Einfach. - Thomas Hochgeschurtz - E-Book

Einfach. E-Book

Thomas Hochgeschurtz

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Beschreibung

Im zweiten Teil der Tim-Simon-Reihe stellt sich Tim der Heraus­forderung, ein Unternehmen am Standort Deutschland zu erhalten. Der Betrieb steuert auf eine Katastrophe zu, aber schlechte Kennzahlen, mangelhafte Qualität und flüchtende Kunden werden weiter ignoriert. Demotivierte Mitarbeiter und Vorgesetzte, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, stellen nicht die einzige Bedrohung dar. Auch von außen drohen Gefahren für das Unternehmen. Auf den ersten Blick wird das alles andere als einfach. Doch bevor Tim endgültig verzweifelt, kehrt eine alte Freundin zurück … Wie schon im ersten Teil werden Sie in Tims Geschichte Ihre eigenen Kollegen, Vorgesetzten und Manager wiedertreffen - vielleicht sogar sich selbst. Lernen Sie gemeinsam mit Tim, wie sich für komplizierte Situationen Einfach. Lösungswege erfolgreich umsetzen lassen.

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Für Simon,

geh deinen Weg

Thomas Hochgeschurtz

Einfach.

Erfolgreich führen

77815 Bühl/Baden∙www.ikotes.com

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Verviel­fältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-941626-06-5

© 2012 Postfach 1651, D-77806 Bühl

www.ikotes.com

Überarbeitung und Herstellung: Peter Müller

Gedruckt in Deutschland

Dieses Werk erscheint auch als

eBook ISBN 978-3-941626-14-0 [D] 21,90 €

Hörbuch ISBN 978-3-941626-07-2 [D] 29,75 €

I Waldkirch

1 – Der Konflikt

Der helle Hemdkragen bildete einen scharfen Kontrast zu Dieter Menks Halsfarbe. Das ließ nichts Gutes erwarten. Die Stimme der jungen Prozessingenieurin klang verunsichert. „Technisch gesehen dürfte das eigentlich kein Problem sein, aber eine weitere Investition lässt sich wahrscheinlich nicht umgehen.“

Menk brüllte unvermittelt los: „So was muss ich mir nicht antun! Das ist doch alles scheiße! Sie stehlen mir meine Zeit mit Ihremeigentlichundwahrscheinlich!“

Angst kroch durch den Raum. Tims Blick in die Runde offenbarte ihm, dass die Kollegen betreten zu Boden schauten und jeder hoffte, nicht das nächste Opfer von Menks Wutausbruch zu werden. Die Hände der Prozessingenieurin zitterten und ihre Augen glänzten mehr, als ihr lieb war. Tränen und Wimperntusche bahnten sich ihren Weg.

„Jetzt heult die Tusse auch noch“, schrie Menk und schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Puls aller Anwesenden raste, aber äußerlich ließ sich keiner etwas anmerken. „Wer hat mir die angeschleppt?“ Menks Blick wanderte über seine Führungskräfte. Keiner blickte zu ihm auf, bis er zu Tim kam. „Was starren Sie mich so an? Hab ich die Ihnen zu verdanken?“ Tim holte Luft, aber Menk wollte keine Antwort hören. „Bin ich hier nur von Pfeifen umgeben? Muss ich alles selbst entscheiden?“ Die nachfolgende Stille war alles, nur nicht himmlisch.

Tims Antwort brach das Schweigen: „Jede Führungskraft hat die Mitarbeiter, die sie verdient.“ Menk schnellte herum. „Was haben Sie gesagt? Habe ich Sie zum Sprechen aufgefordert?“

„Wir sollten auf die Sachebene zurückkehren“, nutzte Tim die Sekunde Aufmerksamkeit, die er gewonnen hatte.

„Wer hier wohin zurückkehrt, entscheide immer noch ich.“ Menk baute sich drohend vor ihm auf. In den Augenwinkeln konnte Tim die Schadenfreude seiner Kollegen erkennen. Selbst schuld, dass es ihn erwischt hatte.

Dieter Menks Spitzname bei Maertens-Folien war „der Choleriker“, aber Tim hatte in den letzten sechs Monaten keinen Anlass zur Beanstandung gegeben. Er war nie Opfer von Menks Ausbrüchen geworden.

Auch wenn Tim ahnte, dass seine Intervention ihm zum Nachteil gereichte, wollte er das Niedermachen der jungen Mitarbeiterin nicht tatenlos hinnehmen. Für ihn hatte Führung mit Wertschätzung zu tun.

Nach dem Verkauf des Maertens-Folienwerkes in Waldkirch an die Gotar-­Holding hatte Tims damaliger Chef das Unternehmen verlassen. Dieter Menk war kurz darauf neuer Werksleiter und damit sein Vorgesetzter geworden. Seitdem hatte Menk die direkte Kommunikation mit der Muttergesellschaft Gotar bei sich zentralisiert und alle Entscheidungen zur Chefsache gemacht. Tim hätte nie gedacht, dass es so schnell und einfach möglich war, einen engagierten und ehrgeizigen Mitarbeiter wie ihn zu demotivieren.

Tatsächlich hatte Tim erstmals in seinem Berufsleben Spuren von Demotivation an sich selbst entdeckt. Sein bisher einziger Unternehmenswechsel von Brackets zu Maertens war zwar auch nicht nur aus Spaß erfolgt, aber es war mehr die Herausforderung, die ihn zu Maertens getrieben, und nicht Demotivation, die ihn bei Brackets vertrieben hatte.

Um die Situation zu entspannen, sagte Tim mit ruhiger Stimme: „Lassen Sie uns das im kleinen Kreis besprechen.“ Weiter kam er nicht, da Menks Kopfinnendruck, zumindest der Farbe seines Gesichts nach, kein weiteres Wort duldete.

„Haben Sie was mit der? Oder sind Sie neuerdings auch ein Freund von Scheiße, wie Ihre stumpfen Kollegen?“

Tim ließ Menk nicht aus den Augen: „Herr Menk, lassen Sie uns auf die Sachebene zurückkehren.“

„Ich war auf der Sachebene, bis ihr mir diese, diese … Mir fällt kein passendes Wort für so viel Unfähigkeit ein.“ Tim stand auf und blickte Menk in die Augen.

„Wir können auf der Sachebene diskutieren, aber Beleidigungen hinnehmen ist nicht Teil meines Arbeitsvertrags.“ Tim ging zu der weinenden Prozessingenieurin hinüber und bat sie, mit ihm den Raum zu verlassen.

„Tim Simon, wenn Sie diesen Raum verlassen, zerreiße ich Ihren Arbeitsvertrag in tausend Stücke“, brüllte Menk.

