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Krebs als Chance: das Entdecken tiefer Bewusstseinsschichten - ein Verhandlungsführer mit dem Tod. Der Mensch besteht aus Körper, Verstand und Geist. Ein einschneidendes Erlebnis wie eine Krebs-Diagnose wird meist gesamthaft in allen dreien dieser Ebenen als eine kritische Lebenssituation empfunden. Neben der klassischen Medizin, die den Körper behandelt, gibt es ein weiteres mächtiges Potential, das jede und jeder Betroffene für sich erschließen und nutzen kann: Es ist das Entdecken der eigenen tiefen Bewusstseins-schichten, aus denen heraus neue Ressourcen entwickelt und neue Handlungs-Alternativen geschaffen werden können. In diesem Buch wird das Handwerkszeug für solche Entwicklungsprozesse vorgestellt und anhand von über siebzig Fallbeispielen anschaulich dargestellt. Die Haltung dieses Buches ist, dass kein Patient in einem Opferstatus gefangen bleiben muss, dass es vielmehr viele Wege gibt, Verständnis in einer übergeordneten Ebene zu entwickeln, aus der heraus sich erfolgreich neue Handlungsmöglichkeiten ergeben können. Interessant ist das Buch nicht nur für Krebspatienten, sondern für alle Menschen, die aufgeschlossen sind, mehr über die tieferen Bewusstseinsschichten von uns zu erfahren. Ganz unabhängig von bestehenden Glaubenssystemen geht es um das Erleben von bislang verborgenen Zusammenhängen, die sich über unseren kognitiven Verstand hinaus (aber nicht in Widerspruch dazu!) eben auch erschließen können. Genau dies ist Teil von Spiritualität.
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Seitenzahl: 893
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Martin Rösch
mental‐spirituelle Psycho‐Onkologie
Ja, der Tod beendet unser Leben, nimmt den Körper weg. Bei jedem von uns. Irgendwann. Ziemlich sicher. Gegenüber einem sofortigen Unfalltod oder einem finalen Herzinfarkt birgt der Krebs jedoch eine Chance: Die Chance der Zeit; die Phase der Erkrankung nutzen zu können. Zu Nutzen wofür?
Und damit sind wir mitten im Thema! Es geht um den Tod und den Sinn des Lebens, um Bewusstseinsprozesse und was diese bewirken können. Allein die Drohung eines nahenden Todes birgt das Potential, den existentiellen Fragen nicht mehr auszuweichen, sich ihnen zu stellen. Dieses Buch ist eine Art Reiseführer. Es klappt das Potential auf, das die Landschaft rechts und links des Weges zeigt, der zum Tor des Todes führt. Jedoch setzt dieses Buch lange vor der unmittelbaren Zielgeraden an und ‐ um im Bild zu bleiben ‐ bietet Anregungen und Hinweise, was getan werden kann, um die Abzweigungen zu erspähen, deren Pfade den direkten Weg zum dunklen Tor verlassen. Manche dieser Pfade sind einladend und hell erleuchtet und es braucht nur die Kraft, den Kopf dahin zu wenden, andere hingegen verlangen Mut sie zu beschreiten, wenn sie direkt in die Tiefe einer Schlucht zu führen scheinen. Gleichwohl, seien Sie versichert, es gibt diese Wege!
Diese Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Todes ist notwendig ein Prozess des Erlebens. Er umfasst Gefühle und Emotionen; er steht nicht in Widerspruch zu kognitivem Verständnis, jedoch geht er so unendlich weit darüber hinaus. Dieses Erleben ist kein von außen zugeführter Erkenntnisgewinn; er schlummert in uns und eröffnet sich wie ein Zwiebel‐Inneres wenn Schicht um Schicht tiefere Bewusstseinsebenen zugänglich werden. Und, wenn auch zu Beginn allein die Hoffnung steht, so mag eben auch erlebbar werden, dass dieser Prozess aufzeigen kann, wie Realität gestaltet und verändert werden kann.
