Straße der Wunder - John Irving - E-Book

Straße der Wunder E-Book

John Irving

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Beschreibung

Juan Diego und seine für alle anderen unverständlich sprechende Schwester Lupe sind Müllkippenkinder in Mexiko. Ihre einzige Überlebenschance: der Glaube an die eigenen Wunderkräfte. Denn Juan Diego kann fliegen und Geschichten erfinden, Lupe sogar die Zukunft voraussagen, insbesondere die ihres Bruders. Um ihn zu retten, riskiert sie alles. Verführerisch bunt, magisch und spannend erzählt: zwei junge Migranten auf der Suche nach einer Heimat in der Fremde und in der Literatur.

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John Irving

Straße der Wunder

Roman

Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog

Diogenes

Für Martin Bell und

Mary Ellen Mark:

Lasst uns gemeinsam beenden,

was wir gemeinsam begonnen haben.

Außerdem für Minnie Domingo und

Rick Dancel und ihre

Tochter Nicole Dancel,

die mir

die Philippinen zeigten.

Und für meinen Sohn Everett,

der in Mexiko mein Dolmetscher und Übersetzer war,

sowie für Karina Juárez,

unsere Reiseführerin in Oaxaca

– dos abrazos muy fuertes.

Journeys end in lovers meeting.

William Shakespeare, ›Twelfth Night‹

1Verlorene Kinder

Hin und wieder legte Juan Diego Wert darauf klarzustellen: »Ich bin Mexikaner – ich bin in Mexiko geboren und auch dort aufgewachsen.« In letzter Zeit hatte er sich jedoch angewöhnt zu sagen: »Ich bin Amerikaner – ich lebe seit vierzig Jahren in den USA.« Oder er sagte, um der Nationalitätenfrage aus dem Weg zu gehen: »Ich bin aus dem Mittleren Westen – genauer gesagt: aus Iowa.«

Nie sagte er, er sei mexikanischstämmiger Amerikaner. Was nicht nur daran lag, dass Juan Diego dieses Etikett missfiel, denn dafür hielt er es nämlich, und es missfiel ihm tatsächlich. Juan Diego war vielmehr der Ansicht, dass die Leute ständig nach Gemeinsamkeiten in der mexikanisch-amerikanischen Erfahrungswelt suchten und er in seiner eigenen Erfahrungswelt keinen gemeinsamen Nenner erkannte; genauer gesagt, er suchte gar nicht danach.

Stattdessen sagte Juan Diego, er habe zwei Leben geführt – getrennt voneinander und vollkommen unterschiedlich. Die mexikanische Erfahrungswelt war sein erstes Leben, seine Kindheit und frühe Jugend. Nachdem er Mexiko verlassen hatte – und nie zurückgekehrt war –, hatte er ein zweites Leben begonnen, in einer amerikanischen Erfahrungswelt, einer im Mittleren Westen. (Oder wollte er damit auch sagen, dass sein zweites Leben relativ ereignislos verlaufen war?)

Doch Juan Diego betonte immer, er habe diese beiden Leben in seinem Kopf – oder jedenfalls in seiner Erinnerung, aber auch in seinen Träumen – »doppelgleisig« gelebt und nachgelebt.

Eine gute Freundin Juan Diegos, die auch seine Ärztin war, zog ihn wegen dieser »Doppelgleisigkeit« regelmäßig auf. Sie gab ihm zu verstehen, entweder sei er immerzu ein mexikanischer Junge oder ein Erwachsener aus Iowa. Auch wenn Juan Diego sonst nur wenig unwidersprochen ließ, so hatte er ihr in dieser Frage doch beigepflichtet.

 

Ehe die Betablocker seine Träume beeinträchtigten, hatte Juan Diego seiner Ärztin erzählt, er sei immer während des »harmlosesten« seiner wiederkehrenden Alpträume aufgewacht. Bei diesem Alptraum handelte es sich eigentlich um eine Erinnerung an den schicksalsträchtigen Morgen, als er zum Krüppel wurde. Und harmlos war auch nur der Anfang dieses Alptraums oder dieser Erinnerung. Es geschah in Oaxaca, Mexiko, auf dem Gelände der städtischen Müllkippe im Jahre 1970 – als Juan Diego vierzehn war.

In Oaxaca war er ein sogenanntes Müllkippenkind gewesen (un niño de la basura) und hatte in einer Hütte in Guerrero gewohnt, der Siedlung für Familien, die auf der Deponie (el basurero) arbeiteten. 1970 lebten nur zehn Familien in Guerrero. Damals hatte die Stadt Oaxaca etwa 100000 Einwohner; viele von ihnen wussten nicht, dass das Sammeln und Sortieren der Gegenstände auf dem basurero hauptsächlich von den Müllkippenkindern erledigt wurde. Sie hatten die Aufgabe, Glas, Aluminium und Kupfer vom übrigen Müll zu trennen.

Wer wusste, was die Kinder dort machten, nannte sie los pepenadores – »die Müllsammler«. Und das war Juan Diego mit vierzehn: ein Müllkippenkind, ein Müllsammler. Doch der Junge war auch ein Leser; es sprach sich herum, dass ein niño de la basura sich selbst das Lesen beigebracht hatte. In der Regel waren Müllkippenkinder nicht die eifrigsten Leser, und junge Leser, egal, welcher Herkunft und welchen Hintergrunds, sind selten Autodidakten. Deshalb sprach es sich herum, und so hörten die Jesuiten, die so großen Wert auf Bildung legen, von dem Jungen aus Guerrero. Die beiden alten Jesuitenpriester im Templo de la Compañia de Jesús (dem Tempel der Gesellschaft Jesu) nannten Juan Diego den »Müllkippenleser«.

»Jemand sollte dem Müllkippenleser ein paar gute Bücher bringen – Gott weiß, was der Junge auf seiner Halde für Lesestoff findet!«, sagte entweder Pater Alfonso oder Pater Octavio. Immer, wenn einer der beiden alten Priester »jemand sollte« sagte, dann war Bruder Pepe derjenige, der es tat. Und Pepe war ein Vielleser.

Denn Bruder Pepe hatte ein Auto – und weil er aus Mexico City kam, fiel ihm das Autofahren in Oaxaca relativ leicht. Pepe war Lehrer an der Jesuitenschule; sie war schon lange eine angesehene Schule – jeder wusste, dass die Gesellschaft Jesu gut darin war, Schulen zu betreiben. Das jesuitische Waisenhaus allerdings war recht neu (das ehemalige Kloster war erst in den sechziger Jahren umgebaut worden), und nicht alle fanden den Namen dieses Waisenhauses gelungen; manche hielten Hogar de los Niños Perdidos für zu lang und für ein wenig streng.

Doch Bruder Pepes Herz gehörte der Schule und dem Waisenhaus; im Laufe der Jahre mussten die meisten zartbesaiteten Seelen, denen der Klang des Namens »Heim der verlorenen Kinder« nicht gefiel, zugeben, dass die Jesuiten auch ein ziemlich gutes Waisenhaus betrieben. Außerdem nannten es die Leute sowieso nur noch »Verlorene Kinder«. Eine der Nonnen, die sich um die Kinder kümmerten, war in dieser Hinsicht direkter; bestimmt bezog sich Schwester Gloria nur auf einige besonders aufsässige Kinder, nicht auf alle Waisen, wenn sie gelegentlich »los perdidos« – die Verlorenen – murmelte.

Glücklicherweise brachte nicht Schwester Gloria dem jungen Müllkippenleser die Bücher auf die Deponie; hätte Gloria die Bücher ausgewählt und zugestellt, wäre Juan Diegos Geschichte vielleicht schon zu Ende gewesen, ehe sie begann. Doch für Bruder Pepe hatte Lesen einen besonderen Stellenwert; er war Jesuit, weil die Jesuiten ihn zu einem Leser gemacht und ihm Jesus nahegebracht hatten, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Man fragte Pepe besser nicht, ob Lesen oder Jesus ihn gerettet hatten, und was bei seiner Rettung die größere Rolle gespielt hatte.

Mit fünfundvierzig war er zu dick – »eine Figur wie eine Putte, wenn auch kein himmlisches Wesen«, wie Bruder Pepe sich selbst beschrieb.

Pepe war der Inbegriff von Güte; er verkörperte jenes berühmte Mantra der heiligen Teresa von Ávila, das in seinen täglichen Gebeten immer an erster Stelle stand: »O Herr, bewahre uns vor törichter Andacht und sauertöpfischen Heiligen!« Dieses Gebet der Teresa von Ávila gefiel Pepe am allerbesten. Kein Wunder, dass die Kinder ihn mochten.

Bruder Pepe war nie zuvor auf der Müllkippe von Oaxaca gewesen. Damals verbrannte man dort alles Brennbare; überall loderte es. (Bücher waren praktische Feueranzünder.) Als Pepe aus seinem VW Käfer stieg, passten der Gestank der Müllkippe und die Hitze der Feuer zu seiner Vorstellung von der Hölle – nur wäre er nie auf die Idee gekommen, dass in der Hölle Kinder arbeiteten.

Auf dem Rücksitz des Käfers lagen einige sehr gute Bücher; gute Bücher waren der beste Schutz vor dem Bösen, den Pepe je in Händen gehalten hatte; den Glauben an Jesus konnte man nicht in Händen halten, jedenfalls nicht so wie gute Bücher.

»Ich suche den Leser«, sagte Pepe zu den Deponiearbeitern, sowohl den Erwachsenen als auch den Kindern; der Blick, mit dem los pepenadores Pepe bedachten, ließ erkennen, wie gering sie das Lesen schätzten. Eine Erwachsene sprach zuerst – sie war vielleicht in Pepes Alter oder ein wenig jünger, wahrscheinlich die Mutter des einen oder anderen Müllkippenkindes. Sie sagte Pepe, er solle Juan Diego in Guerrero suchen, in der Hütte von el jefe.

Bruder Pepe war verwirrt; vielleicht hatte er sie falsch verstanden. El jefe war der Deponiechef, der Boss der Müllkippe. War der Leser der Sohn des Chefs?, fragte Pepe die Arbeiterin.