Tim nahm die Prozessingenieurin am Arm und verließ mit ihr den Besprechungsraum. In der Tür drehte er sich ein letztes Mal um. „Herr Menk, jeder Vorgesetzte hat die Mitarbeiter, die er verdient.“

2 – Der Minister

„Ich will diesen Kerl nicht mehr sehen“, polterte Dieter Menk ins Telefon. Peter von Marienthal, einer der drei Geschäftsführer und Inhaber der Gotar-Holding, hielt sich den Hörer weit vom Ohr weg.

„Bei Ihrer Lautstärke brauchen wir nicht zu telefonieren, da höre ich Sie auch so hier in Rüdesheim.“ Vielleicht war er durch das Geschrei seines jüngsten Sohnes lärmempfindlicher geworden. Vielleicht war er auch nur generell von Dieter Menk genervt. Er hatte Menk damals nicht einstellen wollen, aber sein Bruder Heinrich hatte ihn gedrängt, den durchsetzungsstarken Manager von einem anderen Folienhersteller abzuwerben.

Da Heinrich morgens wieder einmal nicht zur Arbeit erschienen war, hatte Peter nun Menks Klage über Tim Simon am Hals.

Peter von Marienthals Gedankenwelt drehte sich aktuell allerdings um andere Probleme. Von den vier Beteiligungen der Gotar-Holding warfen zurzeit nur die Maertens-Folien in Waldkirch und die Standardfolien in Darmstadt Gewinne ab. Die Spezialfolien in Wiesbaden und das Chemiewerk in Offenbach schrieben seit Jahren Verluste. Zu allem Überfluss hatte der Werksleiter in Wiesbaden vor wenigen Tagen einen Schlaganfall erlitten. Nun war der Standort führungslos, bis er, seine Mutter Sofia und sein Bruder Heinrich einen Nachfolger benannt hatten.

„Was werfen Sie Herrn Simon konkret vor?“

„Er untergräbt meine Autorität, redet dazwischen und verteidigt Schlechtleister“, klagte Menk.

Peters Sekretärin schob sich diskret durch den Türspalt und raunte: „Der Minister auf Leitung zwei.“

„Herr Menk, ich muss jetzt Schluss machen. Mein Bruder meldet sich, sobald er wieder im Büro ist.“

Wütend schnaubte Dieter Menk eine Verabschiedung und legte auf.

„Herr Minister, was kann ich für Sie tun?“, fragte Peter und lächelte ins Telefon. Er traf den Wirtschaftsminister regelmäßig im Golfklub. Ein Anruf in der Firma war ungewöhnlich.

„Peter, ich will nicht lange drum herum reden. Eben wurde ich von einer vertraulichen Quelle darauf angesprochen, dass Sie sich mit dem Gedanken tragen, die Spezialfolien in Wiesbaden zu verkaufen. Wie hoch ist der Wahrheitsgehalt dieser Information?“

Ärger überkam Peter. Zum einen war es nicht sein Wunsch, die Spezialfolien zu verkaufen, sondern der seines Bruders, und zum anderen war diese Information noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Nur die drei Inhaber sollten von der Diskussion um den Verkauf wissen.

„Woher haben Sie diese Information?“, versuchte es Peter mit einer Gegenfrage.

Wer es in den Rang eines Landesministers geschafft hatte, war allerdings zu gut geschult, um auf eine Gegenfrage einzugehen. „Sie wissen, dass das nichts zur Sache tut. Sagen Sie mir lieber, wie viel Wahrheit in der Information steckt. Ich möchte Sie ungern an die Landeszuschüsse beim Anbau der nördlichen Hallen in Ihrem Werk in Wiesbaden erinnern müssen.“

„Die Spefo, also die Spezialfolien, sind nicht so einfach rentabel darstellbar. Die Lohnkosten sind im Rhein-Main-Gebiet zu hoch, speziell für diesen Markt. Asiaten und Osteuropäer drängen uns mit Dumping-Preisen aus unserem Geschäft.“

„Also verkaufen Sie?“, beharrte der Minister auf seiner Frage.

„Entschieden ist noch nichts. Mein Bruder und meine Mutter drängeln, aber es gab noch keine Gespräche mit Banken oder Interessenten.“

„Wenn die 600 Arbeitsplätze verloren gehen, werden wir die Zuschüsse zurückfordern. Ist Ihnen das bewusst?“

Peter verwarf den Gedanken, den Minister an die Schmiergelder zu erinnern, die er damals als Bausenator bei der Vergabe der Nordhallen angenommen hatte. In der heutigen Konstellation würde Peter das nicht weiterhelfen, zumal sein Bruder bei der Vergabe an einen lokalen Bauunternehmer der größte Profiteur gewesen war.

„Ich denke, Sie treffen die richtige Entscheidung. Halten Sie mich auf dem Laufenden“, beendete der Minister das Gespräch.

Gegen Mittag traf Heinrich von Marienthal in den Geschäftsräumen der Gotar-Holding ein. Sein Bruder berichtete ihm von den Ereignissen des Vormittags, die eine Sondersitzung der drei Inhaber zur Folge hatte.

3 – Warum Erwartungen?

Sven Brakel musste lachen, auch wenn der Anlass eher traurig war. „Und du hast ihm die Brocken tatsächlich vor die Füße geworfen?“

„Gekündigt habe ich nicht. Ich bin lediglich aus dem Raum gegangen.“

„Bist du Menk danach noch einmal begegnet?“

„Nein, den Rest des Tages habe ich in meinem Büro verbracht und darauf gewartet, dass er anruft. Letztlich könnte er mir das Verlassen des Meetings als Arbeitsverweigerung auslegen.“

„Er wird dir nicht gleich kündigen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher, Sven. Als normaler Mitarbeiter wäre ich mit einer Abmahnung dabei, aber als leitender Angestellter kann Menk mir die fristgerechte Kündigung auf den Tisch legen und meine Fähigkeiten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen.“

„Ob du tatsächlich leitender Angestellter bist, würde ich nach dem Betriebsverfassungsgesetz bezweifeln, da du nicht eigenständig Personal einstellen bzw. freisetzen kannst“, suchte Sven nach tröstlichen Worten. „Paradox ist nur, dass du als Prediger des Leitsatzes, dass jeder Mitarbeiter nur so gut ist, wie er die Erwartungen seines Vorgesetzten erfüllt, selbst gegen die Erwartungen deines Vorgesetzten verstoßen hast.“

„Aber Sven, das haben wir doch schon öfter diskutiert. Der Leitsatz bedeutet nicht, dass der Mitarbeiter sklavisch alle Erwartungen seines Vorgesetzten erfüllen muss. Stell dir vor, du bist für die Buchhaltung verantwortlich und dein Geschäftsführer erwartet, dass du die Bilanz fälschst. Dann hast du immer noch zwei Möglichkeiten.“

„Klar, ich kann die Bilanz fälschen und bin ein guter Mitarbeiter, oder ich fälsche die Bilanz nicht und kann mir einen neuen Job suchen“, sagte Sven.

