Journalistisches Texten - Jürg Häusermann - E-Book

Journalistisches Texten E-Book

Jürg Häusermann

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Beschreibung

Wer als Journalist einen Text verfasst, arbeitet mit den verschiedensten Quellen – lauter Informationen, die bereits jemand anderes formuliert hat. VorausSetzung für einen guten journalistischen Stil ist deshalb die Fähigkeit, kritisch mit der Sprache anderer umzugehen. Es gilt, eigene und fremde Aussagen klar zu unterscheiden, sie im Text voneinander abzugrenzen und zu kennzeichnen. Jürg Häusermann zeigt in seinem Buch 'Journalistisches Texten', wie dies geht und wie man dennoch attraktiv schreiben kann. Anhand zahlreicher aktueller Beispiele erläutert er die sprachlichen Mittel, mit denen Journalisten eigene und fremde Positionen abgrenzen können. Erprobte Tipps helfen den Lesern, eine verständliche und ansprechende Sprache zu finden. Das Buch hat sich in der journalistischen Aus- und Fortbildung bewährt. In der 3. Auflage werden erstmals die verschiedenen Möglichkeiten des Wertens erklärt, also wann in einem Satz eine Meinungsäußerung enthalten ist und welches die sprachlichen Werkzeuge zur Trennung von Berichterstattung und Kommentar sind. Tipps für die verschiedenen Formen der Textkritik runden das Buch ab. "Anhand zahlreicher Beispiele zeigt dieses Arbeitsbuch, wie durch den bewussten Einsatz sprachlicher Stilmittel Texte inhaltlich präzise und zugleich für den Leser attraktiv gestaltet werden, und wie konstruktive Textkritik ein Gewinn für die eigene Arbeit werden kann. Ein praktisches Handbuch, ansprechend und verständlich formuliert." planetpraktika.de

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[1][2]

Jürg Häusermann ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er hat Germanistik und Russistik studiert und mit einem sprachwissenschaftlichen Thema promoviert. Nach dem Studium arbeitete er als freier Radiojournalist und als Dozent in der journalistischen Aus- und Weiterbildung. Er ist Autor und Co-Autor mehrerer Bücher zur Mediensprache und Medienrhetorik. (Foto: Holger Grams)

[3]Jürg Häusermann

Journalistisches Texten

3., überarbeitete Auflage

[4]Praktischer Journalismus Band 43

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 1617-3570 ISBN 978-3-86496-103-8

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

1. Auflage 2001 2. Auflage 2005 3. Auflage 2011

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011

Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Titelfoto: Istockphoto Inc.

UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 78462 Konstanz

[5]Inhalt

Journalistische Texte und ihre Sprache

1 Einfache Form, klare Interpretation: der Weg zum journalistischen Stil

1.1 Techniken des Formulierens

1.2 Wie journalistische Sprache interpretiert

1.3 Der Aufbau bringt das Informationsziel in den Text

1.4 Modelle für Nachrichtenmeldungen und Berichte

1.5 Kreative Verfahren für die Schreibpraxis

2 Fremde Rede: Stimmen und Meinungen im Text

2.1 Zitatauswahl: subjektive Ergänzung oder Beleg?

2.2 Die Form: vom Redeschwall zum lesbaren Zitat

2.3 Direkte Rede: Akteure im Originalton

2.4 Indirekte Rede: Zitate in verkürzter Form

2.5 Redebericht: das verwandelte Zitat

2.6 Auch die Redesituation interessiert

2.7 Journalistische Gespräche führen

2.8 Interviews im schriftlichen Medium

2.9 Techniken des Zuhörens und Mitschreibens

3 Sachgerecht und verständlich: der Umgang mit Fachsprache

3.1 Belassen, umschreiben oder weglassen?

3.2 Feste Handlungsabläufe erklären

3.3 Journalismus als unbekanntes Fach

[6]4 Zum Lesen motivieren: Einstieghilfen

4.1 Bildunterschrift als Scharnier

4.2 Bildauswahl: Was soll das Bild zeigen?

4.3 Das soll in die Bildunterschrift

4.4 Die Überschrift bringt den Text auf den Punkt

4.5 Das Besondere muss in die Überschrift

4.6 Die Überschrift in der Kombination

4.7 Zwischentitel fordern zum Weiterlesen auf

4.8 Der Lead öffnet den Text

4.9 Hinweistexte machen neugierig

5 Einordnen, Werten, Kommentieren

5.1 Wie Wertung in den Text gerät

5.2 Berichte brauchen keine Wertung

5.3 Der Kommentar als separater Text

5.4 Die Argumentation im Kommentar

6 Texte beurteilen: konstruktive Kritik an Texten

6.1 Dialogisch und zielgerichtet kritisieren

6.2 Schwerpunkte setzen

6.3 Kritik als Institution

6.4 Von der Kritikrunde zum Seminar

6.5 Kritik ist Teil des Journalismus

Literatur

Index

[7]Journalistische Texte und ihre Sprache

Journalismus ist öffentliche Kommunikation.

Journalistische Texte sorgen dafür, dass Menschen voneinander erfahren: In Köln stürzt das Historische Archiv ein. In Meldungen, Berichten und Reportagen wird das Ereignis weit über Deutschland hinaus zum Thema. Fernab im nördlichen Finnland stoppen Umweltschützer, Behörden und Unternehmer gemeinsam den Raubbau an einem Stück Urwald. Journalisten verbreiten die Nachricht in ganz Europa. Aus dem Terrarium einer Kleinfamilie ist eine Boa constrictor entwichen. Wo das war, wann es geschah und ob jetzt Gefahr droht, darüber geben journalistische Medien Auskunft.

Bürgerinnen, Politiker, Kunstliebhaber, Sportinteressierte, Buchhalter, Kleintierzüchter: Wer immer an der Welt teilhat, ist mögliches Thema und möglicher Adressat des Journalismus. Journalismus schafft Öffentlichkeit. Er stößt Diskussionen an, hält die öffentliche Kommunikation in Gang.

Journalisten als Vermittler

Der Ort dieser Kommunikation sind journalistische Texte: Meldungen, Berichte, Reportagen, Interviews. Es können geschriebene oder gesprochene, rein sprachliche oder bebilderte »Texte« sein, sie können in der Zeitung, im Internet, im Radio oder im Fernsehen erscheinen. Alle sorgen sie dafür, dass die unterschiedlichsten Menschen und Gruppen voneinander erfahren. Und auch wenn viele Informationen auch ohne Journalisten an die Öffentlichkeit gelangen – durch PR-Maßnahmen, Blogs, soziale Medien usw. – machen sie den Journalismus nicht überflüssig.

Nur Journalismus nimmt einen Platz in der Mitte ein, zwischen den unmittelbar Betroffenen und den Adressaten. Journalistinnen und Journalisten sind im Idealfall nicht Partei. Aber sie leiten auch nicht einfach Informationen weiter. Ihre Texte entstehen in der Zusammenarbeit aller Beteiligten. Als Vertreter des Mediums, als Kommunikatoren, sind sie angewiesen auf die Menschen und Organisationen, die von den Ereignissen [8]betroffen bzw. für sie verantwortlich sind, die Akteure. Deren Informationen und Meinungen fließen in die Recherche ein und letztlich in den Text. Aber auch die Rezipienten – Leserinnen, Hörer, Zuschauerinnen, Internetnutzer – sind beteiligt, zumindest dadurch, dass sie als Zielpublikum die Vorstellungen der Journalisten leiten.

Der Modellfall für einen journalistischen Text ist die Live-Reportage vom Ort des Geschehens: Der Reporter schildert aus seiner Sicht, was er in Erfahrung bringen kann. Er befragt aber auch Betroffene und lässt Unbeteiligte, Zeugen, Passanten zu Wort kommen.

