Körperorientierte Traumatherapie - Dagmar Härle - E-Book

Körperorientierte Traumatherapie E-Book

Dagmar Härle

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Beschreibung

Wenn wir über Trauma sprechen, steht meist das Ereignis, die erzählbare Geschichte, im Mittelpunkt. Ein Trauma ist jedoch vor allem ein Erlebnis, das dem Körper widerfahren und dort gespeichert worden ist. Deshalb kommt man allein mit kognitiv orientierten therapeutischen Zugängen bei vielen Patienten nicht weiter. Ihre Erfahrungen als Traumatherapeutin und Yogalehrerin sowie eine Ausbildung in traumasensitivem Yoga (TSY) bei David Emerson ermutigten die Autorin, die Grundsätze des TSY auf das Eins-zu-Eins Setting zu übertragen. Sie stellt Asanas und Atemübungen vor, die sich zur individuellen Prozessbegleitung komplex traumatisierter Patienten eignen. Betroffene können so behutsam lernen, ihren Körper wieder zu spüren und ihre Affektregulation zu verbessern. Dagmar Härles Buch eröffnet einen Raum, in dem sich traditionelle indische Konzepte des Yoga (Osten) und moderne Erkenntnissen aus der Psychotraumatologie (Westen) begegnen.

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Dagmar HärleKörperorientierte TraumatherapieSanfte Heilung mit traumasensitivem Yoga (TSY)

Über dieses Buch

Wenn wir über Trauma sprechen, steht meist das Ereignis, die erzählbare Geschichte, im Mittelpunkt. Ein Trauma ist jedoch vor allem ein Erlebnis, das dem Körper widerfahren und dort gespeichert worden ist. Deshalb kommt man allein mit kognitiv-orientierten therapeutischen Zugängen bei vielen Patienten nicht weiter.

Ihre Erfahrungen als Traumatherapeutin und Yogalehrerin sowie eine Ausbildung in traumasensitivem Yoga bei David Emerson ermutigten die Autorin, die Grundsätze des TSY auf das Eins-zu-Eins Setting zu übertragen. Anhand verschiedener Beispiele stellt sie Asanas und Atemübungen vor, die sich zur individuellen Prozessbegleitung komplex traumatisierter Patienten eignen. Betroffene können so behutsam lernen, ihren Körper wieder zu spüren und ihre Affektregulation zu verbessern.

Dagmar Härles Buch eröffnet einen Raum, in dem sich traditionelle indische Konzepte des Yoga (Osten) und moderne Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie (Westen) begegnen.

Dagmar Härle, Master of Psychotraumatologie (Univ. Zürich), Yogalehrerin (RYT 200), Practitioner Somatic Experiencing (SE), EMDR, cert. Facilitator TC-TSY (traumasensitiver Yoga, Traumacenter Brookline); Ernährungswissenschaftlerin, DVNLP Lehrtrainerin und Lehrcoach. Langjährige Tätigkeit als Coach und Traumatherapeutin in eigener Praxis in Basel.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2015

Fotos im Innenteil: Sabine Tröndle

Coverfoto: © 2013 Gerti G., Photocase

Covergestaltung / Reihenentwurf Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2015

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-333-1

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-379-9 (EPUB), 978-3-95571-381-2 (PDF), 978-3-95571-380-5 (MOBI).

Vorwort

Dagmar Härle gehört zu der ersten Gruppe von zehn Absolventen, die im April 2014 die Ausbildung am Trauma Center in Brookline, Massachusetts, erfolgreich als cert. Facilitator TC-TSY (traumasensitiver Yoga, Trauma Center) abgeschlossen hat. Das Zertifikat bescheinigt den Teilnehmenden, dass sie traumasensitiven Yoga (TSY) unterrichten dürfen, als Ergänzung zur Behandlung komplex traumatisierter Menschen, einer Störung, die in der Literatur auch als behandlungsresistente PTBS bezeichnet wird.

Die von uns am Trauma Center entwickelte Methode ist der erste auf Yoga basierende Behandlungsansatz für komplex traumatisierte Menschen, der mithilfe von staatlichen Mitteln in einer randomisiert kontrollierten Studie untersucht wurde. Die 2014 publizierten Ergebnisse haben, neben anderen interessanten Erkenntnissen, bei der TSY-Gruppe einen klinisch signifikanten Rückgang der PTBS-Symptome gezeigt.

Der Begriff komplexe Traumatisierung hilft uns, die vielschichtigen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf den Einzelnen zu verstehen, allen voran Traumata, die den zwischenmenschlichen Bereich betreffen (Dinge, die Menschen einander antun einschließlich physischem und emotionalem Missbrauch). Dank der Arbeit vieler Forscher und Kliniker haben wir einen recht guten Einblick in komplexes Traumageschehen. Daher ist es jetzt an der Zeit, funktionierende Behandlungsansätze ausfindig zu machen und zu fördern. Das vorliegende Buch ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Seit 2003 beziehen Dr. Bessel van der Kolk, Gründer und medizinischer Direktor des Trauma Center, und ich TSY in die klinische Behandlung mit ein. Uns wurde immer deutlicher, dass ein Trauma den ganzen Organismus einer Person betrifft und nicht allein eine Störung ihres Verhaltens und Denkens ist. Anders ausgedrückt: Die Behandlung muss den ganzen Menschen erreichen und nicht nur den Teil, der über die Vergangenheit nachdenkt und die Zukunft plant. Wir wollten die Patienten so wahrnehmen und behandeln, wie sie sich uns präsentierten, was im Grundsatz bedeutet, dass wir uns mit dem „inkarnierten / verkörperten“ Menschen (embodied being) beschäftigen. Dass ein Mensch einen Körper hat, scheint sich von selbst zu verstehen. Hingegen ließe sich darüber diskutieren, dass in der „Mainstream-Psychotherapie“ aufgrund ihres psychodynamisch und psychoanalytisch geprägten Menschenbildes dieser Fakt schlichtweg ignoriert wird.

Die meisten Therapeuten befassen sich mit den sprachlichen Äußerungen einer Person. Es ist also im wahrsten Sinne des Wortes ein „Kopfspiel“. Der Teil eines Menschen, der sprechen, über die Vergangenheit reflektieren und die Zukunft planen kann, ist jedoch auf eine bestimmte Gehirnregion beschränkt, den Stirnlappen bzw. Neokortex; also auf einen sehr kleinen Bereich des menschlichen Organismus. Natürlich passieren in diesen ca. 500 Gramm grauer Masse ziemlich wichtige Dinge. Wenn wir uns aber bei einem komplex traumatisierten Menschen nur um dieses kleine Segment kümmern – und darauf verweist Dagmar Härle in ihrem Buch –, werden wir womöglich scheitern. Wir lassen unsere Patienten im Stich und glauben als Helfer versagt zu haben. Das berechtigte Bedürfnis mancher Menschen, ihre traumatischen Erlebnisse durchzuarbeiten, von jemandem angehört und verstanden zu werden (auch von einem guten Therapeuten), soll hiermit keineswegs in Abrede gestellt werden. TSY versucht lediglich, einen größeren Bereich der Person, nämlich den vom Hals abwärts, in die Behandlung einzubringen. Interessanter- wie ironischerweise legen aktuelle Forschungsergebnisse nahe, dass die Arbeit mit dem Körper positive Wirkung in genau den Regionen des Gehirns erzielt, die Traumafolgen hervorrufen. Eine Verbindung zwischen Körper und Gehirn zu schaffen könnte sich letztendlich als wichtigste Aufgabe der Traumatherapie erweisen.

In ihrem Buch untersucht Dagmar Härle zum einen die wahre Natur traumatischer Erlebnisse und deren Folgen für den gesamten menschlichen Organismus. Zum anderen zeigt sie, wie eine modifizierte Form des Yoga-Übens sich als wichtigstes Element in der Traumabehandlung erweisen kann. Dagmar Härle verfügt über Kompetenzen als Traumatherapeutin und Yogalehrerin. Indem sie das Verbindende zwischen diesen scheinbar verschiedenen, doch in Wirklichkeit verwandten Gebieten auslotet, verschafft sie dem Leser einen neuen Zugang, ein Trauma zu verstehen und zu behandeln. Doch nicht jede Art von Yoga ist geeignet. Am Trauma Center haben wir viele Jahre daran gearbeitet, die Form des Yoga, wie sie gemeinhin in Yogaschulen und Gesundheitskursen von Millionen von Menschen weltweit praktiziert wird, abzuwandeln. Wir haben unsere modifizierten Formen in klinischen Studien erprobt, bis das heutige Modell des TSY feststand. In diesem Buch legt die Autorin nachdrücklich dar, dass Yoga für die Anwendung in der Traumatherapie modifiziert werden muss, weil andernfalls die Gefahr droht, die traumatischen Muster zu verstärken.