Grundsätzlich ist der Tod ein Energieanteil, den jeder von uns in sich birgt. Er ist vorhanden auch wenn wir ihn kognitiv nicht kennen mögen. Zum einen erfüllt auch er seine Funktion in Hinblick auf die Ziele der Seele. Zum anderen steht diese Energie ebenfalls in der Neigung, ein dominantes Lebensthema zu repräsentieren. Von daher ist es immer wertvoll, solche dominierende Lebensthemen und Ziele der Seele zu kennen. Sie sind uns nicht fremd und doch erfassen wir sie selten in hinreichender Gänze.
Verhandeln mit dem Tod bedeutet sich dieser Themen bewusst zu werden und dann eben auch sie aktiv gestalten zu können.
In der Medizin und von der Ärzteschaft wird der Tod weiterhin tabuisiert. Wir wünschen uns, dass nahestehende geliebte Menschen bei uns bleiben und wir von der Medizin mit all ihrer Macht und Kraft unterstützt werden. Natürlich ist es der Auftrag von uns Ärztinnen und Ärzten alles dafür zu tun, Menschen am Leben zu halten. Es darf uns allerdings nicht gleichgültig sein, ob die Menschen nicht nur am, sondern auch im Leben bleiben. Es gilt zu verstehen, dass manche therapeutische Maßnahme Menschen zwar am Leben hält ‐ dieses Leben aber für sie eine schwere Qual bedeutet. Eine offene, unvoreingenommene Begegnung mit der Endlichkeit und dem Tod, wie in diesem Buch, scheint mir wirklich wichtig. Sie ermöglicht jedem Menschen für sich persönliche Entscheidungen bei schweren Krankheitsprozessen zu fällen, die sich nicht nur an medizinischen Leitlinien bemessen.
Eine solche Begegnung kann nur gelingen, wenn wir ein Bewusstsein dafür entwickeln können, dass die Endlichkeit des Lebens ein wesentlicher Motor für das Leben ist. Die Zuwendung zur Endlichkeit kann uns erst die Unendlichkeit unseres Seins bewusst machen. Dieser Prozess ist bisweilen schwierig und schmerzhaft und doch eröffnet er Möglichkeiten für vielschichtige Heilungsprozesse, für die eine dreidimensionale Sicht der Wirklichkeit nicht ausreichend ist.
In meinem nunmehr fast 40‐jährigen Berufsleben habe ich viele Menschen mit Krebserkrankungen begleitet und immer wieder bewundert, mit welcher Haltung sie Ihr Schicksal meistern. Manche dieser Begleitungen fanden bis zum Tod statt. Dennoch habe ich das Gefühl, dass Menschen, die sich bewusst für die Endlichkeit öffnen können, gerade in der letzten Phase ihres Lebens sehr intensive und tiefgreifende Erfahrungen machen. Manche dieser Patientinnen und Patienten haben mir beispielsweise gesagt, in den letzten Wochen oder Monate vor ihrem Tod haben sie das Leben in seiner Intensität und Schönheit mit Dankbarkeit erfahren wie selten in vielen Jahrzehnten zuvor.
Damit eröffnet sich eine wirkliche Chance, den Übergang in eine andere Dimension wie auch den Abschied aus der Dimension des Diesseits leichter zu gestalten und in Frieden zu gehen. Das ist ein intensiver Prozess und kann nur gelingen, wenn wir die Individualität jedes Menschen akzeptieren. Dies gelingt Martin Rösch mit seiner Arbeit wunderbar, wie Sie aus den vielen bewegenden Fallberichten dieses komplexen Buches erfahren können. Achtsamkeit ist ein wichtiges Schlüsselwort im Umgang mit der Krebserkrankung. Nie waren die Möglichkeiten so groß, nicht nur positive, verheißungsvolle Nachrichten, sondern bewusste Falschnachrichten wie ein um sich greifendes Strohfeuer in kürzester Zeit zu verbreiten. Eine sogenannte Magic Bullet gegen Krebs wird es in absehbarer Zeit in und außerhalb der Medizin nicht geben. In unseren privilegierten Wohlstandsländern haben wir heute in allen Bereichen der Medizin wie auch über ihre Grenzen hinaus Zugang zu einem großen Potenzial an Heilungsmöglichkeiten. Viele von mir beratene Menschen empfinden, dass die naturwissenschaftlich orientierte Medizin sich zunehmend in noch mehr Details verbeißt ‐ dabei sollte vielmehr ein Raum und eine einladende Atmosphäre geschaffen werden, in der Heilung möglich werden kann.