„Zumindest zeigt das Beispiel, dass der Leitsatz auch bei sehr schrägen Erwartungen stimmt.“

Sven Brakel, sein ehemaliger Kollege bei Brackets, war inzwischen stellvertretender Geschäftsführer eines italienischen Zahnradherstellers und sein regelmäßiger Diskussionspartner, wenn es um das Thema Mitarbeiterführung ging.

„Hat Menk dir gegenüber seine Erwartungen erläutert?“, fragte Sven.

„Auch wenn es die wesentliche Schlussfolgerung aus dem Leitsatz ist, dass Vorgesetzte ihre Erwartungen erläutern sollen, hat sich Menk nie darum geschert. Er gehört zu der Sorte Vorgesetzter, die ihre Erwartungen nicht im Vorfeld diskutieren.“

„Aus welchen Gründen äußern Vorgesetzte wie Menk ihre Erwartungen eigentlich nicht?“

„Wenn ich mir Menk anschaue, dann will er nicht transparent werden. Er will im Nachhinein immer die Möglichkeit haben, seine Erwartungen anders auszulegen, um so seine Macht zu zeigen.“

„Und warum äußern andere Vorgesetzte ihre Erwartungen nicht?“, fragte Sven weiter.

„Der häufigste Grund ist sicherlich, dass viele Vorgesetzte ihre eigenen Erwartungen überhaupt nicht kennen. Versuche es selbst einmal: Nimm ein leeres Blatt Papier und schreibe die zehn Erwartungen an deine Mitarbeiter auf, die dir besonders wichtig sind.“

Tim konnte Sven durchs Telefon lächeln sehen. Es war schwieriger, als es klang. „Dann bittest du deine Mitarbeiter, aufzuschreiben, was sie denken, was deine Erwartungen sind. Am Ende vergleicht ihr die zehn Erwartungen auf den Zetteln. Was denkst du, wie viele übereinstimmen?“

„Sicherlich nicht mehr als sechs“, vermutete Sven. „Spannend wäre das auch mit negativen Erwartungen“, entwickelte er die Idee weiter. „Schreibe die zehn Verhaltensweisen auf, die dich am meisten nerven, und diskutiere sie mit deinen Mitarbeitern.“

„Das ist eine gute Idee. Damit hätten wir zwei Gründe, warum Vorgesetzte ihre Erwartungen nicht äußern. Aber es gibt garantiert noch mehr.“

„Denk nur an Dieter Menks Erwartungsliste. Was stände da ganz oben?“, fragte Sven.

„Ein Punkt auf der Liste von Menk wäre Gehorsam. Wir beide würden als Mitarbeiter sofort nach den Gründen fragen. Dann müsste Menk erklären, warum Gehorsam das Unternehmen erfolgreicher macht und welche Kennzahl er damit positiv beeinflussen will. Eine Diskussion, die in einem modern geführten Unternehmen nicht zu gewinnen wäre.“

„Eine Diskussion, die Menk sicher nicht führen möchte“, ergänzte Sven und fuhr fort: „Es gibt noch ein anderes Problem für dich als Vorgesetzten, wenn du Erwartungen gegenüber deinen Mitarbeitern äußerst.“

Tim war froh, mit Sven diskutieren zu können. Er zwang ihn, sich gedanklich weiterzuentwickeln. „Wenn ich bestimmte Erwartungen formulieren und erklären kann, warum diese Erwartungen einen Sinn ergeben, dann muss ich mich auch selbst daran halten.“

„Genau! Vier Gründe, Erwartungen besser nicht zu artikulieren, obwohl es eine Führungskraft erfolgreicher machen würde“, fasste Sven zusammen.

„Jetzt hast du mir zwar nicht mit Menk weitergeholfen, aber ich weiß jetzt, warum Vorgesetzte ihre Erwartungen nicht klar formulieren“, beendete Tim schmunzelnd das Telefonat und nahm sich ein leeres Blatt Papier. Allerdings schrieb er nicht die besprochenen zehn Erwartungen an seine Mitarbeiter auf, sondern das Ergebnis seines Gesprächs mit Sven:

Was habe ich heute gelernt?

Warum äußern Vorgesetzte ihre Erwartungen nicht?

Vorgesetzte kennen ihre eigenen Erwartungen nichtVorgesetzte wollen nicht transparent werdenVorgesetzte können den Sinn ihrer Erwartungen nicht erklärenVorgesetzte müssen ihre eigenen Erwartungen leben (Vorbild)

Dann kehrten seine Gedanken zu Dieter Menks letzten Worten zurück. Lag sein Arbeitsvertrag bereits als Puzzle im Schredder? Musste er sich auf einen neuen Lebensabschnitt vorbereiten? Egal, wie die Sache ausging, er wollte aus der Erfahrung mit Menk zumindest lernen.

Schon einmal hatte Tim die Zusammenfassung seiner täglichen Lernerfahrungen geholfen. Er wollte seinen Weg aus der Welt der Wissensriesen und Umsetzungszwerge auch dieses Mal festhalten, wenn er ihn tatsächlich finden sollte.

4 – Entscheidung bei Gotar

„Damit hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, freute sich Heinrich von Marienthal.

Peter war nicht wohl bei der Sache, aber seine Mutter Sofia hatte ihn überstimmt. Besser ein Bauernopfer, als selbst schlecht dastehen, dachte sich Peter und fragte: „Wer spricht mit Herrn Simon?“ Dieter Menk kam nicht in Frage und Peter wollte seinen Bruder Heinrich die Botschaft nicht überbringen lassen. Die Familie hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Der Stammbaum der von Marienthals ließ sich bis 1545 zurückverfolgen. Alles, nur keine schlechte Presse!

* * *

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Tim schreckte hoch. Seit zwei Tagen konnte er sich nicht mehr konzentrieren. Die Ungewissheit zerfraß ihn. „Entschuldige, wofür brauchst du den Container?“, fragte Tim. Aber die Erklärung seines Teamleiters ging erneut an ihm vorbei.

Er war Dieter Menk seit dem Meeting nicht mehr begegnet, schlimmer, er hatte nicht ein Lebenszeichen von Menk erhalten, keine Mail, keinen Anruf, keine Einladung zu einem Gespräch.

„Soll ich später noch einmal vorbeikommen?“

Verwirrt schaute Tim auf seinen Mitarbeiter, der bereits in der Tür stand. „Wieso?“

„Weil dein Telefon klingelt.“ Jetzt erst merkte Tim, dass sich sein Handy durch den Vibrationsalarm Richtung Tischkante bewegte.

