Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online - Jürg Häusermann - E-Book

Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online E-Book

Jürg Häusermann

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Kommunizieren und Präsentieren vor Publikum und online Der Dialog macht vieles leichter: Wenn Menschen sich angeregt unterhalten, leidenschaftlich diskutieren und gemeinsam Lösungen suchen, läuft vieles wie von selbst. Beim Halten einer Rede oder in Videokonferenzen dominiert dennoch oft der Monolog. Das Resultat: Sprache und Körpersprache wirken steif. Aber es geht auch anders, denn viele dialogische Mittel eignen sich für den Vortrag. Sie erleichtern den Zugang zum Publikum und machen die Rede attraktiver – auch online. Jürg Häusermann hilft Ihnen dabei, diese Mittel auch in Präsenz- und Online-Vorträgen gekonnt einzusetzen. Er zeigt Lösungen für Zeitprobleme, die Nutzung des Raums und der Medien auf. Zahlreiche Tipps und Beispiele vertiefen das Verständnis. Kurzum: Ein idealer Ratgeber für alle, die in Vortragssituationen überzeugen und das Publikum miteinbeziehen wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 476

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Dr. Jürg Häusermann ist emeritierter Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er hat über vierzig Jahre Erfahrung in der Rhetorik-Ausbildung an Hochschulen, Fortbildungseinrichtungen und Medienanstalten.

Jürg Häusermann

Konstruktive Rhetorikin Seminar, Hörsaalund online

Sprache, Stimme, Körperspracheund Medien gelassen einsetzen

Umschlagabbildung: © RapidEye · iStock

Autorenbild: © Hannah Barnekow

Illustrationen im Buch: Belege in den Endnoten, Strichzeichnungen © Jürg Häusermann, Tübingen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage 2021

© UVK Verlag 2021

– ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de

eMail: [email protected]

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

CPI books GmbH, Leck

utb-Nr. 5550

ISBN 978-3-8252-5550-3 (Print)

ISBN 978-3-8385-5550-8 (ePDF)

ISBN 978-3-8463-5550-3 (ePub)

Gender-Hinweis

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen zwischen der männlichen und der weiblichen Form abgewechselt.Leserinnen und Leser sind gleichermaßen angesprochen.

für Bärbel

Inhalt

Vorwort | Keine Show!

1Reden vor Publikum: Was wird anders?

2Vom Monolog zum Dialog

3Die erste Herausforderung: der gemeinsame Raum

4Der Online-Vortrag ist eine Einladung

5Vertraue deiner Körpersprache!

6Körpersprache online: mehr als nur Blickkontakt

7Klar und lebendig durch Melodie und Rhythmus

8Neue Impulse beleben die Sprechweise

9Sprecherische Gestaltung: Regeln und Mikro-Tipps

10Wege zu einem verständlichen Stil

11Sag’s attraktiver!

12Der Aufbau unterstützt den Dialog

13Argumentation lädt zum Mitdenken ein

14Dialog durch Fragen und Antworten

15Das Interview als Alternative zum Vortrag

16Visualisieren und trotzdem präsent bleiben

17Medien und Requisiten beim Online-Vortrag

Anhang

Weiterführende Literatur

Endnoten

Personen und Stichwörter

Vorwort

Reden könnte so einfach sein. Reden ist eine alltägliche Tätigkeit, mit der wir das Leben meistern. Wir fragen „Wie geht’s?“, wir bestellen Kaffee, wir führen Selbstgespräche – und oft ist nicht viel Überlegung dabei. Aber wenn es gilt, sich vor eine Gruppe zu stellen und einen kurzen Vortrag zu halten oder über die Kamera des Computers Menschen zu erreichen, ist anscheinend alles anders.1 Viele empfinden das Reden zu einem Publikum als eine einsame Tätigkeit. Sie glauben, sie seien zu einem ununterbrochenen, kunstvollen Redefluss verpflichtet, zum perfekten Monolog. Das ist kein Wunder, denn die Idealbilder, die uns für das öffentliche Reden präsentiert werden, sind Bilder von Menschen, die sich vor einer Menschenmenge postiert haben und dieser eine brillante Performance bieten. Barack Obama, Winston Churchill, Helmut Schmidt, Hape Kerkeling, Charles de Gaulle, Martin Luther King: Redner (und es sind wirklich zum größten Teil Männer2), die einen geschliffenen Text sprechen können, den die Öffentlichkeit bewundernd abnickt und den man später in Sammelbänden abdruckt.

Solche Redner imitieren zu wollen, setzt unnötig hohe Hürden. Denn von Menschen, die einen Vortrag halten müssen, wird etwas anderes erwartet als von Schauspielerinnen oder politischen Führern. Sie müssen keine Rolle einstudieren und keine makellose Vorführung präsentieren. Sie müssen informieren. Sie haben etwas Eigenes mitzuteilen, und ihr Publikum ist an der Information interessierter als an der Form. Dafür taugt auch der populäre Volksredner von Cicero bis Obama nicht zum Vorbild, der einen ausgefeilten Text wiedergibt und den mit einer Erfahrung von Jahrzehnten des Redens und des Redetrainings zelebriert. Und es braucht nicht das Ideal der Rede, die angeblich mit der Macht des Wortes eine Menschenmenge zu manipulieren vermag.

Nein, dem nachzueifern, macht kaum Sinn, wenn man in einem normalen Beruf, im Studium oder in der Freizeit zu anderen reden soll. Wer bei einem Online-Seminar einen Vortrag hält, wer in der Kirche einen Bibelvers auslegt oder eine Gruppe von Kunden durch die Werkstatt führt, braucht nicht Tipps für den tadellosen Auftritt, sondern etwas viel Einfacheres: eine Anleitung dazu, mit den Menschen in den Dialog zu treten. Das bedeutet Gelassenheit statt Leistungsdruck, Persönlichkeit statt Perfektion, Verständigung statt Überredung.

Dieses Buch wendet sich an Menschen, die ihre Sache verständlich rüberbringen wollen – so, dass man ihnen motiviert zuhört und bereit ist, mitzudenken. Ausgangspunkt dafür ist die Schwelle, die offensichtlich da ist, die Schwelle vom ungezwungenen Reden im Alltag zum Reden vor Publikum.

Mit diesem Übergang vom nicht-öffentlichen zum öffentlichen Reden verändern sich die Rahmenbedingungen des Redens und es stellen sich besondere Anforderungen an das sprachliche, sprecherische und körpersprachliche Verhalten. Aber nur scheinbar ist es auch ein Übergang vom Dialog zum Monolog. Im Gegenteil: Das Ziel ist Verständigung, und diese gelingt am besten, wenn auch die öffentliche Rede möglichst viel Dialogisches enthält. Die Rednerin, der Redner, aber auch die Zuhörerinnen und Zuhörer profitieren davon. Wie auch im Alltag ist der Grundgedanke, dass das Ziel gemeinsam erreicht werden soll.

Das soll dieses Buch zeigen: dass Reden als Dialog aufgefasst und mit dialogischen Mitteln angegangen werden kann. Dies erleichtert nicht nur dem Redner oder der Rednerin die Aufgabe, sondern macht auch die Menschen im Publikum von passiven Empfängern der Botschaft zu Gesprächspartnern.

Voraussetzung ist, zu erkennen, wie sich nicht-öffentliches und öffentliches Reden unterscheiden und wie eine dialogische Haltung auch in die öffentliche Rede übernommen werden kann. Die Beispiele und Tipps beginnen beim Umgang mit dem Raum: mit der Überwindung der Distanz zum Publikum. Dies führt zu den Themen Körpersprache und Akustik. Darauf folgen die Kapitel, die zeigen, wie man die passenden Worte findet und mit klassischen und neuen Medien visualisiert.

Extras

Der Anhang enthält Vorschläge für die Gestaltung von Seminaren mit einer Reihe bewährter Übungen für das Reden vor Gruppen in Präsenz und online.

Dieses Buch ist entstanden, als die Corona-Pandemie viele von uns zwang, Präsenzveranstaltungen ins Netz zu übertragen. Es fußt auf Erfahrungen der Online-Rhetorik, wie sie sich mit den sozialen Medien und den Werkzeugen der digitalen Lehre entwickelt hat. Es nimmt aber auch – in überarbeiteter Form – Grundgedanken und bewährte Inhalte aus dem Buch Konstruktive Rhetorik von 2019 auf.

Die Regeln und Tipps richten sich an alle, die in irgendeiner Form mündlich informieren müssen, und natürlich auch an Lehrende, die das Halten von Vorträgen als Schlüsselkompetenz vermitteln. An sie wenden sich besonders auch die praxiserprobten Seminar- und Übungsvorschläge. Allen aber wünsche ich, dass ihnen die dialogische Ausrichtung des Buchs eine Hilfe ist und dass sie beim Lehren und Lernen auch den spielerischen Aspekt des Redetrainings entdecken.

1Reden vor Publikum: Was wird anders?

