Kopfüber zurück - Rebecca Wait - E-Book

Kopfüber zurück E-Book

Rebecca Wait

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Beschreibung

Fünf Jahre sind seit Kits Tod vergangen. Der jüngere Bruder Jamie lebt ein schattenhaftes Dasein, entfremdet von seiner Familie, gelähmt durch die Ereignisse der Vergangenheit und die unbeugsame Wut seines Vaters. Die Eltern sind in Schweigen versunken und froh, dass wenigstens Tochter Emma ein zufriedenes Leben zu führen scheint und offenbar gar nicht genau weiß, was damals geschehen ist. Doch als Emma älter wird, beginnt sie, unbequeme Fragen zu stellen, in der Hoffnung, das Geheimnis um Kits Tod endlich zu lüften. Als die Antworten ausbleiben, beschließt Emma, der Sache selbst auf den Grund zu gehen, und reißt von zu Hause aus, um ihren Bruder Jamie zur Rede zu stellen.

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Seitenzahl: 353

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Danksagung, Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Rebecca Wait, 1988 geboren, schloss 2010 ihr Englischstudium an der Oxford-Universität mit Bestnote ab. Dort wurde sie vom Lyriker und Romanautor Craig Raine unterrichtet. Sie schreibt seit ihrer Kindheit und hat zahlreiche Preise für ihre Kurzgeschichten und Theaterstücke gewonnen. Kopfüber zurück ist ihr erster Roman.

ÜBER DAS BUCH

Fünf Jahre sind vergangen, seit ein dramatisches Ereignis das Leben der Familie Stewart grundlegend verändert hat. Tochter Emma war damals neun und erinnert sich nur vage an das Geschehene. Doch langsam wird ihr klar, wie lückenhaft die knappe Erklärung ihrer Eltern ist, und sie beginnt, unbequeme Fragen zu stellen. Die Wahrheit, die nach und nach ans Licht kommt, ist erschütternd und konfrontiert Emma auf ganz neue Weise mit ihrer Familie – gleichzeitig beginnt sich aber auch die Erstarrung der letzten Jahre zu lösen.

Für meine Eltern

Jetzt waren sie wieder zusammen.

Später würden sie sich an diese Stunden erinnern. Sie würden, jeder für sich, nach Vorzeichen suchen. Es war abzusehen gewesen. Schon damals am Strand, Jahre zuvor, war es abzusehen gewesen – sie hatten es nur nicht gemerkt.

Würden sie auf Hinweise stoßen, wenn sie sich diesen Tag ins Gedächtnis riefen? Vielleicht erinnerten sie sich daran, dass sich dunkle Wolken am Horizont verdichteten. Dass der Wetterumschwung spürbar, die Hitze drückend wurde. Oder vielleicht blickten sie zurück und sahen nichts als den ausgewaschenen, gelben Sand und das rhythmische Brechen der Wellen.

Das Paar suchte mit einer Thermoskanne Tee und Sandwiches in der Felsenbucht Schutz vor der Hitze. Joe hatte ein Buch aufgeschlagen, und Rose schaukelte ab und zu das Baby auf ihrem Schoß.

Die Jungs standen ein Stück abseits, näher am Meer, zerzaust und glücklich in ihren verschlissenen T-Shirts und Badehosen. Sie hatten beschlossen, ein Loch zu graben, aber ihr Unterfangen ging nur langsam voran.

»Du musst die Seiten verstärken«, sagte Kit. »Die Wände brechen immer wieder ein.«

»Warum muss ich eigentlich die ganze Zeit graben?«, fragte Jamie.

»Weil ich den Bau beaufsichtige.«

Ein Loch zu graben, war Jamies Idee gewesen, aber jetzt schien es, als stamme sie von Kit. Er hatte das Kommando übernommen, wie immer.

»Wir sind auf Wasser gestoßen, das ist ein gutes Zeichen«, verkündete Kit und spähte in das Loch.

»Zum Glück kennst du dich so gut aus.« Jamie hieb seinen Plastikspaten in den Grund und hievte Schlick zur Seite. Sofort rutschte neuer nach. Mit Mühe zog er die Füße aus dem Matsch.

»Das ist wie Treibsand hier unten«, rief er.

»Stell dich nicht so an. Das ist doch kein Treibsand.«

»Ich habe ja auch gesagt, wie Treibsand«, verteidigte sich Jamie.