Etliche Müllkippenkinder lachten, dann wandten sie sich ab. Die Erwachsenen fanden es weniger lustig, und die Frau sagte nur: »Nicht wirklich.« Sie deutete in Richtung Guerrero, wo die Hütten aus dem errichtet worden waren, was die Arbeiter auf der Müllkippe gefunden hatten. Guerrero war eine Deponiesiedlung; sie schmiegte sich an einen Hügel unter dem basurero, die Hütte des Chefs lag ganz am Rand – in dem Teil, der der Deponie am nächsten war.

Schwarze Rauchsäulen standen über der Müllkippe wie gen Himmel ragende finstere Pfeiler. Hoch oben kreisten Geier, doch Pepe sah, dass es auch unten Aasfresser gab. Überall auf der Kippe waren Hunde, die den Höllenfeuern auswichen, den Männern in Lastwagen aber nur widerwillig Platz machten und sonst fast keinem. Für die Kinder waren diese Hunde bedrohliche Konkurrenz, auch sie durchsuchten den Müll – wenn auch nicht nach den gleichen Dingen. (Die Hunde interessierten sich nicht für Glas, Aluminium oder Kupfer.) Die meisten waren natürlich Streuner, und manche hatten nicht mehr lange zu leben.

Pepe blieb nicht lange genug, um die toten Hunde zu entdecken oder herauszufinden, was mit ihnen geschah; sie wurden verbrannt, doch manchmal erst, nachdem die Geier sie gefunden hatten.

Am Fuß der Halde, in Guerrero, sah Pepe noch mehr Hunde. Die Bewohner hatten sie zu sich genommen, und Pepe fand, sie sähen wohlgenährter aus und zeigten ein ausgeprägteres Revierverhalten. Sie glichen mehr den Hunden, die man in jeder beliebigen Wohngegend antraf; sie waren reizbarer und aggressiver als die Kippenhunde, die eher unterwürfig oder verstohlen herumschlichen, ihr Revier aber auf eine durchtriebene Art verteidigten.

Man sollte sich lieber nicht von einem Hund auf der Müllkippe beißen lassen, auch nicht von einem in Guerrero, da war sich Pepe ziemlich sicher, schließlich kamen die meisten von ihnen ursprünglich auch von der Kippe.

Manchmal brachte Bruder Pepe kranke Kinder zur Untersuchung durch Dr. Vargas ins Rotkreuz-Krankenhaus an der Calle Armenta y López; Vargas gab den Waisenhauskindern und den Müllkippenkindern immer den Vorrang. Er hatte Pepe erzählt, für die Kinder, die auf der Deponie wühlten, ginge von den Hunden und von Spritzen die größte Gefahr aus – auf der Kippe lagen jede Menge weggeworfene Spritzen mit gebrauchten Injektionsnadeln herum. Ein niño de la basura konnte sich leicht an einer schmutzigen Nadel stechen.

»Hepatitis B oder C, Tetanus – von allen sonstigen denkbaren bakteriellen Infektionen ganz zu schweigen«, hatte Dr. Vargas zu Pepe gesagt.

»Und ein Hund auf der Müllkippe, eigentlich jeder Hund in Guerrero, könnte vermutlich Tollwut haben«, hatte Bruder Pepe ergänzt.

»Man muss die Müllkippenkinder schlicht gegen Tollwut impfen, wenn sie von so einem Hund gebissen werden«, sagte Vargas. »Doch sie haben eine Heidenangst vor Spritzen. Sie fürchten sich vor gebrauchten Nadeln, und das ist auch gut so, aber dadurch haben sie auch Angst, sich impfen zu lassen! Werden sie von Hunden gebissen, haben sie mehr Angst vor der Impfung als vor der Tollwut, und das ist schlecht.« Pepe hielt Vargas für einen guten Menschen, auch wenn der ein Wissenschaftler war und nicht gläubig. (Pepe wusste, dass Vargas in geistlichen Dingen anstrengend sein konnte.)

Als Pepe aus seinem Wagen stieg und sich der Hütte des jefe in Guerrero näherte, dachte er an die Tollwutgefahr; die Arme fest um die guten Bücher geschlungen, die er dem Müllkippenleser mitbrachte, nahm er sich vor dem Gebell und den unfreundlich aussehenden Hunden in Acht. »¡Hola!«, rief der füllige Jesuit in Richtung der fliegengitterbewehrten Hüttentür. »Ich habe Bücher für Juan Diego, den Leser, dabei – gute Bücher!«, rief Bruder Pepe. Als er das böse Knurren aus dem Inneren der Hütte hörte, trat er von der Fliegengittertür zurück.

Die Arbeiterin auf der Deponie hatte etwas vom Boss der Müllkippe gesagt – el jefe persönlich. Sie hatte seinen Namen genannt. »Sie werden Rivera problemlos erkennen. Ihm gehört der furchterregendste Hund.«

Doch hinter der Fliegengittertür sah Bruder Pepe den so grimmig knurrenden Hund nicht. Er wich einen weiteren Schritt von der Tür zurück, als sie plötzlich aufging. Es war nicht Rivera oder sonst wer, der einem Deponieboss ähnelte; die kleine, aber finster dreinblickende Person in der Tür von Riveras Hütte war auch nicht Juan Diego, sondern ein dunkeläugiges, wild aussehendes Mädchen – die dreizehnjährige Lupe, die jüngere Schwester des Müllkippenlesers. Lupe sprach vollkommen unverständlich; was sie von sich gab, klang nicht mal annähernd wie Spanisch. Nur Juan Diego wusste, was sie meinte; er fungierte für seine Schwester als Dolmetscher. Doch Lupes seltsame Sprache war nicht das Rätselhafteste an ihr; das Mädchen konnte Gedanken lesen. Lupe wusste, was man gerade dachte – und manchmal wusste sie mehr über einen als das.

»Es ist ein Typ mit einem Stapel Bücher!«, rief Lupe in die Hütte, was zu einer Bellkakophonie des unangenehm klingenden, aber noch immer nicht zu sehenden Hundes führte. »Er ist Jesuit, ein Lehrer, einer von den Gutmenschen aus dem Waisenhaus.« Lupe hielt inne und las Bruder Pepes Gedanken, die leicht verwirrt waren; er hatte kein Wort von dem verstanden, was sie gesagt hatte. »Er hält mich für geistig behindert und befürchtet, dass mich das Waisenhaus nicht aufnimmt – dass die Jesuiten mich für nicht lernfähig halten könnten!«, rief Lupe ihrem Bruder zu.

»Sie ist nicht geistig behindert!«, rief der Junge irgendwo im Hütteninneren. »Sie versteht alles!«

»Vermutlich suche ich deinen Bruder«, sagte der Jesuit zu dem Mädchen. Pepe lächelte sie an, und sie nickte; Lupe sah, dass ihm seine heroischen Bemühungen, die vielen Bücher festzuhalten, den Schweiß auf die Stirn trieben.

»Der Jesuit ist nett, nur ein wenig fett«, rief das Mädchen Juan Diego zu. Sie ging wieder in die Hütte und hielt Bruder Pepe, der vorsichtig eintrat, die Fliegengittertür auf; er sah sich überall nach dem knurrenden, aber weiterhin unsichtbaren Hund um.

Der Junge, der Müllkippenleser persönlich, war kaum besser zu sehen. Die ihn umgebenden Bücherregale waren stabil gebaut – Riveras Arbeit, dachte Pepe. So wie viele jugendliche, aber ernsthaf‌te Leser war Juan Diego ein verträumt aussehender Knabe; er wirkte nicht wie jemand, der gut schreinern konnte. Er sah seiner Schwester sehr ähnlich, und beide erinnerten Pepe an jemanden. Nur kam der schwitzende Jesuit gerade nicht drauf, wer dieser Jemand sein könnte.

»Wir sehen beide unserer Mutter ähnlich«, sagte ihm Lupe. Juan Diego, der auf einem durchgesessenen Sofa lag, ein Buch aufgeschlagen auf der Brust, dolmetschte Lupe diesmal nicht; was die Bemerkungen seiner hellseherischen Schwester anging, wollte er den jesuitischen Lehrer lieber im Dunkeln lassen.

»Was liest du gerade?«, fragte Bruder Pepe den Jungen.

»Heimatgeschichte – Kirchengeschichte, könnte man sagen«, antwortete Juan Diego.

»Es ist langweilig«, sagte Lupe.

»Lupe findet es langweilig – vermutlich ist es ein wenig langweilig«, räumte der Junge ein.

»Lupe liest auch?«, fragte Bruder Pepe. Neben dem Sofa stand ein improvisierter, aber ziemlich stabiler Tisch aus einem Sperrholzbrett und zwei Orangenkisten, auf dem Pepe seine Bücherladung ablegte.

»Ich lese ihr alles laut vor«, sagte Juan Diego dem Lehrer. Der Junge hielt seine aktuelle Lektüre hoch. »In dem Buch steht, dass ihr als Dritte gekommen seid, ihr Jesuiten«, erläuterte Juan Diego. »Sowohl die Augustiner als auch die Dominikaner waren vor euch in Oaxaca – dann erst kamt ihr in die Stadt. Vielleicht sind die Jesuiten deshalb in Oaxaca keine besonders große Nummer«, fuhr der Junge fort. (Für Bruder Pepe hörte sich das erstaunlich vertraut an.)

»Und die Jungfrau Maria stellt Unsere Liebe Frau von Guadalupe in den Schatten; Guadalupe wird von Maria und der Jungfrau der Einsamkeit untergebuttert«, brabbelte Lupe unverständlich los. »La Virgen de la Soledad ist in Oaxaca ein Superstar – die Jungfrau der Einsamkeit und ihre blöde Burro-Geschichte! Nuestra Señora de la Soledad buttert Guadalupe auch unter. Ich bin für Guadalupe!«, sagte Lupe und zeigte auf sich; sie wirkte erbost.

Bruder Pepe sah Juan Diego an, der offenbar vom Krieg der Jungfrauen die Nase voll hatte, aber brav alles dolmetschte.

