Konsequent. - Thomas Hochgeschurtz - E-Book

Konsequent. E-Book

Thomas Hochgeschurtz

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Beschreibung

Der Ingenieur Tim Simon tritt seine erste Stelle in einem typischen Unternehmen an - typisch im Hinblick auf die Führungsmethoden und das Verhalten seiner Führungskräfte und Mitarbeiter. Sie werden sich und Ihr betriebliches Umfeld in den unterhalt¬samen und spannenden Situationen wiedererkennen. Begleiten Sie Tim auf dem Weg zur Beantwortung der Frage: "Wann bin ich eigentlich ein guter Mitarbeiter?". Dabei erleben Sie die Entstehung einer einfachen und wirksamen Methode der Mitarbeiterführung: das NTT.Bald können Sie gemeinsam mit Tim neben der Frage nach dem guten Mitarbeiter auch die Frage beantworten, was eine gute Führungskraft ausmacht.Zwei Begriffen werden Sie auf Tims Weg immer wieder begegnen: "Erwartung" und "Konsequenz". Und Sie werden als Führungskraft das NTT anwenden wollen oder als Mitarbeiter von Ihrem Vorgesetzten erwarten, dass er es anwendet. Lassen Sie es drauf ankommen ...

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„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Erich Kästner

Schreiben musste ich selbst,

aber ohne euch wäre das alles

nicht möglich gewesen.

Danke

Elke, Simon, Christof, Peter, Enrico, Torsten

Thomas Hochgeschurtz

Konsequent.

Das Buch zum Nicht-Technischen-Training

77815 Bühl/Baden • http://www.ikotes.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

2. Auflage, ISBN 978-3-941626-01-0

© 2009/2013 ikotes Verlag, Postfach 1651, D-77806 Bühl

http://www.ikotes.com

Überarbeitung und Herstellung: Peter Müller, ikotes Verlag

Dieses Werk erscheint auch als

Hardcover ISBN 978-3-941626-00-3

Hörbuch ISBN 978-3-941626-04-1

Inhaltsverzeichnis

Jetzt war ich wer – oder?

Jung, dynamisch, … erpressbar

Schlag auf Schlag

Zeig, was du kannst!

Am Ende?

Ausgerechnet der!

Sicherheit

Qualität

Produktivität

Mitarbeiter

Fehlverhalten und Konsequenz 1

Fehlverhalten und Konsequenz 2

Teamentwicklung und Commitments

Umgang mit dem Betriebsrat

Üben, üben, üben, …

NTT – Nicht-Technisches-Training

Ausgerechnet er!

Ein Mitarbeiter ist nur so gut, …

Jetzt war ich wer – oder?

„Dein Telefon geht!“, rief mir ein Kollege zu. Das Rheinland ist wohl einer der Landstriche Deutschlands, in welchem sich das Telefon nicht durch Geräusche, sondern durch Fortbewegung bemerkbar macht. Ich hatte nach dem Studium meine erste Stelle bei Brackets, einem amerikanischen Wasch- und Reinigungsmittel-Konzern als Prozess­ingenieur angetreten und befand mich in der Einarbeitung. Die Frühschicht meines Linientrainings, ein dreiwöchiges „Mitlaufen“ in einem Produktionsteam, hatte ich an diesem Tag hinter mich gebracht und arbeitete gerade die Führungsleitlinien des Unternehmens durch.

Der Personalleiter bat mich zu einer sofortigen Unterredung. „Sofort?“ Im Schnelldurchlauf überprüfte ich auf dem Weg durch das Verwaltungsgebäude mein Verhalten in den ersten Tagen. Hatte ich gegen eines der ungeschriebenen Gesetze im Unternehmen verstoßen? Erst gestern erzählte mir ein Kollege von zwei Neueinsteigern, die die Probezeit nicht überstanden hatten. Drohte mir das Aus? Zum Glück liefen noch mehrere Bewerbungen bei anderen Unternehmen, daher fühlte ich mich sicher. Ich nahm mir vor, selbstbewusst aufzutreten, und warf auf der Toilette noch einen schnellen Blick in den Spiegel. Der dunkelblonde Mann, der mir entgegenstrahlte, war schlank und für seine 1,85 Meter Körpergröße etwas zu dünn. Die gleichmäßigen Gesichtszüge wurden von einer Narbe unter dem linken Auge durchbrochen. Sie war das Ergebnis einer ungestümen Fahrradtour. Durch meinen letzten Studentenjob in einem Gartenbaubetrieb hatte mein Gesicht noch eine gesunde Farbe.

Mit meinen 24 Jahren stand ich nun energiegeladen und hoch motiviert am Anfang meiner Berufslaufbahn. Ich holte tief Luft und klopfte an die Tür des Personalleiters.

Wenige Minuten später befand ich mich schon wieder auf dem Rückweg zu meinem Arbeitsplatz, korrekter: zu meinem ehemaligen Arbeitsplatz. Natürlich war Stillschweigen vereinbart worden. Ich war gespannt, wie meine Freundin Klara die Neuigkeit aufnehmen würde.

Vorbei war es mit dem Prozessingenieur, vorbei mit langweiligen technischen Detailanalysen. Eine Führungsaufgabe würde es sein, Teamleiter sollte ich werden! Der Inbetriebnahmeleiter für das laufende Großprojekt war in ein anderes Werk versetzt worden und nun wurde ein Nachfolger benötigt, da die Umstellung der 20 Spültabmaschinen hier im Werk Burscheid in den nächsten 6 Monaten realisiert werden musste. Ein 18-köpfiges Team sollte von mir geführt werden. Die bunten Wandstreifen begleiteten mich fröhlich zu meinem ehemaligen Büro.

„Führung kann nicht so schwer sein“, ging es durch meinen Kopf. Schon während meines Studiums hatte ich schließlich diverse Führungserfahrung als Trainer einer Basketballmannschaft gesammelt.

Wie hatte Charles Handy in seinem Buch „Ich und andere Nebensächlichkeiten“ geschrieben? „Der Erfolg im Leben hängt nicht davon ab, dass man weiß, was man will, bevor man handelt, sondern umgekehrt. Nur indem man handelt, Erfahrungen sammelt, Fragen stellt und erneut handelt, kann man herausfinden, wer und was man eigentlich ist.“ Es war also an der Zeit, neue Erfahrungen zu sammeln!

Zwei Tage später, auf dem Weg zum Mittagessen, sah ich eine Menschentraube, die sich vor dem Schaukasten am Kantineneingang gebildet hatte. Ich drängelte mich durch, um den Aushang lesen zu können. Von hinten klopfte mir jemand auf die Schulter: „Gratulation, Tim!“ Ein flüchtiges „Danke!“ huschte mir über die Lippen. Jetzt erst sah ich die Mitteilung, die mich offiziell zum Teamleiter machte:

Die Personalabteilung der Brackets GmbH informiert:

Marc Frommers, zurzeit Leiter Inbetriebnahme SABT, übernimmt ab 1. Mai die Funktion Personal in unserem Werk in Lüttich/Belgien. Herr Frommers berichtet in seiner neuen Funktion an Ed van Heyden, General Manager Werk Lüttich.

Tim Simon, zurzeit in Einarbeitung, übernimmt ab sofort die Leitung Inbetriebnahme. Herr Simon berichtet in seiner neuen Funktion an Jochen Uhl, Leiter Support Abteilung.

Den eigenen Namen am Schwarzen Brett zu lesen, gab mir das warme Gefühl des Erfolges. Vielleicht etwas früh für jemanden, der erst ein paar Wochen in dieser Firma weilte. Aber jetzt war ich wer – oder?