»Los, mach weiter«, rief Kit, »wir müssen noch viel tiefer graben, sonst hat es keinen Zweck.«

»Bis nach Australien?«

»Japp.«

Sie lachten über den alten Witz.

»Dann gib mal her«, sagte Kit. »Ich löse dich ab.«

Er nahm den Spaten entgegen und packte Jamie am Arm, um ihn aus dem Loch zu ziehen. Jamie stemmte sich mit den Füßen gegen den empfindlichen Rand, und eine der Seitenwände brach ein.

»Jamie!«

»Du hast mich zu schnell hochgezogen.«

Kit sprang in das Loch und machte sich daran, den Schaden zu beheben.

»Wusstest du, dass in Amerika mehr Leute an Sand sterben als durch Haiangriffe?«, fragte Jamie, während Kit grub. »Die Menschen werden lebendig begraben. Es ist wahrscheinlicher, dass man im Sand verschüttet wird und erstickt, als von einem Hai gefressen zu werden.«

»Faszinierend, Jamie.«

»Ich meine ja nur. Man würde doch glauben, dass Haie gefährlicher sind. Und nicht, dass mehr Menschen sterben, weil sie im Sand versinken.«

»Das sind wahrscheinlich alles Dummköpfe wie du, die kein ordentliches Loch graben können.«

»Ich habe doch die meiste Arbeit gemacht!«

»Was zählt, ist Qualität, nicht Quantität, Jamie«, sagte Kit.

»Wir sollten bald aufbrechen«, sagte Joe ein Stück weiter oben am Strand.

»Ich will die beiden jetzt nicht stören«, meinte Rose. Sie kniete und spielte mit dem Baby, das damit beschäftigt war, sich den weichen Sand durch die Finger rieseln zu lassen. »Sieh nur – das erste Mal am Strand, und sie findet es toll. Stimmts, Emma?«

Das Baby blickte seine Mutter ernst an und wendete sich dann wieder dem Sand zu.

»Nur noch ein bisschen«, bat Rose.

»Na gut.« Joe wollte sich gerade wieder seinem Buch widmen.

»Sind die Jungs nicht drollig?«, fragte sie. »Sie sind wieder wie kleine Kinder.«

»Haben sich zurückentwickelt bei den ganzen Kindheitserinnerungen an den Strand.«

»Schön, sie so zusammen spielen zu sehen.«

»Ich glaube nicht, dass die beiden es ›spielen‹ nennen würden.«

»Kit geht toll mit Jamie um, findest du nicht? Wie er ihm beim Graben hilft, ganz schön geduldig.«

Joe dachte darüber nach. »Geduldig« war nicht das Erste, das ihm einfiel, wenn er Kit beschreiben sollte.

»Ich habe mir ein bisschen Sorgen um Jamie gemacht«, gestand Rose. »Der Altersunterschied scheint plötzlich größer, findest du nicht? Jetzt, wo sie beide Teenager sind.«

»Jamie wird schon aufholen«, erwiderte Joe. »Gib ihm noch ein Jahr.«

»Du hast bestimmt recht.« Einen Augenblick sagte sie nichts, dann fügte sie hinzu: »Schön, dass wir noch mal alle zusammen einen Ausflug machen. Ehe wir’s uns versehen, sind nur noch du, ich und Em übrig.«

»Mhm.« Er war schon wieder in sein Buch vertieft.

Rose wandte sich Emma zu. Sie half ihr, einen kleinen Eimer mit Sand zu füllen und auszukippen, wieder und wieder.

»Wie wäre es mit Fish and Chips zum Abendessen? Zur Feier des Tages«, schlug sie vor.

»Wie du willst.« Es klang, als würde er ihr zuliebe zustimmen, dabei dachte sie nur an die Jungs.

Es war so friedlich zuzusehen, wie Emma im Sand spielte und ihre Söhne in der Ferne, ganz ernsthaft mit den Spaten. Rose wünschte sich, dass sie für immer hier bleiben könnten.

Und so verging der Nachmittag, sie blieben am Strand, der Wind wurde kühler, und die Sonne zog sich zurück, die Wolken in der Ferne verdichteten sich und blähten sich auf. Langsam wich die Hitze aus dem weichen Sand der Bucht, das Meer bahnte sich seinen Weg weiter und weiter den Strand hinauf, schlich leise an sie heran. Die anderen Urlauber zerstreuten sich allmählich, und schließlich waren nur noch die fünf übrig.