»Ich kenne das Buch!«, rief Pepe.

»Tja, das überrascht mich nicht, es ist eins von euren«, sagte Juan Diego und reichte Pepe seine Lektüre. Der alte Band roch stark nach Müllkippe, und einige Seiten sahen angekokelt aus. Es war einer dieser akademischen Wälzer – katholische Gelehrsamkeit von der Sorte, die fast keiner liest. Das Buch stammte aus der Bibliothek im ehemaligen Kloster, dem jetzigen Hogar de los Niños Perdidos. Viele der alten und unlesbar gewordenen Bücher hatte man zur Deponie gebracht, als das Kloster umgebaut wurde, um die Waisen aufzunehmen und auch um für die Jesuitenschule mehr Platz in den Regalen zu schaffen.

Bestimmt hatten Pater Alfonso oder Pater Octavio entschieden, welche Bücher in den Müll wanderten und welche es wert waren, aufbewahrt zu werden. Die Geschichte, wie die Jesuiten als Dritte in Oaxaca eintrafen, hatte den beiden alten Priestern vielleicht missfallen, dachte Pepe; außerdem hatte das Buch wahrscheinlich kein Jesuit, sondern ein Augustiner oder ein Dominikaner geschrieben, und das allein mochte dafür gesorgt haben, dass das Buch den Höllenfeuern des basurero überantwortet wurde. (Tatsächlich legten die Jesuiten großen Wert auf Bildung, doch keiner hatte je behauptet, sie wären nicht konkurrenzorientiert.)

»Ich habe dir einige lesbarere Bücher mitgebracht«, sagte Pepe zu Juan Diego. »Ein paar Romane, gut erzählt – Literatur eben«, schloss der Lehrer aufmunternd.

»Keine Ahnung, was ich von Literatur halten soll«, sagte die dreizehnjährige Lupe misstrauisch. »Nicht alle diese Geschichten sind so toll, wie behauptet wird.«

»Fang bloß nicht damit an«, sagte Juan Diego zu ihr. »Die Hundegeschichte war einfach nichts für Kinder.«

»Welche Hundegeschichte?«, wollte Bruder Pepe wissen.

»Fragen Sie lieber nicht«, bat ihn der Junge, doch es war zu spät; Lupe kramte herum, durchstöberte die Regale, in denen vor den Flammen gerettete Bücher standen.

»Dieser Russe«, sagte das auf‌fällige Mädchen.

»Hat sie ›Russe‹ gesagt – du liest doch nicht etwa auch Russisch, oder?«, fragte Pepe Juan Diego.

»Nein, nein, sie meint den Schriftsteller. Der Autor ist Russe«, erklärte der Junge.

»Wie verstehst du sie eigentlich?«, fragte ihn Pepe. »Ist das überhaupt Spanisch, was sie da spricht …«

»Natürlich ist es Spanisch!«, rief die Kleine; sie hatte das Buch gefunden, das ihre Zweifel am Erzählen, an der Literatur geweckt hatte, und reichte es Bruder Pepe.

»Lupes Sprache ist nur ein wenig anders«, sagte Juan Diego. »Ich verstehe sie.«

»Ach, der Russe«, sagte Pepe. Es handelte sich um eine Sammlung von Čechovs Kurzgeschichten, Die Dame mit dem Hündchen und andere Erzählungen.

»Es geht dabei überhaupt nicht um das Hündchen«, beklagte sich Lupe, »sondern um Leute, die nicht miteinander verheiratet sind, aber Sex miteinander haben.«

Juan Diego dolmetschte wieder brav. »Sie hat nur Hunde im Kopf«, erklärte der Junge Pepe. »Ich habe ihr gesagt, die Erzählung ist nichts für sie.«

Pepe hatte Mühe, sich an Die Dame mit dem Hündchen zu erinnern; an das Hündchen selbst erinnerte er sich selbstredend gar nicht. In der Erzählung ging es um eine verbotene Liebe – mehr fiel ihm nicht ein. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Buch altersgerecht für dich ist«, sagte der Lehrer und Jesuit mit einem verlegenen Lächeln.

In dem Moment merkte Pepe, dass es sich um eine englische Übersetzung von Čechovs Erzählungen handelte beziehungsweise eine amerikanische, in den 1940er Jahren in New York erschienene Ausgabe. »Aber das ist ja Englisch!«, rief Bruder Pepe. »Verstehst du Englisch?«, fragte er das wild aussehende Mädchen. »Kannst etwa auch Englisch lesen?«, fragte der Jesuit den Müllkippenleser. Sowohl der als auch seine jüngere Schwester zuckten die Achseln. Wo habe ich nur dieses Zucken schon mal gesehen?, fragte sich Pepe erneut.

»Bei unserer Mutter«, antwortete Lupe, doch Pepe verstand sie nicht.

»Was ist mit unserer Mutter?«, fragte Juan Diego seine Schwester.

»Er hat überlegt, woher er unser Achselzucken kennt«, antwortete ihm Lupe.

»Du hast dir also auch Englisch beigebracht«, sagte Pepe langsam zu dem Jungen; aus unerfindlichen Gründen bescherte ihm das Mädchen auf einmal eine Gänsehaut.

»Englisch ist auch nur ein bisschen anders – ich versteh’s«, sagte der Junge, als ginge es immer noch darum, dass er die fremden Laute seiner Schwester verstand.

Pepes Gedanken überschlugen sich. Das waren außergewöhnliche Kinder – der Junge konnte alles lesen; womöglich gab es nichts, was er nicht verstand. Und die Kleine – nun, sie war anders. Sie dazu zu bringen, normal zu reden, wäre eine echte Herausforderung. Aber waren diese Müllkippenkinder nicht genau die Sorte begabter Schüler, wie sie die Jesuitenschule suchte? Und hatte nicht die Arbeiterin auf der Kippe gesagt, Rivera, el jefe, sei »nicht wirklich« der Vater des jungen Lesers? Aber wer war denn dann der Vater der beiden, und wo steckte er? Und von einer Mutter war weit und breit nichts zu sehen, jedenfalls nicht in dieser verwahrlosten Hütte, dachte Pepe. Die Tischlerarbeiten waren in Ordnung, doch alles andere war das reinste Chaos.

»Sag ihm, wir sind keine niños perdidos – er hat uns doch gefunden, oder?«, sagte Lupe plötzlich zu ihrem begabten Bruder. »Sag ihm, wir gehören nicht ins Waisenhaus. Ich muss nicht normal reden – du verstehst mich ja gut«, sagte sie zu Juan Diego. »Sag ihm, wir haben eine Mutter, und wahrscheinlich kennt er sie sogar!«, rief Lupe. »Sag ihm, Rivera ist wie ein Vater, nur besser. Sag ihm, el jefe ist besser als jeder Vater!«

»Sprich langsam, Lupe!«, sagte Juan Diego. »Wenn du nicht langsamer redest, kann ich ihm gar nichts sagen.« Es gab eine ganze Menge, was er Bruder Pepe erzählen sollte, angefangen damit, dass Pepe ihre Mutter wahrscheinlich kannte – abends ging sie auf der Calle Zaragoza arbeiten, doch sie arbeitete auch für die Jesuiten; sie war deren beste Putzfrau.

Da die Mutter der beiden nachts auf der Straße arbeitete, war sie vermutlich eine Prostituierte, und Bruder Pepe kannte Esperanza tatsächlich – keine Frage, woher die Kinder ihre dunklen Augen und das unbekümmerte Achselzucken hatten, auch wenn unklar war, wem der Junge seine Lesebegabung verdankte.

Bezeichnenderweise verwendete der Junge nicht die Formulierung »nicht wirklich«, wenn er von Rivera als seinem möglichen Vater sprach. In Juan Diegos Worten war der Deponiechef »wahrscheinlich nicht« sein Vater, doch Rivera könnte des Jungen Vater sein – man müsse sich ein »vielleicht« hinzudenken, so formulierte es Juan Diego. Wenn es nach Lupe ging, so war el jefe »garantiert nicht« ihr Vater. Lupe hatte den Eindruck, sie habe viele Väter, »zu viele, um alle aufzuzählen«, doch der Junge ging über diese biologische Unmöglichkeit stillschweigend hinweg. Er sagte lediglich, Rivera und ihre Mutter seien »nicht mehr auf diese Art zusammen gewesen«, als Esperanza mit Lupe schwanger wurde.

Es war zwar eine recht langatmige, aber unaufgeregte Art des Geschichtenerzählens – wie der Junge seine und Lupes Einschätzung des Deponiechefs als »wie ein Vater, nur besser« zum Besten gab und wie die Müllkippenkinder der Meinung waren, sie hätten hier ein Zuhause. Juan Diego teilte Lupes Meinung, sie seien »kein Waisenhausmaterial«. Etwas geschönt klang es bei Juan Diego etwa so: »Wir sind weder jetzt noch in Zukunft niños perdidos. Wir haben hier in Guerrero ein Zuhause. Und wir haben auf der Müllkippe Arbeit!«

Womit sich jedoch für Bruder Pepe die Frage stellte, warum diese Kinder nicht auf der Deponie neben los pepenadores arbeiteten. Warum waren Lupe und Juan Diego nicht mit den anderen Kindern da draußen beim Mülldurchsuchen? Behandelte man sie besser oder schlechter als die Kinder der anderen Familien, die auf der Kippe arbeiteten und in Guerrero wohnten?

»Besser und schlechter«, antwortete Juan Diego dem Jesuitenlehrer, ohne zu zögern. Bruder Pepe dachte an die Verachtung, die die anderen Müllkippenkinder für das Lesen übrighatten, und Gott allein wusste, was sie von dem wild aussehenden Mädchen hielten, das unverständliches Zeug brabbelte und in dessen Gegenwart es Pepe kalt den Rücken runterlief.

»Rivera lässt uns die Hütte nur mit ihm zusammen verlassen«, erklärte Lupe. Juan Diego übersetzte das nicht nur, er ging für Bruder Pepe auch ins Detail.