Das Erdbeben in Japan, bei dem im März 2011 das Atomkraftwerk von Fukushima zerstört wurde, ist ein Beispiel dafür: Nur mit den Stimmen aus der Bevölkerung, von Behörden, Wissenschaftlern usw. bildete sich allmählich ein Bild und ein Verständnis von den Ereignissen.

Journalistische Texte als Szenen

Journalistische Texte lassen sich als Szenen verstehen, in denen die Kommunikatoren, Akteure und Rezipienten auftreten. Der Autor entscheidet, welche Rolle sie da spielen und in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Er hat etwa zu den Schäden im Atomkraftwerk einen Wissenschaftsjournalisten befragt. Er weiß, dass dieser auch Beratungsaufträge für die Atomindustrie wahrnimmt. Dieser »Experte« hat also eine gewisse Nähe zu einem Teil der Akteure und (als Journalist) zum Kommunikator. Ob und wie dies im Text vorkommt, beeinflusst den Wert der Information. Der Leser wird die Aussagen kritischer werten, wenn die Beziehung zur Atomindustrie genannt wird, weniger kritisch, wenn der Gewährsmann nur als Journalist bezeichnet wird.

Während der journalistischen Arbeit entwickelt sich das Verhältnis zwischen dem Journalisten, seinen Kollegen, Informanten und seinem Zielpublikum. Im Text aber entsteht es neu. Voraussetzung dafür ist ein bewusster Umgang mit der Sprache.

Abgrenzen und Position beziehen

Eine der wichtigsten journalistischen Fähigkeiten besteht darin, im Text den fremden Standpunkt vom eigenen abzugrenzen. Journalistisch zu texten, bedeutet, fremde Positionen zu erkennen und seine eigene Position [9]zu kennen. Dies beginnt bei der Nachrichtenauswahl. Wer einen Neurologen in seinem Büro interviewt hat, kann erwähnen, dass im Keller darunter Experimente mit Katzen gemacht werden; er kann es auch bleiben lassen. Die Entscheidung liegt beim Journalisten oder seiner Redaktion. Aber wie sie gefällt wird, beeinflusst die Beziehung von Kommunikator und Akteur im Text.

Position ist aber nicht nur eine Sache der Fakten, sondern auch der sprachlichen Verfahren. Wenn die Deutsche Bahn einen ICE stoppen muss, weil sie zu viele Passagiere geladen hat, kann schon allein die sprachliche Gestaltung daraus eine Serviceleistung oder auch eine peinliche Panne machen: Je nach Sichtweise wurden (in diesem Beispiel am 3.10.2000) die überzähligen Fahrgäste »überredet, den Zug zu verlassen« (DPA) oder aber »aus dem Zug geworfen« (EXPRESS, KÖLN). Die Wahl des Prädikats veränderte jeweils die Szene. Einmal war der Kommunikator näher bei der Bahn, das andere Mal näher beim Kunden (und wohl den meisten Lesern).

Journalistische Texte interpretieren

Auch wenn kein Wort des Kommentars fällt, wird die Position des Kommunikators in seiner Sprache sichtbar. Journalismus ist – auch wenn er sich um Objektivität bemüht – nicht nur ein neutrales Vermitteln. Journalismus interpretiert auch. Und die Interpretation lässt sich nicht vermeiden. Sie ist immer dabei, ob man über Bundespolitik oder über Rockmusik, über Burgenländer Weißwein oder über einen Autounfall im Stadtzentrum schreibt. Bisweilen ist die Art der Interpretation von der Redaktion vorgegeben. Eine Boulevardzeitung wird beim selben Thema vielleicht mehr Nähe zu Akteurinnen und Lesern suchen als die überregionale »Qualitätszeitung«.

Aber die Aufgabe ist für alle Journalisten die gleiche: die Sprache so zu wählen, wie es ihrer Beziehung zu Akteuren und Rezipienten entspricht.

Erzählen?

Einer der häufigsten Begriffe in diesem Buch ist »Erzählen«. In vielen Fällen hilft einem beim Schreiben nur schon die Erinnerung daran, wie attraktiv ein erzählerischer Zugang sein kann. Dennoch ist der Journalist [10]nicht Fall der Erzähler schlechthin. Dafür ist seine Rolle in der Recherche und im Text zu wenig autonom. Das Bild von der Szene, an der außer ihm noch die Akteure und Rezipienten den Text mitgestalten, soll dies unterstreichen.

Die journalistische Rolle ist nicht – oder zumindest nicht in erster Linie – diejenige eines klassischen, autonomen Erzählers. Ich betone diese hier nachdrücklich, weil eine Zeit des allgemeinen »Storytelling« angebrochen ist. Personalisierendes Erzählen ist zur Geheimwaffe geworden im Management, in der Markenkommunikation, in der Politik. Überall, wo komplexe Sachverhalte auf einen einfachen Nenner gebracht werden müssen, wird auf »Stories« zurückgegriffen. Statt ein Erfrischungsgetränk über seinen Geschmack zu bewerben, wird seine Geschichte und die seiner Fans erzählt. Statt einen Präsidentschaftskandidaten über seine politischen Ziele vorzustellen, werden die Biografien seines Vaters und Großvaters in den Mittelpunkt gerückt. Dies alles kann einen Sinn erfüllen, es kann aber auch von abstrakteren Themen ablenken, die es verdient hätten, durch sachliche Argumentation verhandelt zu werden.

Wer journalistisch arbeitet, hat es in diesem Zusammenhang doppelt schwer: Er bekommt Geschichten frei Haus geliefert, denen er sich kaum verweigern kann, weil sie attraktiv sind und bereits in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Und er lernt, dass ein erzählerischer Text auf mehr Resonanz stößt. Er muss aber auch erkenen, dass mit Erzählungen wesentliche Themen überdeckt werden können.

Zur Arbeit am journalistischen Text gehört deshalb auch die Skepsis gegenüber Geschichten - vor allem gegenüber denen, die man ohne zu fragen erfährt. Und es gehört dazu, bei allen Stoffen zu erkennen, wo die Informationskraft des Beispiels, des Pars pro toto, der Personalisierung aufhört.

Wer informiert, braucht eine eigene Sprache

Journalisten stehen ständig unter dem Einfluss der Sprache anderer: Sie müssen den Wortschatz der Rezipienten berücksichtigen, weil sie verstanden werden wollen. Und sie müssen sich in den Wörtern und Wendungen der Akteure auskennen, damit sie korrekt recherchieren können. Sie dürfen aber Ausdrücke der Akteure oder Rezipienten nicht bedenkenlos in ihre Texte übernehmen. Denn oft enthält nur schon die Wortwahl eine [11]klare Meinung. Deshalb kann nur wer seinen eigenen Stil findet, unabhängig informieren.

Es ist das Ziel dieses Buchs, zu zeigen, wie dies möglich ist. Es geht davon aus, dass die Voraussetzung dazu ist, dass der Journalist oder die Journalistin eine klare Position bezieht.

Die Menschen, Gruppen und Organisationen, über die journalistisch berichtet wird, haben ihre eigenen Interessen. Von ihnen, den Akteuren, stammen meistens auch die wichtigsten Informationen. Zu verhindern ist, dass ihre Sichtweise unbeabsichtigt in die Nachricht einfließt.

Journalistische Texte entstehen aus Texten

Wer einen Text für ein journalistisches Medium schreibt, formuliert fast nichts von Grund auf neu. Als Basis dienen immer bereits existierende Texte. Die eigene Beobachtung, so wichtig sie auch ist, hat weniger Bedeutung als die Texte, die bei der Recherche anfallen: frühere Presseartikel, Interviewmaterial, Dokumente aller Art. Was wir »Texten« nennen, besteht deshalb vor allem im Verarbeiten: im Umformen, im Zusammenfassen, im kritischen Zitieren. Journalistische Texte entstehen textbasiert. Die Sprache von Journalistinnen und Journalisten muss sich in einer solchen Arbeitsweise bewähren. Obwohl alles schon von Quellen und Akteuren vorformuliert worden ist, müssen sie ihren eigenen Stil bewahren.

