein Leben lang nach allem Guten, das das Versprechen in sich birgt zu bleiben.

Als die Winslows sich um einen Termin bemühten, erfuhren sie, dass das Androscoggin Children’s Shelter geschlossen war. Die Waisen waren auf andere Einrichtungen verteilt worden, die sich um ungewünschte Kinder kümmerten. Es tröstete die Winslows nicht sehr zu hören, dass »Kirchengruppen« ihre Hilfe bei dieser Umverteilung angeboten hatten.

Als die Winslows sich direkt mit Dr. Remillard in Verbindung setzen wollten, erfuhren sie, dass es dem Arzt nicht länger erlaubt war, in New Hampshire zu praktizieren. Und als die Winslows nachfragten, was denn aus Schwester Bergeron und Schwester Pinette geworden sei, so antwortete jemand recht grob: »Die Schwestern sind wohl zurück nach Kanada, und vielleicht ist Dr. Remillard mit ihnen mit – nicht, dass irgendjemand in Quebec sie haben will.«

Dem, was in New Hampshire als Nachrichten durchging, konnten die Winslows nur entnehmen, dass ein Arzt aus Berlin, ein gewisser Dr.Patrice Grenier, für das ehemalige Waisenhaus »in Bereitschaft war«, falls eines der Kinder krank wurde oder aus anderen Gründen einen Arzt aufsuchen musste. Zudem wurde berichtet, dass die Kirchengruppen sich um die Waisen kümmerten, die noch umverteilt werden mussten.

Die Winslows nahmen an, dass ihre beiden Waisen aus dem Androscoggin Shelter wussten, was in Berlin vor sich ging. Lucie und Denise waren schon immer sehr aufgeweckt gewesen, auch mit gerade einmal vierzehn und fünfzehn. Die beiden Frankokanadierinnen bestätigten nur, was die Winslows schon vermutet hatten.

»Der liebe Dr. Remillard! Sie müssen ihn erwischt haben, oder eine der Frauen, denen er geholfen hat, hat was verraten!«, rief Lucie aus.

»Schwester Bergeron oder Schwester Pinette hätten es niemals jemandem verraten. Das war eine von denen, die sich schwängern lassen hat und die jemanden brauchte, den sie verantwortlich machen konnte«, sagte Denise.

»Dr. Remillard hat den Frauen gegeben, was sie wollten. Entweder er hat ein Baby auf die Welt gebracht, das sie zurücklassen konnten, oder eine Abtreibung vorgenommen«, erklärte Lucie, aber das hatten sich die Winslows schon zusammengereimt. Zu jener Zeit, als Abtreibungen in Amerika verboten waren, konnte sich eine ungewollt schwangere Frau höchstens an einen Arzt im Waisenhaus wenden. Ein Arzt in einem Waisenhaus wusste, was oder was nicht mit ihnen passierte, diesen Kindern, die zurückgelassen wurden, die keine Babys mehr waren und nicht adoptiert wurden (wie Lucie und Denise).

Dr. Remillard, der den Frauen gab, was sie wollten, wünschten die Winslows alles Gute, wie auch Schwester Bergeron und Schwester Pinette (wo immer sie nun waren und wie immer sie es schafften, ein neues Leben zu beginnen).

Selbst die Bürger der Stadt Pennacook hatten eine leise Ahnung davon, was in einigen der Waisenhäuser vor sich ging. Wenn ein Mädchen in der Highschool (oder Junior Highschool) sechs Monate oder noch länger in der Schule fehlte, dann flüsterten die Damen des Ortes untereinander. Vielleicht hörte man, wie eine von ihnen sagte, das Mädchen sei ins Waisenhaus gegangen. Die Bürger der Stadt Pennacook verfügten gelegentlich über gesunden Menschenverstand. Wurde ein Mädchen schwanger, unterbrach sie den Schulbesuch, bevor man etwas sehen konnte; sie hielt sich bedeckt, bis sie ins Waisenhaus ging, ihr Baby bekam und es dort zurückließ. Die Damen des Ortes beobachteten genau. Blieb ein Mädchen der Schule nur für zwei, drei Monate fern, war sie vielleicht ebenfalls ins Waisenhaus gegangen. Nicht, um dort ihr Kind zu bekommen, sondern für eine Abtreibung.