Mit ihrem Buch trägt Dagmar Härle zu dem wachsenden Verständnis bei, dass Trauma den ganzen Organismus betrifft und sich nicht auf Denkprozesse, Verhaltensweisen oder Aussagen eines Menschen beschränkt. Sie geht jedoch noch einen Schritt weiter: Sie bietet praktische und handfeste Werkzeuge an, mit deren Hilfe der Leser Traumafolgen viel effizienter und wirksamer behandeln kann. Das macht ihr Buch zu einem wichtigen Beitrag auf dem Gebiet der Traumatherapie.

David Emerson, Oktober 2014

David Emerson ist Director of Yoga Services am Trauma Center in Brookline, Massachusetts.

Einleitung

„Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht nicht der menschliche Körper, sondern der Mensch. Der Mensch als Ganzes in all seinen Beziehungsmöglichkeiten zu sich, zu seinem Körper, zu seinem Leben und zu seiner Umwelt.“

(Elsa Gindler 1931)

Seit Urzeiten haben Menschen versucht, mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen. Verstörende und traumatisierende Ereignisse gab es schon immer, jedoch waren und sind die Methoden, den Folgen dieser Erschütterungen entgegenzutreten, sehr unterschiedlich. Sie reichen von schamanistischen Ritualen zur Seelenrückholung über körperliche Ausdrucksformen wie Gesang und Tanz bis hin zu kognitiven und narrativen Formen.

Viele unserer neuzeitlichen therapeutischen Ansätze im Westen beruhen auf kognitiven Überlegungen, jedoch zeigt sich eine Traumatisierung nicht allein in der Veränderung von Überzeugungen. Aufgrund der anhaltenden Stressantwort hat sie auch somatische Folgen, die sich auf die Körperhaltung, -reaktionen und -empfindungen auswirken. Gefühle von Taubheit und Getrennt-Sein vom eigenen Körper wechseln sich mit oft starken, überwältigenden Reaktionen auf Trigger ab und erschweren häufig ein effizientes, therapeutisches Vorgehen. Das vorliegende Buch setzt den Fokus auf die körperlichen Auswirkungen und Reaktionen. Ich stelle Ihnen keine neue Methode vor, sondern sehe die körperorientierte Arbeit als Basis und Ergänzung zu den gut untersuchten probaten Methoden der Traumabehandlung.

Warum ich mit Yoga in der Traumatherapie arbeite

Die Idee, Yogaasana (Haltungen), Pranayama (Atemschulung) und Achtsamkeit in die traumatherapeutische Arbeit zu integrieren, entstand in der Arbeit mit meinen Patienten.

Ich hatte meine Ausbildung in Somatic Experiencing absolviert und mein Masterstudium in Psychotraumatologie abgeschlossen und bin bis heute davon überzeugt, dass Expositionstherapie in Kombination mit einem körperorientierten Ansatz bei der Behandlung von komplexen Traumafolgestörungen zielführend ist. Bei manchen Patienten kam ich damit jedoch nicht weiter. Für einige komplex traumatisierte Menschen war Exposition von traumatischen Inhalten schlicht nicht tolerierbar. Bezug auf den Körper zu nehmen, also den Körper ins Denken und Fühlen mit einzubeziehen oder auch nur über Körperempfindungen zu sprechen war für sie so verstörend, dass sie mit Panik und Dissoziation reagierten. Als ausgebildete Yogalehrerin und langjährig Yogapraktizierende habe ich die Vorzüge der Körperarbeit in Bezug auf ein ausgeprägteres Körpergewahrsein, vermehrte Achtsamkeit, Entspannung im Alltag und Präsenz im Hier und Jetzt am eigenen Leib erfahren. Mein persönliches Erleben sowie die Rückmeldungen meiner Yogaschüler ermutigten mich, Yoga in die Traumatherapie zu integrieren. Die ersten Gehversuche machte ich mit einer kleinen Gruppe von Patientinnen. Ich bot ein sanftes Yoga an, das viel Raum für achtsames Nachspüren ließ und vor allem wenig direktiv war. Wenn also jemand etwas nicht machen wollte oder konnte, war das okay.

Es war faszinierend, welche Fortschritte die Teilnehmerinnen meines „Achtsamkeits-Yogakurses“ in der Therapie machten. Es schien, als gäbe es für sie erst jetzt einen Körper, dem etwas „zugemutet“ werden konnte. Endlich waren wir arbeitsfähig. Eine Patientin bestätigte meine Beobachtungen: „Die Therapie hat erst durch das Yoga begonnen. Davor war ich ja überhaupt nicht in meinem Körper und es ging gar nichts.“ Diese Erfolge ermutigten mich, Yoga vermehrt in die Traumatherapie zu integrieren, vor allem auch in das Einzelsetting, in dem ich auf die individuellen Bedürfnisse eingehen kann. Ich begann, Yogaasanas und Pranayama gleichsam in die Traumatherapie einzuweben, mit Patienten Ressourcen zu erarbeiten, Körperwahrnehmung zu fördern und so auf sanfte Weise einen Zugang zum eigenen Körper zu ermöglichen. Durch einen Grundkurs und den späteren Zertifikationslehrgang in traumasensitivem Yoga (TSY) bei Dave Emerson[1] und seinem Team erfuhr meine Arbeit eine Systematisierung, Erweiterung und Vertiefung. Van der Kolk und Emerson, beide Pioniere und Meister auf dem Gebiet der Integration von Yoga in die Traumaarbeit, haben diesen therapeutischen Einsatz von Yoga entwickelt. Er beruht auf aktuellen Forschungsergebnissen zu Trauma und PTBS und berücksichtigt Erkenntnisse aus der Gehirnforschung und Bindungstheorie. Die positive Wirkung auf die PTBS-Symptomatik, die mit anderen traumatherapeutischen Methoden vergleichbar ist, wurde inzwischen durch mehrere Studien wissenschaftlich belegt.

Als Traumatherapeutin arbeite ich in meiner Praxis vor allem im Eins-zu-eins-Setting. Ich wollte deshalb auch gerne meine Erfahrungen und die Grundsätze von TSY in die Einzeltherapie einfließen lassen, um so traumasensitives Yoga nicht nur für Gruppen und Einzelpersonen zu unterrichten, sondern es auch als Möglichkeit zur individuellen Prozessbegleitung einzusetzen. Aus meiner langjährigen Erfahrung mit Asanas, Pranayama und Achtsamkeit in der körperorientierten Traumatherapie entwickelte ich, in Kombination mit den Grunsätzen des TSY, ein Instrument für Traumatherapeuten. Mit dessen Hilfe lassen sich individuelle Affekt- und Selbstregulationmöglichkeiten erarbeiten. Außerdem eignet sich diese Form der körperorientierten Arbeit für den Ressourcenaufbau.

Wenn wir über Trauma sprechen, steht normalerweise nicht das körperliche Erleben im Mittelpunkt, sondern das Ereignis, also die erzählbare Geschichte. Damit erklären wir die Symptome und Veränderungen im Denken, Fühlen, Verhalten und Handeln der Betroffenen. Ein Trauma besteht jedoch nicht nur aus im Gehirn festgesetzten Erinnerungen in Form von Bildern, Gerüchen, Geräuschen und Affekten. Ein Trauma ist vor allem ein Erlebnis, das dem Körper widerfahren und dort gespeichert worden ist. Ein Trauma ist folglich auch die Geschichte eines Körpers, der zum Zeitpunkt eines Ereignisses oder – bei schwer Traumatisierten – im Verlauf der peinigenden Geschehnisse über einen bestimmten Zeitraum eingefroren und in einer sich ständig wiederholenden Stressantwort stecken geblieben ist. Diese Lähmung zeigt sich körperlich in Bewegungs-, Atem- und Haltungsmustern. In Gefahrensituationen möchte der Betroffene handeln und der Stagnation entfliehen. Doch sein Körper lässt ihn im Stich, anstatt ihn in Sicherheit zu bringen. Im Alltag, in Situationen, in denen er entspannen könnte, empfindet er Beunruhigung, Überwachsamkeit und Nervosität oder Taubheit und Lähmung; oft wechseln sich diese Zustände ab. Er ist gefangen zwischen Arousal und Shut-down, zwischen zu viel und zu wenig. Der Körper ist nicht der Ort, an dem der Traumatisierte sich wohlfühlt. Eine Patientin hat es so ausgedrückt: „Ich bin hier“, und deutete auf ihren Kopf. „Das da unten soll mich von A nach B bringen. Ich will mich nicht darum kümmern. Es nervt mich, dass es Ansprüche an mich stellt.“

Expositionstherapien sehen vor, dass sich der Patient in sicherer Umgebung an das traumatische Geschehen erinnert und dem Therapeuten davon berichtet. Schwer Traumatisierte können jedoch die Exposition nicht aushalten, erleiden Flashbacks, dissoziieren und profitieren in keiner Weise von der Therapie. Manchmal schadet das Unterfangen sogar mehr, als es nützt. Um dem entgegenzuwirken, beginnt man die Therapie in der Regel mit einer Stabilisierungsphase, in der zum Beispiel Visualisierungen eingeübt werden wie die eines „sicheren Orts“ oder die eines „Tresors“, in dem der Patient die schlimmen Erinnerungen wegschließen kann. Auch richtet sich das Bemühen darauf, eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzubauen. Sichere Orte sowie Gefühle des Vertrauens sind bei schwer traumatisierten Menschen jedoch rar. Oft kommt man über die Stabilisierungsphase gar nicht hinaus, arbeitet zwar an einer tragfähigen therapeutischen Beziehung, vermeidet aber um der Beziehung willen alles, was mit dem Trauma zu tun hat. Bei beziehungs- und bindungstraumatisierten Menschen bleibt die Beziehung trotz guten Willens beider Beteiligten ein fragiles Gebilde, da bereits einem anderen Menschen nahe zu sein Stress auslösen kann.

Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche

Wenn sowohl die Körperreaktionen als auch die Beziehung zu anderen Menschen zum Trigger werden, kann die Idee eines „Übergangsraums“ hilfreich sein, ein Raum, in dem weder das Trauma noch die Beziehung zum Therapeuten im Mittelpunkt stehen, sondern Neues stattfinden kann. Yoga und andere bewegungsfokussierte Formen sowie kunst- und gestaltungstherapeutische Ansätze bieten solche Räume. Da sich all die unerträglichen Affekte, Impulse und Empfindungen im Körper abspielen, liegt es nahe, in diesem Raum Möglichkeiten des körperlichen Ausdrucks anzubieten. Wir haben keine Tradition, unsere Befindlichkeit durch körperliche Aktivität zu modulieren. Afrikanische Kulturen beispielsweise praktizieren dies durch Tanz, Gesang und Rhythmen oder östliche Kulturen durch Bewegungsformen wie Tai-Chi oder Qi Gong. Trotzdem hat wohl jeder von uns die Erfahrung gemacht, dass wir unsere Befindlichkeit durch Bewegung regulieren können. Tanzen, singen, sich rhythmisch bewegen haben eine unmittelbare Wirkung auf unseren Gefühlszustand. Traurige Lieder und Rhythmen machen uns wehmütig, fröhliche Weisen erheitern unser Gemüt. Allerdings setzen wir dieses Erfahrungswissen nicht systematisch ein. Wir sind es also nicht gewohnt, uns auf diese Weise Erleichterung zu verschaffen und in Stresssituationen ist dieser Weg erst recht versperrt.

In unserer Kultur setzen wir auf das Gespräch, um schwierige Erfahrungen zu verarbeiten, was sich auch im klassischen therapeutischen Setting niederschlägt, in dem die Schulung der Körpererfahrung nicht großgeschrieben wird. Wir sitzen normalerweise mehr oder weniger aufrecht auf Stühlen, eine Haltung, die wenig propriozeptive und kinästhetische Informationsverarbeitung erfordert. In dieser Haltung braucht es so gut wie kein Körpergewahrsein und wir verpassen die Chance, den Körper zur Affektregulation zu nutzen.

Das Urwissen um die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche nennt die Kognitionswissenschaft „Embodiment“, was übersetzt so viel heißt wie Verkörperung, Inkarnation oder Verleiblichung. Embodiment bezeichnet die simple Tatsache, dass sich Emotionen nicht nur im Körper ausdrücken, sondern dass auch umgekehrt Körperhaltungen und -empfindungen die Psyche beeinflussen. Da äußere Reize immer eine somatische Reaktion nach sich ziehen, ist es nur logisch, dass diese beängstigenden, weil unkontrollierbaren körperlichen Reaktionen selbst zu Triggern werden: Der Körper wird zu einem gefährlichen Ort. Eine Klientin brachte es mit einem Satz auf den Punkt: „Der Feind ist nicht im Außen!“

Diese Überlegungen machen wir uns zunutze, wenn wir Asanas und Pranayama in die Traumatherapie integrieren. Der Bottom-up-Ansatz stellt den Körper mit seinen Ausdrucksformen und Empfindungen bzw. seiner Fühllosigkeit in den Mittelpunkt. Ziel ist, den im Trauma eingefrorenen Körper wieder sanft „aufzutauen“, indem wir dem Patienten für ihn ungewohnte Haltungs- und Bewegungsmuster anbieten. Wir experimentieren damit, indem wir Atemmuster und Bewegungen erforschen und verändern und danach die Wirkung der jeweiligen Veränderung betrachten. Die Konzentration auf körperliche Aspekte wie die Dehnung oder die kraftvolle Aktivität eines Muskels, das achtsame Beobachten der Körperreaktionen im steten Wechsel von Anstrengung und Erholung während des Übens schult die interozeptive Wahrnehmung und Selbstexploration. Sie hat zum Ziel, einen Geist zu etablieren, der in der Lage ist zu beobachten, anstatt sich von Gefühlen überwältigen zu lassen. Traumatisierten Patienten kommt das sowohl im Alltag als auch in der Expositionstherapie zugute.

Auch Yoga ist Exposition, aber eine sanfte, vom Patienten selbst kontrollierte. Der Körper wird nicht vermieden, er steht vielmehr im Zentrum des Geschehens. Während des Übens kann der Patient alle somatosensorischen Empfindungen wie Dehnungsgefühle, Anstrengung, Taubheit, Zeichen von Arousal wie einen erhöhten Puls oder veränderte Atemfrequenzen wahrnehmen. Er bleibt sozusagen „außen vor“ und trainiert eine Beobachterposition. Vielleicht entdeckt er auf diese Weise, dass es Körperregionen gibt, die „okay“ sind und die ihm ein sicheres Gefühl geben. Oder aber er bemerkt, dass nicht alles gleich taub ist, dass es Unterschiede gibt, und er lernt auf diese Weise zu differenzieren. All das hilft ihm in seiner Affektregulation und Impulssteuerung, was eine Grundvoraussetzung für eine gelingende Traumatherapie darstellt.

Yoga in der Traumatherapie: lernen, sich im Körper sicher zu fühlen

Es gibt verschiedene Methoden, die Körperwahrnehmung zu schulen. Yoga mit seinem Fokus auf strukturierte Körper- und Atemübungen sowie die damit verbundene Schulung der Achtsamkeit eignen sich hier besonders gut.

Im Yoga nehmen wir in der Asanapraxis verschiedene Körperhaltungen ein. Wir haben die Wahl zwischen einfachen und komplexen, sanften und anstrengenden Asanas, die sich an den körperlichen Möglichkeiten des Patienten, den räumlichen Gegebenheiten und den Zielsetzungen orientieren. Bei der Ausführung der Asanas werden durch Dehnen, Anspannen und Entspannen Muskeln bewusst eingesetzt, was die propriozeptive und oft wenig entwickelte kinästhetische Wahrnehmung schult. Bei Traumapatienten wurde in vielen Fällen eine verminderte Aktivität der Insula und des cingulären Cortex – hier werden unter anderem die Körperempfindungen registriert – nachgewiesen. Folglich ist eine differenzierte Körperwahrnehmung erschwert (Levine 2011). Asanas geben dem Patienten neue interozeptive Informationen, und man kann davon ausgehen, dass dies der verminderten Aktivität in der Insula und im cingulären Cortex entgegenwirkt.

Yoga beschäftigt sich zudem intensiv mit unseren Einflussmöglichkeiten auf den Atem und damit auf das vegetative Nervensystem. Der Atem wird gewöhnlich nicht bewusst wahrgenommen. Wenn ein Mensch im Schreck erstarrt, kann ein Atemmuster begünstigt werden, welches das sympathikotone Nervensystems überreizt und einen hohen Stresslevel aufrechterhält. Das Erlernen der Körperwahrnehmung und der Atemlenkung ist ein wertvoller Schritt in Richtung Ermächtigung und Kontrolle.

Durch das für das Yoga typische strukturierte, vorhersehbare Vorgehen bieten wir zusätzlich Sicherheit und Kontrolle. Wir befinden uns nicht im „luftleeren“ Raum, sondern wir nehmen gemeinsam eine definierte Yogahaltung ein, erforschen, verändern und halten sie und lernen so den Körper kennen. Allmählich spüren wir deutlich eine Bewegung, eine Anspannung oder Dehnung, und mit der Zeit werden wir uns auch des körperlichen Ausdrucks von Emotionen, Gedanken oder Erinnerungen gewahr. Das Wiederholen ähnlicher Haltungen oder Atemübungen nimmt die Angst vor Unvorhergesehenem.

Yoga wird auch als „Meditation in Bewegung“ bezeichnet. Von den Konzepten der klassischen Achtsamkeitsmeditation im Sitzen unterscheidet es sich jedoch insofern, dass Körperhaltungen eingenommen oder Bewegungen ausgeführt werden, was den Traumapatienten leichter fällt als das Erspüren des Körpers oder das Beobachten von Gedanken und Emotionen im statischen Sitzen. Denn infolge ihrer beständigen Wachsamkeit können diese Patienten in ruhiger Haltung oft nur Anspannung oder Taubheit wahrnehmen und fühlen sich dann ihren Dämonen erst recht ausgeliefert.

