Das Hörbuch - Jürg Häusermann - E-Book

Das Hörbuch E-Book

Jürg Häusermann

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Beschreibung

Die Autoren analysieren das Phänomen Hörbuch. Sie gehen auf Produktion und Rezeption von Hörbüchern sowie auf historische Aspekte des Mediums ein. Sie stellen Kriterien zur Analyse vor und zeigen, wie Das Hörbuch Texte medial umSetzt und wie dabei eigenständige Formen entstehen. Sie greifen die aktuelle Diskussion über eine Renaissance des Hörens auf, die oft nur als Wiederaufnahme mündlicher Literaturtraditionen gewertet wird. Anhand von Beispielen mündlichen Erzählens von der Antike bis heute zeigen sie die Vielstimmigkeit des akustischen Mediums. Das Buch enthält eine Fülle unterschiedlichster Beispiele. Neben dem Gängigen werden spezielle Formate sowie kleine und weniger bekannte Verlage einbezogen. Es wendet sich an Medien-, Buch- und Literaturwissenschaftler und alle, die das Thema Hörbuch aufhorchen lässt.

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Inhalt

Vorwort

Jürg Häusermann:

Das Medium Hörbuch

Was ist ein Hörbuch?

1.1 Das große Angebot

1.2 Das Hörbuch als Text

1.3 Medium Hörbuch?

1.4 Hauptmerkmale der Hörbuchkommunikation

1.5 Hörbuch und Buch

Hörbuch und Öffentlichkeit

2.1 Die Tradition der öffentlichen Lesung

2.2 Publikum und Interpret bei der Lesung

2.3 Die Lesung in Rundfunk und Hörbuch

2.4 Ein öffentliches Medium – privat genutzt

2.5 Das Hörbuch als Aufführung

2.6 Das Hörbuch als Dokument

Produzenten und Hörer

3.1 Die Verlage

3.2 Ein boomender Markt?

3.3 Das Publikum

3.4 Eine neue Art des Lesens?

Sandra Rühr:

Geschichte und Materialität des Hörbuchs

Hörbuch: Annäherungen an einen Begriff

Wegbereiter: Die Vorläufer des Hörbuchs und der Hörfunk

2.1 Konservierung des Vergänglichen: Erste Überlegungen

2.2 Anfänge von Tondokumenten und Hörfunk: Ein Vergleich

Die Materialität des Hörbuchs: Ausdruck und Potential

3.1 Marktteilnehmer

3.2 Das »Buch zum Hören«?

3.3 Quo vadis, Hörbuch?

Kein Kind des Rundfunks und mehr als ein »Buch zum Hören«

Jürg Häusermann:

Zur inhaltlichen Analyse von Hörbüchern

Ziele der inhaltlichen Analyse

Vom Ausgangstext zum Hörbuch: Medialität und Wortlaut

2.1 Der Ausgangspunkt: Ein Text

2.2 Der Leser wird zum Hörer

2.3 Das Hörbuch als Spiel mit den Medien

Wahl der Gattung

3.1 Erzähltexte, akustisch umgesetzt

3.2 Erzählungen werden dramatisiert

3.3 Dramen werden erzählt

3.4 Lyrik bleibt Lyrik

3.5 Hörbuch: Ein dehnbarer Begriff

Textbearbeitung: Theorie und Praxis des Kürzens

4.1 Die Handlung als Leitfaden

4.2 Die Argumentation als Opfer des Kürzens

4.3 »Vollständige« Lesungen

4.4 Kürzen als Dialog mit dem Hörer

Die sprecherische Gestaltung

5.1 Distanz und Nähe

5.2 Ist Sprechen immer persönlich?

5.3 Produzierendes und reproduzierendes Sprechen

5.4 Kategorien der sprecherischen Analyse

Hörbuch als Produkt der sprecherischen Umsetzung

6.1 Profis und Laien sprechen Sachtexte

6.2 Distanz und Nähe in autobiographischen Texten

6.3 Literarisches Erzählen im Hörbuch

6.4 Der Sprecher zwischen Autor und Erzähler

6.5 Lyrik im Hörbuch

Weitere Gestaltungsmittel: Der Erzähler in Zeit und Raum

7.1 Der Raum als Ambiance

7.2 Der Raum als Hauptperson

7.3 Im Dialog mit dem Raum

7.4 Der unaufdringliche Raum: das Studio

7.5 Der Raum des Publikums

7.6 Die Absenz eines Raums: Das totale Schallspiel

7.7 Die zeitliche Gestaltung

Rückblick: Die Interpretationsleistung des Hörbuchs

Korinna Janz-Peschke:

Hörbuch und Mündlichkeit

Mündlichkeit ist, was im Hörbuch »durchklingt«

1.1 Mündlichkeit und Akustik als Merkmale des Hörbuchs

1.2 Renaissance des (Zu-)Hörens und Erzählens

1.3 Rückbezug des Hörbuchs auf mündliche Traditionen

1.4 Fragen und Hypothesen: Mündliche Texte im Hörbuch

1.5 Forschungshintergrund: Mündlichkeit, Hören/Zuhören und Stimme

1.6 Dimensionen der Mündlichkeit

Kategorien mündlicher Texte und ihr Vorkommen im Hörbuch

2.1 Textdefinition in Bezug auf das Hörbuch

2.2 Der mündlich tradierte Text im Hörbuch

2.3 Der mündlich ausgerichtete Text im Hörbuch

2.4 Der Einfluss umgebender Redekulturen im Hörbuchtext

2.5 Literarisch fingierte Mündlichkeit im Hörbuch

2.6 Konzeptionell mündliche Texte im Hörbuch

2.7 Frei formulierte Rede als Hörbuchtext

Hörbuchanalysen unter dem Aspekt der Mündlichkeit

3.1 Hörbuch

Odyssee

und die Kultur der mündlichen Dichtung

3.2 Fingierte Mündlichkeit in Literatur und Hörbuch

3.3 Frei formulierte Rede wird zu akustischer Literatur

Mündliches im Hörbuch: Rückbindung und Potential

4.1 Sprachskeptische Aussagen in mündlicher Performanz

4.2 Kohärente Strukturen in frei formulierter Rede

4.3 Potential für Hörbuchproduktionen und Kriterium der Analyse

4.4 Re-Integration kultureller Inhalte und Beitrag zur mündlichen Szene

Literatur

Anmerkungen zur Zitierweise

Hörbücher

Primärliteratur

Forschungsliteratur

Namensregister

Sachregister

Vorwort

Mitten in einer Zeit der optischen Reizüberflutung sind akustische Medien erstaunlich populär. Vom MP3-Player über den CD-Player im Auto bis zum Mobiltelefon zeugen unzählige Gerätetypen vom Interesse, sich mit Hörangeboten unterhalten oder informieren zu lassen – auf dem Arbeitsweg, bei Hausarbeiten, beim Sport usw.

Die Entwicklung mobiler Abspielgeräte hat die Möglichkeiten, Hörbücher zu hören, vervielfacht. Was noch vor kurzem undenkbar schien, ist jetzt selbstverständlich: lange Texte in gesprochener Form günstig zu erwerben und sie überallhin mitzunehmen.

In diesem Buch wollen wir einen möglichst umfassenden Einstieg in die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Hörbuch bieten. Wir beginnen bei der umstrittenen Frage nach der Definition des Begriffs und behandeln Entstehung, Verbreitung und Rezeption des Hörbuchs als Teil der öffentlichen Kommunikation (Teil 1). Wir gehen dann auf die Vorläufer des Hörbuchs und Bezüge zum Hörfunk ein. Anhand von Einzelbeispielen stellen wir dar, wie unterschiedlich Verlage das Hörbuch im Vergleich zum Buch positionieren (Teil 2).

Im 3. Teil steht die medienspezifische Umsetzung von schöner Literatur und Sachtexten im Vordergrund. Ein besonderes Anliegen ist es uns, auf möglichst viele Beispiele unterschiedlichster Machart zu verweisen und neben dem Gängigen auch spezielle Formate und kleine, weniger bekannte Verlage einzubeziehen.

Den Anschluss des Hörbuchs an Traditionen der mündlichen Dichtung und Mündlichkeit als Kriterium der Analyse diskutieren wir im 4. Teil. Textvergleiche belegen vor dem Hintergrund aktueller und theoretischer Diskussionen zur Renaissance des Hörens und Erzählens die Vielstimmigkeit des Hörbuchs.

Unser Ziel ist es in allen Kapiteln, unterschiedliche Perspektiven der Analyse und Bewertung aufzuzeigen. Drei AutorInnen schreiben hier aus der Sicht ihrer jeweiligen Disziplinen. Uns eint das Interesse an den Inhalten und an den medialen Aspekten. In vielen Dingen, die wir zunächst unterschiedlich sahen, haben wir uns einander angenähert. Dennoch sind die einzelnen Kapitel mit ihrer Verfasserin oder ihrem Verfasser gekennzeichnet. Querverweise machen aber deutlich, dass wir uns einander verpflichtet fühlen und dass die einzelnen Teile sich ergänzen sollen.

Für ihre tatkräftige Unterstützung bei Recherche und Druckvorbereitung danken wir Ute Kleiber und Petra Bogenschneider ganz herzlich.

Frühjahr 2010

Jürg Häusermann, Korinna Janz-Peschke, Sandra Rühr

Jürg Häusermann

Das Medium Hörbuch

Was ist ein Hörbuch?

1.1 Das große Angebot

1.2 Das Hörbuch als Text

1.3 Medium Hörbuch?

1.4 Hauptmerkmale der Hörbuchkommunikation

1.4.1 Sprachliche Inhalte

1.4.2 Akustische Umsetzung

1.4.3 Ein bewegliches Medium

1.4.4 Einmalige Erscheinungsweise

1.4.5 Gespeicherte Texte

1.4.6 Mehr als ein Hörmedium

1.5 Hörbuch und Buch

Hörbuch und Öffentlichkeit

2.1 Die Tradition der öffentlichen Lesung

2.2 Publikum und Interpret bei der Lesung

2.3 Die Lesung in Rundfunk und Hörbuch

2.4 Ein öffentliches Medium – privat genutzt

2.5 Das Hörbuch als Aufführung

2.6 Das Hörbuch als Dokument

Produzenten und Hörer

3.1 Die Verlage

3.1.1 Autor und Buchverlag

3.1.2 Die Hörbuchverlage

3.1.3 Eigenproduktion oder Koproduktion?

3.1.4 Die Rechte

3.1.5 Das Angebot

3.1.6 Buchhandel oder Download?

3.2 Ein boomender Markt?

3.3 Das Publikum

3.3.1 Nutzung: Wer sind die Rezipienten?

3.3.2 Nutzungsweise: Wann? Wo? Wozu?

3.3.3 Der Nutzer als Produzent

3.4 Eine neue Art des Lesens?

1 Was ist ein Hörbuch?

Die Palette der Produktionen, die in den deutschsprachigen Ländern Hörbücher genannt werden, ist äußerst breit. Zwar ist der Typ Lesung die häufigste Form: Eine Sprecherin oder ein Sprecher spricht einen Prosatext (Sachliteratur oder Belletristik), und im Alltag wird mit Hörbuch oft auch nur dieser Typ gemeint.1 Aber auch das Hörspiel hat einen gewichtigen Anteil. Hinzu kommen weitere Formen und Inhalte, vom Feature über die Gedichtsammlung bis zum Sachbuch.