Joe sagte zu Rose: »Die Flut kommt.«

Rose stand auf und nahm Emma auf den Arm. »Ich rufe die Jungs.«

Jamie sagte zu Kit, der immer noch im Loch stand: »Wenn das Wasser kommt, haben wir einen Swimmingpool.«

»Nein«, sagte Kit, »es wird einstürzen.«

Dann fielen die ersten Regentropfen.

Teil 1

1

Der Regen hätte ihm so zusetzen müssen wie allen anderen. Er war unbändig, hartnäckig, hämmerte gegen die Scheiben, verlangte Aufmerksamkeit. Die Kunden hatten verschwörerische Mienen aufgesetzt, warfen sich gegenseitig Blicke zu und wickelten sich enger in ihre Mäntel, doch er beachtete sie nicht. Er ging durch den Laden, schloss die Fenster, damit die Bücher nicht nass wurden, und kehrte dann in die Abteilung für jüdische Geschichte zurück, wo er gerade die neue Lieferung in die Regale einsortierte.

In seinem Kopf ließ er nur absolute Stille zu. Zu lernen, an nichts zu denken, war schwierig gewesen. Aber er hatte es sich mit Geduld und hartem Training zur Gewohnheit gemacht. Manchmal, wenn er Schwierigkeiten damit hatte – so wie jetzt –, zog er sich in seine Gedanken zurück: auf eine Insel oder allein in die Wüste. Diesmal wählte er den Wald. Unbewegt und still warteten die Bäume darauf, ihn in ihr allumfassendes Schweigen aufzunehmen. Er stand inmitten der Geschichtsbücher und starrte in das Sonnenlicht, das durch die Äste fiel.

Jemand berührte ihn am Arm und riss ihn aus seinem Traum. Widerwillig verließ er den Schutz der Bäume, drehte sich um und sah einen älteren Mann.

Jamie stutzte, dann setzte er seine Kundenstimme auf und fragte: »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Ich möchte mich über die Abteilung für jüdische Geschichte beschweren«, sagte der Mann. Es hörte sich an, als hätte er den Satz vorher geübt. »Ich habe kein einziges Buch gefunden, das ich gesucht habe. Die Bücher hier sind alle über den Holocaust.«

»Ja«, erwiderte Jamie zögernd, »das sind wohl die meisten.«

»Das ist doch absurd«, empörte sich der Mann. Er schien Mut zu schöpfen, während er sprach. »Wo sind Ihre Bücher über jüdische Kultur, Musik oder Literatur? Bei Ihnen wirkt es so, als wäre der Holocaust das einzig Bemerkenswerte in der langen Geschichte des jüdischen Volkes. Als hätte es keine reiche und vielfältige Vergangenheit, die nichts mit dieser einen barbarischen Schandtat zu tun hat.«

Jamie sagte behutsam: »Wir führen, was sich verkauft, sonst machen wir Verluste. Und Bücher zum Thema Holocaust sind immer gefragt.«

»Weil das Grauen die Leute fasziniert.«

Jamie wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

»Mir gefällt das nicht«, sagte der Mann. »Mir gefällt nicht, wie Ihr Laden die Juden über eine einzige schreckliche Sache definiert, die ihnen angetan worden ist, und nicht über etwas, das sie selbst hervorgebracht haben. Verstehen Sie, was ich meine?«

Jamie nickte.

»Uns darüber zu definieren, was sie uns angetan haben, bedeutet, sie gewinnen zu lassen. Geschichte sollte doch allem die gleiche Bedeutung zumessen.«

»Aber wie soll das gehen?«, fragte Jamie, ohne nachzudenken. »Manche Dinge stechen eben hervor und überragen die anderen.«

»Warum sollen wir nur lesen, was Leute für interessant halten, denen das … das große Ganze egal ist, und die nur Augen für grausame Details haben?«

Wollte sich der Kunde wirklich nur darüber beschweren, dass die Geschichtsabteilung schlecht bestückt war?, dachte Jamie. Er verlor schnell das Interesse an der Diskussion, erkannte jedoch, dass sein Gegenüber noch nicht zufrieden war.