Yoga hat noch einen weiteren großen Vorteil: Die Übungen sind zeitlich begrenzt! Traumatisiert worden zu sein heißt, keine Kontrolle darüber zu haben, wann etwas beginnt und wann es endet. Im Strudel überwältigender Gefühle ist das Zeitempfinden gestört und es gibt keine Einflussmöglichkeit, dem Horror zu entfliehen oder ihn zu beenden. Ein auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes Yoga verleiht dem Patienten die Kontrolle über den Anfang sowie die Dauer der Übung, und damit einhergehend gewinnt er ein Gefühl der Ermächtigung über sich, seinen Körper und die Umwelt zurück. Traumapatienten machen hierbei zwei bedeutsame Erfahrungen. Erstens: Sie entscheiden, ob und wann etwas beginnt, und sie bestimmen das Ende. Zweitens: Etwas endet – zum Beispiel ist das Gefühl der Dehnung im Muskel nur vorübergehend. Die fortschreitende Fähigkeit zu beobachten lehrt, dass jede Empfindung und jede Emotion ein Ende hat (vgl. Emerson & Hopper 2010). Dies hilft Patienten, im Körper zu bleiben. Körperreaktionen und Empfindungen, Gefühle und Gedanken lassen sich so aushalten, ohne überwältigend zu sein.

Die Parallelen zu körperorientierten Methoden wie Somatic Experiencing (Levine 2011) sind unverkennbar. Beim Somatic Experiencing ist das Pendeln zwischen sympathikotoner und parasympathischer Aktivität, die der Patient zum Beispiel in Form von Körperempfindungen, Bildern und / oder Gedanken wahrnimmt, eine zentrale Arbeitsweise. Haben wir durch das traumaorientierte Yoga Ressourcen in Form von Haltungen, Bewegungen, Atemkontrolle oder Atemübungen gefunden, befähigen diese den Patienten, dem Traumasog dann etwas entgegenzusetzen, wenn ihn Erinnerungen und Empfindungen zu überwältigen drohen. Das Pendeln zwischen Traumasog und somatischen Ressourcen bremst den Vorgang ab. Bevor wir mit traumatischen Erinnerungen arbeiten, tun wir gut daran, mit dem Patienten das Bremsen zu üben (vgl. Rothschild 2002). Nichts anderes tun wir im traumasensitiven Yoga: Wir nehmen eine Haltung ein, spüren dabei zum Beispiel die Aktivität in den Muskeln, die Beschleunigung des Herzschlags oder die Veränderung des Atemrhythmus – also eine Sympathikusaktivierung im Körper. Danach lassen wir uns Zeit, nachzuspüren, wie die Spannung nachlässt, Atem und Puls sich beruhigen und Stille sich ausbreitet. Wir geben der Entspannung Raum. Durch die strukturierten Anleitungen und Übungen bieten wir dem Patienten Sicherheit. Innerhalb dieser Angebote können neue Erfahrungen gemacht werden. Gleichzeitig eröffnet sich ein Raum für Veränderung – ein Übergangs- oder Möglichkeitsraum –, in dem der Patient die Haltung so anpassen und verändern kann, wie sie für ihn stimmt. Der Patient macht die Erfahrung, dass er etwas tun kann.

Ich mache nicht mit jedem meiner Patienten traumasensitives Yoga (TSY). Doch habe ich bemerkt, dass komplex traumatisierte Menschen – für diese Zielgruppe habe ich dieses Buch geschrieben – sehr von der Idee des Übergangsraums, in dem ausprobiert, verworfen und neu versucht werden darf, profitieren. Ich betrachte Yoga weder als Allheilmittel noch als alleinige Therapie für komplexe Traumafolgestörungen. Der körperorientierte Therapieansatz ist für mich vielmehr zur Basis geworden, auf die eine Expositionstherapie aufbauen kann. Mit traumasensitivem Yoga kann im Vorfeld ein Maß an Affektregulationsfähigkeit erreicht werden, das dem Patienten hilft, Kontrolle über seine Gefühle und Empfindungen zu erhalten. Im weiteren Therapieverlauf bleiben Yogaasanas und Atemkontrolle wichtige Ressourcen und können ein fruchtbares Zusammenspiel aus körperorientiertem und kognitivem Fokus bilden.

Hinweise zu diesem Buch

Der Lesbarkeit und sprachlichen Einfachheit halber habe ich mich entschieden, die Formulierungen personenbezogener Bezeichnungen (Therapeut, Patient) im Maskulinum zu formulieren. Diese werden verallgemeinernd verwendet und beziehen sich, wohl wissend, dass beide Geschlechter Patienten und Therapeuten sein können, auf Männer und Frauen (generisches Maskulinum).

Gliederung

Das Buch eröffnet einen Raum, in dem sich traditionelle indische Konzepte des Yoga (Osten) und moderne Erkenntnissen aus der Psychotraumatologie und körperorientierten Therapie (Westen) begegnen. Um beiden Seiten gerecht werden zu können, habe ich die Inhalte folgendermaßen gegliedert:

Im ersten Teil lasse ich dem Westen den Vortritt, mit einer kurzen Einführung in die Themen Trauma, Posttraumatische Belastungsstörung, Entwicklungs- und Bindungstrauma sowie in die gängigen Behandlungskonzepte.

Teil zwei führt Sie in die Welt des Yoga ein, in Form einer kurzen Zusammenfassung der geschichtlichen Entwicklung, der Philosophie und eines Überblicks über die wichtigsten Elemente.

Die aktuelle Forschung auf dem Gebiet des Yoga im Zusammenhang mit Gesundheit, Stress und Posttraumatischer Belastungsstörung findet sich im dritten Teil. In welcher Form Yogaasanas und Pranayama in eine Traumatherapie integriert werden können und welche Rahmenbedingungen dazu notwendig sind, wird im vierten Teil des Buches beleuchtet.

Teil fünf ist ganz der Praxis gewidmet. Hier finden Sie konkrete Anleitungen für Asanas, Pranayama und Achtsamkeit. Im sechsten Teil wird therapeutische Erfahrung mit der Anwendung der Yogahaltungen im therapeutischen Kontext verknüpft.

Begleiten Sie mich also in diesen Möglichkeitsraum und begegnen Sie sich zunächst selbst, Ihren interozeptiven Empfindungen und Körperwahrnehmungen, ohne deren Berücksichtigung traumaorientiertes Yoga nicht möglich ist. Das vorliegende Buch richtet sich an Therapeuten, die mit komplex traumatisierten Patienten arbeiten, aber auch an Laien und betroffene Personen, die an einer körperorientierten Herangehensweise zur Behandlung von Traumafolgestörungen interessiert sind.

TEIL I: WEST – PSYCHOTRAUMATOLOGIE

„Die Reaktionen auf Bedrohung und ihre begleitenden physischen und psychischen Schmerzen sind ein fundamentaler Überlebensaspekt. Die Suche nach Sicherheit ist essenziell, um dem Individuum Gelegenheit zur Erholung zu geben und die physischen und emotionalen Traumata zu heilen, die aus dem Gefühl der Gefahr entstanden sind.“

(A. Fogel 2009, S. 133)

1. Das Ereignis

Der Begriff Trauma wird in den Medien strapaziert. Eine ganze Stadt ist vom Amoklauf in einer Schule traumatisiert, ein Mensch nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle, eine Reisegruppe nach einem Busunglück. Ein Trauma ist jedoch weder mit einer Krise noch mit einem allgemeinen Schock aufgrund eines gravierenden Ereignisses gleichzusetzen. Eine traumatisierende Situation betrifft einen Menschen ganz persönlich und erschüttert ihn in seinem Innersten. In den Diagnosehandbüchern finden wir Definitionen, die versuchen mit wenigen Worten der Schwere der Ereignisse sowie der Reaktion der Betroffenen gerecht zu werden.

Definitionen Trauma

Als Trauma gilt ein kurzes oder lang anhaltendes Ereignis oder Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem Menschen tief greifende Verzweiflung auslösen würde (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems – ICD 10).

Das amerikanische Diagnosemanual DSM-IV (Diagnostic and Statistica Manual of mental Disorders) beschreibt Traumata wie folgt: Ereignisse, die eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod oder ernsthafter Verletzung oder Gefahr für eigene oder fremde körperliche Unversehrtheit beinhalten (vgl. Lueger-Schuster 2088, Sass 2003, Graubner 2012, DSM-IV 2000).