„Mach, was du für richtig hältst.“

„Mache ich immer“, antwortete der Mitarbeiter grinsend, „aber die Qualitätsprüfer werden zu dir kommen und sich beschweren.“

„Dann schicke ich sie zu dir“, antwortete Tim und grinste zurück. Ein Blick auf das Display – 06722 – Rüdesheim! Sein Puls schoss in die Höhe. Er meldete sich ordnungsgemäß mit Firma, Name und einem freundlichen „Was kann ich für Sie tun?“.

„Peter von Marienthal am Apparat. Herr Simon, ich bitte Sie, um 16 Uhr zu uns nach Rüdesheim zu kommen.“ Eine Bitte war das, nicht und die Strecke Waldkirch – Rüdesheim bedeutete über 300 Kilometer Autofahrt.

„Gibt es ein konkretes Thema, das ich vorbereiten soll?“, versuchte Tim noch einige Indikatoren für den Verlauf seiner Zukunft zu bekommen.

„Sie benötigen nichts. Allerdings muss ich Sie zu Stillschweigen verpflichten.“

„Auch gegenüber Herrn Menk?“, fragte Tim.

Peter von Marienthal blieb geschäftsmäßig: „Nein, Herr Menk weiß Bescheid. Kann ich mit Ihnen rechnen?“

„Ich werde da sein.“

Genau 310 Kilometer bis zur eigenen Inquisition. Tim wäre lieber mit der Bahn gefahren, aber dreimal umsteigen war ihm zu riskant. Ob es noch eine Verhandlung gab oder er direkt die Kündigung vorgelegt bekam? War es sinnvoll, Widerstand zu leisten?

War er zu Beginn der Autofahrt noch deprimiert, erwachte mit jedem Kilometer in Richtung Norden sein Optimismus. Warum sollte er sich an eine Firma oder an einen Job klammern? Jedes Unternehmen hat die Mitarbeiter, die es verdient. Okay, er hatte Frau und Kind, aber Klara konnte ebenfalls das Familieneinkommen sicherstellen. Er würde sich um ihren gemeinsamen dreijährigen Sohn Moritz kümmern, während Klara wieder als Produktmanagerin in der Pharmaindustrie arbeiten ginge. Mit seiner Qualifikation müsste er auch jederzeit etwas Neues finden, nur eben nicht vor der Haustür. Mangelnde Mobilität ist der Karrierekiller Nummer eins, ging es ihm durch den Kopf.

* * *

Mein erster und letzter Besuch im Headquarter, schade, dachte Tim, als er das herrschaftliche dreistöckige Gebäude ein gutes Stück oberhalb des Rheinufers sah. Ein schlichtes Bronzeschild wies ihm den Weg zur Tiefgarage. Zwischen S-Klasse, Lexus und 7er BMW wirkte sein Mittelklassewagen fehl am Platz. In seinem Standardanzug fühlte er sich auf den Fluren der Gotar-Holding wie eine Taube unter Papageien, oder war er der Papagei und die anderen die Tauben?

Der Weg zu Peter von Marienthals Büro wirkte wie ein Laufsteg, zumindest, was die Kleidung der umherstolzierenden Assistentinnen und Praktikanten anging. Das Gebäude erstickte durch zu wenig Tageslicht jegliche positive Stimmung.

„Nehmen Sie Platz“, forderte Peter von Marienthal Tim auf. Der altehrwürdige Besprechungstisch war mit sechs Stühlen ausgestattet. Tim wählte einen Platz mit Blick aus den großen Fenstern, die eine Panoramasicht über den Rhein boten.

„Das ist mein Platz“, stellte der Firmeninhaber fest. Tim zuckte und wechselte auf den gegenüberliegenden Platz. Auf Spielchen hatte er keine Lust. „Wollen Sie einen Kaffee?“

Tim ahnte, dass das der teuerste Kaffee seines Lebens werden würde, aber ein „Nein“ hätte seine Situation auch nicht verbessert. „Gern.“ Von Marienthal öffnete die Tür zu seinem Sekretariat und bat um Kaffee und Gebäck, dann nahm er Tim gegenüber Platz.

„Sind Sie zufrieden mit Ihren Aufgaben bei Maertens?“

Tim stutzte. Es gab nichts zu verlieren. „Heute nicht mehr so wie vor einem halben Jahr.“ Unglücklich formuliert, ärgerte sich Tim sofort, da der Kauf von Maertens-Folien durch die Gotar-Holding genau ein halbes Jahr her war. Er wollte ausdrücken, dass er mit dem neuen Vorgesetzten unglücklich war, nicht mit den neuen Inhabern.

„Was hat sich verändert?“, fragte Peter von Marienthal unbeeindruckt weiter.

„Ich habe einen neuen Vorgesetzten, der einfach andere Erwartungen als der alte Vorgesetzte hat.“ Tim bemühte sich um eine neutral klingende Erklärung.

„Was sind das für andere Erwartungen?“

Tim wiederholte, was er Sven Brakel am Telefon erzählt hatte.

„Sie wollen also selbst mehr entscheiden?“

„Es geht mir nicht darum, dass ich entscheide, sondern, dass meine Meinung etwas zählt.“

„Und was würden Sie gern machen?“

Das war eine so offene Frage, dass Tim nicht sofort wusste, was er antworten sollte. Die anklopfende Sekretärin war eine willkommene Störung. Zwei Kaffee und vier mundgerechte Windbeutel wurden serviert.

„Ich meine beruflich“, führte Peter das Gespräch zurück auf den alten Pfad und nahm sich den ersten Windbeutel. Um Zeit zu gewinnen, nahm Tim ebenfalls einen Windbeutel – schließlich spricht man nicht mit vollem Mund.

„Meine Arbeit als Betriebsleiter macht mir sehr viel Spaß.“ Damit wollte Tim ausdrücken, dass nicht die Arbeitsinhalte sein Problem waren. Irgendwie lief das Gespräch anders, als er erwartet hatte.

„Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“

War das hier ein Vorstellungsgespräch? Oder wollte sein Gegenüber die Antwort „Nicht mehr bei Maertens!“ aus Tims Mund hören? „Herr Menk ist neu auf der Stelle, also gibt es wenig Alternativen“, signalisierte Tim, dass er sich Menks Position zutraute. Gleichzeitig bot er keine Alternative an.

„Unser Werksleiter in Wiesbaden ist krankheitsbedingt ausgefallen.“

Tim blickte zu Peter von Marienthal hinüber, der sich genüsslich den dritten Windbeutel einverleibte. War das ein Angebot? Tim verkniff es sich, den letzten Windbeutel als Pausenfüller zu nehmen.