Ziel dieses Kapitels sind eine Begriffsklärung und ein Blick auf die wichtigsten Merkmale des Medienprodukts Hörbuch.

1.1 Das große Angebot

Ein typisches Beispiel für ein Hörbuch im engeren Sinn ist der Krimi Verblendung von Stieg Larsson.2 Die Hörbuchfassung ist eine auf ca. ein Drittel gekürzte Lesung.3 Der Sprecher, Dietmar Bär (den man auch als Sprecher der Hörbücher von Håkan Nesser und Jacques Berndorf kennt), liest auf eine leicht distanzierte Art, die die sarkastische Seite der männlichen Hauptperson anklingen lässt. Der Krimi ist Teil eines Verlagsprogramms mit vor allem unterhaltenden Texten. Darunter sind Eigenproduktionen wie auch Übernahmen aus dem Radio (David Copperfield oder der Simplicissimus in der WDR-Hörspielfassung von 1963).4

Unter der Bezeichnung Hörbuch werden aber auch Sachtexte vertont – rein informative und auch solche, die den Nutzer zu allerlei Aktivitäten auffordern.5 So gibt es etwa den akustischen Reiseführer Schloss Pillnitz und seine Gärten, den der Tourist auf seine Wanderung mitnehmen kann. Er bekommt neben historischen und architektonischen Erklärungen auch direkte Handlungsanweisungen:

»Treten Sie nun einige Schritte von der Fassade des Berg-Palais zurück, so dass Sie in der Mittelachse des Lustgartens stehen. Von hier aus gewinnen Sie einen Überblick über die Veränderungen, die Schloss und Gartenanlagen im Laufe des 18. Jahrhunderts erfuhren.«6

Architektur zum Hören und Sehen heißt der Untertitel dieses kunsthistorischen Hörführers. Der Verlag ist spezialisiert auf CDs und Bücher mit architektonischer Thematik. Schloss Pillnitz und seine Gärten wird zusammen mit einem 64 Seiten starken Buch vertrieben.

Aber mit Reiseführern und Ratgebern ist die Vielfalt der Verwendungsweisen längst nicht erschöpft. Hörbücher lehren, sie predigen, sie beten sogar für ihre Zuhörer oder überwachen die Herstellung eines mehrgängigen Menüs:

»Nachdem Sie alle Zutaten aus der Einkaufsliste besorgt und alle nötigen Küchenutensilien bereitgelegt haben, beginnen Sie gemeinsam mit Christian Henze und unserem Hobbykoch Taufig Khalil, Schritt für Schritt die Gerichte zuzubereiten. Während des Kochens bekommen Sie, wie bei einem Kochkurs, nützliche Tipps und Tricks von unserem Sterne-Koch. «7

Damit ist Hörbuch zunächst einfach ein Sammelbegriff für Produkte eines Zusatzgeschäfts im Buchhandel. Und weil dies in den letzten Jahren ein Segment mit großen Umsatzsteigerungen war, liegt es nahe, jede Audioproduktion, die nicht zum Musiksektor gehört, Hörbuch zu nennen: Eine Zeitschrift nennt die beigelegte Interview-CD Hörbuch, ebenso wie die Schulklasse ihr selbst produziertes Hörspiel oder die Universitätsklinik ihre gesprochenen Informationen zur Krebsvorsorge.8

1.2 Das Hörbuch als Text

Was ist also ein Hörbuch? – Wer nach einer praktikablen Definition sucht, muss sie entweder sehr weit fassen oder das Objekt einschränken. Nicht nur der Buchhandel hat sich für eine sehr weite Fassung entschieden.

»Für mich ist ›Hörbuch‹ der Oberbegriff für alle in den Hörverlagen erschienenen elektronischen Publikationen«, schreibt ein Diskussionsteilnehmer zum Eintrag Hörbuch bei Wikipedia. In diesem, weiten Sinne gälte jedes Audioprodukt mit hohem Wortanteil als Hörbuch.9

Sandra Rühr zitiert dazu die American Publishers' Association: »Audiobooks include any audio recording that is primarily spoken rather than music.« 10

Doch nicht einmal diese weite Formulierung kann alles erfassen, was sich (auf dem deutschsprachigen Markt) als Hörbuch präsentiert. Es gibt Produktionen, bei denen der musikalische Anteil überwiegt und die dennoch als Hörbücher verkauft werden.11 Bei vielen literarischen Produktionen verwischt sich auch die Grenze zwischen Buch und Tonträger. In der Edition Urs Engeler werden Gesamtkunstwerke hergestellt, die in ihrer Aufmachung CD und Buch gleichwertig präsentieren: Man greift nach einem Buch, in dessen Deckel eine CD eingelassen ist. Zwar fällt die CD sofort ins Auge; man kann sie herausnehmen und anhören, ohne das Buch aufzuschlagen. Dennoch wäre sie heimatlos ohne das Buch, das ihren gesamten Inhalt und mehr enthält.12 Steuertechnisch gilt das Produkt im Übrigen als Buch. In Deutschland werden 7 statt 19 % Mehrwertsteuer verrechnet.

Dies sind nur Beispiele für Grenzfälle, die eine klare Abgrenzung verunmöglichen. Dennoch ist eine Einschränkung auf das gesprochene Wort aus mehreren Gründen sinnvoll: Sie entspricht einer einheitlichen Nutzungsweise. Der Rezipient muss den Inhalt anhören und er muss (im Gegensatz etwa zu gesungenen Musikstücken) auf die Worte achten. Entsprechend wird der überragende Anteil aller Hörbücher als CDs oder Dateien verkauft; das mehr oder weniger ausführliche Booklet erfüllt dabei eindeutig ergänzende Aufgaben.

Abgeschlossene Einheiten gesprochener Sprache nennen wir (wie auch Einheiten geschriebener Sprache) Texte. Ein Hörbuch ist also ein – akustischer – Text. Dabei muss als selbstverständlich angenommen werden, dass ein akustischer Text auch Musik und Geräusche enthalten kann.13 Im Gegensatz zu Texten der Alltagskommunikation ist ein Hörbuch reproduzierbar. Dadurch, dass es auf einen Tonträger aufgenommen und zur Verbreitung gebracht wird, wird es anderen Produkten der Medienkommunikation vergleichbar. In diesem Sinne ist das Hörbuch ein auf einem Speichermedium festgehaltener akustischer Text. Wichtiger als diese sehr allgemeine Definition ist die innere Abgrenzung verschiedener Typen von Hörbüchern. Traditionell werden im literarischen Bereich Lesungen und Hörspiele unterschieden. Oft wird der Begriff Hörbuch noch auf die Lesung reduziert. »Ich habe Hörbuch immer als Gegenstück zum Hörspiel gesehen (Hörbuch: ein Sprecher – Hörspiel: verteilte Rollen)«, heißt es z.B. in der erwähnten Wikipedia-Diskussion.

Hier ist ein formaler Gesichtspunkt leitend, der den Wortlaut sehr stark beeinflusst. Lesung bedeutet dabei meistens, dass ein bereits vorliegendes geschriebenes Werk von einer oder mehreren Personen gesprochen wird. Mit Hörspiel sind meistens Inszenierungen gemeint, für die die Gattung gewechselt wird: Eine Erzählung wird zu einem Drama umgeschrieben und mit mehreren SprecherInnen und weiteren akustischen Gestaltungsmitteln realisiert. Inhaltlich gesehen wird im Alltag zudem zwischen Sachtexten und fiktionalen Texten unterschieden. Hier fallen Abgrenzungen aber sehr schwer – ähnlich wie bei der gedruckten Literatur.

In einer weiten Bedeutung des Wortes ist das Hörbuch also ein (auf bestimmte Weise produzierter und verbreiteter, in bestimmter Weise zu rezipierender) Text. Das Hörbuch im engeren Sinne ist die Lesung, das Hörbuch im weiteren Sinne schließt auch Hörspiele mit ein. Im weitesten Sinne werden, wie gesagt, sämtliche Produktionen mit vornehmlich gesprochenem Wortinhalt als Hörbücher bezeichnet.

Je nach Analyse-Interesse ist es mehr oder weniger wichtig, ob dem Hörbuch ein bereits publizierter Text zu Grunde liegt. Historisch kann darüber nicht hinweggegangen werden. Auch für Literaturwissenschaft und Literaturkritik ist die Frage des Umgangs mit bekannten Vorlagen von großem Interesse. Aus anderen Gesichtspunkten – zum Beispiel aus demjenigen der Hörspielkritik – wird er eher in den Hintergrund treten. Im Sach-Hörbuchbereich stellt sich die Frage oft überhaupt nicht, weil da Features und eigens produzierte Essays sehr präsent sind.

1.3 Medium Hörbuch?

Wir sprechen vom Hörbuch als von einem Text, nicht von einem Medium. Mit der Überschrift Medium Hörbuch soll aber darauf hingewiesen werden, dass es im Rahmen öffentlicher Kommunikation produziert, verbreitet und rezipiert wird.

1.3.1 Das Hörbuch im Medienvergleich

Die Faszination des Hörbuchs besteht in einem Schritt, den wir Medienwechsel nennen. Dem Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry kann man nicht nur im Buch, sondern auch bei Live-Lesungen auf der Bühne begegnen. Wenn aus einer solchen ein Hörbuch produziert wird, verändert sich mehr, als dass nur die optische Information wegfallen würde.