Wie viele Texte in einem Artikel zusammenwirken, zeigt schon ein einziger Satz aus dem Nachrichtenjournalismus:

Der Bundesregierung liegen nach einem Bericht von «Focus Online» Hinweise von ausländischen Geheimdiensten vor, wonach ein mit Schengen-Visa ausgestattetes Terrorkommando am 22. November in Deutschland eintrifft. (STERN.DE, 17.11.2010)

Das Thema dieser Meldung sind Texte. Diese Texte , die angeblich der Bundesregierung vorliegen (Hinweise ausländischer Geheimdienste), hat der Verfasser allerdings nicht gesehen. Er beruft sich stattdessen auf einen weiteren Text – den Bericht von FOCUS ONLINE. Und beim Ganzen geht es um ein eventuell bevorstehendes Ereignis, bei dem wieder Texte eine Rolle spielen: die Visa der möglicherweise einreisenden Terroristen.

Die Meldung ist also ein Text über einen Text über einen Text … Und dies ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Praktisch jede Nachricht ist ein komplexes Konstrukt aus Zitaten. Da schleichen sich leicht Fehler ein.[12]Zum Beispiel wird aus einem mutmaßlichen Ereignis ein tatsächliches Ereignis. Im vorliegenden Beispiel veränderte sich in einigen Meldungen gerade dieser Aspekt, die Sicherheit des bevorstehenden Ereignisses. So schrieb zum Beispiel der STANDARD:

Die deutsche Regierung hat konkrete Hinweise auf einen noch in diesem Monat erfolgenden islamistischen Terroranschlag. (DERSTANDARD.AT, 17.11.2010)

Damit wurden bloße »Hinweise« zu »konkreten Hinweisen«, das reine »Eintreffen« eines Terrorkommandos zu einem »noch in diesem Monat erfolgenden Terroranschlag«.

Wer sich fragt, was denn die Bundesregierung wirklich gesagt hat, findet eine Aussage, die sehr weit davon entfernt ist. Am Anfang stand nämlich ein weiterer Text, die Rede des Bundesinnenministers bei einer Pressekonferenz.

Er sagte wörtlich:

Nach Hinweis eines ausländischen Partners […] soll Ende November ein mutmaßliches Anschlagsvorhaben umgesetzt werden. (DPA, 17.11.2010)

Hier wird keine Prognose ausgesprochen, sondern nur zitiert: Es soll ein Anschlagvorhaben umgesetzt werden – und überdies nur ein mutmaßliches. Dies ergibt zwar logische Probleme (wie setzt man etwas Mutmaßliches um?). Aber immerhin hatte der Minister seine Sache so formuliert, dass die Ungewissheit noch herauszuhören war.

Dieses Beispiel zeigt also nicht nur, dass hinter jedem Text viele andere Texte stecken, sondern auch, dass dies die sprachliche Umsetzung zu einer anspruchsvollen Arbeit macht. Wer auf Grund von Texten textet, muss diesen Texten auch gerecht werden. Er muss insbesondere erkennen, wie diese mit der Wahrheit umgehen und nicht etwa aus einer Vermutung eine Tatsachenbehauptung machen.

Eine besondere Art der Kreativität

Für Journalisten sind also Fähigkeiten, die man gewöhnlich mit sprachlicher Kreativität in Verbindung bringt, weniger wichtig: Sie müssen gar nicht so häufig eigene Beobachtungen in treffende Worte fassen. Sie brauchen keine besonders originellen Worte zu finden. Sie müssen »nur« in der [13]Lage sein, Texte zu verstehen und in eigenen Texten darauf verständlich und fair Bezug zu nehmen.

Für all dies müssen sie Formen finden, die dem Medium und seiner journalistischen Zielsetzung entsprechen. Sprachliche Kreativität im Journalismus ist in erster Linie eine Kreativität in der Auseinandersetzung mit der Sprache anderer. Die mag trocken und langweilig klingen. Und natürlich erschöpft sich die journalistische Arbeit nicht im Reagieren auf Vorgaben; viele gute Texte leben davon, dass sich die Autorin oder der Autor von der Textbasiertheit zu lösen versucht und Gehörtes, Gesehenes, Geschmecktes, Gerochenes oder Gefühltes in eigene Worte kleidet. Dennoch überwiegt das andere: die Verarbeitung von Vorformuliertem. Und das ist eine wichtige Leitlinie für ein Buch über journalistische Sprache.

Was dieses Buch bringt

Mit diesem Buch wende ich mich an Journalistinnen und Journalisten, die sich mit der Sprache auseinander setzen wollen. Viele Beispiele sollen anregen, über den Sprachgebrauch nachzudenken. Seine Schwerpunkte liegen im Spannungsfeld zwischen eigenen und fremden Texten, eigenen und fremden Positionen.

Das erste Kapitel beschreibt, wie man in der textbasierten Arbeitsweise zu einer eigenen Sprache findet. Ein zentraler Begriff ist »Portionieren«, ein sehr simples Verfahren, das im Grunde darin besteht, aus einem langen Satz mehrere kleinere zu machen. Auf diese Weise lassen sich die Gedanken besser ordnen und sprachliche Schwierigkeiten umgehen – auch wenn dies nur eine Zwischenstufe zu längeren, anspruchsvolleren Sätzen ist.

Das zweite Kapitel behandelt den Umgang mit fremder Rede. Es ist auf gewisse Weise das Herzstück des Buchs. Denn wenn journalistische Texte aus Texten (gesprochenen oder geschriebenen) entstehen, dann ist die Frage zentral, wie die vorgefundenen Aussagen in eigene übernommen werden, wie man fremde Äußerungen verschriftlicht und wie man sie gegen eigene abgrenzt.

Anhand von Beispielen aus fachsprachlichen Texten behandelt das dritte Kapitel Kernthemen der Verständlichkeit. Dabei bilden Fremd- und Fachwörter den Ausgangspunkt. Es wird aber auch gezeigt, dass das »Schwierige« eines Themas oft nicht das ist, was die Spezialisten sagen, sondern was sie tun. Es geht um die sprachliche Bewältigung von [14]Routineabläufen, die für die Fachleute (und die Journalisten) selbstverständlich sind, dem Publikum aber nicht.

Das vierte Kapitel betont den Motivationsaspekt von Texten. Kleine spezielle Formen wie Überschriften oder Leads dienen dazu, dem Nutzer Orientierung zu verschaffen und ihn zum Weiterlesen zu verführen. Aus der Leserforschung weiß man, wie wichtig es ist, dass an diesen Stellen attraktiv und überzeugend formuliert wird. Hier werden rhetorische Regeln benötigt, die die motivierende Funktion unterstützen.

Das fünfte Kapitel greift Fragen zur Wertung und Interpretation auf. Es behandelt die Trennung von Nachricht und Meinung aus sprachlicher Sicht. Wenn der journalistische Kommunikator eine eigene Position hat, liegt ja nahe, dass er seine Informationen auch kommentiert. Die Frage ist aber, wann dies angezeigt ist und welche sprachlichen Mittel und Textstrukturen dafür zur Verfügung stehen.

Ein Schlusskapitel ist den verschiedenen Formen der Kritik an Texten gewidmet. Es beginnt beim Feedback im Zweiergespräch und geht über zur Blattkritik und zum Text-Seminar. Im Rückblick auf die anderen Kapitel des Buchs werden die Kriterien der Textbeurteilung diskutiert und Tipps für die Gesprächsführung gegeben.