Achtsamkeit darf unter Berücksichtigung der Einzigartigkeit jedes Menschen im Hinblick auf ein mehr konventionell orientiertes oder ein eher biologisch ausgerichtetes Vorgehen nicht nur in der Aktivität – bei der Vielfalt des Tuns und von Methoden – gelten. Bei jedem Menschen sollte wie auf den folgenden Seiten mit Empathie ein Gespür dafür unterstützt werden, mit welcher Einstellung und Haltung wir etwas tun.
Visualisierung und Aktivierung der Vorstellungskraft sind dabei Werkzeuge, die vor allem durch die Arbeit des von mir geschätzten Psycho‐Onkologen Carl Simonton bei zahlreichen Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen einen großen Stellenwert haben. Ich freue mich, dass mit diesem Buch diese Werkzeuge fundierter, individuell verfeinert und vielfältiger werden. Es ist erstaunlich, wie durch sorgsam ausgewählte meditative Elemente des Autors intensive und klare Begegnungen mit unseren tiefen Bewusstseinsschichten möglich sind.
Ich wünsche den inhaltsreichen Seiten dieses Werkes viele begeisterte Leserinnen und Leser, die das viele Wissen und die in ihm steckende Inspiration und Weisheit aufgreifen und für sich in ihr Leben integrieren können wie auch das große von Herzen kommende Engagement des Autors erkennen.
Herzlichst Ihr
Dr. med. György Irmey
Ärztlicher Direktor, Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr (GfBK) e.V. Heidelberg, www.biokrebs.de
Heidelberg im September 2022
Vorwort
Dr.med. György Irmey, Ärztlicher Direktor der GfBK , Heidelberg (Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr e.V.)
Einleitung
Warum Krebs als Chance?
An wen richtet sich das Buch? Und um was geht es?
Ausgangssituation: das ICH und die verschiedenen Bewusstseins-Ebenen
Körper, Verstand und Geist
Wachbewusstsein, ´Unter´‐Bewusstsein und transzendiertes Bewusstsein
Die Verhandlungspartner (Me, Myself and I)
3.1 Ich, der Tod und das Leben
3.2 Wer bin ich denn? Die verschiedenen ICH‐Rollen
3.3 Mein Ich und mein Körper
Das Verhandlungsziel
Die Verhandlungs‐Aussichten
Die Instrumente und der Prozess der Verhandlung
Mediationen, der kognitive Weg
1.1 Das Lebensthema
1.1.1 Einführung und Leitkonzept
1.1.2 Vorgehen zur Eruierung des Lebensthema
1.1.3 Die Benennung und Validierung des Ergebnisses und der Bezug zur Tumordiagnose
1.2 Die Konsequenz: die wirkmächtige Botschaft ‐ das persönliche Mantra
1.2.1 Die Charakteristik einer wirkmächtigen Botschaft in formeller Hinsicht: die 5 ´P´s
1.2.2 Nun die inhaltliche Prüfung der einzelnen Wort‐Elemente
1.2.3 Weitere Erfolgsfaktoren für eine vertiefende Wirkung
1.3 Event und Bungee‐Springen oder: Wie man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann
1.4 Der laufende Veränderungsprozess und die inhärente Qualitätssicherung dazu
Meditationen, der innere Zugang
2.1 Meditation als eine Technik der Introspektion
2.2 Freie imaginative Körperreisen
2.3 Imaginative Körperreisen mit einer gezielten Intention
