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Durch Somatic Experiencing zurück ins Leben finden
Nach einer Vergewaltigung in ihrer Jugend, dem Tod ihres Bruders und einer Reihe von frustrierenden und erfolglosen Therapien, steht Brittany Piper kurz davor, mit ihrem Leben abzuschließen. Doch anstatt aufzugeben, beschließt sie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Sie entdeckt das Somatic Experiencing, ein besonderes Therapiekonzept, bei dem traumatisierende Erlebnisse mithilfe des Körpergedächtnisses gelöst werden können.
Das Nervensystem wird sanft angeleitet, die während eines Traumas entstandenen und blockierten Energien zu entladen. So können Befreiung und Lebendigkeit ins Leben zurückkehren und der Körper verspürt wieder ein Gefühl von Sicherheit. Mit dieser Methode konnte Piper nicht nur sich selbst, sondern bis heute auch Tausenden ihrer Patienten und Zuhörern einen Weg zurück ins Leben zeigen.
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Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Nach einer Vergewaltigung in ihrer Jugend, dem Tod ihres Bruders und einer Reihe von frustrierenden und erfolglosen Therapien ist Brittany Piper kurz davor, mit ihrem Leben abzuschließen. Den Weg zurück findet sie durch eine einfache Erkenntnis, die ihr gesamten Leben verändern soll: Die meisten traumatischen Ereignisse werden im Körper erlebt und gespeichert – sie sollten also auch hier wieder geheilt werden. So verschreibt sie sich dem Somatic Experiencing, einer besonderen Therapieform der nonverbalen Kommunikation mit dem Körpergedächtnis. Das Nervensystem wird sanft angeleitet, die während eines Traumas entstandenen und blockierten Energien zu entladen. So kehren Befreiung und Lebendigkeit zurück ins Leben und der Körper verspürt wieder ein Gefühl von Sicherheit.
Autorin
Brittany Piper ist Trauma- und Psychosomatik-Trainerin – spezialisiert auf Somatic Experiencing, komplexe posttraumatische Belastungsstörungen, Regulation des Nervensystems, Bindungen und interne Familiensysteme. Sie verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der praktischen Arbeit mit traumabetroffenen Menschen und ist selbst Überlebende einer Vergewaltigung. Piper ist eine führende nationale Expertin und Verfechterin der Prävention sexueller Gewalt in Amerika. Außerdem ist sie Expertin für forensische Neurobiologie und leitet zahlreiche Trauma-Schulungen und Programme mit der US-Armee und mit Sexualverbrechern.
Brittany Piper
KÖRPER
ORIENTIERTE
TRAUMA
HEILUNG
Angst und Panik besiegen durch sanfte Kommunikation mit dem Körpergedächtnis
Aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Lehner
Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Body-First Healing« bei Avery, New York.
Alle Ratschläge in diesem Buch wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorin beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.
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Deutsche Erstausgabe Juni 2025
Copyright © 2025 Brittany Piper LLC
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Andrea Kalbe
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © FinePic®, München
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
LG · CB
ISBN 978-3-641-32147-5V001
www.goldmann-verlag.de
Dieses Buch widme ich dem Kind in jedem von uns. All den Kindern, die für unsere Freiheit gekämpft haben und deren Harnisch uns weiterhin schützt. Jetzt sollen sie Frieden haben und spielen und träumen. Von hier aus schaffen wir es allein.
Inhalt
Vorbemerkung der Autorin
Einleitung: Von der harten Landung zu Widerstandskraft und Heilung
ERSTERTEIL: Wie und weshalb der Körper Trauma speichert
Hilfsmittel ausfindig machen – eine Einführung
1 Körperorientierte Traumaheilung
2 Traumaheilung »von oben« oder »von unten«
3 Definition von Trauma
4 Traumatische Erinnerungen
5 Einführungskurs Nervensystem
6 Die Auswirkungen kindlicher Bindungserfahrungen auf spätere Beziehungen
7 Der Trauma-Panzer und die fünf Persönlichkeitssackgassen
8 Gesunde Aggression: In Ihre Kraft zurückfinden
ZWEITERTEIL: Anleitung zum Somatic Experiencing
9 Die Grundzüge des Somatic Experiencing
10 Selbstgeführtes Erleben: Bevor Sie anfangen
11 Zorn und die Rüstung des Kampfs
12 Furcht, Angst und die Rüstung der Flucht
13 Depression, Burnout und die Rüstung des Abschaltens
14 Dissoziation und die Rüstung der Erstarrung
15 Nachgiebigkeit und die Rüstung des Beschwichtigens
16 Hilfsmittel bei häufigen Gesundheitsstörungen und alltäglichen Triggern
Ausblick: Auf zu allem, was wild ist!
Anhang A: Die Regungen des Nervensystems verfolgen und verzeichnen
Anhang B: Wie Sie Anwender des Somatic Experiencing finden
Anhang C: Quellen
Dank
Register
Anmerkungen
Vorbemerkung der Autorin
Die Therapieform des Somatic Experiencing (SE)® wird hier ausschließlich zu Bildungs- und Informationszwecken vorgestellt. Damit ist weder eine medizinische Beratung oder Diagnostik noch eine Behandlung von gesundheitlichen Problemen oder Krankheiten intendiert. Wenn Sie medizinischen Rat einholen möchten, wenden Sie sich bitte an approbierte Ärzte. Mehr über Somatic Experiencing erfahren Sie unter www.traumahealing.org oder www.somatic-experiencing.de
EINLEITUNG:
Von der harten Landung zu Widerstandskraft und Heilung
A hero lies in you.
Mariah Carey
Beim Schreiben dieses Briefs an Sie, liebe Leserinnen und Le ser, sitze ich an meiner Küchentheke, neben mir meine noch in ihrem Autositz schlafende vier Monate alte Tochter. Wir hatten ein paar Besorgungen und sind eben erst wieder nach Hause gekommen. Mein dreijähriger Sohn ist mit seiner Nanny im Park und mein Mann arbeitet oben in seinem Büro. Über die Musikanlage des Hauses läuft gedämpft eine Mischung von Céline-Dion-Songs und erfüllt mein sonnendurchflutetes Zuhause mit dem Echo von Melodien aus meiner Kindheit – Whitney Houston, Mariah Carey, Phil Collins …
Ein ereignisloser Tag, möchte man meinen, aber ein Tag wie dieser war früher einmal, als ich um die zwanzig war, ein unerreichbarer Wunschtraum für mich – ein Tag ohne Chaos und selbstschädigendes Verhalten und pure Verzweiflung. Vielleicht wissen Sie, wie sich das anfühlt: einerseits das heftige Verlangen nach dem Ende dieser wilden Achterbahnfahrt, andererseits die Scheu, aus einem so wohlbekannten Leben auszusteigen.
Als Überlebende und Ausgestiegene sehe ich mich jetzt in der Rolle, Ihnen zu erzählen, dass die Achterbahnfahrt kein Schicksal auf Lebenszeit sein muss. Und dass das Rettende, das Sie aus der Geiselhaft des Chaos befreit, nicht irgendwo anders zu finden ist, sondern in Ihnen. Wirklich, der Held dieser Geschichte ist nicht Ihr Therapeut, Ihr Medikament, Ihr Partner, Ihre Kinder, ja nicht einmal dieses Buch, der Held in Ihrem Leben, so kitschig es klingen mag, sind immer einfach Sie. Ob Sie es glauben oder nicht, Ihr Körper und Ihr Gehirn sind von Natur aus so raffiniert angelegt, dass Sie nicht nur unter den denkbar widrigsten Umständen überleben können, sondern dass Sie auch imstande sind, wahrhaft zu leben und zu gedeihen. Sie und sonst niemand sind Ihre eigene Heilerin, Ihr eigener Heiler. Passenderweise läuft gerade Mariah Careys hymnischer Song »Hero« im Hintergrund. Look inside you and be strong …
Sowohl im Leben als auch im Beruf habe ich erfahren, dass Genesung nicht darin besteht, sich irgendwie neu zu erfinden. Sie werden gesund, wenn Ihnen bewusst wird, wer Sie waren, bevor Ihr Nervensystem Ihnen einflüsterte, wer Sie sein sollten. Nach einem als überwältigend empfundenen Trauma verfängt sich das Nervensystem gern in einem chronischen Überlebensmodus (Kampf, Flucht, Abschalten, Erstarren oder Beschwichtigen, worauf wir später noch detailliert eingehen werden). Somit bleiben wir scheinbar in einer adrenalingetränkten Überlebensreaktion gefangen – man spricht hier auch vom »Zyklus der Bedrohungsreaktion« –, auch wenn wir gegenwärtig längst in Sicherheit sind. Peter Levine, der Entwickler des Somatic Experiencing als Methode der Traumaheilung, um die es in diesem Buch gehen wird, umschreibt es treffend mit folgenden Worten:
Trauma ist eine innere Zwangsjacke, die entsteht, wenn ein vernichtender Augenblick gleichsam eingefroren wird und dann in der Zeit stillzustehen scheint. Trauma unterdrückt die Entfaltung des Lebens und erstickt alle unsere Bemühungen, mit unserem Leben irgendwie weiterzukommen. Es trennt uns von uns selbst, von anderen, von der Natur und vom Geist. Wenn uns etwas Bedrohliches überfordert, erstarren wir angstvoll, als wäre unsere instinktive Überlebensenergie (Adrenalin) ausgehfein herausgeputzt, hätte aber nichts, wohin sie gehen könnte.