Rivera beschütze sie wirklich, sagte der Junge zu Pepe. El jefe sei wie ein Vater und besser als ein Vater, weil er für die Müllkippenkinder sorgte und auf sie achtgab. »Und er schlägt uns nie«, unterbrach ihn Lupe; auch das übersetzte Juan Diego brav.

»Verstehe«, sagte Bruder Pepe. Doch er begriff erst allmählich, in welcher Lage sich die Müllkippenkinder befanden, die zwar einerseits besser war als die der anderen. Andererseits war sie auch schlechter – weil die jungen Müllsucher und deren Familien in Guerrero Lupe und Juan Diego ablehnten. Die beiden Geschwister mochten zwar Riveras Schutz genießen (weswegen man sie ablehnte), doch el jefe war nicht wirklich ihr Vater. Und ihre Mutter, die abends auf dem Straßenstrich arbeitete, war eine Prostituierte, die gar nicht in Guerrero wohnte.

Es gibt überall eine Hackordnung, dachte Bruder Pepe traurig.

»Was ist eine Hackordnung?«, fragte Lupe ihren Bruder. (Jetzt begriff Pepe allmählich, dass das Mädchen seine Gedanken kannte.)

»Eine Hackordnung heißt, dass sich die anderen niños de la basura für was Besseres halten«, antwortete ihr Juan Diego.

»Ganz genau«, bestätigte Pepe ein wenig irritiert. Da war er gekommen, um den Müllkippenleser, den berühmten Knaben aus Guerrero, kennenzulernen und ihm gute Bücher zu bringen, wie es sich für einen guten Lehrer ziemte – und stellte nun fest, dass er, der Jesuit Pepe höchstpersönlich, derjenige war, der noch eine Menge zu lernen hatte.

In diesem Moment zeigte sich der permanent grollende, aber bisher unsichtbare Hund, wenn es denn ein Hund war. Das wieselartige kleine Geschöpf kroch unter dem Sofa hervor – mehr nagetier- als hundeähnlich, war Pepes erster Gedanke.

»Er heißt Schmutzigweiß und ist ein Hund, keine Ratte!«, sagte Lupe entrüstet zu Bruder Pepe.

Juan Diego dolmetschte das für Pepe, ergänzte dann aber: »Schmutzigweiß ist ein dreckiger kleiner Feigling – und undankbar dazu.«

»Ich habe ihm das Leben gerettet!«, rief Lupe. Sogar als der magere, krumme Hund sich den ausgestreckten Armen des Mädchens näherte, zog er unwillkürlich die Lefzen hoch und bleckte die spitzen Zähne.

»Man hätte ihn Vormtodebewahrt nennen sollen statt Schmutzigweiß«, sagte Juan Diego lachend. »Als sie ihn fand, steckte sein Kopf in einem Milchkarton.«

»Er ist noch ein Welpe. Er war am Verhungern«, protestierte Lupe.

»Schmutzigweiß hungert immer noch nach irgendwas«, sagte Juan Diego.

»Hör auf«, befahl ihm seine Schwester; der Welpe zitterte in ihren Armen.

Pepe versuchte, seine Gedanken zu unterdrücken, was aber schwieriger war, als er sich vorgestellt hatte; er zog es vor, aufzubrechen, und sei es auch überstürzt – immer noch besser, als dem übersinnlich begabten Mädchen zu erlauben, weiter seine Gedanken zu lesen. Die unschuldige Dreizehnjährige sollte nicht wissen, was Pepe dachte.

Er ließ den Motor seines VW Käfers an; weder von Rivera noch von dessen »furchterregendstem« Hund war etwas zu sehen, als der Lehrer Guerrero verließ. Die schwarzen Rauchsäulen stiegen überall aus dem basurero empor, so wie die schwärzesten Gedanken des gutherzigen Jesuiten.

Die Mutter der beiden Müllkippenkinder, Esperanza, hieß bei den Patres Alfonso und Octavio nur »die Gefallene«. In den Köpfen der beiden alten Priester gab es keinen tieferen Fall als den, eine Prostituierte zu sein; keine noch so erbärmlichen menschlichen Wesen waren so verloren wie diese bedauernswerten Frauen. Dass Esperanza als Putzfrau für die Jesuiten arbeitete, war ein vermeintlich frommer Versuch, sie zu retten.

Aber müssen diese Müllkippenkinder nicht auch gerettet werden?, fragte sich Pepe. Gehören sie nicht auch zu »den Gefallenen«, oder laufen sie nicht Gefahr, in Zukunft zu fallen? Oder zumindest noch weiter abzustürzen?

Als der Junge aus Guerrero erwachsen war, als sich Juan Diego bei seiner Ärztin über die Betablocker beklagte, hätte Bruder Pepe neben dem ehemaligen Müllkippenkind stehen sollen; Pepe hätte Juan Diegos Kindheitserinnerungen und dessen wüsteste Träume bezeugt. Selbst die Alpträume dieses Müllkippenlesers waren es wert, bewahrt zu werden, wie Bruder Pepe wusste.

 

Als die beiden Müllkippenkinder knapp über zehn waren, war Juan Diegos häufigster Traum kein Alptraum. Der Junge träumte oft, dass er flog – nun ja, nicht direkt. Eher war es eine unbeholfen aussehende, sonderbare Fortbewegungsart in der Luft, die mit »Fliegen« wenig zu tun hatte. Es war immer derselbe Traum: Die Menschen in einer Menge schauten nach oben und sahen, dass Juan Diego am Himmel entlangspazierte. Von unten, vom Boden aus, schien der Junge ganz vorsichtig kopfüber durch die Luft zu gehen. (Wobei er offenbar vor sich hin zählte.)

Juan Diegos Himmelswanderung hatte nichts Unbeschwertes – weder flog er frei wie ein Vogel noch mit der mächtigen Schubkraft eines Flugzeugs. Und doch wusste er in diesem wiederkehrenden Traum, dass er genau dort hingehörte. Aus seiner umgekehrten himmlischen Perspektive sah er die angespannt nach oben schauenden Gesichter in der Menschenmenge.

Wenn er Lupe den Traum schilderte, fügte der Junge hinzu: »In jedem Leben kommt ein Augenblick, wo man loslassen muss – mit beiden Händen.« Für eine Dreizehnjährige ergab das natürlich keinen Sinn, nicht einmal für eine normale Dreizehnjährige. Lupes Antwort verstand nicht einmal Juan Diego.

Als er Lupe fragte, was sie von seinem Traum halte, fiel ihre Reaktion wie so oft verrätselt aus, doch diesmal verstand Juan Diego sie wenigstens akustisch.

»Es ist ein Traum über die Zukunft«, sagte das Mädchen.

»Wessen Zukunft?«, fragte Juan Diego.

»Hoffentlich nicht deine«, antwortete seine Schwester noch verrätselter.

»Aber ich mag diesen Traum!«, hatte der Junge erwidert.

»Es ist ein Todestraum.« Mehr ließ sich Lupe zu dem Thema nicht entlocken.

Doch jetzt, als älterem Mann und seit er Betablocker nahm, war Juan Diego sein Kindheitstraum, am Himmel spazieren zu gehen, abhandengekommen, so wie er auch den Alptraum jenes längst vergangenen Morgens nicht mehr nacherlebte, als er in Guerrero zum Krüppel wurde. Dem Müllkippenleser fehlten beide Träume.

Er hatte sich bei seiner Ärztin beklagt. »Die Betablocker blockieren meine Erinnerungen!«, rief Juan Diego. »Sie stehlen mir meine Kindheit und rauben mir meine Träume!« Für seine Ärztin bedeutete dieser hysterische Ausbruch nur, dass Juan Diego der Nervenkitzel durch das Adrenalin fehlte. (Bei Betablockern ist es mit Adrenalin nicht mehr weit her.)

Seine Ärztin Rosemary Stein, eine nüchterne Frau, war seit zwanzig Jahren eng mit Juan Diego befreundet; seine in ihren Augen hysterischen Übertreibungen waren ihr vertraut.

Dr. Stein wusste sehr genau, warum sie Juan Diego die Betablocker verschrieben hatte; ihr Freund lief Gefahr, einen Herzinfarkt zu bekommen. Er hatte nicht nur einen sehr hohen Blutdruck (170 zu 100), sondern war sich auch ziemlich sicher, dass seine Mutter und einer seiner möglichen Väter an einem Herzinfarkt gestorben waren – seine Mutter noch dazu in jungen Jahren. An Adrenalin mangelte es Juan Diego nicht – dem Kampf-oder-Flucht-Hormon, das bei Stress, Angst, Schicksalsschlägen, Leistungsdruck und während eines Herzinfarkts freigesetzt wird. Außerdem hält Adrenalin das Blut vom Darm und von den inneren Organen fern – das Blut steht den Muskeln zur Verfügung, damit man angreifen oder weglaufen kann. (Vielleicht braucht ein Müllkippenleser mehr Adrenalin als die meisten anderen Menschen.)

Betablocker können Herzinfarkte nicht verhindern, hatte Dr. Stein Juan Diego erklärt, sondern blockieren nur die Adrenalinrezeptoren im Körper; Betablocker schützen das Herz vor der möglicherweise verheerenden Wirkung des Adrenalins während eines Herzinfarkts.

»Wo sind denn meine verdammten Adrenalinrezeptoren?«, hatte Juan Diego seine Ärztin Dr. Stein gefragt. (»Dr. Rosemary« nannte er sie, um sie aufzuziehen.)

»In der Lunge, den Blutgefäßen, im Herzen – fast überall«, hatte sie geantwortet. »Adrenalin erhöht die Herz- und Atemfrequenz, die Härchen auf den Armen richten sich auf, die Pupillen weiten sich, die Blutgefäße verengen sich – nicht gut, wenn man einen Herzinfarkt hat.«

»Was wäre denn gut, wenn man einen Herzinfarkt hat?«, hatte Juan Diego sie gefragt. (Müllkippenkinder sind hartnäckig, sie lassen nicht locker.)