„Wir haben entschieden, dass Sie den Standort übernehmen.“

Tim blieb die Luft weg. Beförderung statt Entlassung! Er konnte kaum glauben, dass Menk damit einverstanden war. Andererseits wurde dieser damit ein Problem los. Und in Menks Welt war Tim kein ernst zu nehmender Wettbewerber. Ihn als Werksleiterkollegen zu haben, musste ihm daher attraktiv erscheinen.

Das müsste ich noch mit meiner Frau besprechen, war Tims erster Gedanke. Aber er kannte den Unterschied zwischen Ergebnismitteilung und Mitbestimmung, und das war offensichtlich eine Ergebnismitteilung.

„Bis wann muss ich mich entschieden haben?“

Auch das war nicht die richtige Frage. Peter von Marienthal holte eine Unterschriftenmappe von seinem Schreibtisch und legte sie Tim vor. Der Vertrag bestimmte als Starttermin den 1. Juli, also in fünf Tagen. Tim konnte jetzt mit Hinweis auf Frau und Kind versuchen, Zeit für eine Entscheidung zu gewinnen, aber er ahnte, dass das nicht die Erwartung war. Er konnte sich mit Klara immer noch gegen den Vertrag entscheiden, auch wenn er jetzt unterschrieb. Das war zwar gegenüber der Gotar-Holding nicht nett, aber wer sagt, dass die Arbeitswelt immer nett ist? Mit zahlreichen Bedenken seinen Arbeitgeber in diesem Augenblick an der eigenen Wahl zweifeln zu lassen, verschlechterte seine Position nur.

„Was ist, wenn der derzeitige Werksleiter wieder zurückkommt?“

„Der aktuelle Stelleninhaber wird nicht zurückkehren wollen und können. Er hat aufgrund seiner gesundheitlichen Situation einen Aufhebungsvertrag unterschrieben“, antwortete Peter.

Zu schnelles Unterschreiben würde Leichtsinn signalisieren, also las sich Tim den dreiseitigen Vertrag durch. Von Marienthal saß geduldig am Besprechungstisch und bearbeitete seine zahlreichen Unterschriftsmappen.

Das Gehalt war üppig, 25 Prozent variabler Anteil nicht zu viel und die verlängerte Kündigungsfrist nachvollziehbar. Tim unterschrieb die beiden Ausfertigungen und schob sie über den Tisch.

Von Marienthal reichte ihm mit ausdrucksloser Miene die Hand: „Auf gute Zusammenarbeit. Die firmeninterne Kommunikation Ihrer neuen Aufgabe erfolgt morgen um zehn Uhr. Sie können die Mitarbeiter, die Ihnen wichtig sind, ab neun Uhr in persönlichen Gesprächen informieren.“

„Was sind Ihre Erwartungen an mich als Werksleiter in Wiesbaden?“, wollte Tim noch wissen.

„Machen Sie den maximalen Gewinn.“ Von Marienthal lächelte und nahm sich den vierten Windbeutel.

5 – Abschied aus Waldkirch

Im abendlichen Berufsverkehr trat Tim die Rückfahrt an. Klara hatte ungeduldig auf seinen Anruf gewartet. Ihr blieb vor Überraschung die Sprache weg. Kein Wunder, denn sie hatte wie Tim mit einer Kündigung gerechnet. Dass es jetzt eine Beförderung geworden war, konnte sie nicht so recht glauben: „Da steckt doch noch etwas anderes dahinter, oder?“

Tim hatte keinen Beweis für Klaras Verdacht, aber, und das machte ihn nervös, auch keinen Gegenbeweis. Wahrscheinlich waren Klaras Antennen selbst auf die Entfernung besser als seine. Jedoch überwog Tims Stolz ihrer beider Bedenken.

Von einem notwendigen Umzug war Klara wenig begeistert, aber Freiburg war auch nicht ihre Heimat. „Solange Moritz nicht in der Schule ist, machen wir solche Eskapaden noch mit.“

„Für deinen Wiedereinstieg ist die Rhein-Main-Region sicherlich auch von Vorteil“, versuchte sich Tim in Standortwerbung. Ihm graute vor einer möglichen Wochenendbeziehung. Er wollte Moritz’ Kindheit nicht nur via Facebook erleben.

Am nächsten Morgen um neun Uhr saß Tim vor seiner Mannschaft, mit der er fast fünf Jahre lang zusammengearbeitet hatte. Die Enttäuschung war groß, die Überraschung nicht. Der Konflikt mit Menk und die Eskalation vor wenigen Tagen hatten nicht ohne Folgen bleiben können. Dass Tim einen guten Werksleiter abgeben würde, war für seine Mitarbeiter selbstverständlich.

Pünktlich um zehn Uhr erfolgte der Aushang. Menk selbst ließ sich nicht blicken. Egal, wir sehen uns sowieso in Zukunft regelmäßig bei den Werksleiter­meetings, dachte Tim.

Ganz unvorbereitet wollte Tim nicht in Wiesbaden anfangen. Deshalb nutzte er einen Teil seiner restlichen Zeit in Waldkirch, um Informationen über den neuen Standort zu sammeln. Das Waldkircher Controlling konnte ihm diverse Kennzahlen für alle vier Gotar-Standorte zur Verfügung stellen. Tim schaute sich seine neue Herausforderung im Vergleich mit den drei Schwesterwerken an. Ein ungutes Gefühl überkam ihn bei der Analyse der Zahlen.

* * *

In der Nähe von Rüdesheim strahlte die Sonne knapp über die Reben auf die gut besuchte Terrasse des Restaurants Johannishof. Menk lachte laut, zu laut. Heinrich von Marienthal suchte reflexartig nach bekannten Gesichtern, entdeckte aber zum Glück niemanden. Der Oberkellner füllte die Weingläser nach und schaute fragend zu seinem Stammgast.

„Wir nehmen noch eine Flasche“, deutete Menk den Blick seines Gegenübers anders, als er gedacht war.

„Das reicht, Dieter!“

„Sag du mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe!“, konterte Menk. „Erzähl mir lieber, wann du Tim Simon rauswirfst.“

„Wir werfen ihn nicht raus, wir verkaufen den ganzen Laden.“

„Was bleibt da für dich hängen?“

„Genug“, murmelte Heinrich. Ein Grinsen erstrahlte auf Menks Gesicht: „Das will ich hoffen.“ Daraufhin erhob er sein Glas und brüllte: „Bedienung, lassen Sie mal die Luft hier raus!“

II Wiesbadener Sommer

6 – Die Spefo

„Spefo Wiesbaden GmbH“ stand auf dem Reiter des Kalenders, der den 1. Juli anzeigte. Tim starrte hinaus in den Regen und auf die tief hängenden Wolken. Um 14 Uhr würde er sich der Belegschaft als neuer Werksleiter vorstellen. Der erste Eindruck ist nicht immer der richtige, aber der lange Zeit bestimmende. Daher war ihm sein erster Auftritt sehr wichtig.