Der neue Job sollte kein Problem für mich sein. Ich musste einfach nur meine Führungserfahrung aus der Studienzeit nutzen. Mein damaliges Erfolgskonzept kam mir in den Sinn:

Spieler motivieren, zum Training zu kommenSpieler motivieren, zum Spiel zu kommenSpieler motivieren, im Training die Übungen richtig auszuführenSpieler motivieren, im Spiel die Anweisungen zu befolgen

Vielleicht würde ich sogar mal ein Buch über Mitarbeitermotivation verfassen! Ich nahm mir vor, wesentliche Erfahrungen auf einem Lernzettel zu sammeln, nicht ahnend, dass diese Sammlung noch sehr wertvoll für mich werden sollte. Auf dem Lernzettel notierte ich mein Erfolgsrezept in einem Stichwort:

Mitarbeiter motivieren

Nach dem Mittagessen traf ich mich mit meinem neuen Vorgesetzten Jochen Uhl, einem 30-jährigen Maschinenbauingenieur. Sein Büro war schlicht eingerichtet und ohne erkennbare persönliche Note. Entweder hatte er dieses Einzelbüro noch nicht allzu lange oder er war ein spartanischer Mensch.

„Dein Job ist relativ einfach“, versicherte mir Jochen mit einem Grinsen, dass sich mein Selbstvertrauen erst einmal verabschiedete. „Unser neuestes Produkt ist ein 3-Phasen-Reinigungstab für Spülmaschinen, das im kommenden Halbjahr europaweit eingeführt wird. Als Inbetriebnahmeleiter übernimmst du jeden Sonntagabend gegen 22 Uhr eine Maschine von der Bauabteilung, die die Maschine zuvor innerhalb von 48 Stunden umgebaut hat. Du hast dann bis zum kommenden Sonntag Zeit, die Maschine in Betrieb zu nehmen. Dazu stehen dir in drei Schichten je drei Mechaniker und drei Elektriker zur Verfügung.“

„Und was passiert, wenn die Maschine am kommenden Sonntag nicht läuft?“

Jochens Grinsen sah gequält aus. Scheinbar hatte er aufgehört zu atmen. Sein übergewichtiger Körper lag schräg auf dem ächzenden Bürostuhl. Ich war mir nicht mehr so sicher, ob ich die Antwort noch hören wollte: „Wenn du es nicht innerhalb von sieben Tagen schaffst, hast du am Sonntag darauf mit deinem Team zwei Maschinen zu betreuen. Ich glaube nicht, dass du das willst!“, kam es scharf zurück.

Ein Impuls in mir wollte nach eventuellen Freizeiten zwischen den Inbetriebnahmen fragen, aber das schien jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zu sein.

„Wann gilt die Maschine als in Betrieb genommen?“

„Du musst die Leistungsdaten der letzten 3 Monate vor dem Umbau erreichen. Das heißt die gleiche Produktivität und die gleiche Qualität. Dazu gehört noch die obligatorische Sicherheitsabnahme. Wenn du das erledigt hast, gilt die Maschine als qualifiziert und an die Produktion übergeben.“

Ich dachte kurz über die Kriterien Produktivität, Qualität und Sicherheit nach und beabsichtigte, diese später auf meinen Lernzettel zu schreiben.

„Während der gesamten Inbetriebnahmephase stehen dir ausreichend Mitarbeiter des Produktionsteams zur Verfügung. In Absprache mit dem jeweiligen Produktionsteam­leiter startest du nach Abschluss der Sicherheitsabnahme einen 4-Stunden-Lauf, bei dem die Qualifikationskriterien erfüllt werden müssen“, klärte mich Jochen weiter auf.

„Was passiert, wenn die Kriterien nicht erfüllt werden?“

„Dann musst du einen neuen 4-Stunden-Lauf starten.“

„Und was passiert, wenn wir den 4-Stunden-Lauf schon Donnerstag schaffen?“

Der Stuhl ächzte bedenklich laut, ein schallendes Gelächter kam mir entgegen.

„Jau, dann bist du Donnerstag fertig. Aber schmink dir das ab!“, lachte Jochen und sein ganzer Körper vibrierte heftig. Seine braunen Augen hüpften hin und her und ich spürte sein inneres Ringen, als ob er noch etwas ergänzen wollte. Ich wartete.

„Tim“, erwiderte er nach Ende des Ringkampfes, „das ist vollkommen unmöglich!“ „Warum ist das nicht zu schaffen?“, insistierte ich trotzdem.

„Lern du erst einmal dein Team kennen und bereite dich kommenden Sonntag auf die Aufgaben als Schichtleiter vor. Bei dieser ersten Inbetriebnahme mache ich noch die Inbetriebnahmeleitung. Bei der nächsten wirst du den Job übernehmen.“

Jochen Uhl bereitete das Ende des Gesprächs vor, indem er seinen Stuhl erneut quälte und sich schwungvoll nach vorne warf. „Den Rest der Woche bin ich in unserem polnischen Werk, daher können wir uns erst Sonntagnacht zur Übergabe treffen. Aber in der Nachtschicht haben wir genug Zeit, deine Einarbeitung zu komplettieren.“

Auf dem Rückweg zu meinem Büro dachte ich darüber nach, warum Jochen meine letzte Frage nicht beantwortet hatte. War es Vorgesetztenrecht, Fragen nicht zu beantworten, oder hatte ich selbst kommunikative Fehler gemacht?

Der Rest der Woche war mit dem Abschluss des regulären Einarbeitungsprogramms bei Brackets ausgefüllt.

Bisher war eine von zwanzig Geschirrspültabmaschinen umgebaut. Bei dieser Pilotanlage waren die gesamten neuen technischen Bauteile angepasst und ein theoretischer Ablauf für das Projekt festgelegt worden. Laut Plan sollte die jeweils betroffene Maschine freitags um 22 Uhr abgestellt werden. Dann begann der Bautrupp mit der Demontage der alten Baugruppen. Nach der sogenannten „Site Clearance“ wurden die neuen Baugruppen mechanisch installiert, und die elektrische Verkabelung wurde durchgeführt. Mit der Integration der neuen Elektronik in die alte schloss der Bautrupp seine Arbeiten ab und übergab die Maschine Sonntagnacht gegen 22 Uhr an meine Inbetriebnahmegruppe. So war zumindest der Plan.

Unsere Aufgabe war es, die Baumaßnahmen abzunehmen, die neuen Baugruppen Stück für Stück in Betrieb zu nehmen und zuletzt die gesamte Anlage zu starten. Das sollte jeweils bis Dienstagmittag abgeschlossen sein. Dann begann der Wettlauf mit den Qualifikationskriterien.

Freitagmorgen traf ich erstmals mein Team. Eine Truppe mit jeweils neun betriebs­erfahrenen Mechanikern und Elektrikern.

„Hallo zusammen, mein Name ist Tim Simon!“, rief ich in den Raum und begann an einer Seite, die Hände der einzelnen Teammitglieder zu schütteln. Offensichtlich war es mir gelungen, einen guten ersten Eindruck zu erzeugen, da mich mehr freundliche als gleichgültige Gesichter anschauten. Was hatte mir Klara morgens mit auf den Weg gegeben? „Der erste Eindruck ist nicht immer der richtige, aber der lange Zeit bestimmende!“

Die meisten Kollegen nuschelten mir beim Händedruck ihren Namen entgegen. Einige der Mechaniker wollten ihrer Kompetenz durch besonders viel Kraftaufwand beim Händeschütteln Nachdruck verleihen, was mir einige Schmerzen bereitete.

„Hallo Tim“, begrüßte mich ein kleiner, rundlicher Mitarbeiter mit fröhlichem Gesicht und schwarzem Vollbart. Er musste der Teamsprecher sein.