Ob damit vom Hörbuch als von einem eigenen Medium gesprochen werden soll, ist weniger wichtig, als dass es in einen völlig anderen Kontext der medialen Umsetzung und Verbreitung gehört als etwa die Live-Aufführung.

Je nachdem, wofür sich der Beobachter interessiert, bezeichnet er mit Medium ganz Unterschiedliches. So kann man z.B. von technischen Gegebenheiten (etwa von der CD) ausgehen, von Inhalten (z.B. der gesprochenen Version von Tintenherz) oder auch von Organisations- oder Verbreitungsformen (etwa das Hörbuch als Alternative zum Buch). Medium ist ein »Kompaktbegriff«14, in dem sich ganz verschiedene Konzepte spiegeln können. Im Vergleich zu den etablierten Medien der öffentlichen Kommunikation ist der Status des Hörbuchs weniger festgelegt.15 Die gesellschaftliche Klärung seiner Aufgaben und Organisationsformen hat (im Vergleich mit den klassischen Beispielen vom Flugblatt bis zum Fernsehen) erst begonnen. Das Hörbuch ist (noch) Trittbrettfahrer existierender Publikationsformen und Verbreitungswege (CD, Buch) und ist bisher vom Gesetzgeber mit nur wenigen Paragraphen bedacht worden.

Allerdings ist es damit in guter Gesellschaft. Eine scharfe Grenzziehung zwischen Einzelmedien kann auch in anderen Bereichen nicht aufrechterhalten werden. Funktionen, die von verschiedenen technischen Einrichtungen und Organisationsformen erfüllt wurden, werden heute von einem einzigen Verbreitungsapparat übernommen. Es gibt zur Zeit des Internet keine klare Abgrenzung mehr zwischen Zeitung, Radio und Fernsehen.

Ein Zeichen dieser Medienkonvergenz ist, dass Hörbotschaften längst nicht mehr exklusive Domäne des Rundfunks sind, sondern auch anderswo, z.B. im Internet, Einzug gehalten haben und die politische Regulierung nur noch für einen Teil des Radios aufrechterhalten werden kann.16 Angesichts dieser Tatsachen verweist der Begriff Medium Hörbuch darauf, dass unter der Bezeichnung Hörbuch Inhalte gespeichert und mit einem entsprechenden organisatorischen und technischen Aufwand für ein breites Publikum verbreitet werden. Das Hörbuch gehört in einen Prozess öffentlicher Kommunikation. Ähnlich wie im Fernsehen oder im Radio17 wird dabei schwerpunktmäßig ein bestimmter medialer Typ von Botschaften verwendet (nämlich eben: akustische Texte, die auf einem Speichermedium festgehalten werden).

1.3.2 Das Hörbuch in der Massenkommunikation

Hörbücher sind Phänomene der öffentlichen Kommunikation. Sie dienen der Verständigung in der Gesellschaft über Themen, die über die individuelle Sphäre hinaus relevant sind. Ähnlich wie bei der schriftlichen Kommunikation bringt die Hörbuchkommunikation Autoren und Rezipienten in Kontakt. Die Aufbereitung und Verbreitung der Inhalte wird durch mehr oder weniger komplexe Einrichtungen (Hörbuchverlage) sichergestellt, die mit anderen Einrichtungen der öffentlichen Kommunikation (Buchverlagen, Rundfunkanstalten usw.) in Verbindung stehen.

Dabei sind alle genannten Größen vielschichtiger, als es scheint. So kann meistens nicht von einem einzelnen Autor die Rede sein. Denn zum Verfasser des als Vorlage dienenden Buchs kommen Bearbeiter, oft Verfasser eines neuen Hörbuchmanuskripts, hinzu. In den allermeisten entsteht ein Produkt, bei dem mehrere Menschen und Instanzen zusammengearbeitet haben. Dies gilt natürlich schon für das Medium Buch: Jedes Buch ist auf Grund eines längeren Austauschs mit Vertretern des Verlags (Agent, Lektor, Verlagsleiter usw.) entstanden. Und auch das Hörbuch ist Produkt eines arbeitsteiligen Prozesses. Innerhalb und außerhalb des Hörbuch-Verlags sind MitarbeiterInnen an der Entstehung des Hörbuchs beteiligt: die Lektorin oder Redakteurin, die den Text bearbeitet, die Sprecherin, die ihn im Studio spricht, die Regisseurin, die Technikerin usw.

Zum Kommunikationsprozess gehört zudem die Form der Verbreitung: Der Weg zum Hörer ist erst dann beschritten, wenn Marketing-, Werbungs- und Verkaufsabteilung dafür gesorgt haben, dass das Hörbuch in der Buchhandlung (oder in einem anderen Verbreitungskanal) bereit liegt.

Das Publikum ist, wie auch sonst in der Massenkommunikation, keine einheitliche Größe. Es ist geographisch und sozial weit verstreut. Es besteht aus einzelnen Personen und Gruppen, die ihr Produkt auf unterschiedliche Weise beziehen und konsumieren. Zudem können sie dies zu unterschiedlichen Zeiten tun; der Rezeptionsprozess hört im Prinzip nie auf.

Diese genannten Aspekte hat das Hörbuch mit anderen Massenmedien gemeinsam. Die Frage stellt sich, wodurch es sich von ihnen abhebt. Im Folgenden sollen sechs wichtige Merkmale hervorgehoben werden, deren Kombination für die Hörbuchkommunikation typisch ist.

1.4 Hauptmerkmale der Hörbuchkommunikation

Im Hörbuch treffen sich Hörkunst und Buch. »Kind des Rundfunks oder Buch zum Hören?« wird Sandra Rühr weiter unten fragen. Die Nähe zum Buch ist durch den literarischen Text gegeben, an dessen Botschaft und oft auch Wortlaut das Hörbuch gebunden ist – so eng, dass diese Beziehung ihren Niederschlag sogar im Begriff gefunden hat. Es spricht aber den Hörsinn an und bedient sich akustischer Gattungen (z.B. Lesung, Hörspiel), die aus dem Radio bekannt sind und deren Formensprache im Radio stark entwickelt worden ist.

Jede Spielart der Massenkommunikation hebt sich durch eine besondere Kombination von Merkmalen in Produktion, Verbreitung und Rezeption hervor. Es lohnt sich, einige solche Merkmale näher zu betrachten, um das Medium besser zu verstehen. So ist es zum Beispiel beim traditionellen Hörfunk entscheidend, dass er in der Produktion vergleichsweise günstig ist und seine Botschaften geographische und politische Grenzen leicht überwinden. Anders wäre seine Bedeutung für die Entwicklungsarbeit in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas nicht zu erklären.18

Für das Hörbuch sollen hier die folgenden Merkmale herausgegriffen werden: Es enthält akustische, verbale Botschaften von einmaliger, mittelfristig aktueller Erscheinungsweise, die auf einem Speichermedium festgehalten sind. Im Zeitalter der Medienkonvergenz muss hinzugefügt werden, dass es kaum isolierte Hörtexte gibt, sondern diese mit visuellen Botschaften kombiniert werden.

1.4.1 Sprachliche Inhalte

Hörbücher werden als Produktionen mit einem gewissen Anteil an gesprochener Sprache verstanden. Dies ist für die Differenzierung innerhalb des akustischen Medienangebots allerdings kein sehr starkes Kriterium. Gesprochenes Wort gibt es auch in Musik-Produktionen, und die Grenze wird oft willkürlich durch Konventionen des Handels gezogen. Warum aber soll der Panther (Otto Sander spricht zu Musik von Schönherz und Fleer) als Hörbuch kategorisiert werden, während Am Rande des Abgrunds von Anarchist Academy und Winter in America von Gil Scott-Heron als Musik verkauft werden?

Gil Scott-Heron wird von vielen als einer der Vorväter heutiger Rap-Künstler angesehen. Er ist sowohl Poet als auch Musiker und trägt Gedichte vor, sehr rhythmisch und halb singend. Die Musik seiner Band fließt zwischen Jazz, Blues und Rock. Noch im Oktober 1988 klagte Gil Scott-Heron auf seiner Europatournee ironisch darüber, dass seine Platten im Laden nur schwer zu finden seien:

»People write me letters, they say: ›Gil, we cannot find your records in Switzerland.‹ I say: ›That's cool, that's just like the United States, you can't find them over there either. No problem.‹ Let me tell you what you might be able to do. You go to your record store, you go all the way to the back, to the left hand side. You look on the bottom. On the bottom they have a record box called ›Miscellaneous‹. We – unfortunately – are miscellaneous. It means: No category. Just in this box here.«19

1988 gab es für Gil Scott-Heron keine Kategorie. Unterdessen haben sich ein Rap-Diskurs, ein Hörbuch-Diskurs, ein Slam-Poetry-Diskurs und einige weitere Diskurse entwickelt. Dank dem Internet gibt es weltweite Foren auch für sehr spezialisierte künstlerische Richtungen. Ob eine Aufnahme in diesem oder jenen Zusammenhang diskutiert wird, hängt zum Teil davon ab, welcher Subkultur der Künstler angehört, zum Teil davon, welche Marketingstrategie seine Produktionsfirma verfolgt.

Mit dem Begriff Hörbuch und seiner Bindung an den Buchmarkt war eine Ausdifferenzierung der Systeme verbunden. Sprechplatten wie Gründgens' Faust wurden zunächst ausschließlich in Schallplattenläden geführt. 1958 notieren Walter Haas und Ulrich Klever: »Diese Platten für literarische Feinschmecker werden immer stärker eine Domäne des Buchhandels.«20 Den Durchbruch schaffte das Produkt aber erst mit dem neuen, bücherregalregerechten Format der CD.

Mit der unterdessen etablierten Bezeichnung Hörbuch ist der Anspruch verbunden, dass die betreffende Produktion primär in literarischen und publizistischen Diskursen aufgenommen werden soll. Es muss aber nicht bedeuten, dass sie sich von anderen Produktionen unterscheidet, die in musikalischen Zusammenhängen rezipiert werden.

1.4.2 Akustische Umsetzung

Wie im Hörfunk ist auch in der Hörbuch-Kommunikation die Botschaft akustisch. Genutzt werden daher Stimmen, Musik und andere Töne und Geräusche – alles, was akustisch wiedergegeben werden kann.