Im neuen DSM-V werden die Kriterien so beschrieben: Eine Person war folgenden Ereignissen ausgesetzt: Tod, Todesdrohung, realer oder drohender ernsthafter Verletzung, realer oder drohender sexueller Gewalt. Diese Ereignisse können entweder als direkte Exposition, durch Zeugenschaft oder indirekt dadurch, dass ein naher Freund oder Verwandter Derartiges erlebt hat, als potenzielle Auslöser für PTBS gelten. Ereignisse, die mit realem oder drohendem Tod in Verbindung stehen, müssen den Charakter einer Gewalttat oder eines Unfalls haben. Zu den Stressoren zählen zudem wiederholtes oder extremes indirektes Erleben von schrecklichen Details, oft im Rahmen der Berufstätigkeit. Alle diese Kriterien gelten für Erwachsene. Das DSM-V führt zudem einen Subtyp für PTBS bei Kindern unter sechs Jahren ein[2].

Jeder kann sich in eine extrem bedrohliche Situation hineinversetzen, und wenn Sie dies für einen Augenblick tun, merken Sie sicher, dass es sich vor allem um eine körperliche Erfahrung handelt. Vermutlich spüren Sie, wie Sie die Luft anhalten und erstarren. Auf der Gefühlsebene kommen vor allem Angst, Panik, Wut oder auch Ohnmacht und Hilflosigkeit oder Ekel vor. In großer Panik setzt das Denken aus, der Herzschlag verlangsamt sich, der Körper wird taub und schlaff und man fühlt sich einer Ohnmacht nahe oder wird tatsächlich ohnmächtig.

Selbstverständlich wird nicht jeder Mensch jedes Ereignis in gleicher Weise als traumatisierend empfinden. Schon aufgrund der körperlichen Gegebenheiten hat ein Erlebnis katastrophalen Ausmaßes auf ein Kind andere Auswirkungen als auf einen Erwachsenen; auf eine Frau andere als auf einen Mann. Auch macht es einen Unterschied, ob ein Trauma menschlich verursacht, durch einen Unfall oder ein Naturereignis hervorgerufen wurde und wie lange der Betroffene der traumatisierenden Situation ausgesetzt war. Nicht minder spielen die Anzahl der Traumata wie auch die Unterstützung und menschliche Nähe nach dem Ereignis eine Rolle bei der Symptomentwicklung. Persönliche Risikofaktoren wie das Alter (jugendliches oder hohes Alter), Dissoziation während des Ereignisses, lebensgeschichtliche Ereignisse wie frühe Trennungen und Verluste, mangelnde soziale Unterstützung, niedriger sozioökonomischer Status und Vorerkrankungen wie Depression spielen neben der initialen Symptomstärke ebenfalls eine wesentliche Rolle. Traumabezogene Faktoren sind zum Beispiel: Intensität der Bedrohung, sich wiederholende Traumata, absichtliches Vorgehen des Täters, irreversible Schäden durch das Trauma sowie Scham- und Schuldgefühle. Daher bedarf es einer weiteren Differenzierung des Traumabegriffs.

Differenzierungen des Traumabegriffs

Eine einmalige traumatische Erfahrung wird als Typ-I-Trauma bezeichnet, eine lang anhaltende Traumatisierung als Typ-II-Trauma. Die komplexe Traumatisierung oder das Typ-II-Trauma unterscheidet sich in ihrer Zeitdauer, ihrem Schweregrad und in ihren Auswirkungen auf die Persönlichkeit von der Typ-I-Traumatisierung.

Judith Hermann (2003) fasst die komplexe Traumatisierung wie folgt zusammen: „Der Patient war über einen längeren Zeitraum einer totalitären Herrschaft unterworfen wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aussteigern aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als Kinder physisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden“ (S. 167 f.). Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der „allostatic-load“ (AL), einem Begriff, der den kumulativen physiologischen „Kosten“ einer lang anhaltenden Stresssituation Rechnung trägt (Glover 2006).

Obwohl die Folgen von traumatischen Ereignissen bereits seit Langem bekannt sind, sind die Auswirkungen einer einmaligen Traumatisierung auf die Persönlichkeit und das Selbstempfinden schwer mit dem aus einer lang andauernden Traumaerfahrung resultierenden Schaden vergleichbar. Daher ist die Diagnose der PTBS für die letztgenannten Opfer nicht ganz zutreffend, zeigen sie doch häufig eine viel komplexere Symptomatik (Hermann 2003).

Von einem Bindungs- oder Entwicklungstrauma (Maercker 2009) spricht man, wenn die auslösende Erfahrung sehr früh im Leben stattfand. Das Gefühl der lebensbedrohlichen Gefahr ist für ein Kind etwas gänzlich anderes als für einen Erwachsenen, zumal dann, wenn die Bedrohung von einer Bezugsperson ausgeht.

Erlebt ein Kind oder ein Jugendlicher physische Misshandlungen, sexuelle Übergriffe, körperliche Vernachlässigung, ebenso wie eine Vielzahl kumulativer Mikrotraumen durch andauernde Entwertung, Überforderung, fehlende Geborgenheit, emotionalen Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, mehrfache Trennungen oder Verluste, sind die daraus resultierenden Schädigungen und die damit einhergehende Störung der Persönlichkeitsentwicklung weitreichender. Ein Kind, das in dem verwirrenden Umfeld leben muss, in dem Bezugspersonen gleichzeitig Täter sind, ist gezwungen, die Bindungsbeziehung zu schützen (Schreiber-Willnow 2006). Ein Patient drückte es folgendermaßen aus: „Irgendwie musste ich ja mit ihm (dem Vater) klarkommen. Wenn ich nichts mehr spürte, konnte ich tun, was er von mir verlangte. Dann war ich sicherer.“

Viele Autoren plädieren für den Begriff „Entwicklungstrauma“ , da die Komplexität der Symptome mit dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung nicht umfassend erklärt werden kann und weil die klassischen Methoden der Behandlung von PTBS hier zu kurz greifen (Kisiel 2014, Ford et. al 2013, D`Andrea et al. 2012, van der Kolk 2005, Stolbach 2007).

Zusammenfassend kann man sagen, dass eine traumatische Situation den Menschen in seinem ganzen Wesen erschüttert – in seinen Gedanken, Gefühlen und Körperreaktionen. Was oft übersehen wird, ist, dass der Körper, auch wenn er keine äußeren Verletzungen zeigt, eine lebensbedrohliche Situation durchlitten hat und die physiologischen Reaktionen im Gedächtnis bleiben. Die Betroffenen selbst vergessen, neben allen anderen sensorischen Eindrücken, die Empfindung von Erstarrung und Ohnmacht ebenso wenig, wie sie die Erinnerung an das Herzrasen oder die Übelkeit während des traumatischen Geschehens nicht einfach ablegen können. Um mit diesen peinigenden Empfindungen umgehen zu können, entwickeln sie körperliche Reaktionsmuster, dazu zählen unter anderem veränderte Atemgewohnheiten oder Haltungs- und Bewegungstendenzen. Diese habituierten Körperprogramme tragen nicht unerheblich dazu bei, dass Emotionen und Gedanken in einem Teufelskreis aufrechterhalten werden.

2. Die Folgen

2.1 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Dass Angst und Schrecken Auswirkungen auf die Psyche haben, wurde erst in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts erkannt. Insbesondere haben Page und Kraepelin (1856–1926) mit Begriffen wie „general nervous shock“ und „Schreckneurose“ maßgeblich dazu beigetragen, dass man diese Zusammenhänge ernst nahm. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg hat sich gezeigt, dass Soldaten auf Kampf- und Kriegserfahrungen mit verschiedenen Symptomen reagierten, die die Alliierten „Shell-Shock“, Gefechtsneurose oder Kampfesmüdigkeit nannten, die jedoch, so die damalige Ansicht, nur die Minderwertigen und Nutzlosen befiel. Erst der Vietnamkrieg verhalf einer realistischeren und differenzierteren Sichtweise und damit der Psychotraumatologie zum Durchbruch. Langsam musste akzeptiert werden, dass nicht nur die schwachen Naturen auf schreckliche Ereignisse mit psychischen Symptomen reagieren, sondern auch psychisch gesunde und stabile Menschen (vgl. Maercker 2009).

Zudem konnte man nicht mehr übersehen, dass andere Extremerfahrungen wie sexuelle Gewalt, Folter oder Unfälle ähnliche Reaktionen zeitigten. Bereits in den 1970er-Jahren hatten Studien, die sich mit den basalen kognitiven Prozessen der Verarbeitung traumatischen Stresses befassten, auf ein für die Posttraumatische Belastungsstörung typisches Symptommuster verwiesen: Intrusionen, Vermeidung und Schuldgefühle (vgl. Maercker 2009). 1980 wurde die Posttraumatische Belastungsstörung erstmals in das amerikanische Diagnosehandbuch (DSM) aufgenommen. In den Klassifikationssystemen ICD und DSM finden sich in den aktuellen Definitionen immer noch von Horowitz (1974) beobachtete Symptome Intrusionen und Vermeidung. Die Aufzählung wurde noch um Hyperarousal (erhöhtes psychophysiologisches Erregungsniveau, Übererregung) sowie um einen Zeitfaktor (Symptomdauer länger als ein Monat) erweitert.