Mit diesem Bild vor Augen lässt sich ermessen, dass Heilung darauf abzielt, uns – oder besser unser Nervensystem – aus der überwältigenden Vergangenheit herauszuziehen und uns auf den Stand der inzwischen sicheren Gegenwart zu bringen.
Mit »Soma« ist der Leib oder Körper gemeint, und beim Somatic Experiencing werden wir sanft aus unserem Kopf in das Erleben unseres Körpers geleitet, wo wir Zugang zum Nervensystem haben. Indem Sie Ihren Körper über Empfindungen, Gefühle und Emotionen kennenlernen, fällt es Ihnen leichter, all das zu verarbeiten, was einst liegen geblieben ist, weil es zu überwältigend war. Damit schließen Sie den damals abgebrochenen Reaktionszyklus ab, sodass die aufgestaute adrenalingesteuerte Überlebensenergie wieder fließen kann. Somatic Experiencing erlaubt Ihnen mehr Präsenz und bessere Selbstregulation.
Stellen Sie sich die Schutzschichten, die Sie sich zulegen mussten, um Ihr Trauma zu überleben, als eine Matrjoschka vor. Zur Heilung ist erforderlich, dass alle diese Schichten – der People Pleaser in Ihnen, der Angsthase, der in Abwehrhaltung Erstarrte, der sich selbst Absondernde und der taub oder gefühllos Gewordene – erst einmal aufgebrochen und abgestoßen werden. Heilung besteht darin, allen diesen Anteilen oder Seiten von Ihnen mitfühlenden Raum zu bieten und Verständnis entgegenzubringen und sich gleichzeitig ins Gedächtnis zu rufen, dass der Kern dessen, was Sie sind, nie verloren gegangen ist, sondern einfach unter diesen Schutzschilden verborgen war.
In diesem Buch werde ich auch von meiner eigenen Konfrontation mit all den Rüstungen und Panzern erzählen, die anfangs mein Überleben sicherten, dann jedoch immer hinderlicher wurden. Außerdem werden Sie eine somatische »Landkarte« bekommen, die Ihnen einen sanften und doch tiefgründigen Weg zur Bekanntschaft mit Ihrem eigenen Panzer weist. Zu welchem Zeitpunkt hat sich Ihr Nervensystem eingeigelt, und welcher Methode hat es sich bedient – Kampf, Flucht, Abschalten, Erstarren oder Beschwichtigen? Was sind die typischen Eigenschaften dieses Panzers, und wie schlägt er sich in Ihren Verhaltens- und Denkmustern, Ihren Überzeugungen, Ihren Gefühlszuständen, Ihrer gesundheitlichen Verfassung und dergleichen nieder? Und warum tragen Sie ihn immer noch, auch wenn das Trauma vorbei und der Kampf beendet ist? Wie können Sie ihn behutsam ablegen, und was wird dann seine Stelle einnehmen?
Ich hoffe sehr, dass Sie beim Lesen dieses Buchs die Anteile Ihrer selbst, die Sie so lange als belastend und selbstzerstörerisch empfunden haben, immer freundlicher betrachten können, um dann zu erkennen, dass es sich lediglich um ungünstige Bewältigungsstile und um Selbstschutz handelte. Ich hoffe auch, dass Sie gegenüber diesen Mustern offen und wissbegierig bleiben können und die zugrunde liegende Wissenschaft Ihnen klarmacht, dass Sie nicht wirklich beschädigt und reparaturbedürftig sind, sondern Ihre Überlebensstrategien genau Ihren Instinktreaktionen auf frühere Erlebnisse entsprachen. Wenn ich mir meinen eigenen Heilungsweg vor Augen halte, dann hätte ich mir das für mich selbst auch gewünscht. Dieses Buch führt all das zusammen, worauf ich in meinen dunkelsten Jahren wirklich gern zurückgegriffen hätte. Dabei handelt es sich um eine Übersetzungsarbeit, es geht weniger um neue Erkenntnisse. Es beinhaltet einfache somatische Praktiken, revolutionäre Ideen, Inspiration und schlichtes Mitgefühl – alles Dinge, die für mich sehr viel mehr Leben und sehr viel weniger bloßes Überleben mit sich gebracht hätten.
Da Sie dieses Buch lesen, gehe ich davon aus, dass Sie wie ich bereits eine ganze Liste von Heilungsansätzen abgearbeitet haben und noch nicht weitergekommen sind. Aber wie gut, dass Sie dieses Buch jetzt lesen und darin vielleicht endlich auf die Mittel der Selbstheilung stoßen, die Ihrem Körper von Anfang an mitgegeben sind. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich innerlich so viele meiner Klientinnen und Klienten, die im Laufe der Jahre wehklagten: »All diese Leidensjahre, hätte ich doch nur früher von diesem Ansatz gewusst!« Nun, immerhin stehen Sie jetzt am Beginn wahrer und dauerhafter Heilung. Ich freue mich so für Sie.
Und in diesem Augenblick führt mich etwas zurück in die Gegenwart mit meiner Tochter. Sie schläft nach wie vor völlig entspannt mit diesem breiten Lächeln im Gesicht. Ich erkenne mich in ihr wieder und erinnere mich noch einmal an die jüngere Britt. Hätten Sie ihr gesagt, sie würde einmal ein Buch mit ihren persönlichen Geschichten von Hoffnung und Heilung und einer altbewährten Wegekarte zur Genesung schreiben, hätte sie Ihnen nicht geglaubt. Tatsächlich war es so, dass mein Gehirn viele der Erinnerungen, von denen ich Ihnen hier erzählen werde, über lange Zeit gnädig verdrängt hat. Ich würde die Arbeit an diesem Buch mit dem Durchstöbern einer staubigen Dachkammer voller Andenken, Porträts und verschnürter Schachteln vergleichen – und jede dieser Schachteln voller Erinnerungen an gute und schlechte Erlebnisse, die aus den Augen, aus dem Sinn geräumt worden waren.
Auch Sie haben einen solchen Dachboden, auf dem es allerlei zu entdecken gibt, das ganze Spektrum von Erfahrungen – Freude, Kummer, Liebe, Angst und mehr. Wenn ich meine Erlebnisse hier nach und nach, Stück für Stück durchgehe, verbinde ich damit die Hoffnung, dass mein therapeutischer Weg und die dabei erlernten Hilfsmittel Ihnen Trost spenden und den Mut geben, es genauso zu machen. In Körperorientierte Traumaheilung gebe ich Ihnen ein bewährtes Heilungsgerüst an die Hand, das Tausenden von Klientinnen und Klienten aus aller Welt einfühlsame Begleitung geboten und die hinderlichen Schutzmauern beseitigt hat, sodass sie sich ein Leben voll Präsenz, Verbundenheit, Vitalität und Freude zurückerobern konnten. Welcher Schmerz auch immer Sie hierhergeführt hat, möge es Ihnen vergönnt sein zu erkennen, dass Leben mehr ist als bloßes Überleben.
Jetzt müssen wir herausfinden, wer Sie sind – das heißt vielmehr, wer Sie waren, bevor Schmerz und Panzer Ihnen sagten, wer Sie sein sollten.