Jamie errichtete eine Wand zwischen sich und dem Mann. »Wir freuen uns immer über Verbesserungsvorschläge. Haben Sie irgendwelche Empfehlungen, welche Bücher wir bestellen könnten, um die Bandbreite der Abteilung zu erweitern?«

Er hatte mit einer genervten Reaktion gerechnet, doch der Mann stellte ihm eine umfangreiche Liste auf. Dann zog er mit Mühe den Mantel wieder an, hantierte mit seinen geschwollenen Fingern an den Knöpfen und ging hinaus in den Regen. Jamie legte die Liste hinter seine Verkaufstheke auf den Stapel mit den anderen Merkzetteln. Er würde keines der Bücher bestellen. In den Regalen war nicht genug Platz. Und die Leute wollten das Grauen.

In der Mittagspause schüttete es noch immer, und er konnte sich nicht überwinden, hinauszugehen, um sich ein Sandwich zu kaufen. Er zog eine Tüte Chips und einen Marsriegel am Automaten und setzte sich in den Pausenraum, um seinen Alistair-MacLean-Roman zu lesen. Wenn er eine Buchhandlung betrat, hielt er immer unwillkürlich Ausschau nach den Büchern dieses Autors und hatte es inzwischen zu einer beachtlichen Sammlung gebracht. Er saß an seinem Stammplatz in der Ecke. Ein Platz, an dem man selten gestört wurde. Gerade als er in sein Mars beißen wollte, bemerkte er einen Schatten hinter sich.

»Was lesen wir denn da?«

Jamie seufzte innerlich. Brian aus der Belletristik war der Meinung, in ihm einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, da er seine Leidenschaft für alte Thriller schnell entdeckt hatte. Brian stand zwar mehr auf Science-Fiction und Fantasy, aber er hatte den Liebhabereifer an Jamie erkannt und glaubte anscheinend, er würde dessen Aufmerksamkeit bald auf ein Genre lenken können, das sie eher verdient hatte.

»Die Überlebenden der Kerry Dancer«, antwortete Jamie, ohne aufzusehen. Jetzt ging es nur noch darum, den Schaden in Grenzen zu halten. Manchmal konnte man Brian abwimmeln, wenn man nicht auf ihn einging. So, wie man sich tot stellt, wenn man einem Grizzly begegnet.

»Taugt es was?«

»Weiß noch nicht. Erstes Kapitel.«

Brian setzte sich neben ihn, wie immer ein bisschen zu nah. Resigniert klappte Jamie das Buch zu.

»Du solltest Ursula Le Guin noch eine Chance geben«, meinte Brian.

»Ich glaube, die ist nichts für mich, Brian.«

»Eine herausragende Schriftstellerin«, fuhr Brian unbeirrt fort. »Genau das Richtige, wenn du mal etwas ein, zwei Kategorien über MacLeans Niveau lesen willst.«

»Ich glaube, alles über MacLean ist mir zu hoch.«

»Wie? Zu kaputt von der Schinderei in der Geschichte?«, gluckste Brian. »Klauen dir die Kundenmassen etwa die Hirnleistung? Die schaffen es doch gar nicht bis in den zweiten Stock. Du solltest mal sehen, was in der Belletristik los ist.«

»Ehrlich gesagt, Brian«, antwortete Jamie und nutzte seine letzte Notlüge, »kann ich nicht so gut lesen.«

Er stopfte das Buch in die Tasche und verließ den Pausenraum, während Brian eine Entschuldigung stammelte. Dass ihm wertvolle Minuten seiner Pause gestohlen worden waren, machte Jamie auf eine kindische Art wütend. Er schlich an der Auskunftstheke vorbei und setzte sich zum Lesen in die kleine Nische zwischen jüdischer und Kriegsgeschichte, in der Hoffnung, Brian würde ihn dort nicht finden.

Er war so sehr in Die Überlebenden der Kerry Dancer vertieft, dass er das Paar zunächst gar nicht bemerkte. Dann machte die Frau eine Bewegung – vielleicht strich sie sich die Haare aus dem Gesicht oder schüttelte die Regentropfen von ihrem Mantel, später wusste er nicht mehr, was es gewesen war. Irgendetwas an ihrer Art, sich zu bewegen, fiel ihm jedenfalls ins Auge. Jamie wandte den Blick nicht von seinem Buch ab, aber seine Aufmerksamkeit war nun auf den jungen Mann und die Frau gerichtet, die vor ihm standen.