PTBS-Symptome

Betrachten wir die Symptomtrias der PTBS, Intrusionen, Vermeidung und Hyperarousal, etwas genauer:

Intrusionen zeigen sich durch Bilder, Geräusche oder andere lebhafte Eindrücke des traumatischen Geschehens, die in den Schlaf eindringen und sich in Form von sich wiederholenden Träumen oder Albträumen oder in sehr realistischen, detailgetreuen Flashbacks manifestieren, die den Betroffenen aus der Gegenwart in die Vergangenheit und in das traumatische Geschehen katapultieren.

Zu den intrusiven Wahrnehmungen zählen jedoch nicht nur Bilder oder lebhafte Eindrücke; auch körperliche Empfindungen, die sich in einer Hier-und-Jetzt-Qualität im Körper abspielen, haben intrusiven Charakter. Die Dehnung der Muskeln beim Strecken der Arme über den Kopf kann als wohltuend empfunden werden, für ein Folteropfer jedoch wird sie möglicherweise zum somatosensorischen[3] Trigger, der an die Vergangenheit und die Peiniger erinnert.

Ein Hyperarousal zeigt sich vor allem in körperlichen Reaktionen. Wie aus dem Nichts stockt der Atem und der Körper versteift sich. Das Herz setzt für einen Augenblick aus, um dann umso heftiger zu schlagen. Patienten können unter somatoformen Dissoziationsphänomenen wie unerklärlichen körperlichen Empfindungen oder Körperreaktionen und -symptomen leiden sowie unter somatosensorischen Erinnerungen bzw. flashback-artigen Körpersensationen, die sich bei traumatischen Erinnerungen zeigen. Vielfach sind diese körperlichen Symptome schambesetzt und werden deshalb verschwiegen oder die Patienten haben bereits mannigfache Abklärungsversuche hinter sich, ohne dass ein medizinischer Befund gestellt werden konnte. Überdies kann ein Trauma die Erregungsschwelle des autonomen Nervensystems senken. Das heißt, Belastungen wirken früher, nachhaltiger und schon kleinere Belastungsreize führen zu einer stärkeren Erregung. Das Hyperarousal kann sich in Form von Ein- und Durchschlafstörungen zeigen, ebenso wie in erhöhter Wachsamkeit (Hypervigilanz), der Unfähigkeit, sich zu entspannen, und Schreckhaftigkeit (vgl. Maercker 2009).

Die Betroffenen versuchen mit allen Mitteln Traumatrigger wie Gedanken, Aktivitäten, Orte, Menschen und auch körperliche Sensationen, die sie an das traumatische Geschehen erinnern, zu vermeiden. Patienten berichten, dass sie sich emotional taub und entfremdet fühlen (Numbing). Das Abflachen der Gefühlswelt sowie ein anhaltendes Empfinden allgemeiner Entfremdung beziehen sich nicht nur auf das persönliche und gesellschaftliche Umfeld, es betrifft auch den eigenen Leib, der sich zur Gänze oder in Teilen betäubt anfühlt. Vielen Patienten ist diese Taubheit gar nicht bewusst, denn sie haben sich daran gewöhnt.

2.2 Komplexe Traumafolgestörung, Bindungs- und Entwicklungstrauma

Eine komplexe Traumafolgestörung wird dann diagnostiziert, wenn das klinische Bild über die o.g. klassischen PTBS-Symptomgruppen hinausgeht. Es zeigen sich beispielsweise Störungen der Affektregulation, depressive Symptome, Angststörungen und Panikattacken; Bindungsstörungen mit großem Misstrauen oder mangelndem Selbstschutz, mangelnde Selbstfürsorge und Viktimisierung anderer oder eine Opferhaltung (vgl. Maercker 2009).

Ein Bindungs- und Entwicklungstrauma hinterlässt noch tiefere Spuren im Leben des Menschen. Je jünger der Betroffene zum Zeitpunkt der traumatisierenden Erfahrungen ist, umso einschneidender sind die Folgen. Werden die Empfindungen und Gefühle nicht von einer Bindungsperson von außen beruhigt – vermag diese also nicht angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen –, wird das noch nicht ausgereifte Gehirn von Stresshormonen überschwemmt, was seiner Entwicklung schadet. „Komplexe posttraumatische Belastungsstörungen sind immer auch Bindungsstörungen“ (Wöller 2006, S. 40).

Nicht allein der Zeitpunkt der seelischen Erschütterung, sondern die Zerstörung des Urvertrauens gegenüber der Person, von denen das Kind Schutz erwartet, ist der gravierendste Moment für die kindliche Entwicklung (Steele 1994). Das bedeutet, dass der Einfluss interaktiver Erfahrungen zwischen dem Kind und seiner primären Bezugsperson eine noch wichtigere Rolle spielt als die traumatischen Ereignisse (Stern 1985). Wollen wir komplex traumatisierte Menschen verstehen, ist die Bindungstheorie von Mary Ainsworth, die sie in den 1970er-Jahren entwickelte, hilfreich. Sie unterteilt das Verhalten von einjährigen Kindern in der „fremden Situation“ (kurze Trennung von der Mutter) in Bindungskategorien von „sicher“, „unsicher-ambivalent“, „unsicher-distanziert“ und „desorganisiert“ (Grossmann 2011).

Bei sicher gebundenen Kindern erfüllt die Bezugsperson die Rolle des „sicheren Hafens“, der immer dann Schutz bietet, wenn das Kind dessen bedarf. Unsicher-ambivalenten wie unsicher-distanzierten Kindern fehlt die Zuversicht bezüglich der Verfügbarkeit ihrer Bindungsperson. Der einzige Ausweg aus der belastenden bedrohlichen Situation ist die Beziehungsvermeidung. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder zeigen sich ängstlich und abhängig von ihrer Bindungsperson, da deren Verhalten weder vorhersagbar noch nachvollziehbar ist. Der permanente Wechsel von zugewandtem und abweisendem Verhalten führt dazu, dass das Bindungssystem des Kindes ständig aktiviert sein muss. Diese Kinder können keine positive Erwartungshaltung aufbauen, weil die Bindungsperson, selbst wenn sie in der Nähe ist, keinen zuverlässigen Schutz bietet.

Traumatisierte Kinder weisen häufiger als nicht-traumatisierte Kinder eines der beiden unsicheren Bindungsmuster auf. Ein weiteres Bindungsmuster, das der desorganisierten Bindung, wird vor allem mit Vernachlässigung und Misshandlungen in Zusammenhang gebracht. Diese Kinder leiden darunter, dass der Mensch, der Schutz garantieren soll, selbst eine Bedrohung darstellt oder unter den Folgen eines eigenen Psychotraumas leidet. Weist die traumatisierende Bezugsperson ein ängstigend-erschreckendes oder ein ängstlich-erschrockenes Verhalten auf, kann das Kind keine einheitliche Bindungsstrategie entwickeln, um Schutz und Trost zu erlangen. Es verhält sich vermeidend- oder anklammernd-desorganisiert, was sich darin zeigt, dass es Nähe sucht und sich im selben Atemzug aggressiv verhält oder zurückweicht.

Muss sich ein Kind vor der Person schützen, von der es natürlicherweise Schutz braucht, befindet es sich in einer ausweglosen Situation. Es kann keine erfolgreiche Strategie entwickeln, um mit den engsten Bezugspersonen in Kontakt zu treten, und bleibt demzufolge in einem Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt stecken. Auch im Erwachsenenleben zeigt sich dieses Beziehungsverhalten und wird auch in der Therapie sichtbar (vgl. Wöller 2006).

Auswirkungen von Bindungstraumata

Ein Kind, das mit nicht einstimmungsfähigen Bezugspersonen aufwächst, die auch seine emotionalen Zustände weder spiegeln noch regulieren können, ist in einem permanenten Stresszustand. Häufig wird die Beziehung zu diesen Bezugspersonen abgebrochen und lange nicht wieder aufgenommen.

Wird der Bruch nicht gekittet, bleibt das Kind zu lange und zu häufig in seinem dysregulierten Zustand mit seinen intensiven negativen Affekten allein. Der Kortisolspiegel und andere Stresshormone können sich dauerhaft erhöhen, was gravierende und langfristige Auswirkungen auf die Stressregulationsfähigkeit der Betroffenen hat. Da traumatisierende Elternfiguren außerstande sind, die Unterbrechung der Bindungsbeziehung durch beruhigendes und tröstendes Verhalten zu „reparieren“, lösen im Erwachsenenalter eben diese Erfahrungen beim Eingehen enger intimer Beziehungen – bei aller Sehnsucht danach – Angst und Unsicherheit aus. Die Sorge, dass das eigene Fehlverhalten zum irreparablen Bruch führt, lässt den Menschen entweder überangepasst werden, um die Bindung nicht zu gefährden, oder aber sie zerstört jede aufkommende Intimität selbst (vgl. Wöller 2006).