In Liebe
Britt
ERSTER TEIL
Wie und weshalb der Körper Trauma speichert
Hilfsmittel ausfindig machen – eine Einführung
Während Sie dieses Buch lesen, könnte es sein, dass manche Berichte oder Ideen Unbehagen in Ihnen auslösen. Bei Traumata und ihren heutigen Erscheinungsformen ist das nicht anders zu erwarten. Damit Sie über solche Verunsicherungen besser hinwegkommen, möchte ich Ihnen ein Grundelement des Somatic Experiencing vorstellen, das »Resourcing« genannt wird – Suche und Beschaffung von Hilfsmitteln.
Eine solche Ressource ist alles, was auf Körper und Nervensystem ausgleichend, stabilisierend und beruhigend wirkt und mehr Präsenz, Raum und Atemspielraum schafft. Das ist der erste Schritt zu einer verbesserten Selbstregulierung des Nervensystems und notwendig für die Stressbewältigung. Wir brauchen einen Fundus an solchen Mitteln, einen »Werkzeugkasten« mit lauter Ressourcen, die uns das Gefühl geben, dass alles gut, einigermaßen gut oder zumindest ein bisschen besser ist.
Das können innere Ressourcen wie wohlige Gefühle, beruhigende Empfindungen, Bilder oder schöne Erinnerungen sein, oder es sind Impulse von außen, etwa durch geruhsames Wahrnehmen der unmittelbaren Umgebung, durch Koregulation über die Kontaktaufnahme mit anderen oder durch unterstützende Bewegung.
Lassen Sie sich also bei der Lektüre dieses Buchs gegebenenfalls von geeigneten Mitteln und Maßnahmen unterstützen. Weitere Anregungen zum Thema Resourcing finden Sie in Kapitel 16, darunter auch Anleitungen, die Sie Schritt für Schritt an das jeweilige Vorgehen heranführen.
1
Körperorientierte Traumaheilung
Die meiste Zeit meines sechsunddreißigjährigen Lebens habe ich damit zugebracht, das inzwischen angejahrte Puzzle meiner traumatischen jüngeren Jahre zusammenzusetzen. Kaum etwas davon habe ich wirklich in Erinnerung, nur hin und wieder ließen mir näherstehende Angehörige etwas durchblicken. Also nahm ich die Ermittlungen zu meinem Werdegang irgendwann selbst in die Hand. Ich besitze zwar wenig konkrete Kenntnisse darüber, aber wie ich mich fühlte – labil, verunsichert, verängstigt und wie von allem abgekoppelt –, habe ich noch in lebhafter Erinnerung. Als diese Gefühle auch beim Eintritt ins Erwachsenenalter nicht verschwanden, ging mir auf, dass der Eindruck, »nicht liebenswert« zu sein, irgendwie ungesund und nicht normal war. Das stand am Beginn meiner beharrlichen Recherche. Ich wollte wissen, wer diese Britt in jüngeren Jahren eigentlich war und wodurch sie das wurde, was inzwischen aus ihr geworden war.
In diesem Buch möchte ich erzählen und behutsam ausloten, was ich herausgefunden habe und welche Besonderheiten meine Geschichte hat. Zunächst werde ich jedoch erst einmal kurz die Jahre meines Heranwachsens umreißen und dabei darstellen, wie sie mich aus jetziger Sicht geprägt haben.
Die harte Landung
Ich bin 1988 im Sharp Grossmond Hospital in Südkalifornien zur Welt gekommen. Eigentlich hätte es ein unvergesslicher Tag werden sollen, ein Freudentag, doch daraus wurde nichts. Ich hatte Methamphetamin im Blut, weshalb man mich meiner Mutter sofort wegnahm, um mich in Pflege zu geben. Und mein Vater? Der hatte nicht das Verlangen, irgendeine Rolle in meinem Leben zu spielen. Meine Mutter habe ich zwar wiedergefunden, aber damit war nicht automatisch alles in schönster Ordnung. Die Saat der Wertlosigkeit und Verlassenheitsangst war in mir aufgegangen. In meinen frühen Jahren war ich unsicher und mir selbst fremd, und damit begann mein Hang zu Co-Abhängigkeit und beschwichtigendem Verhalten, womit ich mir Anerkennung zu sichern versuchte.
Jahre später brach diese Wunde wieder auf, als mein Bruder bei einem Autounfall jäh aus dem Leben gerissen wurde. Wir waren beide Teenager. Ich verlor jeglichen Halt. Und in dem Bemühen, das Unerträgliche irgendwie erträglicher zu machen, verfiel ich dem Konsum von Alkohol und Drogen. Dieser Selbstrettungsversuch zur Überwindung des Kummers hätte mich beinahe das Leben gekostet, als ich mit einer schweren Alkoholvergiftung im Krankenhaus landete. Aber ich wollte leben und suchte danach Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern, denn war nicht der Alkohol das Problem, wie meine Therapeuten sagten?
Zwei Jahre später, ich war zwanzig, wurde ich von einem wildfremden Mann, der mir nach einer Reifenpanne beim Radwechsel geholfen hatte, brutal vergewaltigt und geschlagen. Mit meiner Aussage konnte ich zwar dazu beitragen, dass er für sechzig Jahre hinter Gitter kam, aber der zwei Jahre dauernde öffentliche Prozess mit all seinen Peinlichkeiten vergrößerte meine Traumatisierung noch. Ich fiel in mein altes Muster der Schmerzbetäubung zurück und trank so unmäßig, dass ich keine dreißig Tage nach der Urteilsverkündung auf dem Betonboden einer Ausnüchterungszelle aufwachte (dazu kommen wir noch im Detail), so voller Wut und Verzweiflung, dass ich mich nicht wiedererkannte.
Es heißt ja, dass man erst ganz unten ankommen muss, bevor man sich zu den notwendigen Veränderungen durchringt, und ganz unten waren bei mir eben diese gut vier Quadratmeter Zellenboden.
Da saß ich nun und hatte nichts anderes im Gepäck als das Unbehagen, das ich mir all die Jahre vom Leib zu halten versucht hatte. Keine Pillen, kein Alkohol, kein Chaos, keine zerrütteten Verhältnisse, die mich hätten ablenken können, nur ich und meine Gefühle allein in einem Käfig. Ich fühlte mich wie ein Dampfkochtopf, der gleich explodieren würde. Die ganze Wut, der Kummer, die Scham, die Angst, all das krachte in heftigen Wellen auf mich herunter. Ich zitterte und schlotterte, dann wieder weinte und wütete ich oder jammerte und stöhnte. Es waren Entladungen des Körpers, wie ich später erfuhr, ein Lösen und Freisetzen von aufgestauter Überlebensenergie (Adrenalin) der Vergangenheit. Ich war vollkommen erstaunt darüber, dass ich da lebend wieder herauskam, und noch erstaunlicher fand ich, dass ich mich erleichtert und so viel besser fühlte.
In diesen paar Tagen stellte sich durch die Freisetzung und Verarbeitung jahrelanger Schmerzen eine Klarheit ein, die ich noch nicht erlebt hatte. In diesen kristallklaren reflektierenden Augenblicken erkannte ich, dass ich wie mein Peiniger hinter Gittern saß. Vielleicht hatten wir mehr miteinander gemein, als mir anfangs bewusst war. Die Verteidigung hatte im Laufe des Prozesses immer wieder seine traumatischen frühen Jahre herausgestellt. Er war als eines von fünfzehn Kindern von einer Tante großgezogen worden, verfügte über wenig Schulbildung und hatte mit körperlichen und psychischen Problemen zu kämpfen. Offenbar hatten wir beide schlechte Karten und standen beide vor derselben Wahl, nämlich unsere Schmerzen für Verbesserungen zu nutzen oder ihretwegen zu verbittern. Er hatte seine Wahl getroffen und würde nun die nächsten sechzig Jahre im Gefängnis verbringen. Und wie war es bei mir? Auf der schiefen Bahn war ich anscheinend auch schon, doch jetzt musste ich entscheiden, ob mein Leben wirklich diesen Verlauf nehmen sollte.
Nach drei Tagen im Gefängnis stand mein Verfahren an, und ich sah mich einer Richterin gegenüber, die ich von meinem Vergewaltigungsprozess her kannte. Ihre Worte prägten sich mir unauslöschlich ein: »Wir lassen die gegen Sie gerichteten Beschuldigungen fallen, aber«, und hier legte sie eine bedeutsame kleine Pause ein, »Sie müssen mit Ihren Schmerzen zu leben lernen.«
Mit den Schmerzen leben lernen. Das war der Wendepunkt, da fügte sich alles zusammen. Sie hatte nichts von Überwinden und Neubeginn gesagt. Mit dem Schmerz leben. So einfach.