Theoretiker des Hörfunks haben sich immer in erster Linie mit der Abwesenheit optischer Information auseinandergesetzt.21 Dies kann zum einen als Mangel interpretiert werden, zum anderen als Vorzug: Sender und Empfänger müssen sich auf einen einzigen Sinn einlassen. Hauptträger der Botschaften ist zudem die menschliche Stimme – ein besonderes Medium, weil sie den menschlichen Körper als Artikulations- und Resonanzraum benötigt. Wer spricht, erzeugt Resonanz, produziert Resonanzerfahrungen.22

Das Hörbuch gibt in erster Linie Stimme wieder – und damit das Medium, das die Menschen am differenziertesten entwickelt haben, um miteinander zu kommunizieren. Wer ein Hörbuch produziert, wer ein Hörbuch hört, konzentriert sich auf Stimme. Damit verbindet sich die Vorstellung besonders aufmerksamer, feiner Wahrnehmungsfähigkeit. Die Werbung finnischer Hörbuchverlage hat dafür den entsprechenden Slogan geprägt: Mach die Augen zu und lies.23

Kommunikation, die auf weitere Sinne als den Hörsinn verzichtet, wird zudem als besonders innerlicher und intellektueller empfunden als visuelle Kommunikation. Wer über den Hörsinn kommuniziert, kann eine Sache nicht einfach zeigen, er muss sie hörbar machen und dadurch symbolisch kommunizieren. Allerdings hat gerade dies auch zu metaphysischen Überhöhungen geführt. Derrida hat dem europäischen Denken seinen Phonozentrismus vorgeworfen, der schon der menschlichen Stimme allein Sinn zuspricht und damit dem Subjekt übersteigerte Bedeutung verleiht.24

Das Ohr gilt als differenziertes Organ, und wer will, kann leicht versuchen, eine Überlegenheit des Hörsinns gegenüber dem Sehsinn zu beweisen. »Das Auge schätzt, das Ohr misst, sagt man.«25 Joachim-Ernst Berendt hat den folgenden Vergleich angestellt: Während das Auge nur ein Spektrum von einer Oktave erfasst – von Violett (380 Nanometer) bis Purpur (760 Nanometer), erfasst das Ohr ein Spektrum von ca. 10 Oktaven. Zumindest kann das Ohr beeindruckend gut Nuancen erkennen, die ihm erlauben, Tausende von Stimmen und Stimmungen zu unterscheiden.

Das Ohr differenziert

Die Probe aufs Exempel lässt sich auf dem deutschen Hörbuchmarkt leicht machen, indem man unterschiedliche Aufnahmen von ein und demselben Text miteinander vergleicht. Von der Erzählung Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff zum Beispiel gibt es etwa ein Dutzend verschiedene Versionen. Es gibt darunter Produktionen, die in der Interpretation ganz ähnlich liegen und bei denen die Sprecherinnen in Stimmlage und Stimmstärke nicht allzu weit auseinander gehen. Dennoch reicht es, jede Aufnahme kurz anzuspielen, um erkennen zu können, dass die Sprecherin gewechselt hat. Auch wenn es nicht gelingen mag, die phonetischen Merkmale korrekt zu benennen, kann man die Stimmen doch unterscheiden und ihnen auch später wieder die Namen der Sprecherinnen zuordnen.26

Und das menschliche Ohr vermag nicht nur verschiedene Stimmen zu unterscheiden, sondern es erkennt auch Nuancen in der Stimmgebung und Klangfarbe eines und desselben Menschen. Bei Aufnahmen mit ungeübten Sprechern sind Schnitte oft sehr leicht erkennbar. Der Sprecher wurde beim Lesen unterbrochen, begann nach einer kurzen Pause erneut, und wenn dann die Teile aneinandergefügt werden, ist zu erkennen, dass der Neueinsatz hörbar ist: Die Stimme wirkt kräftiger, höher oder tiefer.27 Dass wir dazu fähig sind, diese Unterschiede anhand weniger Silben wahrzunehmen, spricht für eine besondere Qualität des Hörsinns.

Im Gebrauch der Stimme drückt sich besonders deutlich aus, dass die Massenmedien zwischen voneinander getrennten Räumen vermitteln müssen. Die Lesung oder Inszenierung geschieht im Hörbuch im Hinblick auf die Öffentlichkeit. Dies hat einen deutlichen Einfluss auf den Einsatz der Stimme, die Artikulation, Satzmelodie usw. Aber der Hörer muss in seinem eigenen Raum, oft über den Kopfhörer, erreicht werden, so dass insbesondere die Lautstärke einer eher persönlichen Form der Kommunikation angepasst wird.

Das Hörbuch kommuniziert primär über die menschliche Stimme. Schon ein kurzer Ausschnitt, beliebig ausgewählt, zeigt, dass dadurch eine Reihe von Entscheidungen getroffen wird. Dies lässt sich besonders gut illustrieren, wenn zwei verschiedene Aufnahmen verglichen werden – zum Beispiel von Thomas Manns Novelle Tonio Kröger, die so anfängt:

»Die Wintersonne stand nur als ein armer Schein milchig und matt hinter Wolkenschichten über der engen Stadt.«

Wer die historische Aufnahme des Tonio Kröger hört, wird zwar, wenn er oder sie besonders aufmerksam ist, den Raumklang wahrnehmen und, weil die Aufnahme bei Thomas Mann zu Hause stattfand (in seinem Todesjahr 1955), an einer Stelle sogar die Kirchenglocken von Kilchberg.28 Konzentrieren wird er oder sie sich auf die stimmlichen Botschaften.

Zu hören ist zuallererst ein Mensch – anhand eines Ausschnitts seiner Möglichkeiten, sich verbal und paraverbal zu äußern. Dieser Mensch ist beim Hörbuch als Person erkennbar und von anderen unterscheidbar. Thomas Manns Lesung kann mit derjenigen von Will Quadflieg29 verglichen werden: zwei Personen, zwei Stimmen, zwei Arten, mit der Stimme umzugehen.

Und es ist eine sprachliche Botschaft, ein Text, zu verstehen auf Grund der Wörter und Regeln der deutschen Sprache. Dieser Text ist als ein ganz bestimmter, bereits aus anderen Kontexten bekannter, literarischer Text zu erkennen.

Diese Merkmale treffen auf das ideale Hörbuch zu, die Aufnahme eines Autors oder Sprechers, der den Text liest. Dennoch kann dieser Kern beliebig erweitert werden. Die Stimme kann für weitere Aufgaben verwendet werden (z.B. musikalische Untermalung und Geräusche30), hinzu können weitere Geräuschquellen, musikalische Instrumente, Tonaufnahmen und natürlich die technische Weiterbearbeitung des Materials kommen.

Hörkunst ist zeitabhängig

»Zum Charakter des Hörbaren gehört die Erstrecktheit in der Zeit, und daher haben alle Ohrenkünste Zeitcharakter«, schreibt Rudolf Arnheim in seinem mittlerweile klassischen Text Rundfunk als Hörkunst.31 Akustische Kommunikationssysteme, die der Mensch entwickelt hat, funktionieren im Wesentlichen über eine zeitliche Abfolge von Zeichen: So ergibt sich aus einer Kette von Phonemen ein Wort, aus einer Kette von Wörtern ein Satz usw. Sprachliche Verständigung erfordert Zeit. Wie aber die Abfolge der Worte gestaltet ist, in welchem Tempo, in welchem Rhythmus, ist dem Sprecher vorbehalten. Er beeinflusst damit nicht nur einen wichtigen Aspekt der Interpretation, sondern auch des Hörverstehens.

Im Zusammenhang mit dem Radio ist zudem des öfteren beklagt worden, dass der Nutzer durch die Zeitabhängigkeit etwas an Wahlfreiheit einbüßt. Er überblickt das Programm nicht, sondern ist auf Moderation angewiesen, die dem Text vorangeht oder folgt. Dies steht ganz im Gegensatz zur Situation des Zeitungslesers, der sich im Blatt anhand von Inhaltsverzeichnissen und Überschriften viel autonomer orientieren kann.32

Ähnlich verhält es sich mit dem Hörbuch im Gegensatz zum Buch. Ein Vorzug des Buchs ist die Möglichkeit, kursorische und statarische Lektüre abwechseln zu lassen, also den fortlaufenden Lesefluss zu unterbrechen, einzelne Teile zu überspringen, andere zu wiederholen. Dieser selbstständige Umgang mit dem Text ist beim Hörmedium zumindest erschwert.33

Hörbücher können nebenbei gehört werden

Daraus, dass Hörmedien wichtige andere Sinne, vor allem den Sehsinn, unbeschäftigt lassen, hat sich eine besondere Form der Nutzung entwickelt: die Nutzung als Begleit- oder Nebenbei-Medium. Musik als Hintergrund für stille und laute Tätigkeiten gibt es nicht erst seit der Erfindung von Grammophon und Radio. Und dass das gesprochene Wort viele andere Tätigkeiten begleiten kann, ist immer wieder gezielt genutzt worden.

Man denke an die Regeln des Heiligen Benedikt, die vorschreiben, dass die Mönche während des Essens den Worten eines Vorlesers folgen. Weniger fromm sind meistens die Absichten der Joggerinnen oder der kochenden Hausmänner, die zu ihrer Tätigkeit Hörbücher hören oder der Pendler, die sich in überfüllten Vorortszügen mit ihrem MP3-Player eine Rückzugsmöglichkeit schaffen. Welches auch immer die Motivation sei – das Prinzip ist dasselbe: Akustische Medien ermöglichen Paralleltätigkeiten. Dabei ist im Allgemeinen das Hörmedium der Begleiter, der sich der physischen Tätigkeit unterordnet.34

1.4.3 Ein bewegliches Medium

Viele Unterhaltungs- und Informationsmedien unterscheiden sich voneinander in der Mobilität des Zuhörers. Zum Kino, zu dem man eine kleine Reise unternimmt und in das man sich für anderthalb Stunden setzt, hat sich in den letzten Jahren eine mobile Alternative entwickelt: Der Handheld-Player, den man in den Zug mitnehmen oder von einem Wohnzimmer ins andere mitnehmen kann. Im Effekt wird der Konsument schließlich immer noch sagen: »Ich habe den Film gesehen«. Aber die Rezeption war geprägt von einer anderen Körperlichkeit, von einer anderen Art der Aufmerksamkeit, von einer anderen zeitlichen Struktur. Es ist nicht mehr zu sagen, wo die Grenze zu ziehen ist zwischen dem klassischen Sehen eines Film und einer völlig andersartigen Information über den Film.