Der Psychoanalytiker Allan N. Schore, der sich mit der Problematik des Distresssystem aus der Perspektive der Bindungsforschung befasst hat, weist auf zwei Formen des Beziehungstraumas hin: Abuse und Neglect. Abuse, das mit Misshandlung oder Missbrauch gleichzusetzen ist, bewirkt eine Überstimulation, ein Hyperarousal und aktiviert den Sympathikus. Neglect bedeutet so viel wie Vernachlässigung, was parasympathikusgesteuert zu einer Unterstimulierung führen kann. Zu viel oder zu wenig – beides ist unerträglich. Die folgenschwerste Auswirkung früher Traumatisierung durch Abuse und Neglect ist der Verlust bzw. die mangelnde Fähigkeit, seine Gefühle zu regulieren. Es entsteht eine habituelle Tendenz, sich in primitive, parasympathische States fallen zu lassen, was typisch für ein entwicklungsmäßig unreifes Regulationssystem ist (Schore in Sachsse 2008).

Zusammengefasst bedeutet dies: Wir müssen über therapeutische Instrumente verfügen, die dem Patienten helfen, seine Affektregulation zu verbessern, und die verhindern, dass er dissoziiert, Flashbacks erleidet bzw. in den parasympathischen Zustand der Erschlaffung fällt. Gleichzeitig brauchen wir eine Beziehungsform, die sich maximal von den durch traumatische Beziehungen erlernten Beziehungsmustern unterscheidet.

Adverse Childhood Experience (ACE)

Eine sequenzielle Traumatisierung im Erwachsenenalter kann gleichfalls zu einer Zerstörung der Persönlichkeit, des Selbstbildes, des Wohlbefindens und langfristig der Gesundheit führen. In der folgenden Tabelle finden Sie einen Überblick über die Symptomatik einer einfachen PTBS sowie über die Symptomfelder einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung, Entwicklungstraumata und die Folgen von ACEs.

Tabelle 1: Die Symptome und Symptomfelder einer einfachen PTBS, einer komplexen PTBS, eines Entwicklungstraumas und der Adverse Childhood Experience unterscheiden sich im Ausmaß der Auswirkungen auf die Funktionalität im Leben

Symptome einer einfachen PTBS nach DSM-V (2013)

Die Symptomfelder einer komplexen PTBS (Hermann 2003)

Symptomfelder der Entwicklungstraumatisierung nach van der Kolk (2009)

A. Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis:

Tod, Todesdrohung, reale oder drohende ernsthafte Verletzung, reale oder drohende sexuelle Gewalt, entweder als direkte Exposition, durch Zeugenschaft oder indirekt (nahe Personen betroffen). Ereignisse, die mit realem oder drohendem Tod in Verbindung stehen, müssen den Charakter einer Gewalttat oder eines Unfalls haben. Wiederholtes oder extremes indirektes Erleben von schrecklichen Details, oft im Rahmen der Berufstätigkeit. Alle diese Kriterien gelten für Erwachsene.

Störungen der Affektregulation

anhaltende Dysphorie

chronische Suizidgedanken

selbstverletzendes Verhalten

aufbrausende oder unterdrückte Wut (evtl. alternierend)

zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität

Exposition

häufige oder chronische Exposition gegenüber einem oder verschiedenen entwicklungshemmenden zwischenmenschlichen Traumatisierungen (z. B. Verlassen-Werden, Vertrauensbruch; körperliche, emotionale oder sexuelle Misshandlung oder Übergriffe)

subjektive Erfahrung von Wut, Vertrauensbruch, Angst, Resignation, Demütigung, Beschämung

B. Intrusionen[4]

wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen (Bilder, Gedanken, Wahrnehmungen)

wiederkehrende belastende Träume

dissoziative Reaktionen, z. B. Flashbacks

intensiver Stress nach Exposition von Traumatriggern

physiologische Reaktivität nach der Exposition

Störungen der Wahrnehmung und des Bewusstseins

Amnesie oder Hyperamnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt

zeitweilig dissoziative Phasen

Depersonalisation / Derealisation

Wiederholung des traumatischen Geschehens als intrusive Symptomatik oder durch ständiges Grübeln

Getriggerte Muster

Dysregulation in Anwesenheit von Reizen, d. h. hohe oder niedrige Reizantwort. Veränderungen halten an, kehren nicht zur Baseline zurück und werden durch Bewusstmachen nicht in ihrer Intensität reduziert.

affektiv

somatisch

Verhalten von Reinszenierung, Selbstverletzung

in Beziehungen zum Beispiel durch Anklammern, aufsässiges Verhalten, Misstrauen, Fügsamkeit

Selbsthass und Selbstbeschuldigung

C. Vermeidung

bewusstes Vermeiden von traumabezogenen Stimuli

bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten Menschen, die Erinnerungen wachrufen

D. Negative Veränderungen bezüglich Wahrnehmungund Stimmung

Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern

anhaltende negative Überzeugungen und Erwartungen über sich selbst oder die Welt

anhaltende Schuldzuweisungen (sich selbst oder andere) bez. des Traumas

anhaltende negative Gefühle (Angst, Horror, Ärger, Schuld, Scham)

deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten

Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen

eingeschränkte Bandbreite des Affektes

Gestörte Selbstwahrnehmung

Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative

Scham- und Schuldgefühle, Selbstbezichtigung

Gefühle von Beschmutzt-Sein und Stigmatisierung

Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden

Anhaltende veränderte Attributionen und Erwartungen

negative Selbstzuschreibungen

Misstrauen gegenüber beschützenden Bezugspersonen

Verlust von Erwartungen, von anderen (Menschen, Institutionen) geschützt zu werden

Verlust des Glaubens in soziale Gerechtigkeit / Vergeltung

Opferrolle

E. Anhaltende Symptome erhöhter Erregung

Reizbarkeit oder Wutausbrüche

Autoaggression oder Rücksichtslosigkeit

Hypervigilanz (extreme Wachsamkeit)

übertriebene Schreckreaktionen

Konzentrationsschwierigkeiten

Schlafstörungen

Gestörte Wahrnehmung des Täters

ständiges Nachdenken über den Täter

unrealistische Einschätzung des Täters (allmächtig, Idealisierung, Dankbarkeit)

Gefühle einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung

Übernahme des Wertesystems des Täters

Funktionelle Beeinträchtigungen

Erziehung / Bildung

Familie

im Kontakt mit Gleichaltrigen

rechtlich

beruflich

F. Das Störungsbild dauert länger als einen Monat

G. Auswirkung auf die Funktionsfähigkeit

signifikanter symptombezogener Stress oder funktionale Einschränkungen

Beziehungsprobleme

Isolation und Rückzug

Störungen in Intimbeziehungen

Suche nach einem Retter

anhaltendes Misstrauen

Unfähigkeit, sich selbst zu schützen

H. Ausschluss

Die Symptome sind nicht durch Medikamente, Substanzmissbrauch oder Krankheit hervorgerufen.

Zu spezifizieren, wenn dissoziative Symptome vorhanden:

Depersonalisation

Derealisation

Veränderung des Wertesystems

Verlust fester Überzeugungen

Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung

ACE – Adverse Childhood Experience (Felitti et al. 1998)

ACE führt zu massiv erhöhten Gesundheitsrisiken in verschiedenen Gesundheitsbereichen. Dazu zählen:

Alkoholmissbrauch

Drogenkonsum

Depression

Suizid

Rauchen

mehr als 50 Sexualpartner

sexuell übertragbare Krankheiten

physische Inaktivität

schweres Übergewicht

ischämische Herzerkrankungen

Krebs

chronische Lungenerkrankungen

Knochenbrüche

Lebererkrankungen

Auf einen Blick wird aus der Tabelle ersichtlich, dass sich die Auswirkungen deutlich voneinander unterscheiden und folglich die Behandlung auf jedes Störungsbild abgestimmt werden muss.

Häufig kommen die Patienten nicht aufgrund der PTBS-Symptomatik in die Behandlung. Der Zusammenhang zwischen dem unklaren Symptombild und einer Traumatisierung ist weder für den Behandler noch für den Betroffenen auf den ersten Blick erkennbar. „Klassische“ PTBS-Symptome wie Flashbacks, Intrusionen und Hyperarousal sind oft maskiert, da das Vermeidungsverhalten über Jahrzehnte perfektioniert wurde, um den untolerierbaren Intrusionen und Arousals zu entgehen. Vermeidung wird auch von den Patienten häufig nicht als solche wahrgenommen und kommt nur zur Sprache, wenn wir sehr genau nachfragen. Das gesamte Leben dreht sich bewusst oder unbewusst darum, möglichst wenige Trigger auszulösen.