2.4 Das Sprungbrett der Verbindung von körperlichem Symptom und einer entsprechenden Emotion
2.5 Splits von Persönlichkeitsanteilen
2.6 Spirituelle Meditationen
Migrationen, die Energiebewegungen
3.1 Veränderungsmöglichkeiten von direkt selbst wahrnehmbarer Energie
3.2 Energie Assessments
3.3 Aktive Fremdenergien
3.4 Verschränkungen in Partner‐Beziehungen
3.5 Essenz und Schlussfolgerung
„Stör“-faktoren und Hindernisse
Verletzte ´Innere Kinder´
Unverarbeitete Traumata
Genetische oder epigenetische Belastungen
Fremdenergien
Hinderliche oder ungünstige Glaubenssätze
Stress, Angst, Depression und Fatigue
Krankheitsgewinne
Zweifel fressen Zuversicht
Förderliche Faktoren und Bündnispartner
Unsere sechs Sinne
Die Sinn‐Frage per se
Günstige Glaubenssätze – die Kraft entfalten
SELBST: sechs Faktoren in Ihrer Hand (
S
Schlaf,
E
Ernährung,
L
Lachen,
B
Bewegung,
S
Sozial‐Sein,
T
Tiefe)
Über den Vorteil ver‐rückt zu werden; kurzer Exkurs: Quantenheilung
Ein Ass ziehen – Erkenntnisse als mögliche Wendepunkte zur Heilung & Gesundung
Vorspann I Der Geist‐Körper Dualismus
Vorspann II Komplexe Systemverschränkungen von Bewusstsein
Vorspann III Die radikal‐individuelle Sicht
Vorspann IV Krankheit als Repräsentation eines dominierenden Themas / Das Prinzip der Ähnlichkeit
Vorspann V Die Essenz
Fallbeispiele: Ein Ass ziehen ‐ Erkenntnis und Wendepunkt
Ein Ass allein macht noch keinen Royal Flash
Fallbeispiele: kein Ass, oder doch? Nicht‐Erkenntnis oder Erkenntnis ohne Wendepunkt
Zusammenfassung
Über das Sterben und den Tod selbst
Gutes Sterben und widriges Sterben; Angst vor dem Sterben
Die finale Lebensphase, das tiefe Wissen darum
Die Phase um den unmittelbaren Tod
Der Tod, und dann?
Für Angehörige
Ausgewählte Fallberichte
Über den Autor, Martin Rösch
* Streifzüge aus meiner Vita
* meine Haltungen
* und meine Glaubens Konstrukte zu Bewusstsein
Anhang
Übersicht Fallbeispiele: Themen und Art des Tumors
42 Fragen zur ehrlichen Selbstreflektion
´Why‐Pie´‐Grafik
Die drei Formen diagnostischer Tumor‐Verlaufskontrollen
Perspektiven‐Wechsel
Krebs als Chance? Viele werden die Stirn runzeln. Krebs ist so unnötig wie ein Kropf; dies mag noch die neutralste Meinung sein. Viele sehen im Krebs eine tödliche Krankheit, die mit aller Entschiedenheit bekämpft werden muss. Idealerweise bis zur völligen Vernichtung. Mit Messern wegzuschneiden (Chirurgie) oder mit Hitze zu verbrennen (Radio‐frequenz‐Ablation), zu vergiften (Chemotherapien) oder mit Todesstrahlen zu bombardieren (Strahlentherapie). Die moderne Medizin hat diesen Werkzeugkasten immer weiter verfeinert und kann auch auf Erfolge zurückblicken; allein „besiegt“ hat sie den Krebs nicht (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wie etwa manche Leukämien bei Kindern oder viele Hodentumore). Auch eine zunächst erfolgreiche Therapie birgt die Gefahr, dass in einer späteren Phase eben doch noch Metastasen auftreten können.