Seit die illegalen Abtreibungen zur Regel geworden waren, hatten die Winslows eine tief‌liegende Unbarmherzigkeit bei den Bürgern der Stadt Pennacook bemerkt, vor allem bei den Damen des Ortes. Die Kirchgängerinnen waren am unbarmherzigsten. »Jetzt muss sie für den Spaß bezahlen«, hieß es über eine unverheiratete Frau oder ein junges Mädchen, das schwanger wurde. Sie hatte es also verdient, ein ungewolltes Kind zur Welt zu bringen; verdient, dafür bezahlen zu müssen, schwanger geworden zu sein. Die Winslows waren der Ansicht, dass denjenigen, die gegen die Abtreibung in den Kreuzzug zogen (Männern wie Frauen), egal war, was mit dem ungewollten Kind geschah, zumindest, nachdem es auf der Welt war. Diese Kreuzzügler interessierten sich nur dafür, die Mutter abzustrafen.

Was die lange Fahrt nach Berlin betraf, so ließen die Winslows es bleiben. »Vielleicht ist es besser so, Tommy. Wir sind mehr als genug Personen im Haus, die sich um Honor kümmern können«, sagte Constance zu ihrem Mann. Aber ThomasWinslow machte sich keine Sorgen um das Neugeborene. Bei drei Töchtern, die sich darum stritten, auf ihre kleine Schwester aufzupassen, und deren früheren Au-pairs, die sich einfach nicht von ihnen lösen konnten, würde Honor nicht unbeaufsichtigt bleiben. Eine ganze Armee von Aufpasserinnen stand bereit, um nach der vierten Tochter der Winslows zu sehen.

»Ich habe schon die Fahrkarten für die Eisenbahn gekauft, Connie. Ich dachte, wir versuchen es mal bei diesem Leser in St. Cloud’s«, sagte Thomas. Maine erwähnte er mit keinem Wort.

»Du solltest noch eine dritte Fahrkarte für die Rückfahrt kaufen, Tommy, falls es ein Mädchen gibt, das es mit uns versuchen möchte«, sagte Constance.

»Recht hast du, Connie«, sagte Thomas und zeigte ihr die dritte Fahrkarte für die Rückfahrt von St. Cloud’s.Constance begriff, wie sehr er sich gedrängt fühlte, den nicht adoptierten Waisen zu helfen, die man schon bald davonschicken würde.

Als ThomasWinslow an das Waisenhaus in St. Cloud’s, Maine, schrieb und die Familienumstände und das Glück darlegte, das sie mit ihren drei Au-pairs hatten, die früher mal Mündel des Staates gewesen waren, hatte der Waisenhausarzt in St. Cloud’s nicht lange mit einer Antwort gezögert. (ThomasWinslow erklärte, die Verzögerung habe allein mit dem Postweg nach und von Maine zu tun.) Nach dem Datum der Antwort zu urteilen (die Thomas ihr zeigte), konnte Constance erkennen, dass ihr Tommy schon nach St. Cloud’s geschrieben haben musste, bevor sie erfahren hatten, dass das Waisenhaus in Berlin geschlossen hatte. Natürlich freute es Constance, dass ihr Mann die ganze Zeit über eine Alternative nachgedacht hatte.

Der Arzt redete nicht lange um den heißen Brei herum. Sein Name lautete Wilbur Larch. »Wir brauchen hier in St. Cloud’s mehr Informationen zu Ihrer finanziellen Situation«, begann Dr. Larchs Brief. »Sie sind Lehrer von Beruf, Mr. Winslow, und Ihre Frau ist Bibliothekarin. Bei vier eigenen Kindern sollte man meinen, dass Sie eine Familie mit bescheidenen Mitteln sind. Es ist löblich, dass Sie und Ihre Familie drei ehemaligen Mündeln des Staates den Collegebesuch ermöglicht haben, aber wie können Sie sich das leisten? Teilen Sie uns das doch bitte mit, Mr. Winslow.« Und das war noch lange nicht alles, was der Arzt von den Winslows wissen wollte.

»Du meine Güte, Dr. Larch hält nicht gerade hinterm Berg, nicht, Tommy?«, fragte