In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich nicht mehr weglaufen konnte und dass der Weg der Betäubung und des Ausweichens und des geringsten Widerstands letztlich destruktiver war als die Alternative, mich den Schmerzen der Vergangenheit zu stellen. Es war an der Zeit, die Waffen zu strecken und den immer dicker gewordenen Panzer abzulegen. Nur so würde ich Selbstmitgefühl und Widerstandskraft entwickeln, um die Heilung zu erhalten, die mir wirklich zustand.
Das fehlende Puzzleteil – der Körper
Bis dahin hatten meine Genesungsbemühungen darin bestanden, dass ich hinter geschlossenen Türen zugeknöpften Therapeuten gegenübersaß, die unbedingt wollten, dass ich mir alle quälenden Augenblicke meiner gut zwanzig Traumajahre in Erinnerung rief und noch einmal durchspielte. »Konfrontative Therapie« nannten sie das, alles musste minutiös erinnert und aufgewärmt werden. Wir redeten bis zum Abwinken und blieben immer auf der Überholspur der Story, Gedanken, Bedeutungen und Erkenntnisse. Nur selten wurden wir mal langsam genug, dass auch Gefühle auftauchen konnten. Mein Körper fühlte sich die ganze Zeit wie eine Tretmine an, die bei der geringsten Belastung in die Luft gehen würde. Traten belastende Gefühle auf oder empfand ich sogar Missbehagen, waren meine Therapeuten sofort zur Stelle und forderten mich auf, an »etwas Positives« zu denken. Doch dadurch wurde die Ladung nicht entschärft.
Meine Therapeuten hatten die besten Absichten, aber wenn die Sitzungen zu Ende waren, fühlte ich mich reservierter, angespannter und hoffnungsloser als zuvor. Je mehr ich redete, desto weniger kam ich in Fluss. Ich bekam nichts an die Hand, womit ich irgendetwas gegen das überwältigende Unbehagen meines Körpers hätte tun können. Wut, Trauer, Angst, Enge, Dissoziation und so weiter blieben einfach unbearbeitet, und zur Überbrückung gab es einen Medikamentencocktail, den man mir aufgrund meiner vielen Diagnosen verordnete. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Angststörung, Depression, posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und dergleichen. Es war ein Teufelskreis, und ich begann, an der Medizin und auch an mir selbst zu zweifeln. Es musste sich etwas ändern. So viel war klar.
Die heilsame Erfahrung in der Ausnüchterungszelle hatte ich noch in lebhafter Erinnerung, und so fasste ich den Entschluss, meine Genesung selbst in die Hand zu nehmen. Ich machte mich daran, die Spuren, die meine Traumata hinterlassen hatten, zu erforschen. Schon bald stieß ich auf überzeugende, in der Mainstream-Medizin wenig beachtete Indizien dafür, dass man zur Heilung erst einmal aus dem Kopf und der Story in den Körper gelangen muss. Das war für mich quasi eine Revolution. Hieß das etwa, dass es gar nicht ums Reden, sondern ums Fühlen ging? Die Forschung befasst sich schon seit Jahrzehnten mit Traumatisierung und ihren Folgen, und ich konzentrierte mich auf drei Ansätze, die mir bedeutsam erschienen:
Als Trauma definiert man ein Erlebnis, das so überwältigend ist, dass das Nervensystem damit nicht zurechtkommt. Im Anschluss an ein Trauma kann das Nervensystem in einem Schutzmechanismus (Kampf, Flucht, Abschalten, Erstarren oder Beschwichtigen) gefangen bleiben, der unser Leben, unsere Beziehungen und unsere Gesundheit noch weiter schädigt.Das Nervensystem arbeitet nicht mit Gedanken, Wörtern oder Kognition, sondern agiert über das somatische (körperorientierte) Erleben von Gefühlen, Empfindungen und Emotionen. Dabei handelt es sich um eine Sprache, die in der herkömmlichen Therapie kaum je ernsthaft thematisiert wurde.Beim Menschen spricht man von einer Orientierung »von unten nach oben«, weil 80 Prozent der über den Vagusnerv (unseren Informations-Superhighway) vermittelten Impulse und Signale vom Körper zum Gehirn verlaufen und nur 20 Prozent die umgekehrte Richtung nehmen. Vereinfachend gesagt hat Ihr Körper sehr viel mehr zu melden, wenn es darum geht, wie Sie in der Welt auftreten. Deshalb hat mir das Reden und der Aufbau eines »positiven Mindsets« nicht viel gebracht, als ich versuchte, mich aus Angst, Depression und Kummer zu befreien. Das geht nur übers Fühlen.Unterm Strich fand ich also heraus, dass ein Trauma nicht durch das traumatische Ereignis selbst entsteht, sondern durch den Impuls des Nervensystems, jene Reaktionen unbewusst zu wiederholen, derer es sich seinerzeit bediente, um das Ereignis zu überleben. Bei manchen Menschen äußert sich das in Rückzug (Abschalten) oder Weglaufen (Flucht), wenn Konflikte auftauchen. Andere neigen zum Beschwichtigen und verzichten darauf, dass ihre Wünsche oder Grenzen geachtet werden. Wieder andere gehen in die Luft (Kampf), wenn die Dinge ihrer Kontrolle entgleiten. Viele von uns zeigen mehrere dieser Reaktionsweisen und wir lassen uns von ihnen beherrschen. Es handelt sich um Überlebens- oder Bewältigungsmechanismen, die über den Moment ihrer Nützlichkeit hinaus aktiv bleiben.
Im Zuge meiner Recherchen tauchte ich tief in Peter Levines Arbeit ein, die mich in die Welt des somatischen oder körperorientierten Heilens einführte. In den 1970er-Jahren führte Levine wegweisende Beobachtungen an wild lebenden Tieren durch, die ihn zu einer faszinierenden Frage führten: Weshalb erleiden Tiere der Wildnis, die immer wieder lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt sind, kaum je ein Trauma? Er fand heraus, dass Wildtiere auf bedrohliche Situationen mit körperlichen Instinktreaktionen (Schütteln, Zittern, Knurren, Totstellen usw.) reagieren. So ist es ihnen möglich, die hohe Energiedichte (Adrenalin), mit der das Nervensystem auf Bedrohungen reagiert, zu verarbeiten, zu neutralisieren und durch Entladung zu zerstreuen. Levine kam zu dem Schluss, dass die Reaktionen des menschlichen Nervensystems mit denen des tierischen Nervensystems zwar annähernd identisch sind (weil beide Gehirne wie Säugetier- und Reptiliengehirne aufgebaut sind, worauf wir noch im Einzelnen zurückkommen werden), die menschlichen Instinktimpulse jedoch vielfach unterbrochen oder durch den menschlichen Neocortex, unseren rationalen Verstand, außer Kraft gesetzt oder überschrieben werden.
DIEURSPRÜNGEDESSOMATICEXPERIENCING
Somatic Experiencing entstand in den 1970er-Jahren und gilt als revolutionäre Therapiemethode bei Traumata, die ehemals als Randgebiet betrachtet wurde. Passenderweise wurde die Methode im kalifornischen Berkeley entwickelt, das damals als Zentrum von Progressivität und intellektueller Wissbegier galt. Dieser Ruf machte Berkeley zum perfekten Wirkungsort für Peter Levine, um mit seinen bahnbrechenden Forschungen zu den Auswirkungen von Traumata auf Körper und Bewusstsein zu beginnen. Er besaß Doktortitel in den Fächern Biophysik (University of California in Berkeley) und Psychologie (International University Los Angeles), und Antrieb waren ihm dabei sein persönliches Schicksal, seine private Arbeit mit Trauma-Überlebenden und seine Beobachtungen zur Verhaltensnormalisierung nach lebensbedrohlichen Situationen bei Wildtieren. Er gelangte zu dem Schluss, dass Gesprächstherapie zur Auflösung von Traumata von begrenztem Nutzen ist, weil sie die aufgestaute Erregungsenergie nicht durchgreifend ableitet, weshalb die ausgeschütteten Stresshormone in Körper und Nervensystem wirksam bleiben.