»Ein ruhiges, entspanntes Herz, eins, das langsam schlägt, nicht schnell und immer schneller«, antwortete Dr. Stein. »Ein Patient auf Betablockern hat einen niedrigen Puls, der sich unter keinen Umständen beschleunigen kann.«

Eine Blutdrucksenkung erfordert allerdings Disziplin; Betablocker und gleichzeitiger Konsum von zu viel Alkohol treiben den Blutdruck wieder in die Höhe; doch Juan Diego trank so gut wie nicht. (Na schön, er trank Bier, aber nur Bier – und zwar in Maßen, wie er fand.) Außerdem konnten Betablocker auch zu Durchblutungsstörungen in den Extremitäten führen, wodurch Hände und Füße sich kalt anfühlten. Über diese Nebenwirkung beklagte sich Juan Diego jedoch nicht – seiner Freundin Rosemary gegenüber hatte er sogar scherzhaft bemerkt, für einen Jungen aus Oaxaca sei frieren ein Luxus.

Manche Patienten, die Betablocker nehmen, beklagen die damit einhergehende Lethargie, die sich sowohl in allgemeiner Erschöpfung als auch in Antriebslosigkeit äußert, doch was kümmerte ihn das in seinem Alter? (Juan Diego war inzwischen vierundfünfzig.) Er war mit vierzehn zum Krüppel geworden; Hinken war seine sportliche Betätigung. Juan Diego hatte vierzig Jahre lang zur Genüge gehinkt; auf noch mehr Sport konnte er gut verzichten!

Er hätte sich allerdings gern lebendiger gefühlt, nicht so »reduziert« – mit diesem Wort hatte er die Wirkung der Medikamente auf sein sexuelles Interesse umschrieben. (Juan Diego sagte nicht, er sei impotent; selbst im Gespräch mit seiner Ärztin beließ er es bei dem eher diffusen Wort »reduziert«.)

»Ich wusste nicht, dass du zurzeit eine sexuelle Beziehung unterhältst«, sagte Dr. Stein zu ihm; tatsächlich wusste sie sehr wohl, dass er in keiner Beziehung war.

»Meine liebe Dr. Rosemary«, erwiderte Juan Diego. »Wäre ich in einer sexuellen Beziehung, würde sich diese Reduziertheit noch schlimmer anfühlen.«

Sie verschrieb ihm Viagra – sechs Tabletten im Monat, 100 Milligramm – und forderte ihn auf, damit zu experimentieren.

»Warte nicht, bis du jemanden kennenlernst«, sagte Rosemary.

Er hatte nicht gewartet; zwar hatte er niemanden kennengelernt, aber experimentiert hatte er dennoch. Dr. Stein hatte sein Rezept Monat für Monat erneuert. »Vielleicht reicht eine halbe Tablette aus«, hatte Juan Diego ihr nach seinen ersten Experimenten erzählt. Die überzähligen Tabletten hortete er. Über die Nebenwirkungen von Viagra hatte er sich nicht beklagt. Die Pillen ermöglichten ihm, eine Erektion zu bekommen; er konnte einen Orgasmus haben. Was war dagegen schon eine verstopf‌te Nase?

Auch die Schlaf‌losigkeit war für Juan Diego weder etwas Neues noch übermäßig beunruhigend; es hatte fast etwas Tröstliches, nachts mit seinen inneren Dämonen allein im Dunkeln zu liegen. Viele von Juan Diegos Dämonen begleiteten ihn seit seiner Kindheit – er kannte sie so gut, dass sie ihm so vertraut waren wie Freunde oder Verwandte.

Eine Überdosis Betablocker kann zu Schwindel, gar zu Ohnmachtsanfällen führen, doch Juan Diego machte sich deswegen keine Sorgen. »Krüppel wissen, wie man fällt – hinzufallen ist für uns nichts Besonderes«, sagte er zu Dr. Stein.

Doch mehr noch als die Erektionsstörungen beunruhigten ihn seine zerstückelten Träume; Juan Diego sagte, seinen Erinnerungen und Träumen fehle eine nachvollziehbare Chronologie. Deshalb hasste er Betablocker, weil sie ihn von seiner Kindheit abschnitten, und ihm war seine Kindheit offenbar wichtiger als anderen Leuten die ihrige – den meisten anderen, dachte Juan Diego. Seine Kindheit und die Menschen, denen er damals begegnet war – die sein Leben verändert hatten oder Zeugen dessen wurden, was ihm in dieser entscheidenden Zeit widerfahren war –, waren für Juan Diego eine Art Religionsersatz.

Auch wenn sie eine enge Freundin war, wusste Dr. Rosemary Stein doch nicht alles über Juan Diego; über die Kindheit ihres Freundes wusste sie zum Beispiel nur sehr wenig. Als Juan Diego mit untypischer Schärfe zu ihr sprach, scheinbar über die Betablocker, kam das für Dr. Stein wohl aus heiterem Himmel. »Glaub mir, Rosemary, wenn ich religiös wäre – was ich, wie du weißt, nicht bin – und die Betablocker hätten mir meine Religion genommen, dann würde ich mich darüber nicht bei dir beklagen! Ganz im Gegenteil, ich würde dich bitten, allen deinen Patienten Betablocker zu verschreiben!«

Dabei handelte es sich bestimmt wieder um eine der hysterischen Übertreibungen ihres temperamentvollen Freundes, dachte Dr. Stein. Schließlich hatte er sich die Hände verbrannt, als er Bücher vor den Flammen rettete – selbst Bücher über katholische Geschichte. Doch Rosemary Stein kannte nur Bruchstücke aus Juan Diegos Leben als Müllkippenkind; über seine späteren Jahre wusste sie mehr. Den Jungen aus Guerrero kannte sie eigentlich nicht.

2Das Monster Maria

2010 war am Tag nach Weihnachten ein Schneesturm durch New York City gefegt. Tags darauf standen überall auf den nicht geräumten Straßen Manhattans verlassene Privatwagen und Taxis herum. An der Madison Avenue, Nähe East 62nd Street, war ein Bus ausgebrannt; die im Schnee durchdrehenden Hinterräder hatten Feuer gefangen und die Flammen auf den Bus übergegriffen. Der Schnee um das verkohlte Wrack war mit Aschepartikeln gesprenkelt.

Den Gästen in den Hotels am Central Park South – und den wenigen mutigen Familien mit kleinen Kindern, die im Neuschnee herumtollten – musste der Anblick des makellos weißen Parks und der fehlende Verkehr auf den breiten Avenues und kleineren Querstraßen seltsam vorkommen. An diesem strahlend weißen Morgen lag selbst der Columbus Circle gespenstisch still und leer da; auf einer normalerweise geschäftigen Kreuzung wie etwa Ecke 59th Street und Seventh Avenue war nicht mal ein Taxi unterwegs. Die einzigen Autos weit und breit waren stecken geblieben, halb unter Schnee begraben.

Manhattan hatte an diesem Morgen etwas von einer Mondlandschaft, was den Portier in Juan Diegos Hotel bewog, sich um Hilfe für den behinderten älteren Herrn zu kümmern. Für einen Krüppel war es der falsche Tag, ein Taxi an den Straßenrand zu winken oder das Risiko einzugehen, in einem zu fahren. Der Portier hatte einen Limousinenservice, wenn auch keinen sehr guten, überredet, Juan Diego nach Queens zu bringen, trotz der widersprüchlichen Meldungen, ob der John F. Kennedy International Airport offen sei oder nicht. Im Fernsehen hieß es, der JFK sei geschlossen, doch Juan Diegos Flug mit Cathay Pacific nach Hongkong sollte angeblich pünktlich starten. Sosehr der Portier das bezweifelte (der Flug der Gesellschaft Cathay Pacific würde verspätet abheben, wenn nicht sogar abgesagt werden, das stand für ihn fest), hatte er sich trotzdem um den besorgten und verkrüppelten Gast bemüht. Juan Diego wollte unbedingt rechtzeitig am Flughafen sein, obwohl bisher wegen des vielen Schnees keine Flugzeuge gestartet waren.

Hongkong war ihm nicht wichtig; das war ein Umweg, auf den Juan Diego hätte verzichten können, aber ein paar seiner Kollegen hatten ihn überredet, dort einen Zwischenhalt einzulegen, wenn er schon bis auf die Philippinen flog. Was es da wohl zu sehen gab?, hatte sich Juan Diego gefragt. Er verstand zwar nicht, was »Bonusmeilen« genau bedeuteten (oder wie sie berechnet wurden), wohl aber, dass sein Flug mit Cathay Pacific gratis war; seine Freunde hatten ihn außerdem davon überzeugt, First Class zu fliegen – offenbar auch etwas, was man erlebt haben musste.

Juan Diego vermutete, dass ihm seine Freunde so viel Aufmerksamkeit schenkten, weil er sich aus dem Lehrbetrieb zurückzog; warum sonst, wenn nicht deswegen, hätten seine Kollegen darauf bestanden, ihm bei der Organisation dieser Reise zu helfen? Doch es gab auch andere Gründe. Er war zwar jung für jemanden, der sich zur Ruhe setzte, doch er war wirklich »behindert«, und seine engen Freunde und Kollegen wussten, dass er Medikamente für sein Herz nahm.

»Vom Schreiben ziehe ich mich nicht zurück!«, hatte er ihnen versichert. (Juan Diego war auf Einladung seines Verlags über Weihnachten nach New York gekommen.) Er beendete lediglich seine Lehrverpflichtungen, sagte Juan Diego, obwohl Schreiben und Lehren für ihn jahrelang untrennbar gewesen waren; zusammen hatten sie sein gesamtes Erwachsenenleben bestimmt.

Ein ehemaliger Student aus einem seiner Schreibseminare war sehr intensiv an den Vorbereitungen für seine Philippinenreise beteiligt gewesen, Juan Diego betrachtete es inzwischen als feindliche Übernahme. Dieser Student, er hieß Clark French, hatte Juan Diegos Mission in Manila – so hatte Juan Diego sein Vorhaben jahrelang insgeheim genannt – zu seiner eigenen gemacht. Was Clark schrieb, war genauso energisch, so penetrant, wie er die Mission seines alten Lehrers an sich riss – wenigstens fand Juan Diego das.