„Mein Name ist Erich Woya. Willkommen in unserem Team.“

Ich hatte schon gelernt, dass bei Brackets fast überall das Du üblich war, anscheinend auch gegenüber neuen Vorgesetzten. Diese direkte Integration ins Team gefiel mir allerdings gar nicht. Ich überlegte, ob ich meine Positionsmacht verdeutlichen sollte, aber Erich fuhr unbeirrt fort und zerstreute so meine Gedanken.

„Wir haben das Team für kommende Woche schon in die drei Schichten eingeteilt. Du bist Schichtleiter der Schicht 1 in Nachtschicht, damit du die Übergabe am Sonntag mitmachen kannst. Jochen macht die Gesamtinbetriebnahmeleitung. Ab kommenden Sonntag übernehme ich für dich die Schichtleitung auf Schicht 1, die dann auf der Frühschicht ist.“

Erich stellte mir erneut die zwei anderen Schichtleiter vor, wofür ich nicht ganz undankbar war, da ich mir beim ersten Durchgang unmöglich alle Namen hatte merken können. Er behielt weiter die Initiative und zeigte mir die Unterlagen, mit denen die Inbetriebnahme durchgeführt werden sollte. Ich war positiv überrascht. Die Ordner waren sauber nach den einzelnen Baugruppen gegliedert, die einzelnen Tätigkeiten im Detail, oft mit Fotos und Zeichnungen, beschrieben.

„Schau dir Sonntagnacht einfach mal an, wie wir arbeiten“, empfahl mir Erich. Nach kurzem Zögern fragte ich, was denn eigentlich die Aufgabe des Schichtleiters sei.

„Die Schichtleiter treffen sich jeden Morgen um acht Uhr zum Inbetriebnahmemeeting mit allen dazugehörenden Gruppen. Dort berichten sie über den Fortschritt der Arbeiten und adressieren eventuelle Aufgaben an andere Abteilungen oder den Bautrupp.“ Die Geschäftigkeit um mich herum wirkte beruhigend. Meine erste Führungsaufgabe schien ein Selbstläufer zu werden. Erich war eindeutig der Kopf der Truppe. Alle Unterlagen trugen seinen Namen und jeder folgte ohne Murren seinen Anweisungen und Ratschlägen.

„Muss ich bis Sonntag noch irgendwas vorbereiten?“ Erich schaute mir ermutigend in die Augen und antwortete: „Lass mal, wir machen das schon. Was du wissen musst, lernst du vor Ort!“

Am Wochenende bereitete ich meine Freundin Klara auf die nächsten Wochen vor. Wir waren uns einig, dass meine Nachtschichten unsere junge Partnerschaft nicht weiter belasten würde, da auch ihr Job als Produktmanagerin in einer internationalen Pharmavertriebsgesellschaft nicht zwingend tariflicher Natur war und 50 bis 60 Stunden pro Woche mehr die Regel als die Ausnahme waren. In meiner Studienzeit galt ich zwar nicht als der typische Partylöwe, der immer als Letzter das Licht ausmachte. Aber jetzt sollten es eben lange Nächte und kurze Tage werden.

Obwohl 22 Uhr ausgemacht war, stand ich bereits um 20 Uhr an der TM14, der aktuell im Umbau befindlichen Spültabmaschine. Bereits beim Betreten der von Neonlicht durchfluteten Werkshalle kam mir der Geruch mechanischer Arbeiten entgegen, eine Mischung aus geschmolzenem Metall und verbranntem Kunststoff.

Als ich den Zugangsbereich zum Maschinenpaar der TM13 und TM14 betrat, traf mich fast der Schlag. Mehr als 20 Leute drängelten sich in dem circa drei Meter breiten Bediengang. Überall herrschte Chaos, ein Gewirr aus Anweisungen und Flüchen schlug mir entgegen. Keiner der Anwesenden schenkte mir auch nur einen Augenblick seiner offensichtlich knapp bemessenen Zeit. Ich suchte von meiner leicht erhöhten Position aus nach irgendeinem bekannten Gesicht, fand aber zunächst keines. Offensichtlich waren die anwesenden Bautrupps keine Brackets-Mitarbeiter, sondern Fremdfirmenpersonal, das sich um den Aufbau kümmerte.

Eine drahtige Mittzwanzigerin trat auf mich zu. „Kann ich helfen?“ Ich begegnete zwei tiefblauen Augen, die stahlhart und unergründlich wirkten.

„Hallo, mein Name ist Tim Simon. Ich bin der neue Schichtleiter.“

„Anni Schmidt, Baustellenleiterin.“ Eine schmale Hand kam mir entgegen. Ich hatte sie noch nicht ganz ergriffen, als Anni schon fortfuhr. „Die Übergabe ist um 22 Uhr, bis dahin dürfen Sie die Baustelle nicht betreten!“

Ihr Händedruck war warm und fest.

„Ich wollte mir schon mal einen Eindruck verschaffen“, startete ich einen kläglichen Versuch, mich umschauen zu dürfen.

„Haben Sie eine Sicherheitsbelehrung für den Aufenthalt auf der Baustelle erhalten?“

„Äh, nein. Brauche ich das?“, antwortete ich unbeholfen.

„Nein“, antwortete sie knapp. Ich glaubte, ein leichtes Schmunzeln zu erkennen. Vielleicht mochte sie mich? „Nicht nach 22 Uhr.“

„Wie bitte?“, presste ich hervor, aber sie hatte sich schon elegant umgedreht und antwortete im Weggehen: „Nach 22 Uhr dürfen Sie kommen, aber vergessen Sie Ihren Helm nicht!“ Ich traute mich nicht, zu widersprechen, und schaute den sportlichen Beinen hinterher, bis Anni Schmidt zwischen den Maschinen verschwunden war.

Als ich um 21 Uhr 55 zurückkehrte, war das Chaos nicht minder groß. Ich entdeckte meinen Boss, Jochen Uhl, zusammen mit Produktionsleiter Jan Behlinger, wie sie gemeinsam auf Anni Schmidt einredeten, und hielt mich im Hintergrund, verstand aber schnell, dass der Bautrupp seine Terminzusage nicht eingehalten hatte. Eine Übergabe der TM14 war nicht möglich. Jan Behlinger stellte klar, dass Anni Schmidts Unternehmen die Ausfallkosten zu tragen hätte, falls die Maschine am kommenden Samstag nicht in Betrieb gehen würde. Das konnte ein teurer Spaß werden.

An Anni Schmidts Hals erkannte ich leichte rote Flecken. Einerseits gönnte ich ihr die Probleme, so wie sie mich vor zwei Stunden behandelt hatte. Andererseits half es keinem, wenn sie rote Flecken bekam, die Inbetriebnahme aber nicht starten konnte. Ich musste Anni bei Gelegenheit davon überzeugen, keine weißen Blusen zu tragen, die diese Flecken noch mehr betonten. Noch mehr musste ich aber an das Ende der Woche denken, wenn die nächste Anlage übergeben werden sollte und dass wir bereits jetzt einen Zeitrückstand riskierten. Das würde dann auf mich zurückfallen und rote Flecken bei mir erzeugen.

„Zum letzten Mal, Frau Schmidt, wann werden Sie die Maschine vertragsgemäß übergeben?“, schrie mein Vorgesetzter übertrieben laut die Baustellenleiterin an.

„Das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit Gewissheit sagen“, stellte sich Anni Schmidt ihm entgegen. In ihren Augen funkelte Wut. Oder waren es die ersten Anzeichen von Tränen? Die Luft war wie vor einem Gewitter geladen, alle warteten auf den nächsten Donnerschlag.

„Wir kommen zur Frühschicht wieder!“, waren die letzten Worte von Jochen Uhl, ehe er sich abwandte. Behlinger war von Uhls wenig konstruktivem Verhalten offensichtlich verunsichert und überlegte noch, was er tun sollte.