Luisa Neubauer, die Geografie-Studentin und Klimaschutz-Aktivistin, steht auf der Bühne. Am Rand des Berliner Invalidenparks spricht sie zu mehreren tausend Menschen, die sich zum internationalen Klimastreik versammelt haben. Sie steht aufrecht, während sie sagt: „Wir sind vernetzter als je zuvor, wir sind globaler als je zuvor, wir werden den Leuten so lange auf die Nerven gehen, bis sie begreifen, dass sie an der Reihe sind, was zu tun.“ Es sind klare, plakative Sätze, und einige davon hämmert sie den Zuhörenden richtiggehend ein: „Wir sind die Generation, die dasschaffen kann!“ Jede der unterstrichenen Silben betont sie und dazu schlägt sie mit beiden Armen den Takt. „Wir sind diejenigen, die das schaffen müssen, und wir werden das schaffen.“3

1 | Die Rednerin auf der Bühne.

Die einprägsamen Formulierungen, die starken Betonungen, die rhythmischen Armbewegungen: das ist die „öffentliche“ Luisa. Sie formuliert mit fester Stimme klare Botschaften in kurzen, vollständigen Sätzen.

Eine Fernseh-Doku zeigt sie aber auch im Gespräch mit ihren Freunden. Man sieht sie bei der Planung einer Aktion, beim Diskutieren persönlicher Probleme oder beim Entspannen nach einem anstrengenden Tag. Da ist keine Bühne mehr; sie stehen nahe beieinander. Luisas Stimme klingt mal kräftiger, mal zurückhaltend. Sie braucht nicht immer vollständige Sätze zu machen und lässt sich auch unterbrechen oder fragt nach. Dazu steht, sitzt oder liegt sie, geht durch den Raum. Manchmal schaut sie aufs Handy, gelegentlich führt sie ihre Hände zum Mund oder stützt ihr Kinn auf, um nur zuzuhören.

2 | Gespräch unter Freunden: geringe Distanz.

Das sind zwei Bilder von ein und derselben jungen Frau, einmal bei der öffentlichen Rede vor Publikum und einmal im Gespräch mit Vertrauten. Ansprache im Kontrast zu Zwiesprache. Sie illustrieren die drastischen Unterschiede, die sich da ergeben können. Auch wenn das Ziel nicht in einer Kampfrede besteht, ist es dennoch wichtig zu wissen, unter welchen Bedingungen sich die öffentliche Rede entwickelt hat. Es hilft, zu erkennen, wie man mit diesen Vorgaben umgehen kann. Die nächsten Kapitel zeigen die wesentlichen Aspekte auf. Einige davon müssen respektiert werden, andere lassen sich durchaus ignorieren. Alle werden einfacher, wenn man sie mit einer dialogischen Haltung angeht.

Im Überblick sind dies die wichtigsten Merkmale öffentlicher Kommunikation:

»Drei Rollen: Die Beteiligten übernehmen unterschiedliche Aufgaben:

»eine Person trägt vor

»eine Gruppe hört zu

»ein Veranstalter schafft den Rahmen

»Mehr Raum: RednerIn und Publikum sitzen oder stehen einander in einer gewissen Entfernung gegenüber (Präsenzvortrag) – oder sie befinden sich in unterschiedlichen Räumen und sind durch ein elektronisches Medium verbunden (Online-Vortrag).

»Zeitliche Begrenzung: Wie lang eine Rede sein soll, ist von vornherein abgesprochen oder ergibt sich aus der Erfahrung.

»Einflüsse von Kultur und Gesellschaft: Für jeden Typ Rede gibt es Vorgaben, die von der Wahl des Ortes bis zur Kleidung gehen können.

»Redeziele und Redehandlungen: Eine Rede ist mit einem klaren Zweck verbunden, dem eine sprachliche Handlung zugeordnet werden kann.

»Planung: Jeder Rede geht eine längere oder kürzere inhaltliche und sprachliche Planung voraus.

»Sprache, Sprechen und Körpersprache ergeben sich als Produkt dieser Rahmenbedingungen.

Drei Rollen sind beteiligt: RednerIn, Publikum, Veranstalter

Die Dozentin und die Studierenden; der Vorgesetzte und die Mitarbeitenden; die Pfarrerin und die Gemeinde; der Influencer und die Follower usw.: Sobald eine öffentliche Rede angesagt ist, übernehmen die Beteiligten unterschiedliche Rollen. Die Rolle der Rednerin oder des Redners wird akzeptiert, weil die betreffende Person eine Kompetenz mitbringt, von der die anderen profitieren können, indem sie zuhören können. Das ist die grundlegende Spielregel der öffentlichen Rede.

Die Rednerin, der Redner

„Wenn einer spricht, müssen die andern zuhören – das ist deine Gelegenheit! Missbrauche sie.“4 Kurt Tucholskys Schlussworte zu seinen Ratschlägen für einen schlechten Redner sagen alles über die destruktive Wirkung der klassischen Rednerrolle. Sie stammen aus einer Zeit, in der der öffentliche Vortrag noch einen ganz anderen Stellenwert als heute hatte. Er war oft die direkte Begegnung mit einer Informationsquelle, zu der es keinen anderen Zugang gab. Man ging hin, um sich zu informieren oder überzeugen zu lassen, weil das der unmittelbarste Zugang zu kompetenten und aktuellen Informationen und Stellungnahmen war. Es gab keine Podcasts, keine YouTube-Kanäle, keine spezialisierten Fernsehangebote. Und das Radio, das noch keine zehn Jahre alt war, lieferte zu einem großen Teil genau dies: Vorträge von Fachleuten und Politikern.

Heute steht jeder Vortrag in Konkurrenz zu anderen aktuellen Medien. Das hat die Rolle nur wenig verändert, aber geblieben ist die Erwartung an eine kompetente Person, die sprechen wird. Gefragt ist ihre Sachkompetenz, aber auch ihre Perspektive: ihre Erfahrung als Fachperson, ihre Spezialität, die sie von anderen unterscheidet. Das ist Verpflichtung und Erleichterung zugleich. Es verpflichtet zu einer gut recherchierten inhaltlichen Darbietung. Und es erleichtert die Aufgabe, weil niemand im Saal das gewählte Thema besser kennt.

Die Rolle als Verpflichtung

Die Rolle der Rednerin oder des Redners ergibt sich aus der Kompetenz der vortragenden Person. Im Sachvortrag beruht sie auf Fachwissen und Erfahrung. Das sollte zum Selbstvertrauen beitragen. Das Privileg, als einzelner Mensch zu mehreren reden zu dürfen, verpflichtet aber auch zur inhaltlichen Sorgfalt.

Ausgeprägter als vor hundert Jahren ist die Erwartung an einen unmittelbaren Austausch während oder nach dem Vortrag. Bereitschaft zur Antwort auf Fragen und Improvisation sind die Regel. Auch digital übertragene Vorträge betonen dies durch eine Kommentar- oder Chat-Funktion. Der heutige Vortrag ist offen – und wenn das Medium dies nicht erlaubt, dann wird es wenigstens deklariert.

Das Publikum

„Warum halten eigentlich die meisten Menschen so gern Reden? – Wie ich glaube, deshalb, weil dies die einzige Art und Weise ist, in der sie sich die Illusion verschaffen können, dass ihnen die anderen zuhören. Sie hören natürlich nicht zu; wenn sie nur irgend können, dann verschaffen sie sich auf ihren Zuhörerplätzen Papier, Programme, ein Zettelchen, und dann ziehen sie mit ernster Miene einen Bleistift aus der Tasche und machen sich Notizen … Männerchen, Sternchen, Kreise und schraffierte Felder, und ein geschickter Seelenarzt kann aus diesen Malereien viel Aufschlussreiches herauslesen … Zuhören aber tun sie nicht.“5

Das ist das (weniger berühmte) Zitat Tucholskys über das Publikum. Darin spiegelt sich die klassische monologische Einstellung. Das Publikum sollte zuerst still zuhören und sich eventuell im Nachgang äußern. Dennoch war es auch damals nicht passiv. In jedem Fall wurde erwartet, dass es mitdachte, lernte, im besten Fall auch weiterdachte. Das kann durch einen guten Vortrag erreicht werden. Und wir werden in diesem Buch sehen: Je dialogischer der Ansatz ist, desto leichter wird es und desto aktiver wird die Rolle, die das Publikum übernimmt.

Das Publikum ist freiwillig da

Vom Publikum kann immer Interesse erwartet werden – im Idealfall sogar Wohlwollen. Beides lässt sich fördern, indem es wahrgenommen und auf Augenhöhe angesprochen wird.

Der Veranstalter

Eine weitere Rolle, die im Rhetorik-Unterricht oft übersehen wird, ist die des Veranstalters. Zwar spricht er nicht und spendet auch nicht Applaus; dennoch macht er seinen Einfluss geltend, sei es durch die Vorgabe eines Programms, sei es durch Kleidervorschriften oder auch durch Zensurmaßnahmen. In der digitalen Welt ist es zurzeit umstritten, wie stark der Einfluss des Eigentümers einer Plattform – etwa von Facebook oder Twitter – auf die präsentierten Inhalte sein soll. Die Tweets von US-Präsident Trump wurden zum Teil mit Kommentaren versehen („Diese Behauptung über Wählbetrug sind umstritten“), zum Teil gelöscht, bis gegen Ende seiner Amtszeit der gesamte private Account von @RealDonaldTrump aus dem Netz entfernt wurde. Aber im Zusammenhang mit Redebeiträgen sind auch andere Zensurmaßnahmen bekannt geworden. Dazu gehören Eingriffe der weltumspannende Vortragsfirma TED, die Bühnenprogramme mit Kurzvorträgen organisiert, die später im Internet Millionen von Klicks generieren. Dabei müssen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einen ganzen Katalog von Vorschriften halten. Wenn sie es nicht tun, werden sie mitunter damit gestraft, dass ihre Vorträge auf der TED-Plattform nicht weiter zu sehen sind.