Und doch hatte er sich der gutgemeinten Unterstützung seines früheren Studenten nicht widersetzt, da er ihn nicht kränken wollte. Außerdem fiel es Juan Diego nicht leicht zu reisen, und er hatte gehört, dass die Philippinen schwierig sein konnten – sogar gefährlich. Ein wenig übergründliche Planung könnte nicht schaden, befand er.

Und ehe er sich’s versah, war aus seiner Mission in Manila eine Philippinen-Rundreise geworden, mit diversen Abstechern und abenteuerlichen Ausflügen. Er befürchtete, dass der eigentliche Grund der Reise aus dem Blickfeld geraten war, obwohl Clark French seinem alten Lehrer bestimmt versichert hätte, dass seine Hilfsbereitschaft seiner Bewunderung darüber entsprang, welch ehrenwertes Anliegen Juan Diego bewogen hatte, diese Reise nach all den Jahren überhaupt anzutreten.

Als Teenager in Oaxaca hatte Juan Diego einen amerikanischen Wehrdienstverweigerer kennengelernt; der Kriegsgegner war aus den Vereinigten Staaten geflohen, um der Einberufung nach Vietnam zu entgehen. Der Vater des Wehrdienstverweigerers gehörte zu den Tausenden amerikanischer Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg auf den Philippinen gestorben waren – wenn auch weder auf dem berüchtigten Todesmarsch von Bataan noch in der Schlacht um Corregidor. (Die genauen Einzelheiten hatte Juan Diego nicht immer parat.)

Der amerikanische Wehrdienstverweigerer wollte nicht in Vietnam sterben. Und er wollte die Amerikanische Gedenkstätte und den Soldatenfriedhof bei Manila besuchen, um seinem im Krieg gefallenen Vater die letzte Ehre zu erweisen – so erzählte er Juan Diego. Doch er überlebte seine unter keinem guten Stern stehende Flucht nach Mexiko nicht; der junge Amerikaner starb in Oaxaca. Juan Diego hatte damals gelobt, statt seiner die Reise auf die Philippinen anzutreten; er würde für ihn nach Manila fahren.

Doch Juan Diego hatte nie den Namen des jungen Amerikaners erfahren; der Kriegsgegner hatte zwar mit ihm und seiner scheinbar zurückgebliebenen Schwester Lupe Freundschaft geschlossen, doch sie kannten ihn nur als »den guten Gringo«. Die Müllkippenkinder hatten el gringo bueno kennengelernt, ehe Juan Diego zum Krüppel wurde. Zuerst wirkte der junge Amerikaner zu nett, um todgeweiht zu sein, auch wenn Rivera ihn einen »Mezcalhippie« genannt hatte und die Müllkinder wussten, was el jefe von den Hippies hielt, die damals aus den USA nach Oaxaca kamen.

Der Deponiechef glaubte, dass diejenigen von ihnen, die bewusstseinserweiternde Pilze aßen, »die Dummen« waren; weil sie auf der Suche nach etwas seien, was sie für tiefgründig hielten – in Riveras Worten »etwas so Lächerliches wie die innere Verbundenheit von allem«, dabei wussten die Müllkippenkinder, dass el jefe selbst die Jungfrau Maria verehrte.

Die Mezcalhippies dagegen, sagte Rivera, seien zwar klüger, aber sie seien »selbstzerstörerisch« und obendrein süchtig nach Prostituierten, jedenfalls glaubte das der Deponiechef. Der gute Gringo »brachte sich auf der Calle Zaragoza um«, sagte el jefe. Die Müllkippenkinder hofften, dass er unrecht hatte; Lupe und Juan Diego himmelten el gringo bueno an. Sie wollten nicht, dass den netten Jungen seine sexuellen Begierden oder das berauschende Getränk zerstörte, das aus dem vergorenen Saft einer bestimmten Agavenart destilliert wurde.

»Es kommt aufs Gleiche heraus«, hatte Rivera den beiden Kindern düster erklärt. »Glaubt mir, womit man’s am Ende zu tun hat, ist in jedem Fall nicht gerade erhebend. Straßenmädchen und zu viel Mezcal – am Ende guckt man nur noch diesen kleinen Wurm an!«

Juan Diego wusste, dass der Deponiechef den Wurm am Boden der Mezcalflasche meinte, aber Lupe sagte, el jefe habe auch an seinen Penis gedacht – wie der aussah, nachdem er bei einer Prostituierten gewesen war.

»Warum glaubst du, dass alle Männer ständig an ihren Penis denken?«, fragte Juan Diego seine Schwester.

»Weil sie’s tatsächlich tun«, gab die Gedankenleserin zurück. Das war sozusagen der Zeitpunkt, nach dem Lupe den guten Gringo nicht mehr anhimmeln wollte. Der todgeweihte Amerikaner hatte eine imaginäre Grenze überschritten – sozusagen die Penisgrenze, auch wenn Lupe es nie so formuliert hätte.

Als der Müllkippenleser Lupe eines Abends vorlas, war Rivera bei ihnen in der Hütte in Guerrero gewesen. Vielleicht baute der Deponiechef gerade ein neues Bücherregal, oder der Grill war defekt, und Rivera reparierte ihn; aber vielleicht war el jefe auch einfach nur vorbeigekommen, um nachzusehen, ob Schmutzigweiß (alias Vormtodebewahrt) gestorben war.

Das Buch, aus dem Juan Diego an jenem Abend vorlas, war wieder einer dieser entsorgten akademischen Wälzer gewesen, eine jener sterbenslangweiligen Demonstrationen von Gelehrsamkeit, die von einem der beiden alten Jesuitenpriester, Pater Alfonso oder Pater Octavio, zum Verbrennen ausgewählt worden waren.

Dieses spezielle ungelesene gelehrte Werk hatte übrigens ein Jesuit verfasst, und sein Thema war sowohl literarischer als auch historischer Natur – eine Analyse von D. H. Lawrences Schriften über Thomas Hardy. Da der Müllkippenleser weder etwas von Lawrence noch von Hardy gelesen hatte, wäre eine gelehrte Abhandlung zum Thema »Lawrences Schriften über Hardy« für ihn sogar auf Spanisch rätselhaft gewesen. Doch Juan Diego hatte dieses Buch deswegen ausgewählt, weil es auf Englisch war; er wollte Englischlesen üben, allerdings hätte sein nicht gerade gebannt lauschendes Publikum (das nur aus Lupe, Rivera und dem unangenehmen Hund Schmutzigweiß bestand) ihm en español vielleicht besser folgen können.

Nicht eben einfacher wurde die Angelegenheit dadurch, dass etliche Seiten verbrannt waren und das angekokelte Buch so übel nach Müllkippe stank, dass Schmutzigweiß wiederholt daran zu schnuppern versuchte.

Der Müllkippenchef konnte Lupes vor dem Tode bewahrten Hund genauso wenig leiden wie Juan Diego. »Den hättest du besser im Milchkarton stecken lassen«, war Riveras einziger Kommentar gewesen, doch Lupe hatte Schmutzigweiß (wie immer) empört verteidigt.

Und in dem Moment las ihnen Juan Diego laut eine besonders hochgestochene Stelle vor, in der es um das Konzept einer fundamentalen Wechselbeziehung aller Wesen untereinander ging.

»Halt, halt, halt – warte mal«, hatte Rivera den Vorleser unterbrochen. »Wer hat das gesagt?«

»Es könnte von diesem Hardy stammen, vielleicht ist es seine Idee«, sagte Lupe. »Aber doch eher von diesem Lawrence – es hört sich nach ihm an.«

Als Juan Diego Lupes Bemerkung für Rivera übersetzte, pflichtete der sofort bei. »Oder von dem, der das Buch geschrieben hat – wer auch immer das sein mag«, ergänzte der Deponiechef. Lupe nickte zustimmend. Das blöde Buch war ebenso langweilig wie diffus: Es handelte sich um die offenbar pingelige Untersuchung eines Themas, das sich jeder konkreten Darstellung entzog.

»Was soll das für eine ›fundamentale Wechselbeziehung aller Wesen untereinander‹ sein – welche Wesen haben denn angeblich eine Beziehung?«, rief der Müllkippenboss. »Das hätte auch ein pilzeessender Hippie sagen können!«

Was Lupe, die so etwas selten tat, laut auf‌lachen ließ. Bald lachten sie und Rivera gemeinsam, was sogar noch seltener vorkam. Juan Diego würde nie vergessen, wie glücklich er war, seine kleine Schwester und el jefe lachen zu hören.

Und jetzt, vierzig Jahre später, war Juan Diego unterwegs auf die Philippinen, eine Reise, die er an Stelle des namenlosen guten Gringos zu Ehren von dessen Vater machte. Und doch hatte kein einziger seiner Freunde Juan Diego gefragt, wie er beabsichtigte, dem toten Soldaten die letzte Ehre zu erweisen – auch der gefallene Vater war namenlos. Natürlich wussten alle, dass Juan Diego Schriftsteller war; vielleicht unternahm der Literat die Reise für el gringo bueno nur symbolisch.

Als junger Autor war er viel gereist, und in seinen frühen Romanen war die Entwurzelung durchs Reisen ein immer wiederkehrendes Thema – vor allem in seinem Zirkusroman, der in Indien spielte, der mit dem Bandwurmtitel. Niemand hatte ihm diesen Titel ausreden können, wie sich Juan Diego vergnügt erinnerte. Eine von der Jungfrau Maria in Gang gesetzte Geschichte – was für ein sperriger Titel, und was für eine lange und komplizierte Geschichte! Vielleicht meine komplizierteste, dachte Juan Diego, während sich die Limousine einen Weg durch die verlassenen, zugeschneiten Straßen Manhattans bahnte, entschlossen auf den FDR Drive zusteuernd. Der Wagen war ein SUV, dessen Fahrer von anderen Fahrzeugen und anderen Fahrern keine hohe Meinung hatte. Laut dem Limousinenchauffeur waren andere Fahrzeuge in der Stadt schlecht auf Schnee vorbereitet, und die wenigen, die »einigermaßen« ausgerüstet waren, hatten mit Sicherheit »die falschen Reifen«; was die anderen Fahrer betraf, die hatten eben keine Ahnung, wie man bei Schnee fuhr.