Ich nutzte die Gelegenheit und raunte Anni Schmidt zu: „Haben Sie schon irgend­eine Baugruppe fertig?“ Noch erregt von der hitzigen Diskussion antwortete sie fast mechanisch und sichtlich enttäuscht: „Ja, die Baugruppen acht, elf und zwölf.“ Sie senkte dabei frustriert den Kopf.

„Wir übernehmen die Anlage!“, rief ich in den Kreis der Verantwortlichen. Im Nachhinein betrachtet können so etwas nur junge Menschen, die von der ganzen Betriebspolitik noch nicht gemahlen, zerrieben und gesiebt worden sind. Ich hatte natürlich keine Ahnung, auf was ich mich da einließ. Aber klar war auch, dass wir, wenn wir jetzt nicht mit der Inbetriebnahme anfingen, auf jeden Fall eine Verspätung riskierten.

Anni Schmidts Augen machten Freudensprünge, aber mein Chef fand meine Bemerkung nicht sehr lustig. „Das werden wir nicht!“

„Warum nicht?“

„Wenn wir die Maschine übernehmen, übernehmen wir auch die Verantwortung!“

„Dann übernehmen wir nur die fertigen Baugruppen acht, elf und zwölf.“

Jochen rückte bedrohlich nahe an mich heran und ich wurde etwas nervöser.

„Wir übernehmen nur die komplette Maschine!“

Ich nutze nochmals meine Anfängerprivilegien: „Warum?“

Langsam überschritt Jochen seine zulässige Höchsttemperatur und Anni Schmidts Fle­cken bekamen Junge auf seinem Hals. „Bei einem so komplexen Projekt übernehmen wir immer nur die gesamte Anlage!“

„Warum eigentlich?“, fragte eine fordernde Stimme hinter uns. Jan Behlinger schien meine Idee zu gefallen. „Lassen Sie Herrn Simon doch die fertigen Baugruppen bereits überprüfen, soweit das möglich ist.“

Jochens Überdruckventil musste ausgelöst worden sein, denn er antworte ohne Widerwillen, aber mit zornigem Blick in meine Richtung.

„Okay. Fangt an, wie ihr wollt. Ich bin morgen früh um sechs wieder hier.“

Seine braunen Augen verdunkelten sich – keine gute Farbe für meine weitere Karriere. Aber momentan wollte ich bei meiner ersten Inbetriebnahme keine weitere Zeit verlieren. Die Gruppe löste sich auf und ich begab mich auf die Suche nach Erich.

Er stand wenige Meter entfernt an den Maschinenrahmen gelehnt und grinste mich amüsiert an: „Zu oft solltest du ihn nicht ärgern.“

Ich grinste zurück. „Ich wollte ihn nicht ärgern, sondern Zeit für uns gewinnen.“

Aus den Augenwinkeln sah ich Anni Schmidt auf mich zukommen und zog schnell meinen Schutzhelm auf. „Danke!“, strahlte sie mich an. „Und jetzt gibt es erst einmal eine Sicherheitsbelehrung, sonst dürfen Sie nicht auf der Baustelle bleiben, Herr Simon.“ „Tim“, sagte ich kurz, „wir sind doch eine Altersklasse.“

Sie lachte auf. „Okay, ich heiße Anni.“

Nach der Sicherheitsbelehrung durfte ich mich frei auf der Baustelle bewegen. Erich hatte wie immer alles im Griff. Die drei Mechaniker waren auf die drei fertigen Baugruppen verteilt und arbeiteten die Aufgaben aus dem Inbetriebnahmeordner ab.

Mit Anni diskutierte ich die kritischen Punkte der weiteren Aufbauarbeiten und wir stellten fest, dass die Verdrahtung des neuen Schaltschranks am meisten Zeitrückstand hatte. Aufwendig überprüften die Bauelektriker jede einzelne Verdrahtung. Ich stutzte, das war doch auch eine unserer Aufgaben im weiteren Verlauf der Inbetriebnahme.

Das war die Chance, den Zeitplan zu retten, und ich ließ Erich das Team zusammen­rufen. In unserem Teamraum echauffierten sich die Mitarbeiter meiner Schicht noch über die Situation bei der Übergabe, als ich eintrat.

„Und?“, fragte ich, „klappt das mit der Inbetriebnahme der Baugruppen?“ Die drei Mechaniker nickten und murmelten etwas von „akzeptabel“, während die Blicke der drei beschäftigungslosen Elektriker den Boden absuchten.

„Wusstest ihr, dass die Bautrupp-Elektriker den gleichen Job machen wie wir?“

Nun röhrte nur noch der Kompressor des Kühlschranks. Hilfe suchend blickten die drei Elektriker auf, aber nicht auf mich. Sie schauten auf Erich.

Dessen Gesicht sah sehr nachdenklich aus, was in meinem Hirn sofort eine neue Sy­napse entstehen ließ. Das geschieht immer, wenn der Mensch etwas lernt. Und ich hatte soeben gelernt, dass Erich sehr genau wusste, dass das Durchklingeln aller Leitungen doppelt gemacht wurde.

Langsam blickte Erich nach oben. Ich war gespannt, wie er sich entscheiden würde. Unterstützte er mich, den neuen Jungfuchs? Würde er die Elektriker sofort an die Arbeit schicken, den Elektrikern vom Aufbautrupp quasi die Arbeit abnehmen? Oder würde er einen Machtkampf anzetteln und mir erklären, warum wir die Bautrupp-Elektriker nicht unterstützen konnten? Ich scheiterte bei dem Versuch, seine Gedanken zu lesen.

Erichs Blick trafen meinen und langsam erschien ein leichtes Grinsen in seinem Vollbart.

„Keine schlechte Idee.“

Aber unsere Elektriker hatten auch keine zu langen Schaltkreise und empörten sich sofort. „Vor der Übergabe machen wir nichts!“, polterte einer der drei Betroffenen los, aber seine Stimme klang etwas zu schrill und er hielt abrupt inne, als Erich weitersprach.

„Ihr drei helft dem Bautrupp beim Kabelziehen, dann braucht ihr die Leitungen später nicht prüfen. Ihr werdet mir bestimmt nicht erzählen wollen, dass ihr euren selbst verlegten Leitungen nicht traut, oder?“

Jede Form von Widerstand war im Keim erstickt und ich war froh, dass Erich auf meiner Seite stand. „Rede du mit Anni“, wies er mich an, die frohe Botschaft zu überbringen. Das geschah so laut, dass jeder im Team wusste, wer hier die Kommandos gab. Ich verließ den Teamraum und suchte die Baustellenleiterin.

Jung, dynamisch, … erpressbar

Durch unsere Unterstützung konnte die Übergabe der gesamten Maschine Montagmorgen mit acht Stunden Verspätung um sechs Uhr durchgeführt werden. Durch unser „Simultaneous Engineering“, der parallelen Abarbeitung von Aufbau und Inbetriebnahmeaktivitäten, näherten wir uns dem ursprünglichen Zeitplan.

Jeden Werktag um acht Uhr fand das Inbetriebnahmemeeting statt, in das alle Werksabteilungen einen Vertreter entsandten. Der Leiter der Inbetriebnahme führte durch das Meeting. Bei straffer Führung war die Veranstaltung in 30 Minuten zu bewältigen. Jochen verstand es jedoch, mit seinem Hang zur Selbstdarstellung die anderen Beteiligten fast eine Stunde von der Arbeit abzuhalten.