Das Wochenende war mit Internetrecherchen bezüglich eines neuen Domizils für Klara, Moritz und ihn schnell vorbeigegangen. Am Sonntagabend hatte er ein Zimmer im Waldhotel Rheingau bezogen, wo er unter der Woche wohnen würde, bis eine eigene Wohnung gefunden war.

Peter von Marienthal hatte einen Prokuristen der Gotar-Holding zur Begrüßung geschickt. Dieser ging mit Tim die notwendigen Formalitäten durch, vom Handelsregistereintrag über die Unterschriftsberechtigungen für die Bank bis hin zur Postvollmacht.

Es folgte ein Rundgang mit dem Produktionsleiter Franz Schrauber. Putz bröckelte von den Wänden, Spinnweben verbanden die Stahlträger und Rost zog sich über die Versorgungsrohre. Mit Klebeband geflickte Halterungen, Pornokalender und zugemüllte Fensterbänke rundeten den ersten Rundgang ab. Es wartete eine Menge Arbeit auf ihn.

Tim wurde dem restlichen Team vorgestellt, zumindest denen, die anwesend waren. Von fünf Abteilungsleitern lernte er nur drei persönlich kennen, neben Franz Schrauber den Marketingleiter Björn Kaiser und den Leiter der Finanzen Thomas Koch. Der Vertriebsleiter war bei einem großen Kunden und der Personalleiter seit Wochen arbeitsunfähig.

Vor der Betriebsversammlung nutzte Tim die Zeit, um seine Kennzahlen, die er in Waldkirch erhalten hatte, mit denen von Thomas Koch abzugleichen. Zunächst die Kennzahlen zur Arbeitssicherheit, dann die Qualität und Liefertreue, Produktivität und Kosten und zu guter Letzt die Mitarbeiterkennzahlen. „Unsere Zahlen sind gleich“, bestätigte Koch Tims Zusammenstellung.

Sandra Schneider, eine Personalreferentin, lugte durch den Türspalt. „Herr Kaiser, der Marketingleiter, bat mich, Sie in die Kantine zu begleiten, bevor Sie in die Schlacht ziehen.“

Nach Schlacht war Tim nicht zumute, aber nach Essen, also ließ er sich von der Referentin in die Kantine begleiten. Thomas Koch entschuldigte sich wegen einer Telefonkonferenz mit der Rüdesheimer Zentrale.

Mit seinem gefüllten Tablett setzte Tim sich an den ersten freien Platz. Sandra Schneider folgte zögerlich.

„Sie sitzen am falschen Tisch“, bemängelte eine mit einem weißen Kittel bekleidete Mitarbeiterin des Kantinenservices diplomatiefrei.

„Wieso?“, stutzte Tim, „ist der Platz reserviert?“

Die Mitarbeiterin verdrehte die Augen und zeigte in den entlegensten Winkel des Raums. „Das ist Ihr Tisch.“ Der gedeckte Tisch in der Ecke wirkte einsam und verloren.

„Darf ich nicht hier sitzen?“, fragte Tim amüsiert zurück.

„Wie Sie wollen“, raunzte die Kantinenmitarbeiterin, „aber ich bringe Ihnen jetzt nicht noch die ganzen Getränke hinterher.“ Tim schaute auf sein Tablett, auf dem eine große Apfelschorle stand. Kopfschüttelnd drehte sich die Kantinenmitarbeiterin um und verschwand in der Essensausgabe.

„Der Werksleiter sitzt üblicherweise am gedeckten Tisch“, erklärte Sandra Tim das Verhalten der Kantinendame. „Ich wollte es Ihnen noch gesagt haben, aber da hatten Sie sich schon an diesen Platz gesetzt.“

„Sind Sie bitte so nett und sagen dem Kantinenservice, dass er in Zukunft diesen Tisch nicht mehr decken soll?“ Sandra nickte mit einem breiten Grinsen.

„Wie lange sind Sie schon bei der Spefo?“, fragte Tim.

„Nach meinem Studium der Betriebswirtschaft an der Uni Freiburg kam ich genau vor vier Jahren hierher“, erzählte Sandra. „Angefangen habe ich im Controlling, aber seit der Personalleiter vor sechs Monaten erkrankt ist, arbeite ich in der Personalabteilung. Momentan versuchen wir das ganze Personalgeschäft mit zwei Referenten und zwei Lohnsachbearbeitern zu bewältigen, das ist aber nicht zu schaffen“, zwinkerte sie Tim mit einem Lächeln zu, das Spielraum zur Interpretation ließ. Wollte sie Tim die Botschaft übermitteln, dass die Personalabteilung unterbesetzt war, dass sie eine geeignete Personalleiterin war oder einfach nur Konversation machen?

Wer führt, ist einsam, wusste Tim. Trotzdem oder gerade deswegen brauchte er Verbündete, mit denen er die Spefo entwickeln konnte. War Sandra eine loyale Mitarbeiterin mit Potenzial? Tim wollte schnell herausfinden, wer auf seiner Seite stand und wer sich gegen ihn stellte.

„Was werden Sie auf der Betriebsversammlung erzählen?“, fragte Sandra interessiert.

„Ich bin neu hier, was soll ich erzählen? Ich werde mich vorstellen und mir in den nächsten Wochen ein umfassendes Bild von der Situation machen. Vorher werde ich nichts unternehmen, und das werde ich heute auch so ankündigen.“

Tims Plan war es, sich einige Monate anzuschauen, wie das Unternehmen funktionierte und welche Verhaltensweisen üblich waren. Dann wollte er ein Nicht-Technisches-Training (NTT) zusammenstellen, um seine Erwartungen anhand von Beispielen aus dem Unternehmen zu erläutern. Schon bei seinen vorhergehenden Tätigkeiten war es ihm mit NTT gelungen, die Unfallrate und die Reklamationen zu senken, den Krankenstand zu halbieren und die Produktivität zweistellig zu steigern. Er hoffte, dass das Führen mit Erwartungen auch bei Spefo funktionierte.

„Kann ich bitte Ihre Präsentation für die Betriebsversammlung haben?“, unterbrach ein IT-Techniker Tims Gespräch mit Sandra.

„Ich habe keine Präsentation“, sagte Tim.

„Keine Präsentation?“, entfuhr es dem IT-Techniker verunsichert.

„Was erwarten Sie?“, fragte Tim.

„Ich? Äh, nichts.“ Bevor Tim weiterfragen konnte, hatte sich der Techniker umgedreht und war verschwunden.