Obwohl das Buch »Journalistisches Texten« von klaren Vorstellungen ausgeht, wie journalistische Sprache sein soll, wird auf weitgehend auf »goldene Regeln« und »schwarze Listen« verzichtet. Denn es gibt kaum Ausdrücke oder stilistische Mittel, die grundsätzlich gut oder schlecht sind und die empfohlen oder verboten werden könnten. Hinzu kommt, dass sich das Sprachvermögen jedes Einzelnen von der Kindheit an entwickelt hat. Was wir sagen oder schreiben, hat immer einen persönlichen Anteil, der unseren Stil prägt, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, irgendwelche Vorgaben einzuhalten. Eine autoritäre Haltung hat deshalb im Bereich der sprachlichen Fortbildung nichts zu suchen.

Es gibt aber Möglichkeiten, zu einem bewussten Umgang mit der Sprache anzuleiten. Ich tue es in diesem Buch mit Regeln, die anhand von konkretem Material aus verschiedenen Medien entwickelt wurden. Positive und negative Beispiele werden so kommentiert, dass die Lehrmeinung – hoffentlich – einleuchtet. Angewendet werden immer Kriterien, die mit der hier skizzierten Vorstellung von der Rolle des Journalismus übereinstimmen.

Ziel des ganzen Buchs ist es, Leserinnen und Leser zur selbständigen Reflexion über die Sprache anzuleiten – auf Grund von begründeten Kriterien, die dem eigenen journalistischen Selbstverständnis entsprechen.

[15]Dank

Dieses Buch ist auf Grund langjähriger Erfahrung in der journalistischen Aus- und Fortbildung entstanden. Es hat sich im Verlauf der Jahre dank der Arbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus Journalismus und Wissenschaft und der Diskussion mit Studierenden der Medienwissenschaft gewandelt. Die erste Auflage ist 1993 auf Anregung von Peter Schulz beim Verlag Sauerländer erschienen. Seit 2001 wird es bei UVK von Rüdiger Steiner betreut. Für die jetzt vorliegende Auflage wurden ein neues Kapitel eingefügt und eine Reihe veralteter oder exotischer Beispiele durch allgemein verständliche ersetzt.

Ich danke allen herzlich, die meine Arbeit an diesem Buch begleitet haben, vor allem aber Ute Kleiber, Petra Bogenschneider und Paula Oevermann, die sich intensiv um die Gestaltung und Lesbarkeit bemüht haben.

Tübingen, im April 2011

Jürg Häusermann

[16][17]1 Einfache Form, klare Interpretation: der Weg zum journalistischen Stil

In den frühen Morgenstunden dringen Unbekannte in eine Pizzeria ein. Sie erbeuten einige hundert Euro aus der Kasse. Eine Pressemeldung der Polizei verbreitet die Nachricht unter dem Titel: Einbruch in Pizzeria. Genau diese Schlagzeile übernehmen die Zeitungen, Radios und Internetdienste der Region. Das Wichtigste ist damit gesagt.

Wenn alle Ereignisse so einfach wären, müssten über journalistisches Texten nicht viele Worte verloren werden. Nur ist die Sache in den seltensten Fällen so klar, die Frage nach der passenden Formulierung kann oft nicht so eindeutig beantwortet werden.

In einer Wiener Pizzeria schlief der Einbrecher noch am Tatort ein und konnte von der Polizei gleich festgenommen werden. Aber dieser Umstand schafft Probleme beim Texten. Schon die Überschrift Wiener Polizei verhaftete schlafenden Einbrecher (OE24.AT, 13.11.2008) ist inhaltlich falsch. In Wirklichkeit müsste Folgendes erklärt werden:

Bevor die Polizei den Verdächtigen festnehmen konnte, musste sie ihn erst aufwecken, berichtete die Exekutive am Donnerstag. (DIEPRESSE.COM)

Aber muss es so umständlich sein?

Journalistisches Texten ist eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen und mit fremder Sprache. Dieses Kapitel stellt Verfahren vor, die zu einer für den Journalismus geeigneten Sprache führen.

1.1 Techniken des Formulierens

Die meisten Menschen, die für die Öffentlichkeit schreiben, verhalten sich beim spontanen Formulieren seltsam: Statt einfache, überschaubare Sätze bilden sie ganz automatisch komplizierte, unübersichtliche Strukturen.

Geht es dabei nicht um Einbruch, sondern etwa um Bildungspolitik, entstehen leicht Sätze von über 30 Wörtern Länge:

[18]Zehn Jahre nach dem ersten Pisa-Test im Jahre 2000 liegt Deutschland beim Lesen im OECD-Schnitt, in Mathematik und Naturwissenschaften deutlich darüber und zählt zu den wenigen Ländern, die sich durchgängig verbessert haben. (FAZ.NET, 8.12.2010)

Dabei ginge es auch einfacher. In einem Gespräch würde man vielleicht so formulieren:

Es gibt eine neue Pisa-Studie. Deutschland ist besser als vor zehn Jahren. Im Lesen haben die deutschen Schüler den OECD-Schnitt erreicht. In Mathematik und Naturwissenschaften liegen sie sogar deutlich darüber. So wie Deutschland haben sich nur wenige Länder durchgängig verbessert, d.h. in allen Fächern, die geprüft wurden.

Der Ausgangssatz ist hier in mehrere Sätze aufgeteilt, die Informationen sind neu angeordnet. Die Sätze klingen etwas weniger offiziell, als bei Nachrichtenmeldungen üblich. Aber sie bieten eine Alternative.

In der Praxis bewegt man sich meistens zwischen beiden Stilen. Zwar müssen viele Vorgaben eingehalten werden, die den Text komplexer machen. Aber das Ideal ist – und da sind sich alle einig – eine Sprache, die der Sache gerecht wird und sie dennoch verständlich und klar wiedergibt.

Wer also eine Meldung über die neueste Pisa-Studie verfasst, muss mit der Sprache von Forschern und Behörden kämpfen. Komplizierte Satzkonstruktionen sind da die Regel. Hinzu kommen Werbephrasen; denn wer an die Öffentlichkeit geht, ist immer Partei. Dies trifft auch beim Pressetext zu, den die deutsche Kultusministerkonferenz und das Bundesministerium für Bildung und Forschung zum Anlass veröffentlicht haben:

Gerade im Vergleich zu anderen Staaten hat sich Deutschland über die Jahre kontinuierlich verbessert und liegt inzwischen in vielen Bereichen über dem OECD-Durchschnitt. Dafür haben Bund und Länder mit ihrer deutlichen Steigerung der Bildungsinvestitionen sowie mit ihren qualitätssichernden Maßnahmen gesorgt und damit eine positive Dynamik im Bildungswesen eingeleitet.

Wer derartige Sätze zu einer Nachricht verarbeiten muss, darf sich nicht von den komplexen Satzkonstruktionen beeindrucken lassen und muss gleichzeitig herausfinden, was hinter Wendungen wie deutliche Steigerung der Bildungsinvestitionen und qualitätssichernde Maßnahmen steckt.

Das Ziel sind Sätze, die das Lesen erleichtern, weil sie einfach sind und nur so viele Informationen enthalten, wie sie ein Leser auf Anhieb verarbeiten kann. Und zudem sollten es Sätze sein, mit denen sich ein [19]Journalist oder eine Journalistin von ihren professionellen Informationsquellen abgrenzen kann. Mit einem weniger geschwollenen Stil machen sie die Informationen leichter überprüfbar. Zudem nähert man sich damit der Sprache eines allgemeinen Publikums.