Für mich waren die Nächte lang, da ich stets um 20 Uhr an der TM14 erschien und als Schichtleiter am Inbetriebnahmemeeting zwölf Stunden später teilnehmen musste. Nach Abschluss des Meetings fuhr ich nach Hause in die leere Wohnung und legte mich schlafen. Mir zuliebe kam Klara in dieser Woche bereits gegen 17 Uhr von ihrem Job bei Sondano Pharma zurück und weckte mich mit frischen Brötchen und Espresso. Wir ließen gemeinsam unseren Tag Revue passieren und ich bereitete mich langsam auf die nächste Nachtschicht vor. Ich hatte eine tolerante Partnerin, die meine Workaholic-Phase mitmachte, und ich hatte mit 24 Jahren eine Führungsposition. Mein Leben war perfekt!

Erichs Inbetriebnahmeunterlagen erwiesen sich als große Hilfe, wir kamen gut voran. Freitagnacht starteten wir den ersten 4-Stunden-Lauf, in dem wir allerdings die Qualitätsziele nicht erreichten. Es waren nur 2.000 ppm fehlerhafte Produkte erlaubt. Von 1.000 Proben während des 4-Stunden-Laufs durften also nur zwei fehlerhaft sein. Mit der dritten schlechten Probe waren wir durchgefallen.

Während dieser Nachtschicht kam es zu keinem weiteren Versuch und so fuhr ich Samstagmorgen in der Hoffnung nach Hause, dass die Früh- oder die Spätschicht die Qualifikation schaffen würde und ich endlich mal ausschlafen konnte.

Zu Hause erwartete mich schon Klara, die unbedingt mit mir shoppen gehen wollte. „Schlafen kannst du, wenn du tot bist.“ Sie schleppte mich durch mehrere Boutiquen in Köln. Gegen 12 Uhr durfte ich endlich ins Bett, aus dem ich jedoch nach zwei Stunden unsanft hinausgeworfen wurde. Jochen hatte angerufen und Klara mitgeteilt, dass die Qualifikation gelungen war und ich sofort kommen solle. Sie riss das Schlafzimmerfenster auf und öffnete die Vorhänge. „Ausgeschlafen?“, lächelte sie mich ironisch an. „Warum muss ich denn unbedingt kommen?“, fragte ich müde, aber Klara, die jetzt zu einem Tennismatch wollte, wusste auch nicht mehr. „Hat er nicht gesagt. Er wollte nur, dass du sofort kommst.“ Dann war sie auch schon weg.

Bei Brackets angekommen, ging ich ohne Umwege in Jochens Büro. Er begrüßte mich freudestrahlend und sagte: „Tim, jetzt kommt der angenehmste Teil des Jobs: der Inbetriebnahmebrief!“

Mir war immer noch nicht klar, was er wollte, und ich wiederholte einfach nur sein letztes Wort: „Inbetriebnahmebrief?“

„Ja“, erwiderte Jochen sofort, „ich erkläre dir den Verteiler!“

„Bestimmt erklärst du mir gleich, warum ich jetzt so dringend gebraucht werde“, gab ich ironisch zurück, was er jedoch überhaupt nicht bemerkte.

Seine Augen strahlten beim Blick auf den Monitor. „Am Ende einer jeden Qualifikation muss der Inbetriebnahmeleiter das gesamte Management über die erfolgreiche Inbetriebnahme und die Ergebnisse des 4-Stunden-Laufs informieren. Der Verteiler dieses Briefs enthält alle wichtigen Brackets-Leute im europäischen Management. Leichter kann man nicht bekannt werden!“, grinste mein Chef breit in sich hinein.

An seinem Monitor las ich die zahlreichen Namen, deren Funktion er einzeln erläuterte. Nur unser Werksleiter John Peters, der Produktionsleiter Jan Behlinger und die anderen Mitglieder der lokalen Geschäftsleitung waren mir bekannt.

Erstellt und unterschrieben wurde der Brief von Jochen in seiner Funktion als Inbetriebnahmeleiter. Mich juckte es, die auf der Hand liegende Frage zu stellen, aber ich fürchtete mich vor der Antwort. Wenn ich die nächste Inbetriebnahme leiten würde, wer würde dann am Ende dieses karrierefördernde Schriftstück erstellen? Ich wollte zunächst einmal abwarten.

Warum Jochen mich ins Werk geholt hatte, leuchtete mir allerdings immer noch nicht ein. Nach unserer Meinungsverschiedenheit bei der Übergabe der TM14 am letzten Samstag wollte ich ihn nicht weiter verärgern und ließ mir gelangweilt die Vorzüge seiner Tätigkeit erläutern. Mit einem Blick auf seine Armbanduhr beendete er nach zwei Stunden abrupt unser Gespräch und erklärte mir, dass wir uns das nächste Mal Montagmorgen im Inbetriebnahmemeeting sehen würden. Ich verschwendete keine Zeit, verließ Brackets und fuhr zur Tennisanlage, um dort Klara zu treffen.

Sonntagabend starteten wir die nächste Inbetriebnahme. Der weitere Plan sah den Umbau gemäß der Maschinen-Nummerierung vor. Also TM1, TM2, TM3 bis TM20. Da Erich an meine Schichtleiterposition gerückt war, brauchte ich nicht weiter Schicht arbeiten. Trotzdem ließ ich es mir nicht nehmen, bei der Übergabe der TM1 anwesend zu sein. Also stand ich um 22 Uhr in der Produktionshalle und versuchte erneut, Annis Verspätung zu kompensieren.

An der TM1 und der TM2 war ein erfahrener Produktionsteamleiter, der meine Mannschaft und mich vom Beginn der Übernahme an hervorragend unterstützte. Schon Donnerstagabend starteten wir um 17 Uhr den ersten 4-Stunden-Lauf. Als wir endlich in einen stabilen Produktionsbetrieb übergingen, entschloss ich mich, das Ergebnis abzuwarten. Gegen 21 Uhr hatten wir die Produktions- und Ausschussziele erreicht und erwarteten mit steigender Nervosität die Qualitätsdaten aus dem Labor. Plötzlich trat Jan Behlinger in unseren Teamraum. „Warum steht die TM1?“, fragte er schlecht gelaunt.

Einige Mitarbeiter rissen schuldbewusst ihre Füße von den Tischen, auf die sie sicherlich auch nicht gehörten. „Wir warten auf die Qualitätsdaten“, antwortete ich sachlich.

„Warten und Produktion“, lächelte Behlinger bissig, „das passt aber nicht zusammen!“ Was wollte er damit sagen? Sollten wir ohne offizielles Qualifikationsergebnis die Maschine weiter fahren und, wenn wir die Ziele nicht erreicht hatten, für den entstandenen Schaden geradestehen? Produzieren ohne Auftrag, das klang doch sehr heikel, aber ich traute mich nicht, direkt nachzufragen.

Jan Behlinger spürte meine Verunsicherung, die ihm anscheinend Vergnügen bereitete. „Also“, räusperte er sich, „ich kann gratulieren, Sie haben die Maschine qualifiziert!“ Sofort quoll der Raum vor Stimmengewirr über. Immerhin war erst Donnerstagabend! Behlinger lächelte nun breit über das ganze Gesicht und verabschiedete sich mit einem „dann mal schönen Feierabend“.

Der Schichtleiter der Spätschicht kam auf mich zu.

„Wir machen noch die Dokumentation fertig, dann gehen wir.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich nickte nur, als die Tür erneut aufging und Jan Behlinger durch den Türspalt lugte. Wie Peter Falk als Inspektor Columbo in seiner unnachahmlichen Art fiel der Blick des Produktionsleiters auf mich. „Ach, Herr Simon, ich hätte da noch eine Anmerkung, wenn Sie mir folgen könnten?“

Ich sprang auf und ging zügig an meinen grinsenden Mitarbeitern vorbei zur Tür hinaus. Jan Behlinger machte es kurz.