Tim schaute Sandra an: „Was glauben Sie, welche Fragen in der Betriebsversammlung kommen werden?“

„Keine.“

„Haben Sie nicht einen Mitarbeiter, der stellvertretend für die ganze Belegschaft ein paar unangenehme Fragen stellt?“, wollte Tim wissen.

„Nein, und wenn ich mich recht entsinne, hat, seit ich hier bin, niemand auf einer Betriebsversammlung je eine Frage gestellt.“

7 – Erste Betriebsversammlung

Ungefähr 200 Mitarbeiter verloren sich in der großen Lagerhalle. Bei aktuell 600 Mitarbeitern eine schlechte Beteiligung. In den goldenen 80ern waren es laut Sandra sogar über 1.000 Mitarbeiter gewesen. Betriebsbedingte Kündigungen waren für die Spefo ein Fremdwort und die Bezahlung galt in der Region als überdurchschnittlich, informierte sie ihn leise, während der Betriebsratsvorsitzende Norbert Roth die Versammlung eröffnete. Nach der Verlesung der Mitarbeiterzahlen ging Norbert Roth auf den Wechsel in der Geschäftsleitung ein. Dabei gab er eine wenig schmeichelhafte Zusammenfassung der Leistungen des ehemaligen Werksleiters. Offensichtlich hatte der Betriebsrat Tims Vorgänger nicht besonders geschätzt.

Die Aufforderung an Tim zur Vorstellung beendete Norbert Roths Rede. Tim bedankte sich für die einleitenden Worte und begann mit seinem Lebenslauf:

„Mein Name ist Tim Simon, ich bin 32 Jahre alt, verheiratet und habe einen dreijährigen Sohn. Meine Berufslaufbahn begann ich 1994 bei Brackets, einem Hersteller von Spülmaschinen-Tabs. Dort startete ich als Leiter der Inbetriebnahme und übernahm nach Abschluss meines Projekts ein Anlagenpaar als verantwortlicher Teamleiter. Im Oktober 1997 bekam ich die Gelegenheit, meine Berufslaufbahn bei Maertens-Folien in Waldkirch als Betriebsleiter fortzusetzen. Seit Anfang 1999 war ich für die gesamte Produktion und Technik in Waldkirch verantwortlich.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Auf unsere Zusammenarbeit hier freue ich mich und hoffe, gemeinsam mit Ihnen das Unternehmen sicher in die Zukunft zu steuern. Wie das im Detail aussieht, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen, aber sobald ich eine klare Vorstellung von unserem zukünftigen Weg habe, werde ich Sie darüber informieren.“ Tim übergab das Mikrofon wieder an Norbert Roth.

„Kommen wir zu Tagesordnungspunkt 3: Verschiedenes. Gibt es Fragen oder Anmerkungen?“

Vollkommene Ruhe in der Halle, nur das Rauschen der Lüftungsanlage und ein leises Pfeifen waren zu hören. „Gibt es Fragen an Herrn Simon?“ Norbert Roth suchte nach Handzeichen in der unruhiger werdenden Mitarbeiterschaft.

Zur Überraschung aller trat ein grauhaariger Mann in den Mittelgang zwischen den beiden Stuhlblöcken.

„Luca, was willst du?“, raunzte Norbert Roth den Mitarbeiter an.

Die Frage war im aufkommenden Gemurmel nicht zu verstehen.

Während Norbert Roth unschlüssig seine Betriebsräte ansah, war Tim mit seinem Mikrofon zu dem Mann gegangen. „Wären Sie so freundlich, Ihre Frage zu wiederholen?“

Der Mann blickte Tim trotzig in die Augen und nahm das Mikrofon.

„Herr Simon, wollen Sie viel verändern?“

Das Gemurmel wurde lauter. Tim lächelte den Mann freundlich an und nahm das Mikrofon wieder in Empfang, während sein Gehirn nach Zeit schrie. Er wollte keine falschen Erwartungen wecken. In solchen Situationen halfen oft Gegenfragen oder eine Erklärung, warum er diese Frage momentan noch nicht ausreichend beantworten konnte. Er entschied sich für die Gegenfrage.

„Dürfte ich nach Ihrem Namen fragen?“

„Luca Montebello.“

„Herr Montebello, warum fragen Sie das?“

Tim musste sich eingestehen, dass die einfache Warum-Frage keine brillante Rhetorikleistung war, ihm aber die notwendige Zeit verschaffte.

Montebello dachte nach. „Wir haben in den letzten Jahren schon vier Restrukturierungsprojekte mitgemacht. Wir haben alles für dieses Unternehmen getan.“ Montebellos Stimme war kräftiger und damit zugleich fordernder, als der schmächtige Körper es vermuten ließ. Das Verstummen des Gemurmels interpretierte Tim als Interesse der Mitarbeiter an Montebellos Ausführung. Keine Veränderung mehr, das war der unausgesprochene Wunsch.

Von Waldkirch aus hatte Tim die Veränderungsprojekte des alten Spefo-Werksleiters zwar am Rande mitbekommen, jedoch nicht genauer verfolgt. Seit der letzten Woche kannte er die Kennzahlen, die diese Veränderungsprojekte erzeugt hatten. Sollte er die Mitarbeiter schon bei seiner ersten Vorstellung gegen sich aufbringen? Jetzt stand er vor 200 seiner neuen Mitarbeiter und schwitzte. Scheiterte er schon bei seiner ersten Bewährungsprobe?

„Vier Restrukturierungsprojekte in welcher Zeit?“, fragte Tim.

„In drei Jahren“, gab Montebello kopfschüttelnd zurück.

„Und was haben die Projekte bewirkt?“

Norbert Roth blickte ratlos zwischen Montebello und Tim hin und her. Sollte er das Frage-Antwort-Spiel unterbrechen? Wohin führte das Ganze?

„Das müssen Sie wissen, Herr Simon“, unterstützte der Betriebsratsvorsitzende seinen ratlosen Kollegen mit einem Zwischenruf.

Tim entschloss sich zur Diskussion: „Was ist das Wichtigste in diesem Unternehmen?“ 200 Augenpaare sahen ihn erwartungsvoll an.

„Gewinn“, antwortete jemand aus den hinteren Reihen, der nicht erkannt werden wollte.

„Falsch!“, rief Tim. „Die Gesundheit der Menschen, die hier arbeiten.“ Ein zustimmendes Raunen ging durch die Reihen. „Also habe ich mir Ihre Unfallzahlen im Vergleich zu den anderen drei Werken bei der Gotar-Holding angeschaut. Was denken Sie: Sind wir hier in Wiesbaden gut oder schlecht bei der Unfallrate?“

„Das muss der Sicherheitsingenieur wissen“, kam es aus der Menge.