Achtung: Hier wird nicht vor langen Sätzen gewarnt. Ein langer Satz an sich ist nicht schädlich. Problematisch ist, dass lange und komplexe sprachliche Gebilde den Stil der meisten Texte prägen, aus denen die Journalistinnen und Journalisten ihren Stoff beziehen. Und zudem haben diese sich im Verlauf ihres Studiums oft selbst angewöhnt, kompliziert zu formulieren. Wenn dem so ist, besteht die Gefahr, dass man den Sprachstil der Quellen unkritisch übernimmt und eigene wie fremde Texte zu wenig hinterfragt. Dagegen lässt sich etwas tun: Man zergliedert grundsätzlich alle umständlichen Sätze in mehrere Teile. Dieses Portionieren macht sie besser überblickbar. Das ist ein nützliches Hilfsmittel am Anfang des Textens und bei jedem Durchlesen und Überarbeiten des Geschriebenen.

Portionieren als Hilfsmittel beim Texten

Kleinere Portionen sind mundgerechter. Das Portionieren hilft gerade beim textbasierten Schreiben, die Sprache fremder Texte zu überprüfen. Bevor man umfangreiche Sprachbrocken übernimmt, probiert man aus, wie der gleiche Inhalt portioniert schmeckt. Und plötzlich erweist sich vieles als überflüssig, anderes als unverständlich oder verschleiernd formuliert.

Die Lokalzeitung berichtet über den örtlichen Friedhof. Er sieht anders aus als noch vor zehn Jahren. Die Zahl der Gräber, die von Privatleuten betreut werden, geht zurück. Es gibt mehr offene Grünflächen als früher. Der Einstiegssatz des Artikels lautet so:

Veränderte Bestattungsgewohnheiten und der permanente Rückgang der Görlitzer Bevölkerung haben auf dem Friedhof der Neißestadt zur Umgestaltung geführt. (SÄCHSISCHE ZEITUNG, 26.9.2000)

Dieser Satz mag in seiner ganzen amtssprachlichen Pracht überzeugend klingen. Wenn man ihn aber in einzelne kleinere Portionen aufteilt, wird rasch deutlich, dass er nicht nur umständlich sondern auch falsch ist:

Die Bestattungsgewohnheiten haben sich verändert. Die Görlitzer Bevölkerung geht permanent zurück. Das hat dazu geführt, dass …

[20]Wozu hat es geführt? Dass der Friedhof umgestaltet wurde? – Nein. Zwar sieht der Görlitzer Friedhof heute anders aus als vor Jahren, parkähnlicher, wie aus dem Text zu erfahren ist. Er hat sich aber allmählich verändert. Das ist nicht dasselbe wie eine bewusste Umgestaltung des Friedhofs. Korrekt wäre also etwa: Das hat dazu geführt, dass sich das Bild des Friedhofs allmählich verändert hat.

Wenn die Autorin ihren Gedankengang auf diese Weise portioniert, bekommt sie selbst einen besseren Überblick über ihre Informationen. Und sie vermeidet allzu grobe sprachliche Schnitzer. Selbstverständlich braucht sie es im endgültigen Text nicht bei diesem Kurzsatz-Stil bewenden zu lassen. Aber als Rohfassung hilft er, die ersten Schritte zu bewältigen.

Das Verfahren des Portionierens kann überall dort Anwendung finden, wo man ein Unbehagen spürt und nicht weiß, worauf es zurückzuführen ist. In einfache Sätze umgeformt, wird der Inhalt klarer, und die Gründe für die Verständnisschwierigkeiten treten zutage.

Portionieren bringt Wiederholung. Wer eine Folge von mehreren einfachen Sätzen produziert, macht automatisch auch einige Angaben mehrmals. Der Text wird redundanter. (Redundanz ist ein Begriff für den Gehalt an scheinbar Überflüssigem im Text. Ein redundanter Text ist weniger dicht, die Informationen sind besser auf mehr Sätze verteilt.) Diese Wiederholungen vereinfachen den Text; sie erleichtern das Verstehen. Portionieren kann auch einen erzählerischen Stil fördern – wenn der Text dann mehr Sätze und damit mehr Verben enthält.

Guter Stil: mehr als kurze Sätze

Portionieren ist ein Weg, nicht ein Stil-Ideal. Wenn der Endtext nur aus kurzen Hauptsätzen besteht, kann er langweilig sein. Oft ist er vor allem weniger differenziert als ein Text, in dem verschiedenste Satzbautypen vorkommen. Dies zeigt das folgende Beispiel mit gesprochener Sprache.

Der Journalist und Islamwissenschaftler Reinhard Baumgarten antwortet auf die Frage nach dem Sinn des Kopftuchs. Er ist in eine Talkshow eingeladen und formuliert spontan. Die Haupt- und Nebensätze sind unterschiedlich lang. Sie sind aber einfach strukturiert, fügen sich linear aneinander:

Also über den Sinn des Kopftuchs kann man natürlich viel sagen. Aber es gibt Begründungen im Koran. Und zwar sollten die Frauen des Propheten ihr Haupt verhüllen. Und da streiten sich dann wirklich die Gelehrten, ob das jetzt so gemeint ist, um sich kenntlich zu machen als die Frauen des Propheten oder um [21]deutlich zu machen, dass sie schamhafte Frauen sind. Denn es gibt im Koran die so genannte asbab an-nuzul, die »Gründe der Herabsendung«, warum bestimmte Verse herabgesandt wurden, und in diesem speziellen Fall des Kopftuchs war es so, dass die Frauen des Propheten angepöbelt wurden von Männern. Also der Grund fürs Kopftuch war auch damals schon das Fehlverhalten von Männern. Aber wie gesagt, da gehen dann die Meinungen auseinander. (SWR 1, 17.11.2010)

Der Sprecher portioniert, und zudem wiederholt er einzelne Ausdrücke. Beim freien Formulieren sucht man unwillkürlich einen Sprachstil, der einem selbst hilft, seine Gedanken geordnet zu präsentieren und der den Zuhörern hilft, zu verstehen.

Zum gleichen Thema äußert sich ein Text, der zum Lesen gedacht ist. Er besteht aus viel längeren und komplexer aufgebauten Sätzen:

Es ist heute augenscheinlich, dass die Mehrheit der jungen kopftuchtragenden Frauen dies nicht etwa tut, weil sie einer bestimmten Parteiung angehören wollen. Für viele europäische muslimische Frauen ist das »Problem Kopftuch« eher ein Symbol für eine verdrängte Debatte um die Rolle der Frau und der Sexualität in der europäischen Gesellschaft. Das Kopftuch wird für diese Frauen zum Ausdruck der Selbstbestimmtheit der muslimischen Frau, die ihren Körper verhüllt, weil er ihr, nicht aber der Gesellschaft gehört. Hierher gehört wohl auch, dass viele Belehrungen über das Kopftuch von biederen Männern stammten, zu deren Selbstdefinition gehört, wie eine Frau eben für sie auszusehen hat. (ISLAMISCHE ZEITUNG, 26.11.2010)

In vielen mündlichen Situationen ist das Portionieren eine gute Hilfe, um den Stress zu mindern. Dennoch kann die Forderung nach lauter Hauptsätzen keine Stilregel sein. Sie schränkt, stur angewendet, die Aussagefähigkeit ein. Im Extremfall führt sie zu einer Folge kurzer Hauptsätze, bei denen nicht mehr klar ist, wie sie untereinander verknüpft sind.

Im Printbereich findet man eine stark portionierte Sprache, wenn es darum geht, einfach zu erzählen. Im folgenden Text (Titel: Kopftuchverbot: Diese junge Türkin ist dagegen …) wird genau dies geleistet:

Amina Sleiman (18) ist bildhübsch. Mit zwölf Jahren nahm sie zum ersten Mal ein Kopftuch, trägt es seitdem, sobald sie aus dem Haus geht. In BILD sagt die in Berlin lebende Türkin, warum sie gegen ein Verbot ist.