Als Levine beobachtete, dass Wildtiere offenbar in der Lage sind, die Erregung »abzuschütteln«, stellte er sich die Frage, wieso Menschen im Gegensatz zu diesen Tieren in ihrem Trauma gefangen bleiben. Seine Forschungen bilden die Basis des heutigen Somatic Experiencing. Er schrieb dazu: »Ein Mensch muss nach einer Bedrohungssituation die gesamte mobilisierte Energie entladen, um die Situation zu bewältigen, oder er wird ein Traumaopfer. Die übrige Energie geht nicht einfach von selbst weg, sondern bleibt im Körper wirksam und erzwingt die Bildung aller möglichen Symptome, zum Beispiel Angst, Depression, psychosomatische Symptome und Verhaltensprobleme. Solche Symptome sind Abbild des Bemühens eines Organismus (Körpers), die nicht entladene Restenergie unter Kontrolle zu halten.«
In der Folge stützte sich Levine hauptsächlich auf seine Naturbeobachtungen und verknüpfte sie mit der von seinem Freund und Kollegen Stephen Porges entwickelten wissenschaftlich fundierten Polyvagal-Theorie. 1990 machten Levine und Porges schließlich die Körperpsychotherapie zum festen Bestandteil ihres Vorgehens. Heute sind über 60 000 Therapeuten in über 45 Ländern in Levines wegweisender Somatic-Experiencing-Methode der körperzentrierten Traumabewältigung ausgebildet und praktizieren sie. Seine visionäre Arbeit findet überall auf der Welt größten Anklang, und er hat dafür einige der höchsten Auszeichnungen der renommiertesten medizinischen Einrichtungen und Organisationen erhalten, darunter den Psychotherapy Networker Lifetime Achievement Award 2020. Levine widmete dieser Ehrung einige anrührende Gedanken, die er in einem Artikel des International Body Psychotherapy Journal formulierte: »Da ich diese Auszeichnung nicht von Vertretern der körperzentrierten Arbeit erhalte, sondern von solchen der traditionellen Gesprächstherapie, kann ich sicher sein, dass dieser Ansatz jetzt kein Flaschengeist mehr ist, keine Randerscheinung. Körperpsychotherapie gehört von jetzt an zum Mainstream. Denn, um es zu wiederholen, was ich Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre entdeckt habe, macht erkennbar, dass Trauma nicht nur das Gehirn affiziert (…) sondern in erster Linie den Körper.«20
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Wenn diese Überlebenshormone nicht abgebaut werden, können sie in Gehirn und Körper krankhafte Erscheinungen auslösen. Erschwerend kommt für uns Menschen hinzu, dass wir als einzige Spezies einen in bewusste und unbewusste Anteile aufgeteilten Bewusstseinsraum haben. Dadurch kommt es immer wieder vor, dass wir zu sehr »im Kopf« sind, also uns zu sehr im bewussten Teil unseres Geistes aufhalten und unsere Gefühle interpretieren, statt sie einfach zu fühlen und dadurch zu verarbeiten, damit die zugehörige Überlebensenergie (Adrenalin) zum Ausdruck gebracht und aus dem Körper entfernt werden kann. Führen wir uns das an einigen Beispielen vor Augen: Wir spielen unseren Frust oder Ärger (Kampfbereitschaft) herunter, um ein netter Mensch zu sein und den Frieden zu wahren. Wir unterdrücken Furcht und Angst, um ganz ruhig zu wirken. Wir halten unsere Tränen zurück und schlucken sie hinunter, weil wir »positiv« bleiben wollen. Wir scrollen uns durch irgendwelche Kanäle oder lenken uns sonst irgendwie ab, um unsere bedrückenden Gefühle loszuwerden.
Die körperzentrierte Sicht leuchtete mir so viel mehr ein: es fühlen, um es zu heilen. Kein Wunder, dass die Erinnerungsarbeit wenig oder nichts bei mir bewirkte. Ich war meinem Körper wirklich dankbar dafür, dass er es geschafft hatte, mich durch all die Traumaphasen am Leben zu halten – aber ich hatte einfach genug vom Überlebensmodus.
In der Zeit meiner Forschungen und Entdeckungen reifte in mir der Entschluss, mich ganz auf den somatischen Ansatz der körperorientierten Heilung zu verlegen. Danach dauerte es nicht lange, bis die lange Liste der von meinen Therapeuten ermittelten »Diagnosen« wie von Zauberhand von mir genommen wurde und verschwand – die lähmenden Panikattacken, die Selbstmordgedanken, sogar meine Neigung zu Beziehungen, in denen es Co-Abhängigkeit und Misshandlung gab. In den darauffolgenden Monaten konnte ich alle meine Medikamente entsorgen. Meine Rückkehr in den Körper und seine natürliche Weisheit söhnten mich auch mit den finstersten Gefühlen aus. Ich spürte, dass etwas wieder heil werden wollte, und fand zurück zu der Britt, die ich gewesen war, bevor Schmerz und Panzer mich zu einer anderen gemacht hatten.
Heute, über zehn Jahre später, praktiziere ich selbst das Somatic Experiencing und kläre über Trauma und seine Auswirkungen auf. Das ist jetzt meine Berufung, die es mir ermöglicht, unzählige Trauma-Überlebende in aller Welt auf den Weg der Genesung zu führen.
Eine traumainformierte Welt
Bevor wir uns einer Art Übersichtsplan der körperorientierten Heilung zuwenden, müssen wir uns fragen, wie wir in diese Kultur des bloßen Überlebens und der Ratlosigkeit geraten sind, in der wir derzeit leben.
Die Zunahme chronischer, körperlicher und psychischer Erkrankungen lässt sich auf einen einzigen Umstand zurückführen, nämlich dass wir uns eine Welt geschaffen haben, in der unser Nervensystem nicht leben mag. Zur Veranschaulichung: Unser Nervensystem ist wie eine Art Überwachungskamera, die im Unterbewusstsein ständig aktiv ist, um immer rechtzeitig vor allem warnen zu können, was sie als nicht geheuer wahrnimmt. Sobald etwas als bedrohlich empfunden wird, schaltet das Nervensystem auf Überleben um: Kampf, Flucht, Abschalten, Erstarren oder Beschwichtigen. Zugleich werden Stress- beziehungsweise Überlebenshormone in großen Mengen im ganzen Körper ausgeschüttet, um uns auf einen möglichen Kampf vorzubereiten. Da jetzt das Überleben oberste Priorität hat, müssen alle anderen Systeme des Gehirns und Körpers (Immunsystem, Verdauungssystem, Muskel-Skelett-System, Hormonsystem) in Wartestellung versetzt werden, damit das Nervensystem optimal arbeiten kann.
Bleibt das Bedrohungsgefühl über die eigentliche Gefahrensituation hinaus bestehen, friert das Nervensystem gleichsam im Überlebensmodus ein. Das wiederum schadet der körperlichen und geistigen Gesundheit, wodurch noch mehr Stresshormone ausgeschüttet werden. Es ist ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist und dem viele in dieser modernen Welt ausgesetzt sind. Ich spreche von belastenden Dingen wie:
Der gesellschaftliche Druck, mehr zu tun, mehr zu produzieren und mehr Erfolg anzustreben, der bis zum Burnout führen kann.Das polarisierende politische Klima, in dem wir leben.Die von volatilen Märkten geschürten Befürchtungen.Die Urteile, mit denen zu rechnen ist, wenn man Gefühle zum Ausdruck bringt oder sich schutzbedürftig zeigt.Die Umweltgifte in Nahrung, Luft, Wasser und so weiter, denen unser Körper ausgesetzt ist.Die ständige Bombardierung mit Katastrophenmeldungen und sonstigen Nachrichten aus aller Welt.Die Gewissensbisse, die uns plagen, wenn wir Grenzen setzen und in unserem eigenen Interesse handeln.Technische Gerätschaften, die eine Auseinandersetzung mit uns selbst und der Gegenwart verhindern.Scheinbar überall lauern Gefahren, und dann fragen wir uns, weshalb wir krank sind. Wie also können wir aus dem Überlebensmodus herausgelangen? Die Landkarte der körperorientierten Heilung wird Sie umfassend informieren, aber hier erst einmal ein paar einfache grundsätzliche Maßnahmen:
Machen Sie langsamer.Gehen Sie in Ihren Körper.Seien Sie präsent.Machen Sie sich klar, was nervig und blöd ist, und aalen Sie sich in dem, was gut ist (beziehungsweise »schimmert«, wie wir es nennen).Legen Sie mehr Nachdruck auf das, was Sie tatsächlich steuern und bewegen können.Finden Sie heraus, was Ihrer Selbstregulierung dient: Natur, Verbundenheit mit anderen, Bewegung, Ausdruck, Spiel und so weiter.Es geht nicht darum, Bedrohungen auszuschalten. Das ist unmöglich, besonders in unserer heutigen Welt. Vielmehr geht es darum, in allem Wirrwarr trotzdem zu gedeihen, durch das Chaos zu steuern und trotz aller Gefahren in Sicherheit zu sein.