„Verfassen Sie den Inbetriebnahmebrief noch heute Abend?“ Schon steckte ich in einer Loyalitätsfalle. Ich wusste, Jochen würde mich zerreißen, wenn ich seinen geliebten Inbetriebnahmebrief schriebe. Daher war ich auf der Hut und antwortete erst einmal nicht.

Jan Behlinger war besser trainiert als ich und überbrückte die Schweigephase mit einem aufmunternden Nicken in meine Richtung. Das war unmissverständlich, ich sollte antworten.

„Ich glaube, der Inbetriebnahmebrief wird von Herrn Uhl erstellt.“

„Das ist Aufgabe des Inbetriebnahmeleiters“, kam es klar und deutlich zurück.

„Herr Behlinger, ich glaube Herr Uhl würde das nicht wertschätzen, wenn ich diesen Brief schreibe.“ Verdutzt schaute mich mein Gesprächspartner an. „Und was ist mit meiner Wertschätzung?“

Jetzt konnte ich mir aussuchen, wen ich verärgere! Genau in diese Situation wollte ich nicht geraten. Ich bedankte mich bei Herrn Behlinger für sein Vertrauen und machte mich auf den Weg in mein Büro. Da die Kantine auf dem Weg lag, holte ich mir einen Kaffee und setzte mich mit meinem Problem in den leeren Raum.

„Kann ich mich dazusetzen?“ Ich schaute auf und sah Sven Brakel, einen Elektroingenieur, der zeitgleich mit mir bei Brackets angefangen hatte. In der ersten Woche waren wir gemeinsam durch das Einarbeitungsprogramm gegangen und hatten uns dabei besser kennen gelernt. „Du kommst wie gerufen“, freute ich mich und erläuterte Sven mein Problem.

„In solchen Fällen gibt es eine einfache Regel für hierarchische Systeme: Ober sticht Unter!“

„Wie kommst du denn auf den Spruch?“

„Mein Vater ist Vorstand einer Aktiengesellschaft und er gibt ihn seit Jahren zum Besten. Er sagt, im Zweifelsfall hat der Boss immer Recht, weil er am Ende auch immer die Verantwortung trägt.“

Das leuchtete mir ein und ich bedankte mich mit einem Extrakaffee bei Sven.

In meinem Büro angekommen fuhr ich den Computer hoch und schaute beiläufig auf meine Schreibtischunterlage. Mein Lernzettel fiel mir ins Auge und ich beschloss, meine zweite Erkenntnis festzuhalten:

Mitarbeiter motivierenOber sticht Unter

Um Jochens Ärger kleinzuhalten, formulierte ich den Inbetriebnahmebrief in vollkommener Analogie zu seinem letzten. Außerdem setzte ich einfach unsere beiden Namen an das Ende des Textes und schickte die Mail in die Brackets-Welt hinaus.

Als ich zu Hause ankam, rechnete ich nicht damit, dass Klara noch wach war. Sie saß aber müde auf der Wohnzimmercouch und sah fern. Sofort begann ich, von unserer erfolgreichen Qualifikation zu berichten und von meinem Dilemma, zwischen zwei Vorgesetzten zu sitzen.

„Das kenne ich“, unterbrach sie mich mit einer Stimme, die mich erschreckte. Es war wohl Zeit, zuzuhören anstatt zu reden. In den letzten Tagen hatte Klara auf meiner Prioritätenliste oft ganz unten gestanden. Ich nahm also neben ihr Platz und füllte das für mich bereitstehende Weinglas mit einem Grau-Burgunder Kabinett aus dem badischen Durbach. Klara versuchte zu formulieren, was sie bedrückte. Sie hielt ihr Weinglas gegen das Kerzenlicht.

„Teufelszeug!“ So schlecht war der Wein doch gar nicht, aber ich wollte nicht schon wieder das Wort ergreifen.

„Mein Chef Frank Steuer ist Alkoholiker!“

Na und? Das war doch nicht ihr Problem? Klara war außerdem erst zwei Monate bei Sondano Pharma. Woher wollte sie das denn wissen? Aber ich brauchte nicht nachzufragen, sie erzählte von sich aus weiter.

„Anfangs wunderte ich mich, dass nur Vormittagstermine bei Steuer möglich sind. Mittags verschwindet er angeblich zum Essen. Wenn er zurückkommt, hat er immer eine Aktentasche bei sich, die so aussieht als, sei sie schwer. Damit schließt er sich in sein Büro ein und ist quasi für niemanden mehr zu sprechen.“

„Aber was macht ihr mit Meetings am Nachmittag?“

„Es gibt nachmittags keine Termine mit ihm“, antwortete sie mit einem sarkastischen Unterton. „Heute benötigte ich dringend eine Unterschrift für eine Budgetfreigabe“, fuhr Klara fort, „und klopfte nichts ahnend an seine Tür. Ich glaubte, ein Ja gehört zu haben, und trat ein. Der Anblick schockte mich! Mit rotem Kopf versuchte der Typ noch, die Schreibtischschublade zuzuschlagen, was ihm aber mangels Koordination nicht gelang. Das Büro roch nach Alkohol und die Flaschen, die ich in seiner halb offenen Schublade sah, bestätigten meinen Geruchssinn. Mit rot geränderten Augen kam er auf mich zu, aber ich wich zurück und er stolperte über seinen Papierkorb. Ich bin schnurstracks zur Tür raus und in mein Büro zurückgelaufen. Da habe ich noch eine halbe Stunde zitternd gesessen und nicht gewusst, was ich machen soll. Dann bin ich einfach nach Hause gefahren.“

Jetzt war ich betroffen und verlegen. Natürlich ging sie das Thema etwas an. Meine erste Reaktion war falsch gewesen. Ich kannte Klara als selbstbewussten Menschen, der mit beiden Beinen im Leben stand. Jetzt war eine Situation eingetreten, in der sie mich brauchte.

„Was würdest du an meiner Stelle machen?“, fragte sie. Klara war noch in der Probezeit. Produktmanagerjobs in der Pharmaindustrie waren nicht einfach zu bekommen und wenn sie Ärger machen würde, drohte ihr eventuell die Kündigung.

„Du musst mit deiner Chefin sprechen“, war die einzig sinnvolle Aktivität, die mir in den Sinn kam. „Wie heißt die Frau noch?“

„Gabriele Hörster“, antwortete Klara, „aber was soll die machen?“

„Na hör mal!“, reagierte ich entsetzt, „die muss sich doch der Sache annehmen!“

„Aber was soll ich ihr erzählen? Dass Frank Steuer ein Säufer ist? Das wird die doch wissen!“

Ich wurde unsicher. Eigentlich ein klarer Fall: Mitarbeiter trinkt Alkohol am Arbeitsplatz, ist somit arbeitsunfähig und erfüllt seine arbeitsvertraglichen Pflichten nicht. Aber kann ein Unternehmen wegen Alkohol am Arbeitsplatz kündigen? Und wie ist Sondano bisher mit Frank Steuer umgegangen? Vielleicht hatte er gerade nur ein paar private Probleme?

„Die Geschäftsleitung muss dem Fall nachgehen, wenn du deine Beobachtung meldest“, erklärte ich.

„Oder mich einfach vor die Tür setzen.“

Ich wollte protestieren, aber Klara fuhr bereits fort. „Der Mann ist 25 Jahre bei Sondano, ich zwei Monate. Wem wird man mehr Glauben schenken, auf wen wird man eher verzichten?“

Ich versuchte, Klara Mut zu machen: „Vielleicht warten die sogar auf solch eine Gelegenheit.“

Klara wischte sich das blonde Haar aus den Augen, die jetzt düster dreinschauten.

„Soll ich Steuer direkt ansprechen?“, unterbrach sie unser Schweigen.