Für das Medium Radio ist die Mobilität des Hörers seit mehreren Jahrzehnten selbstverständlich. Erste Autoradios gab es schon in den 1920er-Jahren. Die Transistortechnik, die Geräte ermöglichte, die in Handtaschen passten, wurde 1948 entwickelt. Bei den Tonträgern dauerte es etwas länger. Tragbare Tonbandgeräte – in Rundfunkanstalten lange schon unentbehrlich – wurden für ein breites Publikum erst mit der Einführung der Kassette erschwinglich. Der Walkman machte den Hörer von Musik- und Wort-Konserven ab 1978 ähnlich mobil wie den Radiohörer.

Schallplatten mit gesprochenem Inhalt gibt es seit jeher – und eine ganze Reihe von heutigen Hörbüchern bieten den Inhalt klassischer Sprechplatten dar. Das Angebot wendet sich aber an ein Publikum von Einzelindividuen, die mobil sind und die Hörsituation so dynamisch gestalten können, dass sie den Anfang eines Kapitels in der Abflughalle eines Flughafens hören können und die Fortsetzung nach einer kurzen Pause auf 10.000 Meter Höhe im Flugzeug einer Gesellschaft, die passenderweise KLM-Cityhopper heißt.

Der stereotype Fernsehzuschauer sitzt wie angewurzelt im Wohnzimmersessel. Der typische Walkman-Nutzer eilt durch eine hektische urbane Welt. Die Digitalisierung und die Verkleinerung der Geräte haben es ermöglicht, dass der Rezipient selbst entscheidet, mit welcher Körperlichkeit er auf die gleichen Inhalte reagiert.

Den Plattengenuss der 1950er-Jahre beschrieben die Autoren des Schallplattenbreviers noch so:

»Die Sessel daheim werden zur ganz privaten Proszeniumsloge. Der Plattenspieler ist mit dem Radio gekoppelt, hat ihn für das individuelle Wunschkonzert abgelöst; wir schauen auf die matt schimmernde Skalenbeleuchtung... Sie ist jetzt unsere kleine Scala di Milano! Unsere Carnegie-Hall, das ›Olympia‹ in Paris, das ›Palladium‹ in London! Sie ist Salzburg und Newport, Bayreuth und Schiffbauerdamm!«35

Der Besitzer eines Plattenspielers brauchte einen Raum, in dem er sich zum konzentrierten Hören hinsetzte. Er war ein Sammler, der für die Langspielplatten und Singles Platz schuf in einem passenden Regal oder in einer »Drahtstellage aus den USA, in der man 150 Langspielplatten dekorativ und übersichtlich unterbringen kann.«36 Er konnte auswählen, was er anhörte, und dazu Freunde einladen (denn: »Die Schallplatte bereitet dem Sammler nicht nur Freude, sie schafft ihm auch Freunde. Schallplatten sind gesellig!«37). Das brauchte Platz. Mobil war man damals erst im Anhören von Programmen, die die Rundfunkredaktionen zusammengestellt hatten; die eigene Wahl treffen zu können, eigene Tonträger abspielen zu können, das brauchte Platz und verwies auf das Wohnzimmer, den Salon.

Man muss sich den Schritt vom Schallplattenhören der 1950er-Jahre zum Hörbuchhören 50 Jahre später plastisch vorstellen, um zu verstehen, wie viele Rahmenbedingungen heute anders sind, obwohl sich am Inhalt nichts verändert, obwohl immer noch akustische Wortproduktionen angehört wurden. Thomas Mann hätte sich nicht träumen lassen, dass sein Leser zu Passagen aus dem Felix Krull durch die Landschaft joggt. Er hätte es vermutlich nicht mit seiner Vorstellung von Rezeption von Literatur vereinbaren können.

Die Mobilität bringt nicht unbedingt eine verminderte Aufmerksamkeit mit sich, aber sicher andere Formen des Zuhörens. Die Zuwendung zum Lautsprecher wird abgelöst durch die Nähe des Kopfhörers; der gleich bleibende Raumklang des Wohnzimmers durch die Geräuschkulisse einer wechselnden Umgebung. Auch die Geselligkeit hat sich verändert: War es vor fünfzig Jahren üblich, seine Freunde zum gemeinsamen Hören einzuladen, geht man jetzt auf den Freund zu, nimmt einen der beiden Stöpsel aus dem Ohr und lässt einen der beiden Stereokanäle mithören.

1.4.4 Einmalige Erscheinungsweise

Während Rundfunk-Kommunikation prinzipiell als ein Mittel aktueller journalistischer Information verstanden werden kann, über das auch literarische Formen (Lesung, Hörspiel) vermittelt werden, ist Hörbuch-Kommunikation prinzipiell ein Mittel literarischer Kommunikation, über das auch journalistische und andere aktuelle Inhalte (Features, Reportagen, Reden-Mitschnitte) vermittelt werden. Das Hörbuch erscheint deshalb in der Regel nicht periodisch wie die aktuellen publizistischen Medien. Der Vergleich mit dem Hörfunkprogramm ist aufschlussreich: Das Spektrum der Hörbücher umfasst, ähnlich wie das Programm eines klassischen Radiosenders eine große formale und inhaltliche Vielfalt. Seine Erscheinungsweise bildet aber einen wesentlichen Gegensatz zum Radio und zu anderen aktuellen publizistischen Medien.

Das Hörbuch ist wie das Buch in ein Verlagsprogramm (im weitesten Sinn) eingebunden. Damit ist zwar ein klarer Zeitpunkt der Veröffentlichung gegeben; aber bis das Hörbuch den Rezipienten erreicht, erfährt der Prozess eine Verzögerung von Tagen bis Wochen und Monaten, ja Jahren. Diese relative Langsamkeit gilt nicht nur im Vergleicht mit dem Hörfunk, sondern auch mit anderen periodisch erscheinenden Medien, z.B. der Publikumszeitschrift.

Wenn einzelne Hörbücher in ihrer Erscheinungsweise dennoch mit monatsaktuellen Zeitschriften oder gar mit Radio- und Fernsehserien konkurrieren, sind dies vorerst noch Ausnahmen. Audioproduktionen, die periodisch erscheinen und die Bezeichnung Hörbuch tragen, profitieren meistens von der Verbreitung über den Zeitschriftenhandel oder über das Internet. Ein typisches Beispiel bilden CDs, die Zeitschriften beiliegen. So gibt es zu National Geographic World jeden Monat eine CD, die neben Hintergrundmaterial zu den Texten jeweils eine Reportage enthält. Unter dem Namen Besprochen. Das Hörmagazin sind bis anhin zwei Nummern einer Art Radioprogramm auf CD erschienen, das vornehmlich Rezensionen von Musik- und Hörbuchproduktionen enthielt.38

Selbständige regelmäßige Publikationen orientieren sich dagegen eher an der Erscheinungsweise von Hörfunk- und Fernsehserien. Dies gilt zum Beispiel für die Hörbuch-Soap ...und nebenbei Liebe des Argon-Verlags. In klassischer Hörspielform wird die Geschichte einer deutschen Familie erzählt, die sich in ihrem Kern um die Witwe und die beiden Söhne eines jüngst verstorbenen Tierarztes gruppiert (welcher übrigens das Geschehen als Erzählerfigur aus dem himmlischen Off für den Hörer kommentiert). 8 CDs von 59 Minuten Dauer bilden zusammen eine Staffel. Von Episode zu Episode, von Staffel zu Staffel machen Cliffhanger neugierig auf die nächste Produktion. Diese muss nun allerdings nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt im Radio eingeschaltet werden. Sie kann vielmehr zu einer beliebigen Zeit gekauft oder heruntergeladen werden.

Wer nicht zur engeren Fangemeinde gehört, steht dem Produkt ähnlich ambivalent gegenüber wie der Käufer alter Fernsehserien auf DVD: Ein großer Teil an Spannung fehlt, wenn man, statt eine Woche warten zu müssen, einfach die nächste CD einschieben kann.39

In Zusammenarbeit mit einem Radiosender (Radio Fritz, RBB) wird dagegen die Mystery-Serie Gabriel Burns produziert, die Geschichte eines Amateur-Ermittlers mit übersinnlichen Fähigkeiten. Aber auch hier orientiert sich die Erscheinungsweise an der Verbreitung durch Kauf. Fünf bis sechs Einzelfolgen pro Jahr werden als CDs bzw. MP3-Dateien angeboten.40

Hörbuchkommunikation hat eine mittelfristige Aktualität. Sie bezieht sich auf Texte, die meistens schon früher in anderer Form vorlagen. Zudem erfordert die Verbreitungs- und Nutzungsweise eine gewisse Zeit. Dennoch greifen Hörbücher in aktuelle Diskurse ein – zum Beispiel dadurch, dass sie aktuelle Literatur thematisieren oder dadurch, dass sie mit journalistischen Textsorten auf politische oder kulturelle Ereignisse reagieren.

Jedes Hörbuch, das auf Grund eines literarischen Werks erscheint, hat schon dadurch einen Aktualitätsanspruch innerhalb der literarischen Öffentlichkeit. Viele Hörbücher beziehen sich aber auch auf Ereignisse, die allgemein in Kultur und Politik aktuell thematisiert sind. Zumindest Hörbücher mit literarischem oder informativem (wissenschaftsjournalistischem, sportpublizistischem, historischem usw.) Inhalt sind also darauf angewiesen, dass sie zeitnah wahrgenommen, konsumiert und diskutiert werden.

1.4.5 Gespeicherte Texte

Die Botschaften des Hörbuchs sind auf einem Trägermedium gespeichert. Bis vor wenigen Jahren war das Speichermedium das (analoge) Tonband (Compact Cassette), später die CD und heute kann es auch ein vom jeweiligen Nutzer gewähltes Medium sein (Festplatte, MP3-Player usw.), auf dem er die erworbenen Dateien speichert. Aus der Sicht des Produzenten macht dies das Hörbuch handelbar, aus Sicht des Rezipienten örtlich und zeitlich flexibel nutzbar.