So ging es im Jahr 2012 dem Unternehmer und Investor Nick Hanauer. Selbst Milliardär, wandte er sich gegen die Steuervorteile, die Unternehmen und reiche Mitbürger in den USA genießen. Zwar werde behauptet, dass sie die so erzielten Einsparungen für neue Arbeitsplätze nutzten. Aber Hanauer stritt dies vehement ab: „Reiche Leute wie ich schaffen keine Arbeitsplätze; Arbeitsplätze sind die Folge einer Rückkopplung von Kunden und Unternehmen.“ Hanauer brüskierte die Reichen und Superreichen, die schon viel zum Erfolg von TED beigetragen hatten. Das fand man dort nicht witzig, sondern man beschloss, das Video von Hanauers Rede nicht zu veröffentlichen. Die Begründung: Die Leistung sei „mittelmäßig“ gewesen, das anwesende Publikum habe gemischte Reaktionen gezeigt, und mit der politischen Botschaft könnten sich viele Geschäftsleute angegriffen fühlen.6

Mitspieler Nummer 3, der Veranstalter, hatte zugeschlagen. In seiner Macht steht es, den Rednern eine Plattform zur Verfügung zu stellen oder auch zu entziehen. Er hat auch die Macht, für den Inhalt der Reden in seinem Einflussbereich eigene Regeln zu formulieren. Für die TED-Vorträge existiert eine Liste, die angibt, welche Inhalte zulässig sind und welche nicht. Dies geht so weit, dass Behauptungen, die sich „außerhalb orthodoxen wissenschaftlichen Denkens“7 bewegen, der Zensur unterworfen werden.8 Aber auch für die Sprache gibt es Regeln. So ist zum Beispiel „unpräzises New-Age-Vokabular“ verboten.9 Es ist leicht denkbar, dass es da Rednerinnen und Redner schwer haben, die eine radikale politische oder philosophische Position vertreten.10

Im Fall von Hanauer kam es bald zu einem Kräftemessen zwischen TED und dem Redner, der immerhin finanzkräftige Partner hinter sich wusste. Er wehrte sich erfolgreich. TED gab klein bei, lud später Hanauer sogar erneut ein, um ihn dann sehr schmeichelhaft auf der TED-Website zu präsentieren.11

Der Einfluss des Veranstalters

»Platzierung der Rede im Programm (im Kontrast mit anderen Reden)

»Regeln zur Form, von der Kleidung bis zum sprachlichen Ausdruck

»Festlegung inhaltlicher Grenzen

»Entscheidung über die Weiterverbreitung (Kontakt zur Presse, Internetauftritt, Aufnahme in Publikationen)

Die Regeln des Veranstalters müssen nicht, wie bei TED, schriftlich festgelegt12 sein; andernorts hält man sich mehr oder weniger unbewusst an traditionelle Formen. Wie der Pfarrer bei der Taufe spricht (in welcher Kleidung, welchen Worten, an welchem Platz in der Kirche, mit welchen Gesten usw.), ist in der Liturgie des Gottesdienstes festgeschrieben. Was im Parlament möglich ist und was nicht, schreibt die Geschäftsordnung vor. Aber auch wenn Jugendliche einen Debattierclub gründen, stellen sie ad hoc Regeln auf, die nicht sehr von den überlieferten Gebräuchen abweichen, obwohl sie es in der Hand hätten, völlig neuartige Formen auszuprobieren.

Ein autoritärer Rahmen

Alle diese Formen der Einflussnahme lassen einen wichtigen Grundton des Redens in der Öffentlichkeit erkennen: Es geschieht in einem Kontext der Autorität. Der Rollenunterschied zwischen Redner und Zuhörern fügt sich in ein Machtgefälle ein, in dem gewöhnlich der Veranstalter das Sagen hat. Wenn die Rednerin sich den Vorgaben des Veranstalters fügt, profitiert sie von dessen Macht. Wenn sie aber (wie Hanauer) Thesen vertritt, die den Interessen des Veranstalters widersprechen, oder formale Vorgaben unterläuft (wie es gelegentlich bei Oscar-Verleihungen zu beobachten ist), nimmt sie einen Machtkampf auf, den sie auch verlieren kann. Auf der anderen Seite ist der Erfolg von Reden oft gerade darauf zurückzuführen, dass der Redner oder die Rednerin in Maßen auf Distanz zum Veranstalter geht, mit dessen Regeln kokettiert oder sie explizit missachtet.

Die Regeln können auch unterlaufen werden

Ein Beispiel für den spielerischen Umgang mit den Regeln des Veranstalters: Bei der Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag zum 25 Jahre zuvor erfolgten Fall der Mauer war Wolf Biermann eingeladen, ein Lied zu singen.

Er nutzte die Gelegenheit zu einer gesprochenen Einleitung über sein Verhältnis zu der Partei Die Linke, wurde vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert mit einem humorvollen Verweis auf die Geschäftsordnung unterbrochen, die ihm das verbiete, was er wiederum konterte: „Das Reden habe ich mir in der DDR nicht abgewöhnt und werde das hier schon gar nicht tun.“13

Zu berücksichtigen bleibt, dass institutionelle Vorgaben auch etwas Gutes haben. Auch wenn sie in vielen Fällen lächerlich oder veraltet wirken, erleichtern sie auch die Kommunikation. Sie unterstreichen die Funktion der betreffenden Person und verleihen ihr damit mehr Autorität. Zur rhetorischen Praxis gehört es, sich zu überlegen, inwieweit es möglich ist, von den Normen des Veranstalters zu profitieren, aber auch von ihnen abzuweichen, um nicht nur als Vertreter einer abstrakten Instanz, sondern auch als Individuum in den Dialog mit dem Publikum zu treten.

Der Raum der Begegnung wird wichtig

Weil sich eine einzelne Person an eine Gruppe von Menschen wendet, wird ein größerer Raum benötigt als im privaten Gespräch. Das bedeutet fast in jedem Fall, dass Redner und Publikum einige Meter Abstand brauchen. Die Innenarchitektur betont dies noch: Eine Rednertribüne, ein Lehrerpult oder eine Bühne sorgen für die Sicht- und Hörbarkeit. Stühle, Bänke, Sitzreihen richten die Zuhörenden auf die wichtigste Person im Raum aus. Viele Gebäudetypen sind im Hinblick auf öffentliche Reden geschaffen worden: Parlamentsgebäude, Gerichtssäle, Kirchen, Schulzimmer. Sie bestimmen, wo der Redner steht und wo die Zuhörer sitzen: Es gibt das Podium, die Kanzel, das Katheder. Diese Wörter allein lassen an bestimmte Arten des Redens denken: Podiumsredner, Kanzelwort, Kathederweisheit …

Aber auch in informellen Situationen ist es weithin üblich, dass die Rednerin sich vom Sitz erhebt und die Menschen, die sie hören sollen, im Stehen anspricht, auch wenn diese selbst sitzen. Indem sie aufsteht und einen besonderen Standort einnimmt, setzt sie ein Zeichen. Sie erhöht aber auch die Verständlichkeit und zeigt Respekt für die um sie Versammelten. Wer sitzen bleibt, gilt schnell als unhöflich, auch wenn es als Zeichen der Bescheidenheit oder der Originalität gemeint ist.

Einfluss auf die Sprechweise

Die Distanz zwischen Redner und Publikum beeinflusst die Art, wie mit der Stimme umgegangen wird. In hohen und weiten Räumen entsteht ein starker Hall – ein Effekt, der beim nicht-öffentlichen Gespräch in kurzer Distanz kaum eine Rolle spielt. Das führt zu mehr und längeren Pausen, die gebraucht werden, um die Stimme verhallen zu lassen. Deshalb hat sich eine redetypische Sprechweise entwickelt, mit gleichförmigem Rhythmus und vielen Betonungen. Man hat den Extremfall dieser Sprechweise von Festreden im Ohr. Ansätze dazu lassen sich auch in vielen Online-Vorträgen erkennen. Zwar würde das Mikrofon eine zurückhaltendere Sprechweise erlauben; aber das Bewusstsein für die öffentliche Situation beeinflusst dennoch mehr oder weniger stark die Art und Weise des Sprechens in der Online-Situation.

Einfluss auf die Körpersprache

Dass der Raum sich weitet, beeinflusst auch die Körpersprache. Vieles, was Rednerinnen und Redner intuitiv tun – wie sie sich bewegen, wie sie dastehen, welche Gesten sie ausführen –, ist durch die Distanz zum Publikum zu erklären, die zur traditionellen öffentlichen Rede gehört, auch wenn diese in vielen Fällen längst aufgehoben ist.