»Wo sind wir denn hier – in scheiß Florida?«, schrie der Chauf‌feuer aus seinem Fenster einem liegengebliebenen Autofahrer zu, dessen Fahrzeug seitlich weggerutscht war und eine Querstraße blockierte.

Auf dem FDR Drive hatte ein Taxi die Leitplanke durchbrochen und steckte auf dem Joggingpfad neben dem East River im hüfttiefen Schnee; der Taxifahrer versuchte, seine Hinterräder auszugraben, aber nicht mit einer Schaufel, sondern mit einem Eiskratzer.

»Wo kommst du denn her, du Wichser – aus scheiß Mexiko?«, rief Juan Diegos Fahrer ihm zu.

»Ich bin übrigens aus Mexiko«, sagte Juan Diego zu seinem Fahrer.

»Sie habe ich nicht gemeint, Sir, Sie kommen pünktlich zum JFK. Ihr Problem ist, dass Sie dort einfach warten werden«, teilte ihm der Fahrer in nicht gerade freundlichem Ton mit. »Es fliegt nichts – falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte, Sir.«

Tatsächlich war Juan Diego nicht aufgefallen, dass keine Flugzeuge flogen; er wollte nur am Flughafen und abflugbereit sein, wann auch immer sein Flugzeug startete. Die Verspätung, falls es denn eine gab, war ihm nicht wichtig. Undenkbar war, diesen Flug zu verpassen. Er ertappte sich dabei, wie er »Hinter jeder Reise steckt ein Grund« ausprobierte, ehe ihm einfiel, dass er diesen Satz bereits geschrieben hatte. Darauf hatte er schon äußerst eindringlich in Eine von der Jungfrau Maria in Gang gesetzte Geschichte hingewiesen. Und siehe da, ich reise wieder – es gibt immer einen Grund, dachte er.

»Die Vergangenheit umgab ihn wie Gesichter in einer Menschenmenge. Darunter gab es eines, das er kannte, aber wessen Gesicht war es?« Eingehüllt vom Schnee und eingeschüchtert von seinem pöbelnden Fahrer, vergaß Juan Diego kurz, dass er auch das schon geschrieben hatte.

 

Juan Diegos Chauffeur klang zwar ungehobelt, aber er kannte sich in Jamaica, Queens, aus, wo eine breite Straße den ehemaligen Müllkippenleser an die Periférico erinnerte – eine von Bahngleisen durchschnittene Straße in Oaxaca. Zur Periférico nahm el jefe die Müllkippenkinder mit, um Lebensmittel einzukaufen; dort auf dem Markt, in La Central, gab es das billigste, nahezu vergammelte Essen – außer 1968, während der Studentenunruhen, als La Central vom Militär besetzt wurde und der Lebensmittelmarkt auf den Zócalo, den Hauptplatz im Stadtzentrum von Oaxaca, umzog.

Als sie damals das erste Mal mit el jefe auf den Zócalo zum Einkaufen gingen, waren Juan Diego und Lupe zwölf und elf. Die Studentenunruhen hielten nicht lange an, und der Markt zog wieder nach La Central und an die Periférico (mit der verloren wirkenden Fußgängerbrücke über den Bahngleisen). Doch den Zócalo bewahrten die Müllkippenkinder in ihrem Herzen; er war ihr Lieblingsplatz, wo sie so viel Zeit wie möglich verbrachten.

Warum sollten sich ein Junge und ein Mädchen aus Guerrero nicht für die Stadtmitte interessieren? Warum sollten zwei niños de la basura nicht auf die vielen Touristen in der Stadt neugierig sein? Die städtische Müllkippe war in den Reiseführern nicht verzeichnet. Welcher Tourist besichtigte schon den basurero, wenn ihn doch schon ein Luftzug von der Halde oder ein leichtes Stechen in den Augen von den ständig dort brennenden Feuern Reißaus nehmen ließ, sofern ein Blick auf die Müllkippenhunde (oder ein Blick der Hunde auf die Touristen) nicht schon genügte.

War es denn ein Wunder, dass bei der damals erst elfjährigen Lupe die verrückte und ambivalente Fixierung auf Oaxacas diverse Jungfrauen begann? Dass nur ihr Bruder ihr Gebrabbel verstand, schnitt Lupe von jedem sinnvollen Dialog mit Erwachsenen ab; zu der Zeit war Juan Diego erst zwölf. Und natürlich waren das religiöse Jungfrauen, wunderwirkende Jungfrauen von der Sorte, die Gefolgschaft verlangten, und zwar nicht nur von elfjährigen Mädchen.

Stand nicht zu erwarten, dass sich Lupe zunächst zu diesen Jungfrauen hingezogen fühlte? (Die Gedankenleserin Lupe kannte im wirklichen Leben niemanden, der diese Fähigkeit mit ihr teilte.) Doch welches Müllkippenkind wäre in Sachen Wunder nicht ein wenig misstrauisch? Und welche Daseinsberechtigung hatten diese konkurrierenden Jungfrauen eigentlich im Hier und Jetzt? Hatten sie in letzter Zeit etwa irgendwelche Wunder gewirkt? Musste Lupe diesen hochgepriesenen, aber untätigen Jungfrauen denn da nicht kritisch gegenüberstehen?

In Oaxaca gab es einen Madonnenladen; die Müllkippenkinder entdeckten ihn auf einem ihrer ersten Ausflüge in die Gegend um den Zócalo. Sie befanden sich schließlich in Mexiko: Nachdem die spanischen Eroberer das Land überrannt hatten, stieg die ständig missionierende katholische Kirche groß ins Madonnengeschäft ein. Einst Kernland der mixtekischen und zapotekischen Zivilisationen, hatten die spanischen Eroberer der indigenen Bevölkerung seit Jahrhunderten Madonnen angedreht – angefangen bei den Augustinern über die Dominikaner bis hin zu, drittens, den Jesuiten, die alle ihre Jungfrau Maria anpriesen.

Inzwischen hatte man es allerdings nicht mehr nur mit Maria zu tun; das war Lupe in den vielen Kirchen Oaxacas aufgefallen, doch nirgends in der Stadt fand man so viele rivalisierende Jungfrauen wie in dem kitschigen Madonnenladen an der Avenida de la Independencia. Da gab es lebensgroße Madonnen und überlebensgroße Madonnen. Um aus der Vielzahl an billigen und geschmacklosen Kopien überall im Laden nur drei zu nennen: die Gottesmutter Maria, aber auch Unsere Liebe Frau von Guadalupe und, versteht sich, Nuestra Señora de la Soledad. La Virgen de la Soledad war die Madonna, die Lupe abschätzig als »Ortsheilige« bezeichnet hatte – die oft geschmähte Jungfrau der Einsamkeit und ihre »blöde Burro-Geschichte«. (An dem burro, einem Eselchen, hatte Lupe vermutlich nichts auszusetzen.)

Der Madonnenladen verkauf‌te auch lebensgroße (und überlebensgroße) Varianten des gekreuzigten Christus; wer genug Kraft hatte, konnte einen riesigen blutenden Jesus nach Hause tragen. Doch das Hauptgeschäft machte der Madonnenladen, den es seit 1954 gab, damit, die Weihnachtsfeiern (las posadas) auszustatten.

Tatsächlich nannten nur die beiden Geschwister das Geschäft an der Independencia Madonnenladen, für alle anderen war es der Laden für Weihnachtsbedarf; selbst nannte sich das schaurige Geschäft La Niña de las Posadas (also »Das Mädchen von den Weihnachtsfeiern«). Das namenstiftende Mädchen war die Madonna, die man aussuchte und mit nach Hause nahm; anscheinend ließ sich besonders mit lebensgroßen Madonnen Schwung in die Weihnachtsfeier bringen – jedenfalls mehr als mit einem gequälten Gekreuzigten.

So ernst es Lupe mit Oaxacas Madonnen war, den Weihnachtsfeierladen hielten Juan Diego und seine Schwester für einen Witz. Diese käuf‌lichen Jungfrauen waren nicht halb so realistisch wie die Prostituierten auf der Calle Zaragoza; die Madonnen zum Mitnehmen gehörten eher in die Kategorie aufblasbare Sexpuppe. Und die blutenden Jesusse waren einfach grotesk.

Außerdem gab es (wie Bruder Pepe es formuliert hätte) eine Hackordnung unter den in den verschiedenen Kirchen in Oaxaca ausgestellten Madonnen – und diese Madonnen machten Lupe leider Gottes schwer zu schaffen. Die Katholiken hatten ihre eigenen Madonnenläden in Oaxaca, und dort gab es für Lupe nichts zu lachen.

Das zeigte unter anderem die »blöde Burro-Geschichte« und wie abgrundtief Lupe La Virgen de la Soledad verabscheute. Die Basílica de Nuestra Señora de la Soledad war bombastisch – ein pompöser Schandfleck zwischen Morelos und Independencia –, und als die Geschwister sie zum ersten Mal besuchten, versperrte ihnen ein lärmender Lindwurm von Pilgern den Zutritt, Landbewohner (Bauern oder Obstpflücker, wie Juan Diego annahm), die nicht nur laut schreiend und rufend beteten, sondern sich der strahlenden Statue der Virgen de la Soledad auf den Knien näherten, indem sie durch den gesamten Mittelgang der Kirche auf sie zu rutschten. Lupe fand die betenden Pilger abstoßend, genau wie den Status Unserer Jungfrau der Einsamkeit als Ortsheilige, die gelegentlich sogar »Oaxacas Schutzpatronin« genannt wurde.