Was ist ihr passiert?
Als ich aufwachte, stand auch schon ein Arzt an meinem Bett. »Brittany, Sie sind im Krankenhaus. Sie sind letzte Nacht mit einer Alkoholvergiftung eingeliefert worden, 3,8 Promille. Dass Sie noch leben, darf man als Wunder bezeichnen.«
Rekapitulieren wir: 2007 war ich aus dem Mittleren Westen nach New York gezogen, um ein Studium zu beginnen. Ich hatte ein Stipendium als Lacrosse-Spielerin bekommen, und nach außen hin sah alles richtig gut aus. Aber unter meiner Maske war ich ein schwer belastetes Mädchen, das den Kummer über den drei Jahre zurückliegenden Verlust seines Bruders und besten Freundes vor seinen Freunden und dem neuen Team verbarg.
Ich wollte unbedingt den Neuanfang an einem neuen Ort, ich wollte kein Mitleid mehr, ich wollte nicht, dass mich alle ängstlich schonten, weil ich noch »in Trauer« war. Ich hielt den Schmerz unter Verschluss und trank. Aber die Traurigkeit nahm zu und wurde unerträglich und ließ sich schließlich nicht mehr überspielen. Mein Alkoholkonsum stieg immer weiter und wurde schließlich so destruktiv, dass ich in jener Schicksalsnacht wirklich beinahe gestorben wäre.
Was mir siebzehn Jahre später noch ganz deutlich vor Augen steht, ist nicht der Albtraum des Aufwachens in dieser Klinik, sondern die darauffolgende quälende Reaktion meiner Trainerinnen und Teamkolleginnen. Ich habe noch in lebhafter Erinnerung, wie ich in einem fensterlosen Büro im Untergeschoss des Sportzentrums saß und mir eine der Trainerinnen ihre ganze Wut und Verachtung entgegenschleuderte. Sie stand unmittelbar vor mir und schrie mir direkt ins Gesicht. Noch jetzt spüre ich den heißen Atem und den Sprühregen ihrer feuchten Aussprache. Höre die Flüche und die schrecklichen Ausdrücke.
Ihre Worte brannten sich mir förmlich ein: Ich sei eine Schande für das ganze Team. Ich hätte ihnen den Ruf als Uni mit dem landesweit höchsten Notendurchschnitt versaut, ganz zu schweigen von der Auszeichnung für besondere Leistungen. Das Renommee der Hochschule war besudelt. Mir wurde bewusst, dass unser Status wichtiger als mein persönliches Wohlergehen war. Meine Gesundheit stand hinter dem öffentlichen Image zurück. Es spielte keine Rolle, dass ich noch trauerte und in mir ein unerträgliches Gefühlschaos tobte. »Wir haben alle eine Vergangenheit. Sieh zu, dass du sie bewältigst.« Mehr Beachtung gab es für mein Trauma nicht.
Die Botschaft war unmissverständlich: Ich war im Team nicht länger erwünscht. Meine Trainerinnen brauchten nur ungefähr eine Woche, um mich zu so etwas wie einer Geächteten zu machen, meine Teamkameradinnen gegen mich aufzubringen, mir Strafen aufzuerlegen und mich schließlich auszustoßen. Mit den stundenlangen Sprints vor Sonnenaufgang als Strafe kam ich zurecht, aber was ich überhaupt nicht aushielt, waren die endlosen Sprints, zu denen das ganze Team gezwungen wurde, während ich von der Tribüne zusah. Es waren so gewaltsame Sprinteinheiten, dass am Ende der Strecke Mülltonnen aufgestellt wurden, in die sich meine Teamkolleginnen übergeben konnten. Bei jedem Schrillen der Pfeife zuckte ich zusammen und vergoss Tränen, während meine früheren Freundinnen, die mir immer die Stange gehalten hatten, mich jetzt wütend und hasserfüllt anfunkelten.
Im November schließlich musste ich die Schule verlassen und hinterließ nichts als zerbrochene Freundschaften und Erinnerungen. Fünf Jahre später stand ich auf einem Podium vor akademischem Publikum und erzählte von meinem Leben, von meinem Heilungsweg, von falschen Vorstellungen und Einschätzungen im Zusammenhang mit Trauma und Genesung. Vor allem sprach ich darüber, wie wir zusammen eine Welt schaffen können, die besser über Traumata informiert ist. In der die Leiden der Menschen nicht mehr als Last empfunden werden und wo wir nicht mehr fragen: »Was ist denn mit der/dem/denen los?«, sondern wissen möchten, was ihnen passiert ist. Eine Welt, in der das Wohlergehen über dem Image steht. Im Nachhinein wünsche ich mir, ich hätte als Achtzehnjährige gewusst, was aus meinen Schmerzen und Schwierigkeiten erwachsen würde.
Ein Zeitalter der Abkoppelung
Dieses Buch erscheint in einer Art Wendezeit. Wie die Jedi-Ritter haben wir uns eingebildet, wir könnten uns über unsere Gefühle erheben. Aber es handelt sich um schlichtes Vermeidungsverhalten, um emotionale Ausweichmanöver, die uns erlauben, unsere seelischen Verletzungen zu verleugnen. Doch sie verfolgen uns und hindern uns am Weiterkommen. Wir haben das Fühlen durch zergliederndes Denken ersetzt, wir übertönen unser Unbehagen und all die unbequemen Gefühle mit gut gemeinter Achtsamkeitspraxis, Meditation und einer verlogenen positiven Haltung. Wir bekennen uns zu einer destruktiven Kultur der Unterdrückung von Gefühlen, in der wir uns besinnungslos allem verschreiben, was Ablenkung verspricht und uns in der willkommenen Entfremdung vom Körper hält – wie beispielsweise das suchtähnliche Anhäufen von immer mehr Überstunden und das ziellose Herumwischen auf unserem Handy. Selbst unsere Bemühungen, etwas gegen unsere psychischen Probleme zu unternehmen, berücksichtigen nicht die Verbindung von Körper und Geist und die dem Körper innewohnende überlegene Weisheit.
Kurzum, da haben wir uns etwas eingebrockt. Über die sozialen Medien haben wir unmittelbar Zugriff auf die Leiden in der Welt, die uns in unvorstellbarer und nie da gewesener Detailtreue vor Augen geführt werden. Körper und Geist sind aber nicht für diese Wucht gerüstet. Sie verfügen noch nicht über die Mittel, um sich gegen diese emotionale Belastung zu behaupten.
Insbesondere die jüngere Generation hat mit nie da gewesenen Problemen zu kämpfen. Bei immer mehr Kids werden ADHS, Depressionen und Angststörungen diagnostiziert. Die Generation Z der zwischen 1997 und 2012 Geborenen wird von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) als »einsamste Generation« der Menschheitsgeschichte bezeichnet.1 Wir starren entgeistert auf die Statistiken und fragen uns: »Was ist nur los mit dieser Generation?«, bedenken aber nicht, in welchem Umfeld die jungen Leute leben. Dabei handelt es sich nämlich um eine Welt, in der wir nicht mehr verbunden sind, weder mit uns selbst noch mit anderen noch mit der Welt an sich. Es ist vergleichbar mit Fischen, die krank werden, weil ihr Aquarium verschmutzt ist. Die Süchte und Krankheiten unserer Kinder sind einfach eine natürliche Reaktion auf ein unnatürliches Umfeld, das dem Denken huldigt, aber der Urintelligenz des Körpers keine Beachtung mehr schenkt.
Und dann kam auch noch COVID-19. Bis dahin war es uns gelungen, unser Unbehagen zu verdrängen oder uns schlichtweg darüber hinwegzusetzen. Sicher, die Pandemie hat ebenfalls zu Traumata geführt, aber Quarantäne und Isolation haben auch die Gelegenheit geboten, uns den Traumata, vor denen wir immer weggelaufen waren, einfach mal zu stellen – vergleichbar mit meiner Erfahrung in der Ausnüchterungszelle. Viele der sonst ständig verfügbaren Ablenkungen waren uns jetzt verschlossen, zum Beispiel Büroarbeit bis spät in die Nacht oder gesellige Treffen, bei denen getrunken wurde, um die raue Wirklichkeit zu vergessen. Das Chaos bot keinerlei Halt mehr. Rückhalt gab es dagegen online, wo die Botschaft war, dass es vollkommen in Ordnung ist, neben der Kappe zu sein. Es herrschte Übereinstimmung darüber, dass diese Welt irgendwie wehtut und jeder sein Päckchen, seine unsichtbaren Verletzungen zu tragen hat.