Honoré Daumier hat dies illustriert, als er Mitte des 19. Jahrhunderts Anwälte karikierte. Es war die französische Juli-Monarchie, eine Zeit der Skandale und sozialen Missstände. In der Serie Les gens de justice zeichnete er zwei Advokaten, die sich noch auf ihren Auftritt vorbereiten. Der eine ordnet seine Halsbinde, der andere schlüpft gerade in den Talar. Die Art ihres Gesprächs ist aus diesen privaten Handlungen, aus der Mimik, aber auch schon allein aus der Nähe der beiden Figuren erkenntlich. Sie werden gleich gegnerische Parteien vertreten; aber eigentlich sind sie Kumpel und vertrauen sich an, was sie wirklich von der Sache denken.

3 | Honoré Daumier: zwei Anwälte vor ihrem Auftritt in kollegialem Gespräch.14

4 | Honoré Daumier: der Anwalt beim Plädoyer.15

Ein anderes Bild zeigt die beiden in der Hitze des rhetorischen Gefechts. Dem plädierenden Anwalt ist anzusehen, dass er zu einem ganzen Saal spricht. Man ahnt die große Lautstärke, auch die Gestik ist für die Wirkung im Raum ausgelegt. Mit seiner Körperhaltung, leicht nach hinten gedehnt, vergrößert er sogar noch die Distanz zum gegnerischen Anwalt, der den indignierten Kollegen spielt.

Auch das Verhalten des Publikums wird durch die räumliche Einrichtung geleitet. Die Menschen werden auf eigens angeordnete Sitze verwiesen. Das gibt die Blickrichtung vor und fördert damit die Aufmerksamkeit. Es schränkt aber auch ihre Beweglichkeit ein. Zwischen anderen Zuhörern eingepfercht, ist man zu einer ruhigen, wenn nicht gar starren Haltung gezwungen. In einem gewissen Sinn isoliert die räumliche Anordnung den Redner; sie verstärkt den Eindruck der Distanz zwischen ihm und dem Publikum.

Der Einfluss des Raums

»größere Distanz des Redners zum Publikum

»reduzierte Bewegungsmöglichkeiten des Publikums

»vereinfachte, auf Deutlichkeit ausgerichtete Körpersprache

»lautes, gleichförmiges Sprechen

Rhetorik: Die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit

Rhetorik ist in diesem Sinne die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit: vom Reden, wenn der Raum sich weitet und die Rollen in Redner und Publikum aufgeteilt sind. Man sieht und hört es einem Menschen an, wenn er seine private Redeweise verlässt und – je nach Typ – doziert oder referiert oder predigt. Er begibt sich auf Distanz, nimmt eine neue Rolle an und verhält sich nach anderen Normen.

Wer redet, schafft zwar nicht in jedem Fall Öffentlichkeit im soziologischen Sinne.16 Aber die Gemeinschaft mit dem Publikum im erweiterten Raum macht die Inhalte der Rede für andere zugänglich und schafft die Möglichkeit, dass die Inhalte der Rede weitergetragen werden und über die Anwesenden hinauswirken. Sie werden das Gehörte weiterverbreiten, in der Familie, in anderen sozialen Gruppen. Öffentlich zu reden, bedeutet, in einem größeren Raum zu reden, im konkreten wie im übertragenen Sinne.

Die in diesem Buch verwendete Rhetorik-Definition „Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit“ schränkt den Begriff stark ein im Vergleich zum Anspruch, den die akademische Rhetoriktheorie seit Jahrhunderten erhebt. Denn diese aus dem Altertum entwickelte Wissenschaft hatte immer mehr im Sinn, als nur eine Kommunikationslehre zu sein. Sie bezog immer Aspekte der Philosophie, Psychologie und Sprachwissenschaft ein. Diese wurden später von eigenen Disziplinen (z.B.: Linguistik, Psychologie, Kommunikationswissenschaft) übernommen. Einige davon sind direkt aus der Rhetorik entwickelt worden, andere zumindest können ihre Verwandtschaft nicht leugnen.

Deshalb umfasst der heutige praktische Rhetorikunterricht nur noch einen kleinen Teil des klassischen Lehrgebäudes. Das hat aber durchaus seinen Sinn, eben weil es moderne Fächer gibt, die sie entlasten, weil sie Inhalte erforschen, die früher zur Rhetorik gehörten.

Moderne Erben der klassischen Rhetorik

»Linguistik

»Literaturwissenschaft

»Psychologie

»Jurisprudenz

»Theaterwissenschaft

»Medienwissenschaft

Dennoch ist das in diesem Buch verwendete Verständnis von Rhetorik – als Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit – eine bewusste Einschränkung. Es beruht auf der Beobachtung des Besonderen am Reden zu einer Gruppe von Menschen im Vergleich zum Reden mit Menschen in einem informellen Rahmen.17

Dass diese Lehre trotz ihrer klaren Einschränkung immer noch Rhetorik genannt werden soll, hat zwei Gründe.18 Der eine liegt in der Tradition des Sprachgebrauchs: Im deutschen Sprachraum hat Rhetorik sich als Bezeichnung für alle Formen des praktischen Redetrainings eingebürgert. Unzählige Angebote führen den Begriff im Titel, auch wenn sie keinen Zusammenhang zur wissenschaftlichen Rhetorik erkennen lassen. Deshalb sollte ein Buch wie dieses, das den Bezug zur Wissenschaft beibehält, den Begriff nicht über Bord werfen.

Der zweite Grund hat mit der Perspektive der Rhetorik zu tun, die sich von derjenigen anderer Wissenschaften der Kommunikation unterscheidet. Auch wenn uns bewusst bleibt, dass das Publikum ebenso entscheidend ist wie die Rednerfigur, richtet sich die Botschaft der Rhetorik in erster Linie an die Rednerin bzw. den Redner. Auch wenn es eine Lehre des dialogischen, konstruktiven Redens ist, werden wir immer wieder auf die Rednerperspektive zurückkommen, weil es der Redner bzw. die Rednerin ist, an die sich die Ausbildung richtet.19

Die Zeit ist begrenzt

Im privaten Rahmen ergibt es sich meist von selbst, wie lang ein Gespräch dauert. Die öffentliche Rede dagegen ist von Zeitvorgaben geprägt. Unterrichtsstunden von der Grundschule bis zur Universität haben ihren festen Zeitrahmen; bei Radio- oder Fernsehsendungen ist die Dauer das Erste, was vorbestimmt ist. Und sogar bei freien Formen, wie sie Podcasts und Video-Blogs ermöglichen, ist eine Beschränkung der Länge meist selbstverständlich. Die zeitliche Begrenzung führt dazu, dass sich viele Rednerinnen und Redner verhalten, als ob sie unter Zeitdruck stünden. Sie nehmen ohne Not eine gehetzte Sprech- und Präsentationsweise an, wie wenn sie Angst hätten, gleich unterbrochen zu werden.

Da ist der Mediziner, der zum Thema „Psychiatrische Störungen“ reden soll. Die Studierenden sind schon da, sie warten in einem großen Hörsaal mit nach hinten ansteigenden Sitzreihen. Die ersten Sitzreihen haben sie typischerweise leergelassen. Der Dozent ist noch nicht zu sehen. Sie blicken auf eine weiße Leinwand, die hinter dem Lehrerpult aufgespannt ist. Einige Minuten nach der vereinbarten Zeit eilt der Dozent in weit ausholenden Schritten durch den Raum auf das Pult zu.20 Als er die Mitte des Raums erreicht, spricht er, ohne anzuhalten, den ersten Satz: „So!“

Da er noch mitten im Lauf ist, sagt er es geradeaus, mit Blick in Richtung Seitenwand. Beim nächsten Schritt sagt er: „Etwas zu spät!“ Bei „spät“ wendet er den Kopf kurz nach links, wo die Studierenden sitzen, allerdings ohne abzubremsen. Er braucht drei weitere Schritte, um sich von einem Tablar eine Fernbedienung zu greifen. Mit dieser dreht er sich um, sagt „äh“ und macht drei kurze Schritte zurück. Dabei studiert er kurz die Fernbedienung und tippt mit dem Finger darauf herum (was auf der Leinwand keinen Effekt erzeugt). Als er hinter dem Pult angekommen ist, sagt er, noch immer zur Fernbedienung: „Schönen guten Tag!“

Erst bei „Tag” blickt der Dozent ins Publikum. Danach wird er sich vorstellen, und dann wird die Vorlesung wirklich beginnen. Er wird zwar versuchen, seine Zuhörer mit seinem Thema zu fesseln. Mit dieser kurzen Einleitung hat er aber weder für sie noch für sich selbst eine gute Vorlage geschaffen. Denn in diesen ersten zehn Sekunden hat er so viele Dinge getan, dass er sich und die anderen überfordert:

»Er betritt den Raum.

»Er durchschreitet den Raum.

»Er nimmt kurz Blickkontakt mit den Zuhörerinnen auf.

»Er ergreift die Fernbedienung (mit einem weiteren Blick ins Publikum).

»Er blickt auf die Fernbedienung, bedient sie.

»Jetzt nimmt er erst seine endgültige Redeposition ein.

»Und er sagt drei Dinge:

»Er spricht die Verspätung an („etwas zu spät“) – eventuell in der Meinung, dies werde als Entschuldigung verstanden.

»Er überbrückt eine Pause (Äh).