In welcher Form Hörbücher im Jahr 2020 gespeichert werden, ist nicht zu sagen. Indessen kann darauf hingewiesen werden, dass Tonbandkassette und Compact Disc vergleichsweise dauerhafte Trägermedien sind. Sie sind seit 1963 (Kassette) bzw. 1982 (CD) auf dem Markt. Beide haben sich seit ihrer Einführung als handlichere Alternative zur Langspielplatte bewährt (vgl. hierzu Sandra Rühr in diesem Buch). Unterdessen ist die Kassette auch in den USA, wo sie länger überlebte als in Europa, »on its way out«.41 Für die Ära der CD ist dagegen ein Ende noch nicht abzusehen. Was die Dauerhaftigkeit betrifft, so halten zwar weder Tonband noch CD ewig; aber immerhin lassen sich Kassetten aus den 1960er-Jahren und CDs aus den 1980er-Jahren noch heute abspielen.42 Dennoch sind alle diese Medien im Vergleich mit bedrucktem Papier, das Hunderte von Jahren überdauern kann, sehr kurzlebig. Anscheinend steht die Lebensdauer der Speichermedien im umgekehrten Verhältnis zur Leichtigkeit, von ihrem Inhalt Kopien herzustellen.

Einen Nachteil haben alle populären akustischen Medien: Der Nutzer kann weder einen Überblick gewinnen noch blättern oder springen in der Art, wie es beim Buch oder bei der Zeitschrift möglich ist (und es ist zu vermuten, dass die Hörbuch-Rezeption deshalb auch linearer erfolgt als diejenige gedruckter Medien). Dies wird wohl auch dann gelten, wenn sich raffiniertere Formen der elektronischen Präsentation (wie das Daisy-System43) durchgesetzt haben. Ein System, in dem auditiv komfortabel mit Seitenzahlen, Kapiteln, Verzeichnissen und Registern umgegangen werden kann, ist für den kritischen (und selbstverständlich für den blinden und sehbehinderten) Hörer eine extreme Erleichterung. Es eignet sich hervorragend für Sachbücher, für Zeitschriften usw. Es wird nichts daran ändern, dass viele Hörbücher sich genau wie das traditionelle belletristische Buch anbieten, um von Anfang bis Ende gelesen zu werden.

Der klassische akustische Tonträger – die Schallplatte, die Kassette, die CD – wird im Laden erworben und mit einem passenden Gerät abgespielt. Der Konsument hat für jedes Format die passende Technik. Ganz anders ist es, wenn ein Hörbuch als Datei angeboten wird. Diese kann auf verschiedene Weise angespielt werden. Klassischerweise wird sie zunächst auf dem Computer gespeichert (von einer DVD oder aus dem Internet) und dann entweder mit einem entsprechenden Programm gespielt bzw. auf ein weiteres Trägermedium übertragen. Dies kann (nach einer Umwandlung der Dateien) die Musik-CD sein, im Allgemeinen aber der Mp3-Player. Üblich ist heute auch die direkte Verwendung des Mp3-Players als Speichermedium beim Herunterladen. Die Verlage bemühen sich darum, diesen Weg für den Konsumenten so direkt wie möglich zu gestalten, was zu Experimenten mit sehr unterschiedlichen Download-Verfahren geführt hat.

Der Hörbuch-Verlag Radioropa hat im Jahr 2009 eine neue Art präsentiert, die Mp3-Dateien handelbar zu machen: Er verkauft sie über den Buchhandel auf Micro-SD-Karten von 1 oder 2 GB Speicherkapazität.

Der Käufer erwirbt eine CD-Hülle, in der ein SD-Kartenadapter steckt, der seinerseits mit einer Micro-SD-Karte versehen ist. Letztere lässt sich direkt in ein modernes mobiles Telefon stecken, so dass das Hörbuch gleich nach dem Kauf genutzt werden kann. Mit dem Adapter passt sie in moderne Notebooks und eine Vielzahl von Abspielgeräten. Wer will, kann das Hörbuch auch auf seiner elektronischen Fotokamera abhören.44

1.4.6 Mehr als ein Hörmedium

Ist das Hörbuch wirklich nur ein Hörmedium? – In seiner einfachsten Form ist ein Hörbuch ein akustischer Text ohne Beiwerk. Er kann z.B. als CD oder Datei von einem Player zum anderen transportiert werden und braucht keine weiteren Ergänzungen. In dieser Form findet man Hörbücher allerdings selten – am ehesten noch als Privatkopie. Im Handel oder im Internet wird es praktisch immer von weiteren, nicht-akustischen Botschaften begleitet – von geschriebener Information oder von Bildern. Praktisch jedes Hörbuch wird also unterstützt von weiteren Botschaften, die andere Kanäle und weitere Symbolsysteme nutzen.

Solche Kombinationen sind auch bei anderen Medien selbstverständlich. So kann ein Buch neben der gedruckten Erzählung Bilder enthalten; hinzu kommen erläuternde und ergänzende Informationen auf dem Umschlag, ein Inhaltsverzeichnis usw. Dabei ist grob zu unterscheiden zwischen intratextuellen Begleitinformationen, die den Text erweitern und nicht mehr von ihm zu lösen sind (z.B. die Illustrationen im Kleinen Prinzen), und paratextuellen, die ihn ergänzen (z.B. Titelbild, Verfasserangabe, Inhaltsverzeichnis).

Die Kultur der Paratexte ist beim Hörbuch weit entwickelt. Im deutschen Sprachraum ist es üblich, neben den üblichen bibliographischen Angaben Texte und Bilder (im Booklet oder als Dateien) oder auch den gesamten Text zum Nachlesen anzubieten.45 Die klassische Form ist das CD-Booklet, das mehr oder weniger Information enthält und den Text des Hörbuchs ergänzt, illustriert, erklärt usw. Einige Downloadportale stellen das Booklet mit dem Hörbuch als PDF-Datei zur Verfügung.46

Dass akustische Inhalte auf diese Weise medial erweitert werden, ist keine neue Erscheinung. Für Langspielplatten wurden schon in den 1950er-Jahren Kommentare (Liner notes oder Sleeve notes) geschrieben. Der Künstler, der Produzent oder ein Musikkritiker äußerte sich darin zur Entstehung oder zu den musikalischen Besonderheiten der einzelnen Stücke. Auf dem deutschsprachigen Markt gibt es ausführliche Booklets, die bisweilen nur die Mitwirkenden und dazu weitere Produkte des Verlags nennen, gelegentlich aber auch sehr aufwändig gemacht sind und z.B. literaturgeschichtliche Hintergrundinformationen oder auch weiterführende Essays enthalten.47

Es scheinen in dieser Hinsicht zwei verschiedene Hörbuch-Konzepte parallel zu existieren: neben dem plurimedial ausgerichteten Hörbuch, das aufwändig verpackt ist und einen Mehrwert bietet, gibt es das schlicht auf den akustischen Text (und eventuell rudimentäre Angaben zur Produktion) beschränkte Hörbuch. Ersteres ist ein klassisches Buchhandelsprodukt, das der Kunde gerne in die Hand nimmt und das auch über die optische Präsentation verkauft wird. Letzteres ist die Hörproduktion für den Download oder für das Abonnement, das sich an den regelmäßigen Hörer wendet, der sich nicht hinsetzt, um das Booklet zu studieren, sondern zum Joggen oder Autofahren aufbricht und dabei einen Text hören will. Ein Augenschein in den Buchhandlungen in verschiedenen Ländern lässt vermuten, dass es Unterschiede je nach Sprachgebiet gibt. Im finnischen Markt, wo das Hörbuch noch nicht gut etabliert ist48 und das Publikum nur ein Fünfzigstel der Größe des amerikanischen ausmacht, geben offensichtlich kaufmännische Gründe den Ausschlag für eine spartanische Aufmachung.49

Neben der Kombination mit Paratexten gibt es aber auch intratextuelle Kombinationen – von Kombination Text-Musik bis zur Kombination der Hörfassung mit optischen Inhalten. Mit dem Hörspiel 20.000 Meilen unter dem Meer präsentierte der Hörverlag auf einer DVD die 110 Illustrationen der Erstausgabe des Buchs von Jules Verne. Wer das Hörbuch auf dem Computer oder DVD-Player abspielt, kann beim Zuhören eine Bilderfolge auf dem Bildschirm betrachten. Mangels eines präziseren Terminus bezeichnen die Herausgeber diese Kombination von Hörspiel und Bildern als »Film«.50

1.5 Hörbuch und Buch

Hörbücher im engeren Sinn basieren auf Texten, die bereits in gedruckter Form erschienen sind. Sie führen die literarische Kommunikation mit anderen Mitteln weiter. Hörbuchkommunikation unterscheidet sich von Buchkommunikation namentlich durch die folgenden Merkmale:

Erweiterung des Kreises der an der Produktion Beteiligten: An Stelle einer direkten Auseinandersetzung des Lesers mit dem Text steht jetzt die Vermittlung des Texts durch eine Sprecherin oder einen Sprecher. Zu den Instanzen Autor und Verlag kommen Lektorat, Technik, Regie usw. hinzu, die je nach Produktion unterschiedlich stark wahrnehmbar sind.

Ein wichtiger Aspekt jenseits von der Komplexität des Produktionsprozesses ist die Entstehung einer Aufführungssituation bei der Rezeption: Ein Sprecher verkörpert mit seiner Stimme die Figuren des Texts (und eventuell auch den Autor und weitere Instanzen); ein oder mehrere HörerInnen bilden ein Publikum, dessen Erlebnis eine große Spannweite annehmen kann, vom Teilhaben an einer Lektüre bis zum Verfolgen einer szenischen Aufführung.

Neuer Text: Je nach Art und Ausmaß der Bearbeitung kann der Text als identisch bzw. nah verwandt mit dem ursprünglichen oder auch als stark verändert bzw. als eigenständiger Text verstanden werden. Solange man als Text nur den geschriebenen Wortlaut versteht, lassen sich dies mit einem Vergleich von ursprünglichem Buch und Hörbuchmanuskript relativ klar die einzelnen verbalen Unterschiede benennen. Wenn aber mit Text ein komplexes Zeichen verstanden wird, ist jedes Hörbuch ein neuer Text.51

Verweis auf Originaltext: Doch auch wenn das Hörbuch durch seine Medialität und seine gestalterische Eigenleistung als selbständiger Text gesehen wird, verweist es doch durch seinen Inhalt und seinen Titel auf einen Originaltext. Dieser Bezug kann gesehen werden als Vermittlung. Dies ist in zwei Bedeutungen gemeint. Zum ersten ist es die Vermittlung als Übertragung: Ein gedruckter Text wird für Menschen, die ihn nicht lesen können oder wollen, erschlossen. Zum zweiten ist es die Vermittlung als inhaltliche Brücke: Ein Text, der dem Leser viele Hürden böte, wird sprecherisch gestaltet. Damit wird die Zahl der Intepretationsmöglichkeiten reduziert, die Rezeption in dieser Hinsicht vereinfacht.52

Wir werden später darauf zurückkommen, dass sich durch den Medienwechsel auch bei einer einfachen Lesung die Art, Literatur zu rezipieren, verändert. Die lineare Lektüre wird gefördert; Wiederholen, Hin- und Herspringen, Rückwärtsblättern werden zwar nicht direkt verhindert, aber doch erschwert.