Jetzt sprach die Frau, flüsterte dem Mann etwas zu, das ihn zum Lachen brachte, und Jamie erstarrte augenblicklich. Er konnte zwar nicht hören, was sie sagte, aber er erkannte am Klang, am Rhythmus dieser Stimme etwas wieder, das die vergangenen Jahre ungeschehen machte.

Alice Brown.

Er sah aus dem Augenwinkel, wie sie sich umdrehte, stutzte und ihn anstarrte. Sie schaute direkt in seine Richtung.

Als sie auf ihn zuging, stand er auf.

»Jamie?«

Sie trug die Haare in einem kurzen, ordentlichen Bob, nicht mehr leuchtend rot wie früher, sondern natürlich dunkelbraun. Ihr Gesicht hingegen wirkte noch immer zerbrechlich, neugierig, wie das eines Kindes. Vor allem in diesem Moment, mit diesem zögerlichen Ausdruck. Sie war immer noch hübsch. Natürlich war sie immer noch hübsch.

»Bist das wirklich du?«, fragte sie. »Ich war mir nicht ganz sicher.« Sie wirkte nervös. Jamie fragte sich, ob auch er nervös wirkte, aber konnte es nicht einschätzen.

»Alice.«

»Ich fass es nicht.«

Da war es wieder, das alte, breite Lächeln. Wie viel Vertraulichkeit darin lag, wie es Alice und ihn zu Verbündeten machte, wenn sich ihre Blicke trafen, hatte Jamie immer gefallen. Irgendwann war ihm jedoch aufgegangen, dass sie dieses Lächeln jedem schenkte.

»Das ist ja ein Zufall«, sagte Alice. »Wir haben Marks Eltern in Leeds besucht und machen hier nur einen Zwischenstopp. Dann hat es angefangen zu regnen.« Sie gestikulierte, als wollte sie sagen: Und jetzt sind wir hier.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Alice schien nur zu reden, um die Leere zwischen ihnen zu füllen. Nach der anfänglichen Überraschung merkte Jamie, dass sie sich nicht viel zu sagen hatten, und vermutete, Alice ginge es genauso.

Sie gab ihrem Begleiter ein Zeichen, und er kam herüber. Jamie musterte ihn. Er sah akzeptabel aus. Irgendwie nett, aber nicht gerade gutaussehend.

»Jamie, das ist mein Mann, Mark. Mark, das ist mein alter Freund Jamie.«

Ihr Mann. Jamie nahm die Neuigkeit still auf und schüttelte dem Mann die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen.« An Marks taxierendem Blick erkannte er, dass er verstand, was Alice mit »alter Freund« meinte. Er fragte sich, wie viel Mark wohl über ihn wusste. So, wie Mark ihn ansah, wahrscheinlich eine ganze Menge.

»Wir sind seit vier Monaten verheiratet«, sagte Alice ungefragt.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Jamie. »Wie schön.« Er überlegte, ob er Alice jetzt umarmen sollte, und streckte die Arme aus, aber als sie keine Anstalten machte, ihm entgegenzukommen, ließ er sie wieder sinken. Um die peinliche Situation zu überspielen, sagte er: »Mensch, Alice, das ist ja eine Ewigkeit her.« Das würde sicher passen. So etwas sagte man doch in solchen Situationen.

Alice verbesserte ihn. »Fünf Jahre. Es ist fünf Jahre her.«

»Wie geht es dir?«

»Ich wusste nicht, wo du bist, Jamie«, sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«

Jamie versuchte, ihr in die Augen zu sehen. »Da und dort. Wo man eben so steckt. Seit ein paar Jahren arbeite ich jetzt hier.«

»In einer Buchhandlung?«

»Ich leite die Abteilung für jüdische Geschichte«, verteidigte er sich.

»Faszinierend«, fiel Mark ein. »Wisst ihr was, das werde ich mir gleich mal ansehen.«

Jamie deutete in Richtung der Abteilung und hoffte im Stillen, dass Mark sich für den Holocaust interessierte. Er sah, wie Mark beschützerisch Alices Schulter streichelte und die beiden einen Blick austauschten, bevor er hinüberging. Bei ihm wird es ihr gutgehen, dachte Jamie.

Als sie allein waren, sagte Alice: »Es ist komisch, dich so wiederzusehen.«

»Ich weiß.«

»Ich habe darauf gewartet, dass du dich meldest. Eine halbe Ewigkeit.«

Jamie wusste, dass er etwas erwidern sollte, aber ihm fiel nichts ein.