»Er sagt guten Tag.21

All dies ist in einer schwungvollen Bewegung von der Tür bis zum Dozentenpult erfolgt und hat sieben Sekunden gedauert. Für die Veranstaltung stehen 45 Minuten zur Verfügung. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ein derart gehetzter Anfang ist nicht notwendig, und dennoch ist er typisch für diese Art Vortrag, gerade an Hochschulen und anderen Lehranstalten: Die Dozentinnen und Dozenten lassen sich keine Zeit. Sie spurten in den Hörsaal, fangen an, bevor sie richtig angekommen sind, und tun immer mehrere Dinge gleichzeitig. Sie überfordern damit sich und ihr Publikum. Und verpassen die besten Möglichkeiten, mit den Zuhörern in Kontakt zu kommen.

Der Grund ist die scheinbar harmlose Rahmenbedingung, ohne die öffentliches Reden nicht auskommt: die Zeitabsprache. Sie führt in vielen Fällen zu einer unnötigen Hast. „Fasse dich kurz!“ ist eine Maxime, die sich durch sehr viele Bereiche des Lebens zieht, und viele Rednerinnen und Redner orientieren sich sogar dann daran, wenn ihnen genügend Zeit gegeben ist.

Der Einfluss der Zeit

»Zeitmanagement durch den Redner (im Gegensatz zum gemeinsamen Zeitmanagement im privaten Dialog)

»Tendenz zu vorzeitigem Beginn

»Tendenz zu hoher Sprechgeschwindigkeit

»gleichzeitiges Ausführen verschiedener Handlungen (z.B. Sprechen und Bedienung technischer Geräte

Auffällig ist dabei die Tendenz, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Wer sich dem Publikum vorstellen will und gleichzeitig seine Brille zurechtrückt, in sein Manuskript schaut und dabei sagt: „Mein Name ist …“, verpasst die Chance, Kontakt aufzunehmen, vom Publikum als Gesprächspartner wahrgenommen zu werden – und auch das Publikum selbst wahrzunehmen.

Reden heißt Zeit haben. Nicht dass man sich auf eine bestimmte Dauer geeinigt hat, sollte die Leitlinie sein, sondern dass man frei ist, sie mit so viel oder so wenig Dingen zu füllen, wie es sinnvoll ist – sinnvoll für die Konzentration des Redners, für die Aufnahmefähigkeit des Publikums und für ihre Interaktion.

Kultur und Gesellschaft reden mit

Wer zu einer öffentlichen Rede ansetzt, übernimmt eine Rolle, die zu einer gewissen Tradition gehört und entsprechende Erwartungen weckt. Ob diese erfüllt oder missachtet werden sollen, ist eine Sache des Abwägens von Fall zu Fall.

Antoine de Saint-Exupéry berichtet in seiner Geschichte vom Kleinen Prinzen über die Entdeckung des Planeten, von dem er stammt. Ein türkischer Astronom habe ihn als erster erspäht. Als dieser aber seine Entdeckung beim internationalen Astronomenkongress bekannt machte, habe ihm niemand geglaubt, „und zwar ganz einfach seines Anzuges wegen“.

5 | Antoine de Saint-Exupéry: der Astronom in traditioneller Kleidung.

Es dauerte elf Jahre, bis die wissenschaftliche Community den Mann ernst nahm. Dazwischen lagen die Gesellschaftsreformen unter Atatürk, und als der Astronom seinen Vortrag wiederholte, trug er einen Anzug nach westlicher Mode. „Und diesmal gaben sie ihm alle recht“22, stellt der Erzähler fest.

6 | Antoine de Saint-Exupéry: der Astronom elf Jahre später.

Die Geschichte erinnert daran, dass Verhaltensnormen sich von Kultur zu Kultur unterscheiden – und dass diese auch für Voraussetzungen des öffentlichen Redens, seine Organisation und seine Funktion gilt. Die Vertreter einer vermeintlich überlegenen Kultur verlangten die Unterwerfung unter ihre Normen, um den Redner überhaupt als solchen anzuerkennen.

Zudem ist das Reden in der Öffentlichkeit seit jeher dazu da, traditionelle kulturelle Güter zu zelebrieren. Reden werden gehalten, um Jubilare zu ehren, um Begräbnissen einen würdigen Rahmen zu geben oder auch um an einem politischen Feiertag ein Zeichen zu setzen. Nicht was gesagt wird, sondern dass etwas gesagt wird, ist wichtig. Ohne gesprochene Formeln bei Gründungsakten, Taufen oder Ernennungen könnte die betreffende Handlung gar nicht durchgeführt werden. Aber in vielen Fällen werden Äußerlichkeiten, Form und Gehabe, wichtiger genommen als der Inhalt. Dies ist in der öffentlichen Rede ständig präsent. Umso wichtiger ist es für den Einzelnen oder die Einzelne, sich vom sozialen Druck, der daraus entsteht, so weit möglich zu emanzipieren und nur diejenigen Rahmenbedingungen zu akzeptieren, ohne man nicht auskommt. Es geht also darum, sich mit den Erwartungen der Umgebung so weit zu arrangieren, dass die Verständigung klappt, aber die eigene Selbstachtung gewahrt bleibt.

Eine männliche Tradition

In diesen Komplex gehört auch, dass die gängigsten Ideale des öffentlichen Redens Ideale männlichen Verhaltens sind. Das Reden in der Öffentlichkeit galt seit jeher generell als Männerdomäne. Die antike Rhetorik demonstriert dies sehr gut. Die ideale Rednerpersönlichkeit war der vir bonus, der rechtschaffene Mann, der als Jurist, Politiker oder Künstler in der Öffentlichkeit stand. Frauen, die sich in der Antike poetisch oder politisch im männlich definierten öffentlichen Raum äußerten, wurden von männlicher wie weiblicher Seite gleichermaßen kritisch beäugt und ihr Einfluss und Respekt wurden „in der Regel unterminiert.“23 Noch im 20. Jahrhundert wurde der erfolgreiche Redner mit dem triumphierenden Krieger gleichgesetzt. Konrad Lienert, Verfasser einer „Einführung in die Redekunst“, die es vor gut hundert Jahren zu sieben Auflagen brachte, setzte dem Buch mit dem Titel Der moderne Redner noch ohne Bedenken die folgenden Zeilen voran:

Das war ein Mann! Sein Schwert hat er geschwungen, Das Schwert des Wortes, männlich, kühn und scharf, Und Jauchzen schallte, wenn dies Schwert erklungen, Wenn es zu Boden jeden Gegner warf.24

Da ist alles drin, was zur Verherrlichung der Macht des Wortes gehört, und nicht nur der Führer des Schwertes ist ein Mann, sondern auch das Schwert selbst, das jeden Gegner niederschlägt, ist männlich. Die kriegerische Vorstellung, dass öffentliches Reden ein Kampf sei, in dem das stärkere Argument obsiegt, passt zu einer Welt, in der die Männer für Sieg und Niederlage zuständig sind, die Frauen dagegen für den Ausgleich und das Zusammenkehren der Scherben.

Nun hat sich zur Zeit des besagten türkischen Astronomen in Europa einiges getan. Die Frauenbewegung kämpfte für die Gleichberechtigung, Politikerinnen wie Rosa Luxemburg und Clara Zetkin verschafften sich damals trotz Anfeindungen Gehör. Und es ist zwar ein Topos der praktischen Rhetorik-Literatur, dass „Frauen den Beziehungsaspekt in ihrer Rede in den Vordergrund stellen und einen partnerschaftlichen, kooperativen und integrativen Redestil pflegen“, Männer dagegen angeblich einen Stil der Auseinandersetzung und der Sachlichkeit bevorzugen.25 Es existieren moderne Rhetorikratgeber für Frauen, die ein Redeverständnis vertreten, „das nicht auf der Unterscheidung von Sieg und Niederlage basiert, sondern das Raum für ein Nebeneinander von souveränen Subjekten lässt.“26 Doch dies hat bisher in der öffentlichen Rede weder zu einem erkennbaren weiblichen Stil noch zu einem Umdenken männlicher Redner geführt. Und viele Normen sind männliche Normen geblieben.

Für die Ziele dieses Buchs ist es zunächst wichtig, einfach festzuhalten, dass zu den traditionellen Rahmenbedingungen des öffentlichen Redens Faktoren gehören, die sich aus institutioneller, politischer und geschlechtsbezogener Macht ergeben. Der rednerische Auftritt in einem Rahmen über Jahrhunderte entwickelter Machtinstrumente ist nicht möglich, ohne dass eine Rednerin auf diese zurückgreift. Aber es ist in vielen Fällen möglich, auf Kommunikationsweisen zu verzichten, die nur dem Machterhalt und nicht der Sache dienen, und alternative Formen der Auseinandersetzung zu finden.27 Hilfreich ist es dabei, die Funktion der einzelnen Rede nicht zu überschätzen, sondern sie als einen von vielen Kommunikationsprozessen in einem größeren Ganzen zu sehen. Nicht nur der einzelne Auftritt ist entscheidend, sondern die Gesamtheit der Arbeitsschritte, auch die, die ihm vorangegangen sind und folgen werden.