Ein kleiner, rundlicher Herr fühlte sich genötigt, aufzustehen und etwas zu sagen: „Ich glaube, wir sind ganz gut.“

Freundlich fragte Tim weiter: „Woran machen Sie das fest?“

„Nun, wir haben überall Sicherheitsbeauftragte festgelegt und halten die gesetzlichen Regeln ein.“

„Zum Gut sein reicht es also, die gesetzlichen Regeln einzuhalten?“ Der rundliche Herr blickte sich verunsichert um. „Was denken Sie, auf welchem Platz wir mit unserer Unfallrate stehen?“ Betretenes Schweigen machte sich breit.

„Wir sind Letzter.“ Die defekte Druckluftleitung pfiff plötzlich irgendwie lauter. „Sicherheit ist nur eine Kennzahl, wenn auch eine sehr wichtige, also schauen wir weiter. Wer bezahlt das hier alles?“

Luca Montebello antwortete als langjähriger loyaler Mitarbeiter: „Die von Marienthals.“

Tim hatte mit einer anderen Antwort gerechnet, also musste er eine Umleitung nehmen. „Und woher nehmen sie das ganze Geld für Rohmaterial, Löhne, Gehälter und Strom?“

„Vom Kunden“, riefen einige Mitarbeiter aus den vorderen Reihen.

„Danke! Und was ist die wichtigste Kundenkennzahl?“

„Reklamationen?“

„Wieder richtig“, bestätigte Tim. „Und wo stehen wir mit unserer Reklamationsquote im Vergleich zu den anderen Standorten?“ Ehe sich wieder Schweigen breitmachen konnte, fuhr Tim fort: „Wir sind Letzter.“

„Da können wir nichts dafür, wir haben die schwierigeren Produkte“, klagte ein Mann in einem weißen Laborkittel.

„Hier geht es nicht um Schuld, sondern nur um Zahlen, Daten und Fakten“, ließ Tim den Einwand abprallen. „Wie ist unsere Liefertreue zum Kunden?“, forschte Tim weiter, ob überhaupt eine Kennzahl in der Belegschaft bekannt war.

„Da sind wir gut“, kam es von einem grauhaarigen Mann in einem abgetragenen Anzug und unpassender Krawatte.

„Woher wissen Sie das?“

„Ich bin Produktionsplaner und ich liege in den letzten drei Monaten bei der Liefertreue über 90 Prozent.“

„Und wo liegen wir im Vergleich zu den anderen?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Ich kann es Ihnen sagen.“

„Letzter?“, kam es von Sandra Schneider, die ahnte, was kam.

„Danke, Frau Schneider. Und warum investieren die von Marienthals ihr Geld in dieses Unternehmen? Warum legen sie ihr Geld nicht einfach auf ein Sparbuch?“

Allgemeines Gelächter machte sich breit. „Auf dem Sparbuch gibt’s doch nix mehr an Zinsen“, rief ein Mitarbeiter in Arbeitskleidung.

„Sie haben recht“, bestätigte Tim, „die von Marienthals investieren hier so lange, wie es mehr Zinsen als auf einem Sparbuch gibt.“ Der Vergleich ließ den Geräuschpegel erneut ansteigen.

„Und wie war der Gewinn im letzten Jahr?“ Ruhe kehrte ein, die Druckluftundichtigkeit war wieder zu hören.

Mit deutlicher Stimme antwortete Thomas Koch, der in der ersten Reihe Platz genommen hatte: „Im letzten Jahr hat der Standort zwei Millionen Euro Verlust gemacht.“

„Das war nur wegen der teuren Rohmaterialien“, versuchte der Betriebsratsvorsitzende diese negative Zahl sofort zurechtzurücken.

Tim ließ nicht locker: „Herr Roth, haben Sie letztes Jahr mit Ihrer Tätigkeit bei der Spefo Gewinn oder Verlust gemacht?“ Darauf wollte der Betriebsrat nicht antworten. Das war auch gar nicht nötig, die Mitarbeiter verstanden den Sinn seiner Frage und kannten die Antwort.

„Herr Simon, das ist aber starker Tobak, mit dem Sie hier starten“, versuchte der Betriebsratsvorsitzende eine Flucht auf die Beziehungsebene.

„Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, überging Tim den Einwand, „Herr Montebellos Frage war die Frage nach Veränderungen. Ob ich viel verändern will?“ Tim dachte an Georg Christoph Lichtenbergs „Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll“. Doch Veränderungen anzukündigen ohne eindeutige Erfolgsaussichten, das war in diesem Augenblick wenig hilfreich. Er hatte noch keine Ahnung, was notwendig war, um die Spefo wieder flottzumachen.

„Stellen Sie sich vor, die Frankfurter Eintracht ist Tabellenletzter und gibt mehr Geld aus, als sie einnimmt. Was für eine Antwort würden wir vom Präsidenten erwarten, wenn er in einem Fernsehinterview gefragt wird, was er zu tun gedenkt?“ Das Beispiel hielt die Aufmerksamkeit hoch. „Wenn der Präsident entschuldigend antwortet, dass der Trainer das Spielsystem bereits viermal geändert hat, wären Sie als Fan und Eintritt-Zahler zufrieden? Sicherlich nicht, oder? Als Erstes würde nach einem neuen Trainer gerufen und dann müssten Punkte her. Sie haben in den letzten drei Jahren vier Restrukturierungsprojekte durchgeführt. Davor ziehe ich meinen Hut. Das Problem: Unsere Geldgeber sehen keine Verbesserung bei den Kennzahlen.“

Unruhe machte sich breit, das Stimmengewirr ließ sich selbst mit Mikrofon kaum übertönen. „Wir müssen unsere Kennzahlen verbessern. Was wir dafür tun müssen, werden wir in den nächsten Wochen gemeinsam erarbeiten“, stellte Tim fest. „Gibt es weitere Fragen an mich?“ Langsam wurde es wieder ruhiger und Norbert Roth wiederholte Tims Frage.

Das Gemurmel verebbte. Niemand wagte es, eine weitere Frage zu stellen, da­rum beendete Norbert Roth Tims erste Betriebsversammlung als Werksleiter.

8 – Hoher Besuch bei der Spefo

Im Laufe seiner ersten Woche versuchte Tim mit möglichst vielen Menschen im Unternehmen zu sprechen. Dazu ließ er sich von den Vorgesetzten ihre Bereiche und die Organisation erklären. Elena Novak, seine Assistentin, organisierte Tim einen gut gefüllten Terminplan. Die wenigen Lücken nutzte er zu Rundgängen durch die verschiedenen Gebäude. Das Werk in Wiesbaden war über 40 Jahre alt und die Produktionshallen mit viel Beton solide gebaut. Die Substanz war da, aber die Pflege bescheiden.