»Ich habe mich vor sechs Jahren dafür entschieden, weil viele aus meiner Familie Kopftuch tragen. Ich wollte dazugehören«, sagt Amina. Ihre Mitschüler an der Hermann-von-Helmholtz-Gesamtschule (im Hauptstadt-Bezirk Neukölln) reagierten tolerant.

[22]»Aber meine Lehrer wollten ständig wissen, ob meine Eltern mich dazu gezwungen haben.«

Heute macht Amina eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Das Kopftuch trägt sie inzwischen aus Überzeugung. »Ich möchte zeigen, nach welcher Religion ich lebe.«

Dass Schulen in der Türkei Kopftücher nicht zulassen, versteht die Neuköllnerin nicht. Auch ein Verbot in Deutschland fände sie ungerecht: »Schließlich dürfen ja auch alle ein Kreuz um den Hals tragen.« (BILD.DE, 12.12.2009)

Dieser Text ist gekennzeichnet durch kurze Sätze und eine einfache, chronologische Struktur. Kompliziertere Begründungen, differenziertere Argumente wären nicht unmöglich, bräuchten aber viel mehr Platz, Wiederholungen und anspruchsvollere Konjunktionen.

Einfache, kurze Sätze sind in einigen wenigen Textformen besser als längere, verschränkte Sätze. Dies gilt immer dann, wenn rasche Orientierung notwendig ist, wie etwa bei Leads in Tageszeitungen.

Portionieren kann als ein Hilfsmittel trainiert werden, auf das man bei Bedarf zurückgreifen kann. Ich trainiere es in allen Stilkursen für Journalisten: Die Teilnehmer haben einen schriftlichen Text vor sich und versuchen, ihn einfach, in möglichst vielen Portionen wiederzugeben. Die Erfahrung zeigt: Je mehr journalistische Erfahrung die Teilnehmer haben, desto schwerer fällt es ihnen, einen einfachen Stil zu produzieren. Offensichtlich haben sie ganze syntaktische Muster im Kopf, Prestigeformulierungen, die mehr der Selbstdarstellung als der Informationsvermittlung dienen. Es kann ein wichtiges persönliches Ziel einer Schreiberin oder eines Schreibers sein, einfach und trotzdem seriös zu formulieren.

Übungsmöglichkeiten für das Portionieren

Portionieren will geübt sein. Als Ausgangsmaterial für Portionierübungen eignen sich komplizierte Texte aller Art, die sich einem nicht auf Anhieb erschließen. Erkenntnisreich ist es für die Übenden natürlich, wenn sie Texte aus ihrem eigenen Blatt und so Themen, die ihnen aus der eigenen Arbeit vertraut sind, als Übungsmaterial nehmen.

Man nehme etwa das folgende Beispiel. Die schweizerischen Asylbehörden haben es oft mit jungen Asylbewerbern zu tun, die keine Ausweise bei sich haben. Die Behördenvertreter meinen, dass viele von ihnen ein zu niedriges Alter angeben, um ihre Chancen, nicht ausgewiesen zu werden, zu verbessern. So hat man zur erstaunlichen Lösung gegriffen, die jungen [23]Leute mit Röntgenstrahlen zu untersuchen, um den Wachstumsstand der Knochen herauszufinden. Der Artikel berichtet jetzt, dass die Kontrollinstanz (die Asylrekurskommission) dieses Verfahren missbilligt hat (übrigens aus rein wissenschaftlichen Gründen). Der Einstiegssatz lautet so:

Die Asylrekurskommission hat die Beschwerde eines Asylsuchenden gutgeheißen, dem seine Angabe, noch unmündig zu sein, auf Grund einer Röntgenaufnahme der Handknochen als Täuschung über die Identität zur Last gelegt worden war. (NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, 28.9.2000)

Extrem portioniert und chronologisch angeordnet, lauten diese Informationen so:

Ein Asylsuchender gab an, er sei noch unmündig.

Da röntgte man seine Hand.

Auf Grund der Röntgenaufnahme erachtete man seine Angabe als falsch.

Man nahm an, er habe vortäuschen wollen, dass er jünger sei.

Dies legte man ihm zur Last.

Der Asylsuchende legte Beschwerde ein.

Die Asylrekurskommission hieß seine Beschwerde gut.

Beim Portionieren wird klar, warum der Text merkwürdig wirkt. Die kurzen Sätze lassen Fehlerhaftes und Unlogisches schnell erkennen.

Da ist einmal eine sprachliche Unsauberkeit: Mit Identität ist eigentlich das Alter des Asylsuchenden gemeint. Es fehlen aber auch wesentliche Informationen. Bezeichnenderweise sind es Angaben zu den handelnden Personen. Was man dem Asylsuchenden angetan hat (eine Handlung, die auch im Widerspruch zum Asylgesetz steht), wird zu einem abstrakten Vorgang: Der Ausdruck auf Grund einer Röntgenaufnahme sagt nicht aus, wer den Mann röntgen ließ.

Eine derartige Analyse von Sätzen schafft eine neue Basis für einen gründlich überarbeiteten Text. Er wird einen neuen Aufbau haben und informativere Sätze enthalten.

Die Übung zeigt allerdings auch, dass ein Neuformulieren oft eine Nachrecherche verlangt. Wenn etwa in einem Passivsatz das Subjekt fehlt (Der Passant wurde niedergeschlagen), kann es erst eingesetzt werden, wenn man sich sachkundig gemacht hat (Der Passant wurde von einem Linksextremen/von einem Rechtsextremen/von einem Bankräuber niedergeschlagen).

[24]Reihum erzählen als spielerische Übung

Wenn mehrere Leute miteinander Portionieren üben, können sie eine Stufe weitergehen. Sie lesen einen einfachen Text – irgendeine vermischte Meldung – und erzählen ihn dann gemeinsam nach. Welche Herausforderung darin liegt, kann das folgende Beispiel illustrieren:

Erfolg für die Sicherheitsbehörden in den USA: Sie haben einen Anschlag während der traditionellen Weihnachtsbaumzeremonie im Bundesstaat Oregon vereitelt. Während der feierlichen Beleuchtung des Weihnachtsbaums in Portland habe ein Mann versucht, einen mit Sprengstoff beladenen Transporter in die Luft zu sprengen, teilte das Justizministerium an diesem Samstag mit.

Es habe sich dabei jedoch um eine Attrappe gehandelt, die von den Sicherheitskräften präpariert worden war. Verdeckte Ermittler hatten den Teenager bereits seit längerem beobachtet. Der mutmaßliche Attentäter war am Freitagabend mit seinem Lieferwagen in die Nähe der geplanten Feier gefahren, wo eine Viertelstunde später zum ersten Mal die Lichter am Weihnachtsbaum angezündet werden sollten.

Kurz darauf sei der Teenager festgenommen worden. Wie das Justizministerium und die Bundespolizei mitteilten, stammt der 19-Jährige aus Somalia, besitzt aber die US-Staatsbürgerschaft. Sein Name wurde als Mohamed Osman M. angegeben. Er sei bereits seit August 2009 im Visier der Fahnder gewesen.

Laut dem örtlichen FBI-Vertreter Arthur Balizan war die Bedrohung sehr ernst: M. sei zu einem großangelegten Anschlag »fest entschlossen gewesen«. FBI und örtliche Polizei hätten jedoch sichergestellt, dass die Öffentlichkeit zu keiner Zeit in Gefahr gewesen sei. (AFP, 27.11.2010)

Die Übung geht reihum. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer spricht nur einen Satz. Man darf sich dabei ohne Weiteres an der Textvorlage orientieren. Aber der eigene Satz muss kurz sein. Am besten einigt man sich darauf, dass er nicht mehr als acht Wörter enthalten darf (was nicht allzu kleinlich kontrolliert werden soll). Die Geschichte entwickelt sich auf diese Weise langsam, vor allem, weil noch eine Auflage zu erfüllen ist: In jeden eigenen Satz muss ein Wort eingebaut werden, das aus dem vorangegangenen Satz stammt.