Der Einfluss gesellschaftlicher und kultureller Normen

[1]Anwendung von Praktiken der eigenen Gruppe/Kultur auf andere

[2]Verwechslung rednerischer Fähigkeiten mit persönlichen Qualitäten

[3]Betonung ritueller Funktionen von Reden

[4]Vorgabe „männlich“ besetzter Rede-Ideale

Eine Rede hat ein Handlungsziel

Ein Gespräch im Alltag dient oft verschiedenen Zwecken. Das Ziel ist Verhandlungssache, und manchmal einigt man sich erst in seinem Verlauf, worauf man hinauswill – z.B. eine Beziehung zu klären oder einen Beschluss zu fassen. Zur öffentlichen Rede hingegen gehört, dass sie einem eindeutigen Ziel untergeordnet ist. Es ist von vornherein festgelegt, was die Rednerin oder der Redner tun wird: zum Beispiel neutral informieren (wie bei einer Nachrichtensendung oder einer Durchsage am Bahnhof), zu praktischer Tätigkeit anleiten (wie bei einer sportlichen Trainingseinheit oder einer naturwissenschaftlichen Übung) oder Texte auslegen (wie im juristischen Vortrag oder in der Predigt). Die Redetypen sind verschieden; das Ziel ist aber immer klar definiert:

»Unterhaltung

»Aufklärung

»Anleitung

»Befehl

»Anklage

»Verteidigung

»Verkündigung

»Begrüßung

»Nachruf usw.

Dass die Rede jeweils einem Hauptziel verpflichtet ist, ist die Voraussetzung dafür, dass sich Redner und Publikum zu einer gemeinsamen Veranstaltung finden. Im Verlauf der Rede sind zwar auch Nebenziele möglich. So kann ein informativer Vortrag über Klimaveränderung durchaus auch werbenden Charakter haben, eine unterhaltende Erzählung kann auch eine weltanschauliche Botschaft enthalten usw. Aber sie ordnen sich dem Hauptziel unter. Dennoch ist es für die praktische Rhetorik wichtig, auch eine kleinteiligere Handlungsstruktur zu erkennen, die die Rede in einzelne Schritte aufteilt. Ein längerer Vortrag zerfällt zum Beispiel in Thesen und Argumente, denen Hintergrundinformationen vorausgeschickt werden. Zwischendurch werden Hauptaussagen mit Beispielen illustriert, Fragen werden gestellt, Zusammenfassungen formuliert usw. Wir werden sehen, dass es für die attraktive Gestaltung einer Rede wichtig ist, dass man sich dieser Handlungsformen bewusst ist, dass man weiß: Jetzt stelle ich eine These auf – jetzt erzähle ich eine kurze Geschichte – jetzt unterbreche ich die Darstellung mit einer Frage usw.

Handlungsziele der Rede

Jede Rede hat ein Hauptziel, das als Handlung verstanden werden kann: Informieren, Unterhalten, Überzeugen, Auffordern usw. Die Rede ist weiter aufgeteilt in Teilhandlungen: Ankündigen, Behaupten, Begründen, Illustrieren, Zusammenfassen usw.

Typisch für die öffentliche Rede ist, dass die jeweiligen Handlungsformen von der Rednerin oder vom Redner bestimmt werden. Aber je dialogischer die Rede gehalten wird, desto eher können sich alle Gesprächspartner daran beteiligen. In einer abwechslungsreich gestalteten Schulstunde zum Beispiel erarbeiten die Schülerinnen und Schüler einleuchtende Beispiele. In der Präsentation eines neuen Produkts sind Fragen der Kundinnen oft informativer als die Behauptungen des Verkäufers. In einem Live-Streaming sind die Chat-Beiträge mindestens so wichtig wie die eigentliche Präsentation. Deshalb ist es sinnvoll, auch den Handlungsaspekt der öffentlichen Rede nicht einseitig aus dem Blickwinkel des Redners zu sehen. Die Vorstellung, dass Publikum und Organisatoren an der Ausrichtung der Rede mitbeteiligt sind, nimmt viel Gewicht von den Schultern der hauptverantwortlichen Person. Wenn Redner und Publikum auf Augenhöhe sind, sich unter dem Zeichen der Gleichberechtigung finden, ist die Gliederung in Teilhandlungen auch eine Gliederung in Rede und Gegenrede.

Planung gehört immer dazu

Viele Gespräche im Alltag entstehen spontan und laufen ohne eine geplante Struktur ab. Wenn es dabei drunter und drüber geht, liegt oft gerade darin ihr Reiz. Eine Rede für die Öffentlichkeit dagegen hat in der Regel eine längere Entstehungsgeschichte. Sie geschieht oft in Zusammenarbeit mit anderen, mit Rückgriff auf frühere Reden und Texte als Quellen. Im Prinzip aber handelt es sich um vorbereitete Reden – um Wortmeldungen, denen eine gewisse Zeit der Überlegung vorausgegangen ist.

Zur Erinnerung an Martin Luther King gehört die berühmte Rede, die er am 28. August 1963 am Ende des großen Marsches auf Washington vor dem Lincoln Memorial hielt. Im Film, der das dokumentiert, wirkt er vor der riesigen Menschenmenge wie in Trance. I have a dream, sagt er in der Mitte der Rede und hebt an zu der berühmten Passage, einer Vision von einem Amerika der Einheit und Gleichberechtigung. Aber dies ist weder eine spontane Eingebung noch eine einsame Tat. Hinter ihm auf dem Podium sitzt die Sängerin Mahalia Jackson. Er ist mitten in seinem vorbereiteten Text, als sie ihm zuruft: „Erzähl ihm vom Traum, Martin!“28

Da schiebt King sein Manuskript beiseite und spricht die unsterblichen Worte:

„Heute, meine Freunde, sage ich euch: Auch wenn wir uns den Schwierigkeiten des heutigen und morgigen Tags stellen, habe ich immer noch einen Traum. Es ist ein Traum, der tief im Amerikanischen Traum wurzelt. Ich träume davon, dass eines Tages diese Nation aufsteht und die wahre Bedeutung ihres Bekenntnisses erleben wird: ‚Wir erachten diese Wahrheiten als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen worden sind.‘ “

Und dann erweitert er sein Bekenntnis mit drei Bildern, die diese Sehnsucht illustrieren:

„Ich träume davon, dass sich eines Tages, auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne einstiger Sklaven und die Söhne einstiger Sklavenhalter zusammensetzen können am Tisch der Bruderschaft.

Ich träume davon, dass eines Tages sogar der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze des Unrechts schmort, in der Hitze der Unterdrückung schmort, sich wandelt zu einer Oase der Freiheit und Gerechtigkeit.

Ich träume davon, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt, sondern nach dem Gehalt ihres Charakters.“ 29

So spontan King diese unsterbliche Passage einbaute, so wenig improvisiert war sie. Derart wohlgesetzte Worte können nicht einer plötzlichen Eingebung entspringen. King konnte auf ein Repertoire zurückgreifen, das er im Lauf der Zeit aufgebaut hatte. Bei mehreren früheren Ansprachen hatte er ähnliche Passagen verwendet. Als Mahalia Jackson rief: „Erzähl ihm vom Traum“, meinte sie genau das. Vielleicht wäre er auch selbst darauf gekommen. Aber auf jeden Fall nahm er die Anregung bereitwillig auf. Eine Mischung zwischen vorformulierten Passagen und spontaner Kreativität machten die Rede zu einem authentischen Produkt.

Eine Rede zu planen, heißt …

»das Redeziel bestimmen

»das Zielpublikum kennen

»Hauptaussagen notieren

»den Aufbau der Rede skizzieren

»Notieren der Möglichkeiten, mit dem Publikum zu interagieren

Recherche ist die wichtigste Aufgabe

Reden entstehen geplant. Und eine gute Rede basiert nicht nur auf solchen einzelnen vorbereiteten Formulierungen, sondern auf intensiver Beschäftigung mit dem Stoff. Ebenso wie das Sammeln gehört auch das Verwerfen von Material dazu. Auch das ist essenziell. Es führt dazu, dass man mehr weiß, als man schließlich vor Publikum sagt, und das ist eine Grundlage für das sichere Reden.

Noch heute orientiert sich die Rhetorik an den Schritten, die im klassischen Altertum galten, an den so genannten Produktionsstadien. Man nannte meist fünf, und sie werden immer noch mit ihren lateinischen Namen bezeichnet:30

»Inventio (das Auffinden des Stoffs, der Informationen, die seine Botschaft erhellen und stützen)

»Dispositio (die Anordnung der einzelnen Aussagen so, dass die Rede einen überzeugenden Aufbau erhält)

»Elocutio (die sprachliche Gestaltung der Rede)

»Memoria (das gedankliche Durchgehen und Sich-Einprägen der Rede)

»Actio (der Auftritt, mit der sprecherischen und körpersprachlichen Präsentation der Rede)31

Vier dieser fünf Produktionsstadien betreffen die Planung und Vorbereitung. Dabei sticht die Inventio als inhaltliche Grundlage noch heute heraus, weil sie das garantiert, womit man als Vortragender am überzeugendsten auftritt: inhaltliche Kompetenz. Wir nennen es heute Recherche, und sie ist eine Schlüsselqualifikation in sehr vielen Berufen; wenn es darum geht, einen Text zu verfassen (oder eben auch eine gesprochene Rede), kommt man ohne sie nicht aus. Für die öffentliche Rede ist sie ein wichtiges Merkmal, das sie vom alltäglichen Gespräch unterscheidet. Unsicherheit über einen Sachverhalt gehört zur privaten Konversation. „Lass uns das mal nachschlagen/googeln/erfragen.“ ist eine gängige Aufforderung, mit der man gemeinsam Informationen ergänzt, um danach weiter diskutieren zu können.