»Was solls«, sagte Alice in sein Schweigen hinein. »Jetzt kann man nichts mehr daran ändern.«

Da hatte sie wahrscheinlich recht, dachte er. Wieder Schweigen, diesmal war es noch unangenehmer. Nach einer Weile entschloss sich Jamie, etwas zu sagen: »Es tut mir wirklich leid, Alice. Dafür gibt es keine Entschuldigung.« Er hörte die Förmlichkeit in seiner Stimme und fand es merkwürdig, mit ihr wie mit einer Fremden zu reden.

»Jamie, wie geht es dir?«, fragte Alice. »Ganz ehrlich?«

»Mir gehts gut«, antwortete er.

»Und deiner Familie?«

»Keine Ahnung.«

»Ach, Jamie.«

Er schwieg.

Alice sagte: »Du weißt, dass es nicht besser wird, wenn man so tut, als ob es die Leute nicht gäbe.«

Sie würde ihm niemals verzeihen, dachte er. Er machte ihr keinen Vorwurf, es spielte keine Rolle mehr; aber sie tat ihm leid.

Mark kam zurück: »Ihr habt eine gute Auswahl an Büchern über Auschwitz.«

»Danke.«

»Schatz, wir müssen langsam los«, sagte Mark zu Alice.

Alice wühlte in ihrer Handtasche und zog eine Visitenkarte hervor. »Melde dich, Jamie«, sagte sie und gab ihm die Karte.

»Du bist Innenarchitektin«, bemerkte Jamie, als er die Karte ansah.

»Keine besonders erfolgreiche«, erwiderte Alice.

»Du wolltest doch immer Künstlerin werden.«

Ihre Miene verfinsterte sich, doch plötzlich lächelte sie. »Es ist nicht verboten, seine Pläne zu ändern.« Jamie merkte, wie ihr Charme noch immer auf ihn wirkte.

»Im Ernst, melde dich«, fügte sie hinzu. »Verschwinde nicht wieder.«

»Es war schön, dich wiederzusehen, Alice«, sagte er. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Mark.«

»Pass auf dich auf.« Alice stand schon auf dem Treppenabsatz, als sie Mark plötzlich etwas zuflüsterte. Dann lief sie auf Jamie zu, legte ihm die Arme um den Hals und den Kopf an die Brust. Einen kurzen Augenblick lang war er von der vertrauten Geste überwältigt. Alice hatte eine ganz eigene Art, sich in seine Arme zu wickeln. Im nächsten Augenblick machte sie kehrt und ging wortlos zurück zu ihrem Mann. Mark nahm ihre Hand und nickte Jamie zu, dann gingen sie die Treppe hinunter.

Jamie legte die Visitenkarte hinter die Theke zu der Liste mit den Büchern über jüdische Geschichte. Er überflog die Titel. Wertvorstellung und Ritus im Nahen Osten der Antike, las er. Die Weisheit Salomons: Wissenschaft und Entdeckung in Israel 400–500 v. Chr. Es hatte keinen Zweck, diese Bücher zu bestellen. Niemand würde sie kaufen.

2

Die Mittagspause war immer eine Tortur für Emma. Sie ging in die Schulkapelle und hielt sich im Hintergrund, wie sie es sich selbst gegenüber ausdrückte. Sie saß in der letzten Reihe und blickte hinauf zu dem Buntglaskreuz im Fenster über dem Altar. Rot, Orange und Gelb umrahmten die lilafarbene Mitte, sodass es in Flammen zu stehen schien. Freuet euch der Allmacht des Herrn, dachte sie.

Sie hatte keine Lust, in die Cafeteria zu gehen, weil sie niemanden hatte, neben dem sie sitzen konnte. Außerdem war sie zu dick und wollte lieber nichts essen. Sie war nicht auf die Art dick wie die anderen Mädchen an ihrer Schule. Die waren dünn, sorgten sich aber um ihre Figur, weil sie das »erwachsen« wirken ließ. Nein – sie war auf die ganz normale, quälende Art dick, mit Doppelkinn und Rettungsringen. Sie war dick und von Mädchen umgeben, die nur so taten, als wären sie dick. Es war zum Verrücktwerden.

Der Schulpfarrer kam herein, lächelte ihr zu – er war ihre stille Gegenwart während der Mittagspausen gewohnt und verschwand in der Sakristei.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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