Auf diese Weise entsteht eine Erzählung, nicht unbedingt ein journalistischer Text. Für Menschen, die gewohnt sind, textbasiert zu arbeiten, ist die Aufgabe dennoch oft schwierig – gerade weil sie die Fakten in einer beliebigen Reihenfolge präsentieren dürfen.

[25]Diese Übung weckt bei den Teilnehmern nur ganz langsam die Lust am Formulieren. Sie müssen sich zuerst von den Zwängen des nachrichtenmäßigen Textaufbaus lösen. Auch danach verlieren sie erst allmählich die Tendenz, komplexe (und für die Übung zu lange) Sätze anzusteuern, also Sätze, die so anfangen: Während der feierlichen Beleuchtung des Weihnachtsbaums …

Mit der Zeit merken sie, dass sie es sich und auch den anderen Gruppenmitgliedern leichter machen, wenn sie möglichst kurze Sätze formulieren. Am einfachsten geht es schließlich, wenn sie sich nur auf das zu wiederholende Wort konzentrieren und weniger auf den Inhalt. Sie formulieren etwa so:

Im Bundesstaat Oregon liegt die Stadt Portland. In Portland findet jährlich eine besondere Feier statt. Bei dieser Feier wird ein Weihnachtsbaum beleuchtet …

Es entsteht dann ein sehr redundanter Text, und was zuerst Pflicht war – die Wiederholung eines Wortes –, wird jetzt zur Erleichterung: Während man das Wort (etwas bereits Bekanntes) wiederholt, lässt sich bereits der Rest des Satzes planen. Man kann diesen Umstand übrigens auch im Alltag nutzen: Wer unter Druck spontan formulieren muss, schafft sich so Zeit, ohne ins Stocken zu geraten.

Wiederbeleben: Aus Komprimierungen werden Sätze

In vielen Sätzen verbergen sich mehrere andere Sätze. Die deutsche Sprache hat bestimmte Techniken entwickelt, um einen ganzen Satz zu einem Satzglied zu komprimieren. Dann lässt er sich in einen anderen Satz einbauen. Dies ist eigentlich ganz praktisch. Man bringt so auf wenig Raum mehr Information unter. Der Text wird dadurch aber auch unanschaulich und oft schwer verständlich. Deshalb müssen für einen attraktiven journalistischen Stil solche Komprimierungen erkannt und rückgängig gemacht werden.

Zuerst soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie das Komprimieren funktioniert. Dies ist der Sachverhalt:

Die Pilotenvereinigung Cockpit hat zu einem Streik aufgerufen.

Sie hat dies vorher nicht angekündigt.

Die Fluggesellschaft Germania hat heute dennoch alle Flüge planmäßig durchgeführt.

Wer all dies unbedingt in einem Satz sagen will, kann zwei Verfahren des Komprimierens nutzen.

[26]Das erste ist die Substantivierung: Aus dem Verb aufrufen wird das Substantiv Aufruf. Und weil zum Streik aufgerufen wurde, ist es ein Streikaufruf.

Das zweite Verfahren ist die Partizipkonstruktion: Aus dem Verb ankündigen wird das Partizip angekündigt. Und weil es sich um etwas dreht, das nicht angekündigt wurde, wird daraus unangekündigt.

Damit ist es gelungen, zwei Dinge, für die ursprünglich finite Verben verwendet wurden, mit anderen Wortarten auszudrücken. Damit brauchen sie nicht mehr einen eigenen Satz, sondern lassen sich beide in den dritten Satz einbauen. Und so lautete denn auch die ursprüngliche Meldung:

Die Berliner Fluggesellschaft hat trotz des unangekündigten Streikaufrufs der Vereinigung Cockpit (VC) am heutigen Mittwoch alle Flüge planmäßig durchgeführt. (DMM, 8.12.2010)

Man erkennt sofort den Vorteil eines Stils, der Komprimierungen bevorzugt: Die Informationen sind kompakt gefasst, es lässt sich sehr viel in einen einzigen Satz packen. Die Nachteile werden aber ebenfalls schnell deutlich: Die Sätze werden meistens schwerer verständlich und die Täter fallen heraus.

Die Verständlichkeit ist nicht immer erschwert. Viele Komprimierungen sind so geläufig, dass mit ihnen tatsächlich Zeit und Platz gespart werden kann. Dazu gehört z.B. das Partizip bewaffnet im Satz:

Ein mit einer Pistole bewaffneter Mann betrat den Supermarkt.

Beim obigen Streiktext ist dagegen die Komprimierung nicht ohne: Gibt es eigentlich unangekündigte Streikaufrufe? Oder nur unangekündigte Streiks? Hier zeigt sich zumindest, dass einen das Auflösen von Komprimierungen zum Nachdenken, unter Umständen sogar zum Nachrecherchieren bringen kann. Zweifel an der Lesbarkeit von Sätzen sollten aufkeimen, wenn Wortfolgen entstehen wie:

der mit den durch die in der die im Verhältnis über den über den

Die dazugehörigen Sätze lauten folgendermaßen:

[27]1878–82 wurde der große Erweiterungsbau der Universitätsbibliothek errichtet, der mit den durch die Bibliothek im Netz des preußischen Bibliothekswesens neu hinzu gekommenen Aufgaben, wie der Fernleihe, erforderlich geworden war. (WIKIPEDIA, ARTIKEL »GEORG-AUGUST-UNIVERSITÄT GÖTTINGEN«)

Dieses Beispiel zeigt, dass Komprimierungen verschachtelte Konstruktionen ermöglichen. In diesem Satz gehören die folgenden Teile zusammen:

(der Erweiterungsbau,) der erforderlich geworden war

mit den neu hinzu gekommenen Aufgaben

durch die Bibliothek im Netz des preußischen Bibliothekswesens

Die Wortfolge in der die im Verhältnis stammt aus dem folgenden Volleyball-Satz:

Für Gesprächsstoff nach der Partie, in der die im Verhältnis deutlich besser besetzten Hanseatinnen einen 1:2-Satzrückstand noch umdrehten, sorgte der allerletzte Ball. (ECHO-MUENSTER.DE, 22.2.2010)

In diesem Satz ist nicht die Komprimierung selbst, besetzt, das Problem. Aber sie erlaubt einen sehr langen eingeschobenen Nebensatz und unterbricht die eher einfache Aussage: Für Gesprächsstoff sorgte der allerletzte Ball. Damit sind zwei Dinge, die nacheinander geschahen, in einer einzigen Satzkonstruktion verschränkt.

Natürlich darf in einer solchen Sammlung ein juristischer Text nicht fehlen. Wer in einem Internet-Suchprogramm die Wortfolge über den über den eingibt, erhält über hundert Treffer. Die meisten entpuppen sich als Tippfehler. Aber der folgende ist nicht nur beabsichtigt, sondern auch grammatikalisch korrekt:

Und so lange über den über den gesetzlichen Anspruch hinaus gehenden Urlaub keine entsprechenden Vereinbarungen getroffen wurden, ist dieser wie gesetzlicher Urlaub zu behandeln. (JURAFORUM.DE, 27.1.2010)

Auch solche Sätze könnte man portionieren und damit lesbarer machen. Eine einfache Faustregel für diese und ähnliche Beispiele besagt, dass eine Massierung von Präpositionen die Verständlichkeit generell erschwert.