Ich fand diesen Perspektivwechsel toll. Mir ist ein Gespräch, das ich 2016 mit einer Kollegin geführt habe, noch lebhaft gegenwärtig. Wir plauderten beim Kaffee, und ich vertraute ihr an, dass ich öffentlich gern mehr über das Thema Trauma sprechen würde. Sie erwiderte: »Da kannst du deine Karriereträume ja gleich begraben. Trauma ist kein sexy Thema. Das wollen die Leute nicht hören.«
Damals mag es tatsächlich so gewesen sein; Trauma war irgendwie »zu viel« oder »zu heftig« für die breite Öffentlichkeit. Die Leute hatten einfach nicht die Kapazität oder die Geduld, sich mit Realitäten dieser Art auseinanderzusetzen. Aber während der COVID-19-Pandemie begann sich eine globale Heilungsbewegung herauszuschälen. Darauf hatte ich schon lange gehofft. Ich wünschte mir, das konventionelle Denken würde auf den Kopf gestellt, damit es zu einem aufgeklärten und natürlichen Umgang mit dem Thema Traumaheilung kommen konnte.
Ich glaube sagen zu können, dass wir jetzt eine globale Heilungsbewegung erleben. In den virtuellen und realen Wartezimmern unserer Therapeuten und Fachleute sehe ich mehr Hilfesuchende als je zuvor. Soziale Medien wie Instagram und TikTok sind die neuesten Community-Foren für eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Frage der Traumaheilung. Einige Bücher zum Thema Traumaheilung durch den Körper, beispielsweise Das Trauma in dir:Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir heilen können von Bessel van der Kolk (Originalausgabe 2014), schafften es sogar auf die Bestsellerlisten. Das Paradigma der modernen Therapie wandelt sich vor unseren Augen.
Heilung vom Körper aus
Früher hieß es, Trauma sei als Thema nicht »sexy« genug, aber inzwischen ist es fast schon »zu sexy«, zu trendig. Eine Studie aus dem Jahr 2022 vermerkt, das Wort »Trauma« sei in den Zehnerjahren des neuen Jahrtausends zwanzigmal häufiger in Artikeln psychologischer Fachzeitschriften vorgekommen als noch in den 1970er-Jahren. Das wirkte wie ein Vergrößerungsglas, sodass es jetzt immer mehr Traumaheilungsbücher von Wissenschaftlern, Ärzten und psychologischen Fachleuten gibt. Die bieten zwar Aufklärung und Information, aber die meisten haben eher Lehrbuchcharakter und bleiben beim inzwischen überholten Behandlungsstandard: Gesprächstherapie, Medikamente und Symptommanagement.
Beim therapeutischen Modell der Erinnerungsarbeit und des konfrontativen Vorgehens (auf das ich im nächsten Kapitel eingehen werde) wirkt sich besonders nachteilig aus, dass die meisten Mediziner annehmen, es gehe bei einem Trauma um das Ereignis selbst, und darum müsse man tief in die Vorkommnisse eintauchen und all das Belastende haarklein zerpflücken. Die Erfahrung zeigt aber, dass dieses Vorgehen, das desensibilisierend wirken soll, die Symptome eher verschlimmert und unser Nervensystem nur noch weiter überlastet, bis wir praktisch gezwungen sind, abzuschalten.2 In diese Verfassung geraten wir erst dann, wenn das Nervensystem völlig überfordert ist und alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Dann sind wir in unserem Überlebensmodus, in dem das Schmerzempfinden betäubt ist – aber betäubt und geheilt sind nicht dasselbe. Äußerlich scheint es uns dann besser zu gehen (weniger Wut oder Angst beispielsweise), aber innerlich überschwemmen uns nach wie vor die Überlebenshormone, die erst abgebaut werden können, wenn die Dinge gefühlt und erlebt worden sind.
»Desensibilisieren« heißt ja, dass wir uns von unserer Sensibilität und damit letztlich von unserem Empfinden abwenden. Nun ist das Empfinden aber die erste Sprache des Nervensystems und unabdingbar, wenn Heilung auch nur angebahnt werden soll. So sagt Peter Levine: »Das Trauma besteht nicht im Ereignis, es liegt im Nervensystem.«
Deswegen suchen mich viele meiner Klienten nach jahrelangem Verharren im Überlebensmodus auf. Sie haben keine Heilungsbemühungen gescheut, kommen aber mit ihren höchst hinderlichen Gefühlen einfach nicht weiter. Der ewige Kreislauf von häufig mit Co-Abhängigkeit verbundenen Therapiesitzungen, Medikamenten und täglichem Zurechtkommen ist ihnen nur allzu vertraut geworden. Eine Klientin erzählte, es ziehe sie nach der Therapie immer gleich in die Kneipe, so fertig, überdreht und retraumatisiert sei sie vom ständigen Aufwärmen ihres Traumas. Das konnte ich nur allzu gut nachvollziehen. Selbst nach Jahren der Therapie in der Obhut wohlmeinender Profis betrank ich mich immer noch und traf Entscheidungen, die überhaupt nicht gut für mich waren. Wie bei so vielen meiner Klienten, die ich begleitet habe, war das Sprechen über mein Trauma nichts, was mir den Zugang zur Heilung öffnete, sondern eher etwas, was diesen Zugang versperrte.
Wie also weiter? Der angesehene Traumaexperte Gabor Maté gibt dazu folgende Anregung: »Trauma ist nicht das, was dir widerfährt (also das Ereignis selbst), Trauma geschieht vielmehr in dir, und zwar als Folge dessen, was dir widerfahren ist.« Weil Trauma zuerst im Körper erlebt und gespeichert wird, sollte auch dort die Heilung ansetzen.
Da es inzwischen immer mehr Studien zu diesem Thema gibt, wird der schon seit Jahrzehnten bekannte somatische Heilungsansatz allmählich zum Mainstream. Dazu die folgende Aussage einer früheren somatischen Klientin: »Als diplomierte Therapeutin möchte ich sagen, dass ich meinen Beruf zwar wirklich liebe und vielen Menschen helfen konnte, aber dass die Gesprächstherapie beim Umgang mit Traumata nicht das leistet, was man von ihr erwartet. Bei mir war es so, dass ich erst mein Nervensystem und seine Regulierung kennenlernen musste, bevor ich zurück ins Leben fand.«
HANNAHSGESCHICHTE
Kindheit und frühes Erwachsenenalter waren bei mir durch allerlei chronische Krankheiten seelischer und körperlicher Art geprägt. Ich ging jede Woche zur Gesprächstherapie, doch das führte zu nichts. Anfang zwanzig war ich Mutter geworden, und mit meiner Gesundheit ging es immer weiter bergab. Jeden Monat bekam ich neue Medikamente, die nichts brachten, und lebte wirklich ein Leben voller Schmerzen. Ich kam einfach nicht weiter. Doch ich hatte Glück, denn eine Freundin legte mir nahe, etwas für meine Nerven und damit für meine Genesung zu tun. Über meine Nerven hatte ich noch nie nachgedacht und besaß auch keinerlei Kenntnisse darüber. Also begann ich mich online über das Nervensystem und seine generelle Bedeutung für die Gesundheit und speziell für chronische Krankheiten zu informieren. Ziemlich schnell stieß ich auf Brittanys Namen. Ich sah mir ihre Videos an und wusste gleich: Das ist es, was mir endlich weiterhilft, und zwar nicht nur psychisch, sondern auch bei meinen chronischen Beschwerden. Bis dahin hatte ich den Großteil meines Lebens mit Gesprächstherapie zugebracht, aber die Gespräche drehten sich eigentlich nur noch im Kreis, und ich hatte nie das Gefühl, dass sich irgendetwas für mich änderte oder auch nur verschob. Am Ende jeder Sitzung fühlte ich mich mies.