„Ein direkter Anlauf bei deinem Vorgesetzten kann nicht funktionieren. Der braucht professionelle Hilfe und dafür bist du die Falsche“, versuchte ich die Last von meiner Lebenspartnerin zu nehmen. Klara nickte und wir legten gemeinsam einen Schlachtplan für das Gespräch mit der Geschäftsführerin zurecht.

Sichtlich erleichtert ging Klara eine halbe Stunde später ins Bett, während ich noch meine E-Mails durchschaute. Keine Nachricht von Jochen. Beruhigt ging ich schlafen.

Am nächsten Morgen schaffte ich es gerade noch pünktlich zum Start des Inbetriebnahmemeetings und setzte mich an die Seite meines Chefs. Der schielte kurz zu mir rüber und nickte grimmig. Sein Bericht über die erfolgreiche Qualifikation in der letzten Nacht fiel jedoch positiv aus und als er mich nach dem Meeting in sein Büro einlud, folgte ich ihm ohne größere Befürchtungen.

„Manchmal gehen die Dinge bei Brackets einfach zu schnell“, sagte er halb zu sich, halb in meine Richtung gewandt. Sein Stuhl ächzte wieder unter seinem Übergewicht.

„Ab nächste Woche muss ich für 6 Monate nach Posen, einen Werksausbau leiten.“

„Darf man gratulieren?“, fragte ich vorsichtig. Jochens Stuhl nahm mit einem ungewöhnlich lauten Knarren die Antwort vorweg.

„Ist nur ein Projekt“, antwortete Jochen unwirsch. Er begann, mir die Auswirkungen zu erläutern. Meiner größeren Handlungsfreiheit stünde eine geringere Unterstützung durch seine Wenigkeit gegenüber. Beim zweiten Teil musste ich innerlich schmunzeln, da ich seine Form der Unterstützung ohnehin noch nicht verstanden hatte. Ich sollte keinen neuen Vorgesetzten bekommen, da er in sechs Monaten garantiert wieder da wäre. Wir unterhielten uns noch über den weiteren Inbetriebnahmeablauf und dass ich ihn bei Notfällen auf jeden Fall anrufen solle. Regelmäßige Berichte meinerseits lehnte er ab, da er über die Inbetriebnahmebriefe den Status des Projekts mitverfolgen konnte.

Es war Freitag und es stand wenig an, also beschloss ich, Klara nach ihren Erfah­rungen vom Vortag zur Seite zu stehen und früh zu Hause zu sein. Damit mich niemand früher gehen sah, schlich ich durch den Eingang für Fremdfirmenmitarbeiter. Für normale Brackets-Mitarbeiter war dieser Weg nicht nutzbar, man benötigte eine spezielle Codierung auf seiner Zugangskarte. Anni hatte jedoch dafür gesorgt, dass ich jederzeit in das Containerdorf der Fremdfirmen gelangen konnte, und damit besaß ich auch die Möglichkeit, diesen Hintereingang zu nutzen.

Mit 180 Stundenkilometern flog ich laut singend über die Autobahn in Richtung Köln, als ein Radiohinweis meinen minderwertigen Gesang unterbrach.

„Auf der A1 ist ein Unfall passiert.“ Irgendetwas störte mich an der Formulierung „Unfälle passieren“, aber mir blieb keine weitere Sekunde, darüber nachzudenken. Der Verkehr war dichter geworden und ich hatte das Warnblinklicht meines Vordermannes ignoriert. Jetzt musste ich voll in die Bremse steigen und hörte gleichzeitig lautes Reifenquietschen von hinten. Der BMW, mit dem ich mir die letzten fünf Kilometer ein Rennen geliefert hatte, war genauso gedankenverloren wie ich in den Stau hineingerast. Der Geruch von verbranntem Gummi drang in meine Nase, als ein Toyota Corolla vor meinem Wagen zum Stehen kam.

„Das reicht nicht mehr!“ Mein Körper wurde mit Adrenalin vollgepumpt.

In Sekundenbruchteilen schielte ich aus den Augenwinkeln in den Rückspiegel und strich auch das Rechtsausweichen von meiner Liste der möglichen Optionen.

Ein Vierzig-Tonnen-LKW fuhr auf der rechten Spur, auf der der Verkehr noch lief.

Ich riß das Steuer also nach links und rechnete mit einem Aufprall gegen die Leitplanke, instinktiv rissen meine Arme das Lenkrad wieder nach rechts.

Erstaunlicherweise hatten auch die Füße das Richtige getan und kurz die Bremse gelöst. Mein Wagen rutschte genau zwischen die Leitplanke und den Corolla, ich kam zum Stehen und schaute der jungen Dame im Wagen neben mir direkt in die vor Schreck geweiteten Augen. Dann kam der Knall und ich hatte das Gefühl rückwärtszufahren, denn nun sah ich auf die Rückbank des Corollas.

Ich drehte meinen Kopf weiter nach rechts und sah einen BMW-Fahrer, der mit hochrotem Kopf in meine Richtung fluchte. Inzwischen roch ich auch das Kühlerwasser seines Wagens. Ich blickte zu meinem Fahrzeugheck und sah, dass ich an diesem Unfall nicht beteiligt war. Der BMW hatte die Wahl, auf den Corolla aufzufahren oder auf meinen Wagen … oder unter den rechts fahrenden LKW.

Klara traf kurz nach mir ein und berichtete sofort von ihrem erfolglosen Versuch, einen Termin bei der Geschäftsführerin zu bekommen. Am Ende hatte sie sich auf nächste Woche Mittwoch vertrösten lassen.

„Und hat dein Boss irgendwas zu dir gesagt?“, fragte ich.

„Er hat so getan, als habe es das gestrige Ereignis überhaupt nicht gegeben“, erwiderte Klara. „Unser morgendliches Vertriebsmeeting mit ihm fand regulär statt. Er kam sogar auf mich zu und fragte nach der Budgetfreigabe vom Vortag, als sei nichts passiert. Entweder konnte er sich selbst nicht mehr erinnern oder er will das Thema einfach übergehen.“ Am Nachmittag wurde er dann wie üblich nicht mehr gesehen und Klara wollte jetzt den Termin mit der Geschäftsführerin abwarten.

Was würde ich eigentlich tun, wenn ich über einen Alkoholfall in meinem Team Kenntnis erhielte? Ich beschloss, die nächste Gelegenheit zu nutzen und einen erfahrenen Kollegen zu befragen.

Sonntagnacht bei Brackets. Anni hatte mit ihrem Team echte Fortschritte erzielt und konnte erstmals um 22 Uhr die Übergabe realisieren. Ich handelte mit ihr die Mängelliste aus, unterschrieb gegen Mitternacht das Übergabeprotokoll und fuhr anschließend nach Hause.

Als Leiter der Inbetriebnahme traf ich regelmäßig mit dem Produktionsteamleiter zusammen, dessen Maschine sich im Umbau befand, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Für ihn war die Inbetriebnahmephase eine willkommene Abwechslung vom Produktionsalltag, da sie durch das konsequente Berichtswesen bei Brackets normalerweise immer unter Druck standen. Jeden Tag gab es einen Report über die Ergebnisse des Vortags sowie eine Zusammenfassung der bisherigen Monatsergebnisse. Messgrößen waren die Schichtleistung und der Ausschuss. Dieser Report zeigte die zehn Teams als Tabelle, jeder Mitarbeiter im Werk erhielt ihn. War man Tabellenerster, klopften einem die Leute auf die Schulter, war man Tabellenletzter, erntete man mitleidvolle Blicke. Wer am Ende des Monats Letzter war, erntete ein Gespräch mit Jan Behlinger. Dort durfte man sein Konzept vorstellen, mit dem man gedachte, von diesem letzten Platz herunterzukommen. War man mehrere Monate hintereinander Letzter, stellte man sein Konzept beim Werksleiter John Peters vor. War keine Besserung zu sehen, endete die Karriere bei Brackets. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass eine Beförderung zum Gruppenleiter nur über eine erfolgreiche Teamleiterzeit erreichbar war.