Der zweite Nachteil des Komprimierens ist, dass ein journalistisches »W« wegfällt, die Beantwortung der Frage »Wer?«. Nur das »Was?« bleibt. [28]Damit fehlt das, was einen Satz mit aktivem Verb attraktiv macht. Wer aus dem Verb ankündigen ein Partizip, aus dem Verb aufrufen ein Substantiv macht, muss den Menschen oder die Organisation, die dies tut, nicht mehr nennen. Er kann sagen: trotz des unangekündigten Streikaufrufs – und basta.

Oft wird auf diese Weise die Ursache einer Handlung verharmlost. Im Satz

Durch den Einsatz von Wasserwerfern wurden Demonstranten verletzt.

braucht nicht gesagt zu werden, wer die Wasserwerfer eingesetzt hat. Wenn die Substantivierung Einsatz aufgelöst wird, wird es zum aktiven Verb, und das Subjekt (hier z.B.: die Polizei) muss genannt werden.

In vielen Fällen ist nicht eruierbar, wer für eine Sache verantwortlich ist. Dann ist ein präzises Subjekt nicht möglich. Dennoch lohnt es sich, mit einem aktiven Satz anzudeuten, dass es sich um eine absichtsvolle Tat handeln kann.

Wenn z.B. drei Zentner Stichlinge, Elritzen, Döbel und Bachforellen tot im Alfbach von Mehren nach Gillenfeld treiben, lässt sich nicht auf Anhieb sagen, wer dafür verantwortlich ist, auch wenn die Ermittlungen zeigen, dass jemand illegal Gift in den Bach geleitet hat. Das lässt sich natürlich nicht präziser ausdrücken als so:

Ersten Vermutungen zufolge haben Unbekannte giftige Flüssigkeiten in den Altbach geleitet.

Aber dies ist immerhin ein aktiver Satz. Es ist eine Sprache, die mit der Möglichkeit rechnet, dass jemand etwas getan hat und dafür auch zur Verantwortung gezogen werden soll. Das ist ein gewisser Unterschied zur Routineformulierung, wie sie in Polizeiberichten und in der Lokalpresse üblich ist:

Ersten Vermutungen zufolge handelte es sich bei dem rätselhaften Fischsterben um eine illegale Einleitung von giftigen Flüssigkeiten. (EIFELZEITUNG, 37/1999)

Aus dem aktiven Satz Jemand hat illegal giftige Flüssigkeiten in den Alfbach geleitet wurde hier der komprimierte, unpersönliche Ausdruck: eine illegale Einleitung von giftigen Flüssigkeiten.

Und wie häufig in solchen Fällen ist auch eine inhaltlich unsaubere Behauptung entstanden:

[29]Beim Fischsterben handelt es sich um eine illegale Einleitung.

Je komprimierter, amtssprachlicher der Stil, desto weniger fallen einem beim Schreiben und Redigieren derartige Merkwürdigkeiten auf. Auch der Schlusssatz aus dem zitierten Text ist, genau genommen, unsinnig:

Nach Rücksprache mit den Bachpächtern ist der Alfbach zwischen Mehren und Gillenfeld für die nächsten drei bis vier Jahre biologisch tot.

Da hat jemand (der Bach selbst?) mit den Pächtern am Bach Rücksprache genommen und danach war der Bach tot. Hier handelt es sich um eine falsche zeitliche Verwendung der Präposition nach. Gemeint ist eigentlich die vergleichende Verwendung in der Bedeutung »entsprechend« wie in den Ausdrücken nach Angabe oder nach Auskunft.

Auch hier zeigt sich: Ereignisse, die Menschen und ihre Umwelt betreffen, werden oft mit Hilfe von Komprimierungen zu bürokratischen Vorgängen reduziert.

Solche Sätze entstehen in Nachrichtentexten besonders dann, wenn eine Information »fortgeschrieben« werden muss. In der ersten Meldung heißt es in solchen Fällen noch:

Rechtsextreme verübten einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim.

In späteren Meldungen wird komprimiert: Der am Samstag verübte Anschlag auf ein Asylbewerberheim. Damit werden die Täter nicht mehr erwähnt.

Komprimierungen haben sicher ihr Gutes, weil sie dafür genutzt werden können, sehr schnell eine Vorgeschichte zusammenzufassen. Aber es geht auf Kosten der Anschaulichkeit und oft auch der Solidarität mit den Betroffenen.

Komprimierte Ausdrücke sind typisch für administrative Texte, für die Sprache der Verwaltungen und Bürokratien. Wer es aber zu seiner journalistischen Aufgabe macht, die Menschen in die Texte zurückzuholen, wird auch versuchen, den Stil wieder menschlich zu gestalten.

[30]1.2 Wie journalistische Sprache interpretiert

Journalistische Medien können Ereignisse nicht völlig neutral melden. Sie müssen sich immer für eine Interpretation entscheiden. Diese entsteht durch eine Kombination von Faktoren. Dazu gehören die Nachrichtenauswahl, die Formulierung der einzelnen Informationen und natürlich die Kombination von Nachrichten- und Kommentartexten.

Anfang Oktober 2000 lief in Izmir ein Schiff aus, das mehrere hundert Flüchtlinge aus Kurdistan, Pakistan und Palästina an Bord hatte. Weil es stürmte, dauerte die Fahrt länger als geplant. Nach tagelanger Fahrt versagten die Motoren des Schiffs. Die Besatzung machte sich davon. Die Flüchtlinge trieben etwa zwölf Stunden auf offener See, bis das Schiff von der italienischen Marine aufgegriffen und in den Hafen von Otranto gelotst wurde.

Die Nachricht, von unterschiedlichen Agenturen und Korrespondenten aufbereitet, kam am 12. Oktober 2000 mit einer Vielfalt von Überschriften in die Zeitungen:

461 »Illegale« an Bord (NEUE LUZERNER ZEITUNG)

Flüchtlinge ausgesetzt (DER LANDBOTE)

600 Menschen auf stürmischer See ihrem Schicksal überlassen (AARGAUER ZEITUNG)

Flüchtlingsschiff in Italien gelandet (LIECHTENSTEINER VOLKSBLATT) 

400 Kurden nach Italien gebracht (KÖLNISCHE RUNDSCHAU)

Italienische Marine rettet Flüchtlinge (BERLINER ZEITUNG)

Odyssee zu Ende (DIE SÜDOSTSCHWEIZ)

Jede dieser Überschriften ist wahr (wenn man einmal von der erstaunlichen Divergenz in den Zahlenangaben absieht). Aber die Frage, worin die Nachricht besteht, wird in jeder einzelnen anders beantwortet. Ein einzelner Fakt aus der Ereigniskette wird herausgegriffen. Damit ist (wenigstens auf der Ebene der Überschrift) ein Spektrum von Interpretationsmodellen abgedeckt, das von Missbrauch von Menschen in Not bis zur geglückten Rettungsaktion reicht. Damit werden jeweils die einen Akteure ins Zentrum gerückt (z.B. die Marine) und die anderen verschwiegen (z.B. die Schlepper). Es sei auch vermerkt, dass einzelne Lösungen völlig am Ereignis vorbeigehen. Die Information beispielsweise, dass ein Flüchtlingsschiff in Italien gelandet ist, kann nur jemand in den Titel setzen, der die Vorgeschichte nicht zur Kenntnis genommen hat. Es war bereits das [31]18. Flüchtlingsschiff, das nach offizieller Zählung in jenem Jahr bis nach Italien durchgekommen war. Damit war nur schon die Regel, dass die Nachricht das Neue nennt, verletzt.

Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig für die journalistische Interpretationsleistung die Auswahl und Gewichtung von Fakten ist. In den folgenden Abschnitten wird der Schwerpunkt auf weiteren Aspekten liegen, die direkt mit der Wahl der sprachlichen Mittel zusammenhängen. Dennoch sollte in Erinnerung bleiben, dass die Grenze zu anderen interpretierenden Mitteln offen bleibt.