Aber, es soll hier kein Missverständnis aufkommen! Alles sind Methoden, die sich bewährt haben, Methoden, die Zeit gewonnen haben – auch Zeit in einem qualitativ viel besseren Lebenszustand verbringen zu können als ohne diese klassischen Therapieoptionen. Dieses Buch richtet sich also in keiner Weise GEGEN die klassischen schulmedizinischen Maßnahmen. Vielmehr ist es ein Plädoyer FÜR einen zusätzlich erforderlichen Prozess, einen Prozess, der mit der Kraft und mit der Entwicklung des eigenen Bewusstseins zu tun hat.
Wir Menschen sind Körper, Verstand und Geist. Es wäre doch schade, wenn nur die körperliche Ebene allein in den Fokus von Behandlung gestellt würde. Verstand und Geist sind erweiterte Ebenen, die primär vom betroffenen Menschen selbst zu eröffnen sind. Die Kraft und die Entwicklung des eigenen Bewusstseins umfasst viel mehr als das uns unmittelbar präsente kognitive Wachbewusstsein. Wenn es gelänge, die tieferen Schichten unseres Bewusstseins zu erschließen, kann sich ein faszinierendes zusätzliches Potential eröffnen.
Die Medizin heute ist nach wie vor in großen Teilen eine Erfahrungswissenschaft. Klinische Studien schaffen Belege und erzeugen Evidenz für oder gegen bestimmte Maßnahmen. Und das ist auch gut so. Darüber hinaus ist es jedoch immer interessant, gerade auch die Ausnahmen näher zu untersuchen, etwa wenn sich etwas positiv entwickelt, den statistischen Prognosen zum Trotz. Und insbesondere sollten doch die immer wieder vorkommenden sogenannten Spontanheilungen interessieren. Als sog. Spontanheilung wird bezeichnet, wenn sich ein Tumor quasi aus unerklärlichen Gründen unerwartet und gegen alle sonst beobachteten Erfahrungen plötzlich zurückbildet. Es ist ein gefälligerer Ausdruck für die ärztliche Erkenntnis: ich habe keinen Schimmer, warum jetzt hier nichts mehr von diesem Tumor zu sehen ist.
Kurzer Exkurs zu Wissenschaftlichkeit:
Das Bemühen, explizit nach den Ausnahmen, nach anderen, neuen Erklärungsmustern zu suchen, ist übrigens keine Spinnerei außerhalb von Wissenschaftlichkeit. Karl Popper, der große österreichische Wissenschaftstheoretiker hat überzeugend dargelegt, dass ein solches Vorgehen eigentlich im Kern einer wirklich wissenschaftlichen Vorgehensweise stehen müsste (Theorie des kritischen Rationalismus). Eine Theorie lässt sich demnach niemals durch Verifikationen beweisen, also nicht mittels Studien, die zeigen, dass eine These stimmt, sondern durch die gegenteilige Bemühung der sog. Falsifikation, also des Versuchs, eine Ausgangsthese zu widerlegen. Erst wenn das wiederholt nicht gelingen mag, kann man indirekt ableiten, dass die Ausgangsthese valide erscheint.
Popper verdeutlicht dies mit einem berühmt gewordenen Beispiel. Ausgangsthese: alle Schwäne sind weiß. Untersuchungen, die diese These stützen sind nicht unnütz, aber führen auch nicht durch die quantitative Anhäufung von Belegen zur überzeugenden Evidenz. Wirkungsvoller sei es zu suchen, ob die Ausgangsthese widerlegt werden kann. Denn wenn es gelänge, einen schwarzen Schwan zu finden – dann könnte die Ausgangsthese erfolgreich widerlegen werden und bewirkt somit einen Wissenschaftsfortschritt.