Dieses Grundprinzip war ein Fall für meinen Lernzettel. Seinen Inhalten fehlte zwar noch der größere Zusammenhang, aber ich hatte ja auch noch 39 Jahre Zeit bis zum Renteneintritt:

Mitarbeiter motivierenOber sticht UnterBeförderung nie in der Linie / immer über den Kernbereich des Unternehmens

Ich saß beim Teamleiter der TM1 und TM2, Detlef Irmen, und wir tranken bitteren Kaffee aus einer uralten Kaffeemaschine. Detlef war fast sechzig Jahre, übergewichtig wie ein Teddybär, mit listigen kleinen Augen in einem bartlosen Gesicht. Meist war er aschfahl, heute aber hatte er ein gesundes Rot im Gesicht. Ihm tat die Pause im Produktionsstress offensichtlich gut.

„Sag mal, Detlef“, setzte ich an, nachdem wir die fachlichen Themen besprochen hatten, „was würdest du tun, wenn du erfährst, dass du einen Alkoholiker im Team hast?“

Die listigen Augen fixierten mich ohne Schrecken oder Überraschung. Diese Augen hatten schon mehr als einen betrunkenen Mitarbeiter gesehen.

„Quartalssäufer oder Pegeltrinker?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Trinkt derjenige ständig oder nur unregelmäßig, dann aber sehr viel?“

„Ich glaube, eher Pegeltrinker“, antwortete ich, nicht wissend, aber vermutend, dass Klaras Boss ständig einen gewissen Alkoholpegel benötigte.

„Also nicht hier bei Brackets?“, stellte Detlef sachlich fest.

„Oh nein“, versuchte ich mein Gegenüber zu beruhigen oder eher mich selbst. „Es ist was Privates.“

Detlef sprach eindringlich weiter. „Alkoholismus ist eine Krankheit und der Betroffene kann sich nicht selbst heilen. Die lügen das Blaue vom Himmel: dass sie was am Magen haben und deswegen Medikamente nehmen müssten, dass sie gestern auf einer Geburtstagsfeier waren und heute Morgen in der Eile das Zähneputzen vergessen haben … Schreib dir das hinter die Ohren: Alkoholiker können sich alleine nicht therapieren und Alkoholiker lügen! Lass also die Finger davon.“

Warum? Das half mir nicht weiter, da ich eine Handlungsanweisung brauchte, also wiederholte ich meine erste Frage: „Detlef, was würdest du denn jetzt tun, wenn du einen Alkoholiker im Team hättest?“

Nun spulte Detlef die Brackets-Policy zu Alkohol am Arbeitsplatz ab. „Bei uns ist Alkohol am Arbeitsplatz absolut verboten, auch zu Jubiläen oder Geburtstagen. Selbst der Koch in der Kantine darf keinerlei Alkohol in den Speisen verwenden. Sollte jemand mit Alkohol am Arbeitsplatz erwischt werden, bitten wir ihn zu einer Blutprobe. Lehnt er diese ab, gilt das als Schuldeingeständnis. Bei einem positiven Test mahnen wir ihn ab! Sollte er ein zweites Mal erwischt werden, benötigen wir ein ärztliches Gutachten darüber, ob der Betroffene alkoholkrank oder gesund ist.

Und jetzt kommt das Verrückte. Ist er ‚krank‘, können wir nur mit Wiedereinstellungsgarantie im Falle einer erfolgreichen Therapie kündigen. Ist er jedoch ‚gesund‘, können wir sofort endgültig kündigen.“

Ein Lächeln huschte über das alte Gesicht meines Gesprächspartners. Er hatte wohl Spaß daran, dem jungen Karriereschnösel etwas beizubringen.

„Und wenn es dein Boss wäre?“, fragte ich konkret, weil ich Klara helfen wollte.

Schlagartig wich die Farbe aus Detlefs Gesicht, die lebhaften blauen Augen senkten sich. Hatte er so etwas schon einmal selbst erlebt? Hatte er darunter gelitten? Er schien mit seinen Gedanken plötzlich weit entfernt zu sein. Wenige Sekunden später war er wieder in dieser Welt.

„Tja“, sinnierte er, „der Fisch fängt halt immer vom Kopf an zu stinken. Was will man machen, wenn der Geschäftsführer ein Alkoholiker ist, am besten fängt man selbst das Saufen an.“

Da ich jetzt nicht weiter auf dem Alkoholthema herumreiten wollte, ließ ich mir von Detlef noch die Vor- und Nachteile seines Jobs erklären. Das Schönste war die Messbarkeit. Hatte man die besten Kennzahlen, war man unbestritten der König, keiner konnte einem den Aufstieg im Unternehmen verwehren. Waren die Kennzahlen schlecht, kannte man zumindest den Grund für das Ende der eigenen Karriere.

Nur merkwürdig, dass die älteren Teamleiter regelmäßig die besten Kennzahlen hatten und dass der einzige nichtakademische Gruppenleiter Lawrence Waske, wie ich stolz von Detlef erfuhr, seit Jahren mit der TM1 bis TM4 die besten Ergebnisse erzielte. Die Gruppenleiter der anderen Maschinenpaare waren allesamt junge Akademiker, die in den letzten Jahren über den Teamleiterjob aufgestiegen waren.

Lawrence Waske war anscheinend eine Institution im Unternehmen. Obwohl alle Maschinen baugleich waren, führte der 52-jährige ehemalige Schlosser die Tabelle der fünf Produktionsgruppen seit 21 Monaten an.

Seine Teamleiter, zu denen auch Detlef gehörte, waren lang gediente Mitarbeiter, die irgendwann einmal in der Produktion als Maschinenführer begonnen hatten. Detlef konnte trotz meiner bohrenden Nachfragen das Erfolgsgeheimnis Waskes nicht entschlüsseln. Ich nahm mir vor, dieses Phänomen genauer zu ergründen.

Nach dem dritten Filterkaffee war mir endlich so schlecht, dass ich mehr aufbrechen musste, als dass ich wollte.

„Danke, dass du dir so viel Zeit genommen hast“, sagte ich und erhob mich schwerfällig von dem alten, grau gemusterten Bürostuhl. „Kein Thema“, antwortete Detlef, wieder mit Farbe im Gesicht, „so eine Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder.“

„Was für eine Gelegenheit?“, fragte ich und hoffte auf ein Kompliment in meine Richtung. Aber Detlef war auf einem völlig anderen Dampfer. „Mal in Ruhe, ohne Produktionsdruck nett plaudern und drei Tassen Kaffee trinken. Das kann ich normalerweise nie.“

„Warum unterstützt du mich dann so intensiv bei der Inbetriebnahme?“, wunderte ich mich. „Das ist tatsächlich eine gute Frage“, antwortete Detlef lachend. „Tatsächlich haben wir mit der TM1 und TM2 momentan einen schönen Lauf und sind sehr gut im Rennen. Glaub mir, ich habe schon einige Inbetriebnahmen erlebt und eines habe ich gelernt.“ Detlefs Pause war lang, er wollte meine ganze Aufmerksamkeit.

„Eine Maschine, die vorher gut läuft, läuft auch nachher gut! Tim, achte auf die Maschinen, die vorher nicht gut gelaufen sind, und du wirst deinen Weg machen.“ Sein Blick verlangte ewige Dankbarkeit für dieses Insiderwissen. Ich schaute weg, nuschelte ein zweites „Dankeschön“ und verschwand aus seinem Büro.