1 Die bisher 902 Teilnehmer einer laufenden Online-Umfrage bevorzugen zwar den Typ »Hörspiel«. (www.sozioland.de – 30. Oktober 2009) Dennoch setzen die Befrager Hörbuch mit Lesung gleich. Ähnlich ist es bei der Umfrage des Verlags Buchfunk unter 4004 Besuchern bzw. Newsletter-Empfängern von Vorleser.net. – Vgl.: Sozioland: »Was hören Sie persönlich lieber: Hörbücher, die von einem einzelnen Sprecher gelesen werden, oder Hörspiele, die mit verteilten Sprecherrollen arbeiten?« – Buchfunk: »Wie oft hören Sie Hörbücher oder Hörspiele?« (Die große Hörbuch-Umfrage 2009, 4.)

2 Im schwedischen Original: Män som hatar kvinnor.

3 7 Stunden, 8 CDs von ursprünglich 404 Taschenbuchseiten.

4www.schall-und-wahn.de (15.8.2009)

5 Für Produktionen mit expliziten Handlungsanweisungen schlagen wir den Begriff pragmatisches Hörbuch vor.

6 Borngaesser: Schloss Pillnitz, Bad Homburg: Kunst und Reise, 2009.

7 Werbetext für: Henze: Mediterrane Spezialitäten, Just 2006.

8 Wallwiener/Hueber/Brucker: Brustkrebs, Universitätsklinikum Tübingen 2004.

9http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Hörbuch (10.11.2004).

10 Rühr 2008, 82.

11 Vgl. die Produktionen Rilke Projekt und Hesse Projekt von Schönherz und Fleer. Die erste CD, Bis an alle Sterne, erschien 2001 noch auf einem Musiklabel (BMG Ariola Classic); die neuesten Folgen werden vom Hörbuch-Marktführer Der Hörverlag vertrieben.

12 Z.B.: Schamlu: Blaues Lied, Engeler 2002. – Auf diese Weise besonders gepflegt hat der Verlag das Werk von Oskar Pastior, z.B.: Pastior: ügel beg und ügel tal, Engeler 2002.

13 Am nächsten kommt diesem Textbegriff die Definition: »an organized collection of signs« (Hughes 2007:2009). Im diesem Sinn ist auch eine reine Geräuschcollage ein akustischer Text; es gibt Hörbücher, die nur aus Geräuschen, Musik und anderem nichtverbalem Material bestehen. –Korinna Janz-Peschke setzt sich mit dem Textbegriff in Bezug auf das Hörbuch auseinander und spricht in diesem Zusammenhang von Hörtexten (vgl. dort 2.1, 3.1 und 3.2).

14 So Schmidt/Zurstiege 2007, 63.

15 Vgl. etwa Urlich Saxers Definition aus systemtheroretischer Sicht: »Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen.« (Saxer 1999,6)

16 Ähnlich lässt sich kein Text, keine Botschaft auf einen einzigen Verbreitungsweg, auf ein einziges Trägermedium reduzieren. Ein Roman zum Lesen ist nicht auf das Medium Buch angewiesen, sondern kann auch in Fortsetzungen in einer Zeitschrift erscheinen. Und ein Western braucht kein Kino, um ein Western zu sein, sondern ist das auch auf DVD.)

17 Man denke etwa an die Probleme, die sich ergeben, wenn man heute noch von einem Medium Radio spricht: Zwar gibt es den herkömmlichen Hörfunk noch, bei dem eine größere oder kleinere Organisation ein regelmäßiges Programm über LW-, MW-, KW- oder UKW-Sender verbreitet. Aber gleichzeitig werden vergleichbare Inhalte auch im Internet gestreamt oder zum Download zur Verfügung gestellt. Die meisten Unternehmen, die primär über den Äther senden, bieten Sendungen auch als Podcasts an – und nicht wenige von ihnen sind wohl bereit, auf die herkömmliche Verbreitungsweise ganz zu verzichten, wenn sie ihre Hörer über das Internet ebenso leicht und billiger erreichen können. Schweizer Radio International, ein klassischer Veranstalter des Kurzwellenrundfunks, hat 2005 seinen Betrieb vollständig auf das Internet verlagert – ohne Rücksicht darauf, dass die Stammhörer in vielen Zielgebieten keinen Zugriff haben würden.

18 Vgl. Häusermann 1998, 7–15.

19 Radio DRS 3, 7. Oktober 1988. – Gil Scott Heron fügte übrigens noch hinzu: »Otherwise in the other box, on the other side, there's a box called Jazz, J–A–Z–Z. And we felt pretty good about that. Then we looked up in the dictionary the word jazz, it means miscellanous.«

20 Haas/Klever 1958, 184.

21 Herrmann 1999, 175-189.

22 Hagen 2006.

23 Vgl. den Prospekt Sulje silmäsi ja lue. Jo yli sata äänikirjaa. [Gesamtprospekt der Verlage WSOY, Otava, Tammi, LIKE, Sammakko] (o.J.) – Vgl. auch: www.aanikirja.fi (15.8.2009).

24 Hart-Nibbrig 2001.

25 Berendt 1989, 20.

26 Vgl. z.B.: Droste-Hülshoff: Die Judenbuche, gespr. von Brigitte Trübenbach, (Buchfunk 2006); Andrea Kopsch (GS-Audiobuchverlag 2004); Sabine Falkenberg (HörGut! 2004)

27 Bei den unten besprochenen Aufnahmen mit Gottfried Benn ist dies zum Beispiel bei einzelnen Titeln und Ankündigungen, die der Autor spricht, zu erkennen. Vgl. unten 4.2.2. – In der Praxis versucht die Technik solche Effekte zu verhindern, indem »überlappend« produziert wird. Die Sprecher setzen bei einer Wiederaufnahme etwas weiter zurück ein, so dass sie an der Nahtstelle wieder ihre übliche Sprechweise angenommen haben.

28 Mann: Tonio Kröger, Der Hörverlag 2009.

29 Mann: Tonio Kröger, Deutsche Grammophon 2005.

30 Für den Baron Bagge von Alexander Lernet-Holenia wurde die gesamte akustische Kulisse auf diese Weise hergestellt (von Michael Schiefel). Vgl. Lernet-Holenia: Der Baron Bagge, Preiser-Records 2003.

31 Arnheim 1936:2001, 19.

32 Häusermann 1998, 79.

33 Das Daisy-System (siehe unten 2.1.4) hat hier allerdings Abhilfe geschaffen; in einem geringeren Maß schon die gewöhnliche CD im Vergleich zu Schallplatte und Kassette. – Ich danke Ulrich Breuer für Anregungen zu diesem und anderen Aspekten des Medienvergleichs.

34 Woody Allen über seine Erfahrungen bei den Aufnahmen zu Vicky Cristina Barcelona: »Scarlett [Johannson] erschien mit Verspätung auf dem Set. Ich machte ihr bittere Vorwürfe und erklärte, dass ich bei meinen Schauspielern Schlampigkeit nicht tolerierte. Sie hörte mir respektvoll zu, auch wenn ich beim Reden zu bemerken glaubte, dass sie die Lautstärke an ihrem iPod aufdrehte.« (Woody Allen: Cronache dal mio set spagnolo, La Reppublica, 1.9.2008: »Scarlett è arrivata in ritardo sul set. L' ho rimproverata aspramente, spiegandole che non tollero la svogliatezza nei miei attori. Lei mi ha ascoltato rispettosamente, anche se mentre parlavo mi è sembrato di notare che alzasse il volume del suo iPod.«)

35 Haas/Klever 1958, 8.

36 Haas/Klever 1958, 171.

37 Haas/Klever 1958, 8.

38 Im Verlag New Entertainment Options, Ahrensburg.

39 Auch auf der ästhetischen Seite ist das Fernsehvorbild deutlich zu spüren. Über weite Strecken erinnern die Szenen an einen TV-Soundtrack. So werden dem Hörer die periodisch wiederkehrenden Kussszenen in ähnlicher Länge, wie sie im Fernsehen zu sehen wäre, rein paraverbal durch Stöhnen und Schmatzen vorgeführt. (Wiegand: ...und nebenbei Liebe. Argon 2007)

40 Weber/Gloge: Gabriel Burns, Universal Family 2003ff.

41 Bryant 2004.

42 Tests zeigen große Unterschiede in der Robustheit von industriell bespielten, selbst gebrannten und mehrfach brennbaren CDs. Der finnische Fachjournalist Petteri Järvinen hat CDs und DVDs über Jahre hinweg unterschiedlichen Wettereinflüssen ausgesetzt und dabei trotz Hitze-, Kälte- und Feuchtigkeitseinwirkungen erstaunlich wenig Fehler festgestellt. Normal gelagerte zehn Jahre alte selbstgebrannte CDs zeigten keine Verluste. – Järvinen 2009, 308.

43 Siehe unten 2.1.4.

44 2009 brachte Radioropa die ersten Hörbücher als MP3 auf einer Mikro-SD-Card heraus. Vgl.: http://www.boersenblatt.net/338155/ (4.9.2009).

45 Der Hörbuch-Shop http://soforthoeren.de nennt bei jedem Angebot unter der Rubrik Beigaben die zusätzlichen Dateien, die vom Cover über Hintergrundtexte und Bilder bis zum Wortlaut mit Anmerkungen reichen.

46 Eine Art Vorreiter ist das Apple Music Store, das seit einigen Jahren bei einzelnen »Spezialausgaben« von Alben zu den mp3-Dateien ein digital booklet in Fom einer PDF-Datei hinzufügt. – www.ilounge.com/index.php/articles/comments/beginners-guide-to-itunes-videos-and-pdfs/ (15.8.2009) – Auch im Hörbuch-Bereich, auch außerhalb der Apple-Welt, gibt es seit einigen Jahren digitale Booklets, z.B.: Bornstädt: Bibi Blocksberg, Kiddinx 2010.