Wäre Bruder Pepe zugegen gewesen, hätte der freundliche Lehrer Lupe und Juan Diego womöglich davor gewarnt, selbst einem Hackordnungsvorurteil zu erliegen: Auch Müllkippenkinder müssen sich irgendwem überlegen fühlen; und so fühlten sich los niños de la basura in der kleinen Siedlung in Guerrero eben diesen Landeiern überlegen. Angesichts der laut betenden Pilger in der Basilika Unserer Jungfrau der Einsamkeit und ihres derb-rustikalen Aufzugs stand für Juan Diego und Lupe außer Zweifel, dass sie als Müllkippenkinder diesen wehklagenden und auf den Knien herumrutschenden Bauern oder Obstpflückern (oder was auch immer diese Bauerntölpel sein mochten) definitiv überlegen waren.

Auch die Kleidung der Virgen de la Soledad gefiel Lupe ganz und gar nicht; ihr streng geschnittener Mantel war schwarz mit einer goldenen Borte. »Die Madonna sieht aus wie eine böse Königin«, sagte Lupe.

»Du meinst, sie sieht reich aus«, sagte Juan Diego.

»Die Jungfrau der Einsamkeit ist keine von uns«, stellte Lupe fest. Damit meinte sie, die Jungfrau sei keine Indigene, sondern eine Spanierin, also eine Europäerin (sprich, eine Weiße).

Die Jungfrau der Einsamkeit, sagte Lupe, sei »eine weißgesichtige dumme Gans in einem schicken Mantel«. Außerdem ärgerte sich Lupe darüber, dass Guadalupe in der Basílica de Nuestra Señora de la Soledad nur die zweite Geige spielte; Guadalupes Altar befand sich links des Mittelgangs, abseits – und es war nur ein unbeleuchtetes Porträt der dunkelhäutigen Jungfrau (nicht einmal eine Statue). Dabei war Unsere Liebe Frau von Guadalupe eine indigene Jungfrau; sie war eine Einheimische, eine Indianerin, also das, was Lupe mit »eine von uns« meinte.

Bruder Pepe wäre erstaunt darüber gewesen, wie viele Müllkippenbücher Juan Diego gelesen und wie aufmerksam Lupe zugehört hatte. Die beiden alten Priester, die Patres Alfonso und Octavio, mochten die Jesuitenbibliothek von den überflüssigsten und aufrührerischsten Stoffen gesäubert haben, doch der junge Müllkippenleser hatte viele gefährliche Bücher vor den Höllenfeuern des basurero gerettet.

Dabei handelte es sich um Werke, in denen die katholische Indoktrination der indigenen Bevölkerung Mexikos festgehalten war; es waren die Jesuiten gewesen, die während der spanischen Eroberungen die Köpfe und Gedanken manipulierten, und die beiden Geschwister hatten eine Menge über jesuitische Konquistadoren der römisch-katholischen Kirche gelernt. Doch während Juan Diego ursprünglich um des Lesens willen zum Leser geworden war, hatte sich Lupe von Anfang an mehr für Inhalte interessiert – und ihrem Bruder aufmerksam zugehört.

In der Basilika Unserer Jungfrau der Einsamkeit gab es eine Seitenkapelle mit Marmorfußboden, in der auf Wandgemälden die Burro-Geschichte erzählt wurde: Eine Gruppe von Bauern hatte sich zum Gebet versammelt, ihnen folgte ein einzelner Esel. Auf dem Rücken des Burros war eine lange Kiste festgebunden, die wie ein Sarg aussah.

»Jeder Idiot hätte doch sofort in die Kiste geguckt«, sagte Lupe jedes Mal. Aber nicht diese Bauerntölpel – bestimmt hatten Sie wegen ihrer Sombreros nicht genug Sauerstoff im Hirn.

Es wird bis heute darüber gestritten, was mit dem Burro geschah. War er eines Tages einfach stehen geblieben und hatte sich hingelegt, oder fiel er tot um? An der Stelle jedenfalls wurde die Basílica de la Virgen de la Soledad errichtet. Denn erst da öffneten die dummen Bauern die Kiste. Darin lag eine Statue Unserer Jungfrau der Einsamkeit; auf ihrem Schoß lag eine zweite, viel kleinere Figur – ein bis auf ein Lendentuch nackter Jesus.

»Was hat denn dieser Schrumpfjesus da verloren?«, fragte Lupe jedes Mal. Das Missverhältnis war tatsächlich irritierend: Die Jungfrau der Einsamkeit war mehr als doppelt so groß wie Jesus. Dabei handelte es sich nicht um ein Jesuskind, sondern um einen erwachsenen bärtigen Jesus, nur dass er unnatürlich klein war und ein Lendentuch trug.

Lupes Ansicht nach war der Esel als Lasttier »missbraucht« worden; außerdem deutete der weitgehend unbekleidete Jesus im Schoß der Jungfrau Lupes Ansicht nach auf einen »sogar noch schlimmeren Missbrauch« hin. Und so verwarfen die Müllkippenkinder Oaxacas Schutzheilige und diejenige Jungfrau, um die am meisten Wirbel gemacht wird, als einen Schwindel oder Betrug – »eine Sektenjungfrau« nannte Lupe sie. Dazu, dass der Madonnenladen an der Independencia gleich um die Ecke zur Basílica de Nuestra Señora de la Soledad lag, sagte Lupe nur trocken: »Passt.«

Lupe hatte eine Menge Bücher für Erwachsene vorgelesen bekommen; was sie sagte, mochte für jeden außer Juan Diego unverständlich sein, aber was Sprache und Vokabular anging, war sie ihrem Alter weit voraus.

Anders als die Basilika Unserer Jungfrau der Einsamkeit mochte Lupe die Dominikanerkirche an der Calle Macedonio Alcalá und nannte sie ein »prachtvolles Bauwerk«. Während sie sich über den Mantel mit Goldborte Unserer Jungfrau der Einsamkeit ärgerte, gefielen Lupe die Deckenvergoldungen in der Iglesia de Santo Domingo; es störte sie nicht, »wie spanisch-barock« Santo Domingo war, »wie ausgesprochen europäisch«. Und der goldverzierte Schrein der Basilika von Guadalupe gefiel ihr ebenfalls – auch weil Unsere Liebe Frau von Guadalupe in der Kirche Santo Domingo nicht unscheinbar wirkte.

Als explizite Guadalupe-Anhängerin reagierte Lupe empfindlich, wenn ihre Jungfrau von »dem Monster Maria« in den Schatten gestellt wurde. Lupe fand nicht nur, dass Maria die beherrschende Figur im »Jungfrauenstall« der katholischen Kirche war, sie hielt sie auch für »eine tyrannische Jungfrau«.

Und das war das Hühnchen, das Lupe mit dem jesuitischen Templo de la Compañia de Jesús an der Ecke Magón und Trujano zu rupfen hatte – denn der machte die Jungfrau Maria zur Hauptattraktion. Sobald man den Jesuitentempel betrat, wurde die Aufmerksamkeit auf das Weihwasserbecken – agua de San Ignacio de Loyola – und ein Porträt des beeindruckenden, wie in vielen Darstellungen hilfesuchend gen Himmel blickenden Ignatius von Loyola persönlich gelenkt.

Hat man das Weihwasserbecken passiert, findet sich in einer einladenden Nische ein schlichter, aber attraktiver Schrein zu Ehren der Guadalupe. Besonders liebevoll war die berühmteste Äußerung der dunkelhäutigen Jungfrau gestaltet, in großen, von den Kirchenbänken und Kniekissen aus leicht lesbaren Lettern.

Wann immer Lupe dort betete, wiederholte sie diesen Satz pausenlos: »›¿No estoy aquí, que soy tu madre?‹« – »›Bin ich nicht hier, denn ich bin eure Mutter?‹«

Ja, man könnte sagen, dass Lupe hier ihre kindliche Liebe einer fremden Mutter und Jungfrau schenkte statt ihrer leiblichen Mutter, die als Prostituierte (und als Putzfrau für die Jesuiten) arbeitete – einer Frau, die ihren Kindern nicht nur keine nennenswerte, sondern außerdem eine häufig abwesende Mutter war, die von Lupe und Juan Diego »getrennt« wohnte. Und Esperanza hatte Lupe ohne Vater gelassen, sah man von dem Müllkippenchef und von Lupes Vorstellung ab, zahlreiche Väter zu haben.

So kam es, dass Lupe Unsere Liebe Frau von Guadalupe gleichzeitig aufrichtig verehrte und intensiv an ihr zweifelte, wobei ihre Zweifel dem Gefühl entsprangen, Guadalupe habe sich der Jungfrau Maria unterworfen und sei deshalb mitschuldig daran, dass die Mutter Jesu das Sagen hatte.

Juan Diego konnte sich an keine einzige Lesung auf der Müllkippe erinnern, durch die Lupe diesen Eindruck hätte gewinnen können; seines Wissens ging Lupe diesen zwiespältigen Pfad aus eigenem Antrieb.

Und ganz gleich, wie geschmackvoll und angemessen die Verehrung war, die Unserer Lieben Frau von Guadalupe entgegengebracht wurde – der Jesuitentempel behandelte die dunkelhäutige Madonna durchaus respektvoll –, die Jungfrau Maria stand fraglos im Mittelpunkt. Sie überragte alles, eine gewaltige Mutter Gottes auf einem noch zusätzlich erhöhten Altar, während der vergleichsweise winzige Jesus, bereits am Kreuz leidend, blutend zu ihren großen Füßen lag.

»Was soll das mit dem Schrumpfjesus?«, fragte Lupe jedes Mal.

»Wenigstens hat dieser Jesus Klamotten an«, erwiderte daraufhin Juan Diego.

Dort, wo die großen Füße der Jungfrau Maria waren, sah man aus Wolken herausschauende Engelsgesichter, die verwirrenderweise das dreistöckige Podest bildeten.

»Was soll das bedeuten?«, fragte Lupe, ebenfalls jedes Mal. »Die Jungfrau Maria trampelt auf Engeln herum – ich fasse es nicht!«

Und zu beiden Seiten der riesigen Heiligen Jungfrau standen zwei deutlich kleinere, im Lauf der Zeit dunkler gewordene Statuen zweier eher unbekannter Personen: der Eltern der Jungfrau Maria.

»Sie hatte Eltern