Dass man vorbereitet vor ein Publikum tritt, entspricht auch den Erwartungen an eine Rednerin oder einen Redner: Als Einzelperson zu einer Gruppe zu sprechen, ist ein Privileg. Weil man etwas zu sagen hat, lohnt es sich für andere Menschen, zuzuhören und damit das eigene Wissen zu ergänzen oder in Frage zu stellen. Die Rednerin ist Expertin. Expertin zu sein, bedeutet aber in dem meisten Fällen nicht einfach, aus dem erworbenen Wissen zu schöpfen, sondern recherchieren zu können. Auf keinem Gebiet ist es ratsam, einen alten Vortrag aus der Schublade zu ziehen und ihn so zu halten, wie es vor ein paar Jahren, Monaten oder auch Tagen passend war. Man greift zwar auf Früheres zurück, reagiert aber auch auf Aktuelles. Das eine gibt Sicherheit, das andere ermöglicht den Kontakt mit dem Publikum.

Vorbereitung kann einengen oder Sicherheit bringen

Eine gute Vorbereitung birgt immer die Gefahr, dass man sich zu eng an einem Konzept orientiert. Die Rede kann in Sprache und Tempo zu starr wirken. Gute Vorbereitung kann aber auch als Chance gesehen werden, von ihr abzuweichen, so dass die Rede lebendig wirkt – dank spontaner Ergänzungen, Tempoveränderungen, Reaktionen auf Einwände. Je besser dabei die Vorbereitung, desto leichter ist es, den eingeschlagenen Weg zu verlassen und ihn bei Bedarf wieder aufzunehmen.

Die Rede als Produkt dieser Rahmenbedingungen

Alle genannten Bedingungen der öffentlichen Rede haben die traditionelle Art, sich vor Publikum auszudrücken, beeinflusst, und zwar im Negativen wie im Positiven.

Dass man sich vor einer Gruppe in einem größeren Raum findet, beeinflusst die Bedeutung der Stimme wie auch der Körperhaltung und -bewegung. Das kann einengen, aber auch eine gewisse Sicherheit geben. Die zeitliche Begrenzung führt oft zu einem erhöhten Sprechtempo und zu einem Aufbau, der im Vergleich zum Gespräch knapper strukturiert ist. Trotzdem kann der Zeitdruck auch zu einer kompakteren Darstellung zwingen. Die kulturellen und sozialen Normen betreffen viele Rahmenbedingungen, von Äußerlichkeiten der Kleidung und des Auftretens bis zu sprachlichen Formulierungen. Die Ausrichtung auf ein Redeziel hat dazu geführt, dass es verschiedene Gattungen von Reden gibt, für die sich ihrerseits wieder Gewohnheiten und Regeln entwickelt haben. Sich daran zu halten (etwa an die Struktur einer Grabrede), kann zwar Mühe bereiten, aber es kann einem auch einen hilfreichen Rahmen geben. Die inhaltliche Planung führt manchmal zu einer Sprache, die sich nur schwer von schriftlichen Vorbildern löst, hilft aber beim Aufbau und der Klarheit der Botschaft. Insgesamt aber darf nicht vergessen werden, dass jede Rede – ob sie sich an konventionelle Vorgaben hält oder konstruktiv und dialogisch verstanden wird – das Produkt dreier Kräfte ist. Die Rednerin oder der Redner steht zwar im Vordergrund und trägt einen großen Teil der Verantwortung; aber das Publikum beteiligt sich in jedem Fall mit und kann dem Ereignis einen unerwarteten Verlauf geben. Und im Hintergrund übt immer die veranstaltende Institution ihren Einfluss aus und gestaltet die Rede mit.

2Vom Monolog zum Dialog

Es gibt klassische Vorstellungen davon, was eine gute Rede ist. Viele davon sind aber für den Sachvortrag eher hinderlich. Sie stellen Anforderungen, die schwer zu erfüllen sind, und verhindern eine Begegnung auf Augenhöhe mit dem Publikum. Im Dialog sind wir nicht nur authentischer, sondern erzielen auch bessere Resultate, weil wir gemeinsam vorgehen. Deshalb lautet die Empfehlung: Nutze die Stärken des Dialogs, auch wenn du einen Vortrag hältst.

Das gilt zugegebenermaßen nicht für die, deren Ziel es ist, auf einer Demo die Massen aufzupeitschen. Es gilt auch nicht für die, die in den großen Festzelten Wählerstimmen zusammentrommeln oder auf Instagram Kunden für die neueste Duschgel-Duftnote begeistern wollen. Es gilt aber für alle jene, deren Hauptziel es ist, andere zu informieren: Fachleute, die einen Vortrag über ihr Fachgebiet halten, Studierende, von denen man ein Seminar-Referat erwartet, Dozentinnen, Instruktoren, Fremdenführer und viele andere, für die das Reden nicht Berufung ist, denen es aber auch nicht erspart bleibt. Man erwartet von ihnen keine schauspielerischen Leistungen. Man erwartet, dass sie authentisch bleiben.

Wenn man zum Reden abgerichtet wird

Zugegeben: das braucht auch andere Arten des Rhetoriktrainings, als was viele Coaches und Beratungsfirmen anbieten, die angeblich lehren, wie ein Einzelner das Publikum „begeistert und bewegt“,32„bei Laune hält“33 oder „anrührt oder erschüttert“,34 so dass „eine motivierende Welle der Begeisterung durch das Publikum schwappt und alle mitreißt“.35 Sie machen glauben, man könne Menschen nach einem simplen Schema zum Reden abrichten.

Da sitzen dann die Leute vor ihrem Trainer und lernen, wie man „Glaubhaftigkeit“ und „Schubkraft“ erlangt. Der Trainer hat nämlich „Menschen beobachtet, die bis zu tausend Prozent überzeugt sind von dem, was sie sagen.“ Und diese haben, so fährt er fort, „ein natürliches sprechtechnisches Verhalten.“ Deshalb sollen jetzt alle mal aufstehen und es dem Trainer nachmachen:

Der Zauber liegt in Ihrer rechten Hand: Nehmen Sie Ihren rechten Unterarm nach vorne, waagrecht, machen eine Art O – und jetzt kommt’s: Sie – takten – Ihre – Botschaft!36

Und die Gruppe tut, wie ihr gesagt wurde: Die Leute heben den Arm und sprechen den vorgegebenen Satz. Jede Phrase begleiten sie mit einem Schlag des Arms, lassen eine kurze Pause folgen, dann die nächste Phrase mit der gleichen

Geste und so weiter. Auf diese Weise übernehmen die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer angeblich die Überzeugungskraft großer Redner. Denn: „Menschen, die bis zu tausend Prozent überzeugt sind von dem, was sie sagen, die machen Folgendes: Die dehnen die Botschaft rhythmisch auseinander.“ Der Trainer verspricht: „Wenn Sie dieses Verhalten erkennen und auf egal welche Botschaft übertragen, dann erreichen Sie dieselbe Glaubhaftigkeit und dieselbe Schubkraft!“

Dieser Unsinn kann auf YouTube bewundert werden. Er kam dort bisher auf knapp 900.000 Aufrufe.37 Was da nicht gesagt wird: dass diese Art des Redens lächerlich wirkt, wenn sie der eigenen Persönlichkeit widerspricht. Und die Frage, die nicht beantwortet wird: ob es denn erstrebenswert ist, dass jede beliebige Botschaft ungeahnte „Glaubhaftigkeit und Schubkraft“ erfährt.

Mitdenken statt Eintrichtern

Wer von einem Publikum träumt, das sich auf diese Weise beeinflussen lässt, träumt von einer Schafherde. Es ist das Publikum aus grauer Vorzeit, als man die Zuhörer mit Befehlsempfängern verwechselte. Oder den Worten des großen Trainers: „Arbeit im Hirn des Zuhörers ist Widerstand … Widerstand gegen Sie und Ihr Anliegen.“ Aber Widerstand bricht man nicht mit aufgesetzten Verhaltensweisen.

So klang die Botschaft des Rhetorik-Trainers

Führen Sie / in Ihrer Verwaltung / Lean Management ein; / fünfzig Prozent / Ihrer Konflikte / sind verschwunden.

Das sind sechs Phrasen, sechs Betonungen, dazwischen fünf Pausen. Dazu sagt die konstruktive Rhetorik: Vergiss solche Regeln, die von jedem Kontext losgelöst sind. Erzähle stattdessen ruhig, was Lean Management ist – aus deiner Kompetenz heraus und verständlich. Und wenn du zur Empfehlung kommst, dies auch einzuführen, wird es automatisch passend klingen. Denn alle haben mitgedacht und brauchen keine künstlichen Gesten und Betonungen.