47 Zum Beispiel: Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmännlein, Diderot 2004.

48 Im Gegensatz zum schwedischen Markt. Vgl.: Syrjänen 2008, 25.

49 Syrjänen 2008, 20-24.

50 Enthalten sind in dieser Ausgabe auch eine Weiterverarbeitung des Hörspiels in 5.1 Dolby Digital, ein Making-Of-Film, ein Radio-Essay über Jules Verne und weitere Texte und Bilder als paratextuelles "Bonusmaterial". Indessen scheint sich die DVD als multimediales Trägermedium nicht durchzusetzen.

51 Vgl. hierzu Korinna Janz-Peschke in diesem Buch.

52 So können die oft als »schwierig« empfundenen langen Sätze von Thomas Mann in der Gestaltung von Gert Westphal zugänglicher werden. Dass sie dabei auch in ihrer Komplexität reduziert werden, gehört dazu.

2 Hörbuch und Öffentlichkeit

André Kaminskis Roman Nächstes Jahr in Jerusalem war in den 1980er Jahren enorm erfolgreich. Das warmherzige, humorvolle Buch, das in unzähligen Anekdoten die Geschichte einer jüdischen Familie erzählt, wurde von Kritik und Publikum begeistert aufgenommen. Der Autor wurde auf eine lange Lesereise geschickt, von der er in seinem nächsten Buch, Schalom allerseits, berichtete.

Die Gespräche, die sich im Anschluss an die Lesungen ergaben, waren engagiert und oft hitzig, ging es doch sehr schnell jeweils um das Schicksal der Juden, der Palästinenser, um Geschichte und Gegenwart:

»Nach der Lesung fragt mich eine ältere Dame, wie ich nach der kürzlichen Ermordung von 24 türkischen Juden noch lustige Geschichten vorlesen könne. Ich entgegne ihr, dass ich nach der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nazis theoretisch längst hätte verstummen müssen. ›Doch dieses Vergnügen will ich den Henkern nicht gönnen. Das wollen sie nämlich: uns zum Schweigen bringen. Öffentlich weinen sollen wir – aber das wird nicht geschehen. Nie und nimmer.‹ Da erheben sich die Leute im Saal und klatschen minutenlang Beifall. Ich spüre, dass sie es alle ehrlich meinen.«53

Die öffentliche Lesung ist Begegnung mit dem Autor, sie ist Auseinandersetzung mit dem Inhalt, sie ist gleichzeitig Lektüre und ihre Vertiefung und Weiterführung. Allen Beteiligten ist klar, dass sie kein Ersatz für die eigene Lektüre ist.

Literatur und Vorlesen waren lange Zeit eng miteinander verbunden.54 In einer nur teilweise alphabetisierten Gesellschaft waren der Schriftsteller und das leseunkundige Publikum darauf angewiesen, dass ein Werk vorgetragen wurde. Heute kommt das Werk auch ohne öffentliche Aufführung zu seinem Leser. Geblieben sind uns aber verschiedenste Ausprägungen des Vorlesens. Unter diesen tritt als Phänomen der literarischen Öffentlichkeit die öffentliche Lesung besonders hervor.55 Die historische Dimension des Hörbuchs knüpft hier an.

Ein Hörbuch, dem ein bereits existierender Text zu Grunde liegt, nimmt Bezug auf diesen Text. Es bringt ihn einer weiteren Öffentlichkeit nahe, stellt ihn zur Diskussion, interpretiert ihn. In diesem Sinn ist der Beitrag des Hörbuchs ein Beitrag zur Reflexion über Literatur mit literarischen Mitteln. Dieser Funktion ist dieses Kapitel gewidmet.

2.1 Die Tradition der öffentlichen Lesung

Hörbuchkommunikation ist publizistische Kommunikation. Der Produzent eines Hörbuchs hat den Anspruch, Öffentlichkeit herzustellen, einen Diskurs weiter zu führen. Dies gilt nicht nur für das Hörbuch, sondern für Informations- und Unterhaltungsmedien generell. Als Curzio Malaparte 1949 seinen Roman Die Haut schrieb, trug er damit zur literarischen Aufarbeitung des Kriegs (und speziell der Befreiung Italiens am Ende des Zweiten Weltkriegs) bei. Wenn Hörbuch Hamburg im Jahr 2009 Die Haut als Lesung herausbringt, ist auch dies – in einer völlig anderen Zeit – eine Stimme zum Thema. Es ist aber auch eine Wiederaufnahme des Diskurses über das Werk Malapartes: Es wird nochmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und auf neue Art und Weise interpretiert.56

Literatur – ob gedruckt oder als Hörbuch – braucht ein Publikum, das sie liest oder hört. Sie braucht aber auch eine Öffentlichkeit, die auf sie reagiert. Dies ist um so notwendiger, als die Rezeption über die Jahrhunderte hinweg zu einer immer privateren Handlung geworden ist. Das Medium Buch hat sich in der Neuzeit nicht nur dadurch verändert, dass mehr und mehr Menschen lesen konnten. Gleichzeitig wurden die Bücher auch kleiner, handlicher und für den Einzelnen erschwinglicher. Zur Rezeptionsgeschichte der Leiden des jungen Werthers, die so viele Leserinnen und Leser erschütterten, gehört nicht zuletzt, dass das Büchlein Oktavformat hatte. Es konnte überallhin mitgenommen werden, überall gelesen werden. Das Lesen konnte jetzt eine stille und mobile Tätigkeit sein. 57

Diese Privatisierungstendenz wurde zu einem Teil kompensiert, indem sich spezielle Formen literarischer Öffentlichkeit entwickelten. Es wurden Foren geschaffen, in denen Literatur diskutiert wurde. Literarische Diskurse wurden mit politischen, sozialen und anderen Diskursen zusammengeführt. Solche Foren waren nicht nur Lesezirkel und andere Formen des gemeinsamen Lesens und Vorlesens, sondern auch Literaturzeitschriften und Feuilletons in allgemeinen publizistischen Medien.58 Die Lesung vor Publikum gehört zu den Formen literarischer Öffentlichkeit.59 Mit dem Hörbuch ist nun die Lesung auch zum privaten Ereignis, fern von Aufführungsterminen und Applaus oder Buhrufen, geworden. Damit braucht das Hörbuch, ähnlich wie das moderne Buch, seine eigenen Foren der Öffentlichkeit.

2.2 Publikum und Interpret bei der Lesung

Elias Canetti trug 1934 in Wien seine Komödie der Eitelkeit60 zum ersten Mal vor. Was sich bei dieser Lesung begab, traf ihn so sehr, dass er sich in seiner Autobiographie über acht Seiten damit beschäftigte.61 Weil eine Publikation oder Bühnenaufführung nicht in Sicht war, war es ihm wichtig, den Text auf diese Weise bekannt zu machen. Er hielt den Text »für eine legitime Entgegnung auf die Bücherverbrennung« und wollte, dass das Stück gespielt würde – »überall, rasch«. Da ihm aber die »Verbindungen zur Theaterwelt« fehlten, war eine Aufführung auf der Bühne nicht absehbar.

Die Lesung fand im Haus des Verlegers Paul Zsolnay statt. Canetti las dort vor einem Kreis, der sich um Franz Werfel scharte und Werfels Reaktionen aufmerksam registrierte. Canetti berichtet, wie ihn die demonstrativ ablehnende Körpersprache Werfels irritierte. Er versuchte sich zu wehren, indem er umso intensiver las und den Blick der Freundin Anna Mahler suchte. Aber deren Augen waren in diejenigen von Hermann Broch versenkt. Doch nicht nur dieses Augenspiel beeinflusste die Lesung; Canetti registrierte Kritik und Desinteresse im Saal und reagierte wiederum mit seiner Leseweise darauf – vor allem auf die »offene Feindschaft« Werfels, der sich gar einen eindrücklichen Zwischenruf erlaubte: »Ein Tierstimmenimitator, das sind Sie!« 62

Diese Begebenheit zeigt, was eine Lesung ausmachen kann. Da ist ein Text, der gleichzeitig seine Veröffentlichung und seine Interpretation (durch sprecherische Mittel) erfährt. Und da ein Publikum anwesend ist, gehört dazu auch die Auseinandersetzung mit dem Werk und dessen Interpretation und dem Interpreten (meist natürlich erst im Anschluss an die Lesung). Das Beispiel illustriert auch etwas von der Dynamik einer solchen Veranstaltung: Die Leseweise wirkt auf die Stimmung der Anwesenden, und ihre Reaktion wirkt wiederum auf die Lesung.

In der öffentlichen Lesung kommen zwei Funktionen zusammen: Veröffentlichung (erste Begegnung mit dem Werk, Kennenlernen des Autors usw.) und Interpretation des Werks. Je nach Anlass sind diesen aber auch ganz andere Funktionen unter- oder übergeordnet bzw. gleichgestellt: eine Bildungsfunktion (etwa bei der Lesung in Schulen), eine Werbefunktion (heute fast immer explizit, vor allem da Lesungen von Verlagen und Buchhandlungen organisiert und finanziell gefördert werden), aber auch eine rituelle Funktion wie die des Gedenkens (wenn etwa zur Texte aus dem frühen 20. Jahrhundert zur Erinnerung an die Bücherverbrennung gelesen werden).

Durch die Lesung wird das Spektrum der Medien der literarischen Öffentlichkeit erweitert. Sie ermöglicht – wie jede Aufführung eines literarischen Werks – eine besondere Form der öffentlichen Kritik. Ein Text und seine Interpretation werden zur Diskussion gestellt. Das Publikum, das an der Aufführung beteiligt war, reagiert direkt, im Anschluss oder zeitversetzt (im lokalen Medium, aber auch in weiteren, mehr oder weniger privaten Diskussionsgruppen). Damit werden die verschiedenen Formen der kritischen Rezeption (v.a. die Rezension) durch eine weitere ergänzt. Insgesamt wird durch die öffentliche Lesung das Spektrum der Öffentlichkeiten, die für das Werk geschaffen werden, erweitert.

Das Beispiel der Komödie der Eitelkeit zeigt, dass zum Lesen vor Publikum eine Interaktion mit den Zuhörern in ihrem aktuellen Raum gehört. Dies muss nicht so drastisch ausfallen wie in Canettis Beispiel. Aber in jedem Fall muss sich der Sprecher auf die Zuhörer ausrichten. Er muss den gemeinsamen Raum, in dem sie sich befinden, stimmlich und körpersprachlich ausfüllen und die zur Verfügung stehende Zeit text- und zuhörergerecht nutzen.