Die Einschränkungen im Alltag sind einschneidend und wirken sich auf schulische Leistungen, Bildung, Berufswahl und beruflichen Erfolg ebenso aus wie auf persönliche Beziehungen und das Gesundheitsverhalten. Diesen Schwierigkeiten liegen extreme Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit während der Traumatisierung zugrunde. Die Betroffenen dissoziierten aufgrund des überwältigenden Geschehens, was zu habitueller Dissoziation führt. Infolgedessen fühlen sie sich schnell überfordert, hilflos und ohnmächtig, werden panisch oder wütend und geraten in Rage. Oft fehlen jedoch die typischen Hyperarousalsymptome. Eine habituelle Dissoziation zeigt sich auch im körperlichen Erleben, in einem Gefühl der Schwäche, in Lähmung, Schwindel und nahender Ohnmacht. In solchen Momenten sind die Betroffenen nicht mehr in der Lage zu sprechen, fühlen sich schlaff, ihre Hände sind kalt und feucht. Diese „körperlichen Flashbacks“ verstärken die Panik, weil die Patienten dem nichts entgegenzusetzen haben. „Das Gefühl, sich nicht bewegen zu können und mit der Ohnmacht zu kämpfen, ist der blanke Horror.“

Gerade diese interozeptiv wahrgenommenen körperlichen Empfindungen graben sich tief in die Erinnerung der Patienten ein und führen dazu, dass die Angst, vom „eigenen Körper im Stich gelassen zu werden“, zunimmt. Die Erfahrung: „Mein Körper bringt mich nicht in Sicherheit!“ ist tief greifend.

2.3 Dissoziation

Die Dissoziation kann, wie Intrusionen, Vermeidung und Hyperarousal, die Folge eines traumatischen Ereignisses sein. Kommt es während des traumatischen Ereignisses zu einer Dissoziation, wirkt sich dies entscheidend auf die Schwere der Symptomatik aus. Bei einem selbst noch so kleinen Rest von Selbstermächtigung sind die Folgen einer Traumatisierung häufig weniger stark ausgeprägt als bei einer vollständigen Dissoziation und Immobilität, mit Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit während des Ereignisses.

Auf körperlicher Ebene kann eine Dissoziation und eine damit einhergehende Immobilität sogar einen Sinn ergeben. Solange ein Mensch Schmerz oder Ärger empfindet und eine Möglichkeit zu handeln sieht, wird er instinktiv versuchen, sich von der drohenden Gefahr zu entfernen. Dennoch war gerade Immobilität entwicklungsgeschichtlich ein wichtiger Überlebensfaktor. Der Zustand des „Shut-down“ oder „Defeat“ (Aufgeben) schützt nämlich vor Bewegungen, die Verletzungen verschlimmern oder die Aggression des Täters anstacheln könnten. Sich nicht mehr bewegen zu können, von seinen Gefühlen abgeschnitten zu sein und zu dissoziieren kann also als eine Defensivstrategie des Organismus verstanden werden, die das Überleben sichert.

Hierbei unterscheidet man die Erstarrung oder tonische Immobilität von der schlaffen Immobilität. In der Phase der Erstarrung ist noch eine explosive Fluchtantwort in Verbindung mit aggressivem Verhalten möglich. Gefühle wie Ärger oder Wut sind in diesem Zustand nämlich präsent, werden jedoch unterdrückt. Wenn diese explosive Abwehr keinen Erfolg verspricht, geht der Organismus in die vom Parasympathikus gesteuerte „schlaffe Immobilität“ über. In diesem Zustand verschwinden sowohl die emotionale Beteiligung als auch jegliche Handlungsdisposition. Wer während des Traumas in der parasympathischen Dominanz endete, wird aufgrund der Konditionierung auf traumabezogene Trigger eher dissoziative Reaktionen zeigen. Dagegen wird, wer in der sympathischen Reaktion endete, eher Wut oder Angst verspüren. Ohnmacht, als letzte Stufe, scheint eng mit Ekel, bei dem Körperflüssigkeiten wie Blut oder Sperma im Spiel sind, in Verbindung zu stehen (Schauer 2010). Die Wahrscheinlichkeit, dass bei Bindungs- oder Entwicklungstraumata dissoziative Momente aufgetreten sind, ist sehr hoch. Ein kindlicher Organismus wird alleine wegen seiner körperlichen Unterlegenheit „aufgeben“, da der Widerstand leicht übermannt bzw. übersehen werden kann.

Somatoforme Dissoziation

Neben den oben aufgezeigten Symptomen zeigen manche Patienten somatoforme Symptome, wie Schmerzen in den Geschlechtsorganen, zeitweise sensorische Ausfälle oder Schmerzüber- bzw. -unempfindlichkeit. Zugleich fehlen die klassischen PTBS-Kriterien Intrusion und Vermeidungsverhalten. Nijenhuis et al. (1996, 2004) haben das Störungsbild der somatoformen Dissoziation beschrieben. Die Korrelation zwischen der Anzahl erlebter Traumata und dem Ausmaß einer somatoformen Dissoziation ist, wie verschiedene Risikogruppenstudien zeigen, vor allem bei frühen Typ-II-Traumatisierungen hoch (Nijenhuis 2009).

Die Symptome einer somatoformen Dissoziation umfassen sogenannte negative Merkmale, beispielsweise Anästhesie mit zeitweisem Sensibilitätsverlust, Analgesie, ein zeitweiser Verlust der Schmerzempfindung und Verlust der motorischen Kontrolle wie Bewegungen, die Stimme, das Schlucken etc. Sogenannte positive dissoziative Symptome sind zum Beispiel somatoforme Komponenten nicht bewusster Prozesse wie hystrionische Phänomene und Attacken, fixe Ideen, reaktivierte traumatische Erinnerungen (z. B. lokalisierte psychogene Schmerzen) sowie dissoziativ bedingte Bewegungsabläufe.

Die somatoformen Dissoziationsphänomene führen die Patienten entweder zum Arzt, weil unerträgliche Schmerzen oder der Verlust motorischer Kontrolle auf eine körperliche Ursache hindeuten, oder sie werden schlicht ignoriert, wie beispielsweise Taubheitsgefühle, der gänzliche Verlust von Körperempfindungen oder Schmerzunempfindlichkeit. Der Zusammenhang zwischen den somatoformen dissoziativen Symptomen und der Traumatisierung ist wie bei den komorbiden Störungen der PTBS nicht einfach zu erkennen.

Für eine Einschätzung der Schwere der Symptomatik der somatoformen Phänomene eignet sich der SDQ-5 oder SDQ-20 (Versionen mit 5 oder 20 Items) von Nijenhuis (2009). Dieser Fragebogen eröffnet oft das Gespräch über den Zusammenhang zwischen Trauma, Körper und körperlichen Empfindungen oder über deren Fehlen und liefert gute Argumente für eine körperbezogene therapeutische Vorgehensweise, die vielen Patienten auf den ersten Blick nicht einleuchtet.

3. Warum hört es nicht auf, wenn’s vorbei ist?

Die Frage erscheint mir mehr als berechtigt. Kognitiv haben die Betroffenen längst begriffen, dass das Trauma vorbei ist. Dennoch scheint es ihnen verwehrt, ein normales, vielleicht sogar glückliches Leben zu führen.

Die Ursache kann nicht allein im fehlerhaften Denken und in den dafür zuständigen Strukturen gesucht werden, denn die Verarbeitung der Informationen während eines Traumas findet nicht im Großhirn statt. Instinktive Aktionen, Überlebenstrieb und dafür notwendige Handlungsmuster fallen in den Aufgabenbereich der phylogenetisch älteren „niederen“ Regionen des Gehirns. Deshalb schauen wir uns zunächst an, wie Informationen im Gehirn verarbeitet werden. Die limbischen Hirnstrukturen der Amygdala und der Hippocampus spielen hier eine zentrale Rolle. Wenn es ums Überleben, geht, bleibt zum Nachdenken keine Zeit. Deshalb muss die Reihenfolge der Überlebensmuster instinktiv festgelegt werden.

3.1 Die Rangordnung der Informationsverarbeitung

Auf ein Stress auslösendes und potenziell traumatisches Ereignis erfolgt die biologisch festgeschriebene Kaskade der Stressreaktion:

Freeze – Startle Reaktion – Orientierungsreaktion

Flight / 3. Fight – Flucht / Angriff – sympathikotone Aktivierung

Fright – tonische Immobilität

Flag – Erschlaffung, parasympathische Aktivität

Faint – Ohnmacht

Im ersten Schreckmoment orientiert sich der Organismus, erstarrt kurz und versucht, die Situation zu erfassen, um seine Reaktion darauf abzustimmen. Wird die Situation als bedrohlich eingeschätzt, wird auf der zweiten und dritten Stufe der Kaskade der Sympathikus aktiviert. Der Mensch fühlt sich leicht schwindlig, der Herzschlag beschleunigt sich, der Mund wird trocken, die Muskeln spannen sich an, es stellt sich ein Gefühl der Taubheit und Irrealität ein. Der Organismus ist in Alarmbereitschaft und für Flucht oder Angriff gerüstet.