Ich meldete mich für das Body-First-Healing-Programm (BFHP) an und bekomme bis heute Einzelsitzungen bei Brittany. BFHP brachte mir in ein paar Monaten mehr als all die Jahre Gesprächstherapie. Ich hatte so viele Diagnosen bekommen, dabei ging es eigentlich nur um ein falsch reguliertes Nervensystem und ein vielschichtiges Entwicklungstrauma, die es aufzulösen und abzubauen galt. Endlich hatte ich das Gefühl, dass ich die Dinge selbst in der Hand habe und es nicht einfach um eine psychische Störung geht, auf die ich eigentlich keinen Einfluss nehmen kann. Kaum hatte ich mich über Bau und Funktion des Nervensystems informiert, änderte sich mein ganzes Denken über meine psychischen und physischen Leiden.
Brittany hat mich und mein Nervensystem in den letzten beiden Jahren auf den Weg der somatischen Heilung geführt. Mit ihrer Hilfe konnte ich eine Menge von dem aufarbeiten, was mich seit meiner Kindheit begleitete und wovon ich nicht einmal wusste, dass es in mir wirksam war und sogar körperliche Erkrankungen hervorrief – chronische Schmerzen, Kopfweh und Magenbeschwerden. Die neue Klarheit in meinem Gefühlsleben, das Wissen darum, dass der Körper alles festhält, was ich erlebt habe, während ich ihn nie fühlen ließ, hat mein Leben von Grund auf geändert. Ich bin jetzt dabei, meinen Körper bewusster wahrzunehmen und mir so klarzumachen, wo in diesem Körper ich Gefühle und Erfahrungen wahrnehme. So befreie ich mich nach und nach von körperlichen und seelischen Schmerzen und erlebe dabei, wie die Selbstregulation immer besser funktioniert und mich gelassener macht. Ich durchmesse mein Leben zunehmend mit einem starken und sattelfesten Nervensystem.
Ich bin so erleichtert, im Internet auf Brittany gestoßen zu sein, denn ich bin mir sicher, dass ihr Wissen, ihre Lehrtätigkeit und ihre Leidenschaft für das Nervensystem für viele etwas bewegen können, so wie sie für mich viel bewegt haben. Zum Glück bin ich diesem System, das mir nie etwas gebracht hat, entkommen. Stattdessen konnte ich mich in meinem eigenen Körper umsehen und dadurch Heilung finden. Dieses so entscheidende Vorgehen versuche ich auch meinen Kindern zu vermitteln, damit sich in ihrem Leben nichts von dem wiederholt, was über so viele Jahre mein Leben geprägt hat.
Somatic Experiencing – die Basics
Beim Somatic Experiencing geht es grundsätzlich darum, mit dem körperlichen Erleben, den Empfindungen und Gefühlen, verbunden zu sein, statt ihnen auszuweichen oder sie zu unterdrücken. Wir wollen unseren Gefühlen Raum geben und ihnen nicht die Tür weisen. Warum ist das so wichtig? Dazu wollen wir zunächst den gern verwendeten Ausdruck »emotional aufgeladen« betrachten. Wussten Sie, dass Ihre Gefühlsregungen tatsächlich eine energetische Ladung haben?
Wenn Ihr Nervensystem etwas Bedrohliches wahrnimmt, geht es in Abwehrhaltung und leitet den Reaktionszyklus ein. Diese physiologische Reaktion soll unmittelbaren Schutz durch die Ausschüttung der mobilisierenden oder »geladenen« Stresshormone Adrenalin und Cortisol bieten und den Körper auf Kampf, Flucht, Abschalten, Erstarren oder Beschwichtigen einstimmen. Der Körper befindet sich dann im Überlebensmodus, der zwar kurzfristig Sinn macht, als längerfristige Maßnahme jedoch ungeeignet ist. Unser Körper ist nicht dafür gebaut, dauerhaft in diesem Modus zu sein. Wenn wir diese Ladung ignorieren oder unterdrücken, setzt sie sich im Körper fest. Man kann sich das so vorstellen: Wenn wir unsere Gefühle oder unser Trauma zu unterdrücken versuchen, begraben wir sie gleichsam lebendig. Dadurch entsteht eine mit Stresshormonen vergiftete innere Atmosphäre, aus der eine große Anfälligkeit für chronische Beschwerden resultiert.
Ein gesunder Stressreaktionszyklus kann das Nervensystem in vier Schritten in seine Neutralstellung zurückversetzen:
Neutral: In dieser Verfassung fühlen Sie sich sicher, eingebunden und wohl.Aktivierung: Eine empfundene Gefahr ruft Ihr Nervensystem auf den Plan und versetzt es in den Abwehrmodus (Kampf, Flucht, Abschalten, Erstarren, Beschwichtigen). Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet.Mobilisierung: Wenn Sie dem natürlichen Impuls Ihres Nervensystems stattgeben können, entladen sich die Überlebenshormone anschließend und können den Körper verlassen.Deaktivierung: An die Entladung schließt sich die natürliche Deaktivierung an.Wiederherstellung: In dieser abschließenden Phase findet der Körper in sein wohliges Gleichmaß zurück und erreicht zuletzt wieder seine Neutralstellung.Vereinfachend können wir auch von vier emotionalen Ereignissen sprechen:
Entstehung: Im Körper entsteht ein Gefühl, beispielsweise Angst.Empfindung: Wir lassen das Gefühl zu und vermerken die begleitenden Empfindungen (z. B. Engegefühl in der Brust, beschleunigter Herzschlag, Wärmeempfindung in den Gliedmaßen, Zittern).Ausdruck: Wenn wir dem körperlichen Erleben Raum geben, können Ausdrucksimpulse folgen (etwa indem wir Grenzen setzen, weggehen oder weglaufen, weinen, lachen, Erschütterung bekunden).Entladung: Unsere Ausdrucksimpulse geben dem Körper Gelegenheit, die emotionale Ladung und damit auch die Stresshormone abzubauen.Sehen wir uns anhand eines Beispiels an, wie dieser Reaktionszyklus im Alltag aussehen kann: Sie sind trällernd in Ihrem Wagen unterwegs, ganz im Hier und Jetzt und entspannt (1. Schritt, neutral). Dann hören Sie auf einmal Sirenen, die sich schnell von hinten nähern, und bemerken im Rückspiegel aufleuchtende Lichter. Sie schauen auf den Tacho und registrieren, dass Sie zu schnell fahren. Schreck und Panik befallen Sie. Werden Sie jetzt wohl herausgewunken? Sie stellen die Musik ab und umklammern das Lenkrad. Ihnen ist heiß, Sie schwitzen, Ihr Herz rast, und Sie behalten den Rückspiegel genau im Auge (2. Schritt, Aktivierung). Sie wechseln schon mal auf die rechte Spur und verringern das Tempo. Sie halten die Luft an, und dann schießt der Polizeiwagen an Ihnen vorbei. Ihnen entfährt ein »Gott sei Dank!«, gefolgt von einem Schütteln der Hände und Arme. Vielleicht lachen Sie sogar und geben ein lautes »Puhhh!« von sich. Der stimmliche Ausdruck und die Bewegungen lassen Sie den Adrenalinschub voll und ganz erleben und ihm Ausdruck geben, sodass er dann wieder abklingen kann (3. Schritt, Mobilisierung) . Jetzt sind Sie wieder ganz im Hier und Jetzt, wechseln in Ihre Spur zurück und beruhigen sich. Ihr Puls verlangsamt sich, die Körpertemperatur fällt, die Muskeln lockern sich, und Sie machen die Musik wieder an (4. Schritt, Deaktivierung).
Das ist ein schönes Beispiel für die natürliche Fähigkeit Ihres Nervensystems, zwischen Aktivierung und Deaktivierung hin- und herzuschalten oder zu »pendeln«, wie wir auch sagen. (Mehr dazu im zweiten Teil dieses Buchs.) Dieser natürliche Zyklus wird unterbrochen, wenn wir Gefühle nicht zulassen und ihnen den Ausdruck verweigern. Er wird aber auch gestört, wenn das Erlebnis Sie überfordert oder überrascht oder zu schnell vor sich geht und Ihr Nervensystem deshalb nicht mithalten kann. In beiden Fällen bleiben wir im Stadium der Aktivierung und Mobilisierung stecken. Das war bei mir 2009 der Fall, als dieser fremde Mann nach dem Reifenwechsel über mich herfiel. Mein Nervensystem versuchte die ganze Zeit, aktiv zu bleiben und sich zu meinem Schutz zur Wehr zu setzen, doch der Mann überwältigte mich. So blieb die Überlebensenergie