Wenn Zuhören wirklich Widerstand wäre, würde jeder Auftritt zum Kampf, und nicht mal dann wären die wirksamsten Waffen solche plakativen Werkzeuge aus der Mottenkiste des Laienschauspielers. Vielleicht funktionieren sie noch für Politikerinnen und Politiker, die ihre Wahlkampfreden halten, bei denen sowieso nur ihre eigenen Schäfchen zuhören. Wer aber in erster Linie informieren will und seine Zuhörerinnen und Zuhörer nicht als Gegner sieht, sondern als mitdenkende Individuen, wird auf derartige Mätzchen verzichten und sich sagen: Es geht mir nicht darum, den Leuten „egal welche Botschaft“ einzutrichtern, sondern darum, meine Inhalte verständlich und attraktiv einem intelligenten Publikum mitzuteilen, das bereit ist, zuzuhören, mitzudenken und das Gesagte auch kritisch zu hinterfragen.

Wer dazu bereit ist, kann die klassischen Anleitungen zum Monolog vergessen. Wer dazu bereit ist, wird mehr erreichen und es auch leichter haben, wenn er die Redeaufgabe als Dialog versteht.

Das Publikum ernst nehmen

Wie sieht denn die Alternative aus? Der erste Tipp für einen erfolgreichen Vortrag, bei dem das Publikum mitgeht, lautet: Nimm die Leute wahr, die dir zuhören sollen! Nimm sie ernst. Nimm dir deshalb Zeit, sie anzusehen, bevor du sprichst. Und statt deine Phrasen zu skandieren, sprich sie so aus, dass man mitdenken kann. Das ist das Gegenteil von Eintrichtern, das Gegenteil des „Auseinanderdehnens“ einer auswendig gelernten Botschaft. Es ist die Koordination von Denken und Sprechen. Da besteht ein Satz nicht aus sechs betonten Phrasen, sondern nur das, was im Satz neu ist, erhält die Hauptbetonung; der Rest unterstützt es, weil sich Melodie und Rhythmus dem unterordnen. Und den Unterarm kann man getrost vergessen.

Grundgedanke: das Verständnis für den Austausch

Konstruktive Rhetorik verrät nicht faule Tricks, sondern fördert das Verständnis für den Austausch: Entwickle deine Gedanken so, dass die Leute mitdenken können. Das gelingt dir, wenn du mit ihnen in Kontakt bist. Die Voraussetzung dazu:

»Nimm das Publikum wahr.

»Formuliere die Gedanken frei anhand von Stichworten, so dass du während des Redens auch selber mitdenkst.

»Nutze Pausen – nicht weil sie magische Kräfte haben, sondern weil du in den Pausen siehst, wie das Gesagte ankommt und erkennst, was vom Publikum zurückkommt.

Informationen bringen mehr als Überredungskünste

Klassische Rhetoriktrainings gehen vom Monolog aus, vom Reden gegen andere. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Überzeugungsrede. Eine Sache wird vertreten und muss gegen andere verteidigt werden. Das ist natürlich in vielen Reden enthalten, aber meistens nicht das Hauptziel – weder in Vorträgen oder Vorlesungen noch in Instruktionsvideos, Berichten oder Reportagen. Hier geht es primär darum, Leuten, die etwas Neues erfahren wollen, dieses neue Wissen zu vermitteln und sie anzuleiten, wie sie es weiter vertiefen können. In vielen Fällen ist dies auch die Haupttätigkeit von Verkäufern, Journalistinnen oder Unternehmenssprechern. Es ist nicht ein Reden gegen andere, sondern ein Reden für andere und mit anderen. Auch wenn die Zuhörer eine Stunde lang stumm bleiben, können sie aktiviert werden, denn sie wollen lernen, unterhalten werden, selbst weiterdenken. Eine konstruktive, dialogische Einstellung nimmt diese Bereitschaft zur Mitarbeit auf.

Gespräch – Vortrag – Online-Präsentation: Drei Beispiele

Welches sind die Stärken des Dialogs und welche davon können in die Präsentation – vor Publikum oder online – übernommen werden? Das ist leicht zu erkennen, wenn man eine Person bei den verschiedenen Aufgaben beobachtet: beim Gespräch, beim Vortrag und bei der Online-Präsentation.

Da ist die erfolgreiche Unternehmensberaterin Olivia Grau.38 Sie hat Managerinnen namhafter Firmen betreut und Weltklassesportler zum Erfolg geführt. Ihre Stärke ist die Motivation einzelner Menschen im persönlichen Kontakt. Wer sie zum privaten Gespräch trifft, erkennt ihre besondere Ausstrahlung, sie wirkt sympathisch und zugewandt. Wer sie im Vortrag hört, spürt bereits eine gewisse Distanz. Und in der Online-Präsentation in ihren Videos hat sie fast alle ihre sympathischen Züge verloren. Die folgenden Abschnitte beschreiben diese Unterschiede und zeigen, wo die Stärken liegen, auf denen sie auch im Vortrag aufbauen kann.

1. Das konstruktive Gespräch

Olivias Stärken werden in der persönlichen Begegnung mit ihren Kunden offenbar. Sie lässt sie erzählen, stellt Fragen, ergänzt das Gehörte mit ihren eigenen Erfahrungen und leitet daraus die Ratschläge für Praxis und Training ab. Dogmen und Regeln stehen nicht am Anfang, sondern folgen erst da, wo sich der Gesprächspartner geöffnet hat. Zwar sind die Rollen klar verteilt, aber es ist ein konstruktives Gespräch unter Gleichberechtigten.

»Raum: gemeinsame Nutzung. Die Trainerin und ihr Gesprächspartner finden ihren Platz gemeinsam. Wie weit sie voneinander entfernt sitzen oder stehen, pendelt sich ein.

»Zeit: gemeinsames Management. Zwar ist die Dauer einer gemeinsamen Sitzung vorher abgesprochen; aber wer wie lange spricht oder schweigt, ergibt sich aus der Dynamik des Gesprächs. Stellt einer eine Frage, bleibt dem anderen Zeit, sie zu verstehen und erst dann zu antworten.

»Zielsetzung: flexibel. Obwohl die Aufgabenteilung klar ist – die eine ist Trainerin, der andere Kunde –, verfügen beide über das gleiche Spektrum an Handlungen. Beide fragen, antworten, stellen Thesen auf, widersprechen usw. Der Schwerpunkt liegt nicht auf Überredung, sondern auf Verständigung.

»Sprachliche Gestaltung: locker. Die sprachliche Formulierung ergibt sich ohne viel Überlegen. Und wenn einem ein Wort nicht gleich einfällt, hilft der andere aus. Wenn etwas unverständlich bleibt, wird wiederholt oder neu formuliert.

»Sprechweise: problemlos. Die Lautstärke, das Tempo, die Betonungen ergeben sich von selbst. Verlangsamung und Pausen entstehen, weil das Gegenüber signalisiert, ob es der Rede folgen kann.

»Körpersprache: organisch. Blickkontakt und Gestik sind kein Problem, weil man sich wohlfühlt und so verhalten kann, wie es einem im Moment entspricht. Ob jemand mit dem Kopf nickt oder mit dem Fuß scharrt, wird im Gespräch direkt aufgenommen. Es gibt keine falsche Mimik oder Gestik.

»Medieneinsatz: dialogisch. Es gibt Dinge, die man sich auf dem Tablet zeigt; Informationen müssen ad hoc im Internet gesucht werden. Das stört das Gespräch nicht, weil man gemeinsam auf das Gerät blickt und es wieder weglegt, wenn es seine Aufgabe getan hat.

2. Der Vortrag vor Publikum

Die Trainerin ist als Rednerin zu einer Veranstaltung eingeladen, zu der sich 250 motivierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingeschrieben haben, die etwas über ihr Motivationstraining lernen möchten. „Du bist der Schlüssel zu deinem Erfolg “ wird ihre Botschaft sein, und da sie von vielen erfolgreichen Kundinnen und Kunden berichten kann, wird niemand ihre Kompetenz anzweifeln. Aber man spürt auch, dass etwas fehlt. Sie wirkt unpersönlicher, kühler. Ihre Stimme klingt eher eintönig, einige Effekte, die sie sich gut überlegt hat, verpuffen im Saal. Sie bezeichnet das Reden vor Publikum als „Performance“, und das ist auch zu spüren: Sie wirkt, als ob sie unter Erfolgsdruck stünde, als ob es nur um Siegen oder Scheitern ginge.

»Raum: suboptimale Einrichtung: Im Seminarraum ist Platz für 250 Personen. Die Rednerin hat eine sechs Meter breite und drei Meter tiefe Bühne zur Verfügung, die sie mit einem großen Bildschirm teilt. Quer zur Bühne verlaufen die Tische, an denen das Publikum sitzt. Ein großer Teil der Leute sitzt mit dem Rücken zur Bühne, sie müssen sich also umdrehen, um etwas zu sehen.

»Zeit: ohne Beteiligung des Publikums: Die Rednerin spricht zwar nicht besonders schnell, sie macht immer wieder kurze Pausen. Aber diese dienen nicht dazu, das Publikum einzubeziehen. Wenn sie z.B. Fragen stellt, lässt sie diese nicht wirken. So stellt sie in der Einstiegsphase gleich mehrere Fragen:

„Wie sehen Sie sich selbst? Wie sehen Sie Ihr Umfeld? Wie schätzen Sie Ihre Ausgangschancen ein? Welche Bilder steigen in Ihnen auf, wenn Sie an Ihre letzte große Aufgabe denken?“