Jedoch, es war noch nie populär nach Ausnahmen zu suchen und die gängigen Theorien herauszufordern. Wer mag sich schon ermaßen, gegen den großen Professor X aufzutreten und die Kernaussagen seines weltweit verbreiteten Lehrbuchs anzuzweifeln? In jeder Profession steckt hier für einen neuen jungen Geist die Gefahr eines berufsseitigen Harakiris. Und dies ist auch in der aktuellen klinischen Onkologie als Gefahr gegeben. Geld für Studien etwa sind immer auch mit wirtschaftlichen Interessen verknüpft. So verwundert es nicht, dass so mancher Vorstoß in der ganzheitlichen Medizin nicht aus der medizinischen Gilde, sondern durch das Interesse der „laienhaften“ Patienten selbst entstanden ist.
Ob in oder außerhalb der Medizin; es gibt eine Fülle von Belegen für die Erforderlichkeit eines Blickwinkels jenseits der etablierten gängigen Konsensmeinung. Max von Planck etwa untersuchte das Verhalten von glühenden Kanonenkugeln und fand, dass sich seine Beobachtungen nicht mit dem damals bestehenden Gebäude der Physik erklären ließen. Daraus entwickelte sich dann in der Folge die Quantenphysik. Wäre es nicht interessant, auch in der Medizin eine erweiternde Analogie zu finden? Wie in der Physik würde das bekannte Wissen damit nicht ungültig.
Krebs als Chance
Jetzt sei zur Ausgangsfrage zurückgekehrt.
Ja, der Tod beendet unser Leben, nimmt den Körper weg. Bei jedem von uns. Irgendwann. Ziemlich sicher. Gegenüber einem sofortigen Unfalltod oder einem finalen Herzinfarkt birgt der Krebs jedoch eine Chance: Die Chance der Zeit. Die Phase der Erkrankung nutzen zu können. Zu nutzen wofür?
Und damit sind wir im Thema angekommen! Es geht um den Tod und den Sinn des Lebens, um Bewusstseinsprozesse und was diese bewirken können. Allein die Drohung eines nahenden Todes birgt die Gelegenheit, nun den existentiellen Fragen nicht mehr auszuweichen, sich ihnen zu stellen. Dieses Buch ist eine Art Reiseführer. Es klappt das Potential auf, das die Landschaft rechts und links des Weges zeigt, der zum Tor des Todes führt. Verglichen zum tibetanischen Totenbuch1) setzt dieses Buch jedoch lange vor der unmittelbaren Zielgeraden an und ‐ um im Bild zu bleiben ‐ bietet Anregungen und Hinweise, was getan werden kann, um die Abzweigungen zu spähen, deren Pfade den direkten Weg zum dunklen Tor verlassen. Manche dieser Pfade sind einladend und hell erleuchtet und es braucht nur die Kraft den Kopf dahin zu wenden, andere jedoch verlangen Mut sie zu beschreiten, wenn sie direkt in die Tiefe einer Schlucht zu führen scheinen. Aber seien Sie versichert, es gibt diese Wege!
Diese Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Todes ebenso wie mit der tiefen Zuversicht die Gefahr zu überwinden, ist notwendig ein Prozess des Erlebens. Er umfasst Gefühle und Emotionen. Er steht nicht in Widerspruch zu kognitivem Verständnis, jedoch, er geht so unendlich weit darüber hinaus. Dieses Erleben ist kein von außen zugeführter Erkenntnisgewinn; er schlummert in uns und eröffnet sich wie ein Zwiebelinneres wenn Schicht um Schicht tiefere Bewusstseinsebenen zugänglich werden. Und, wenn auch zu Beginn allein die Hoffnung steht, so mag eben auch erlebbar werden, dass dieser Prozess aufzeigen kann, wie Realität gestaltet und verändert werden kann.
Dieses Buch versucht den Spagat. Es richtet sich primär an betroffene Patienten mit einer Krebsdiagnose und ebenso an professionelle Personenkreise, die in der Betreuung von Tumorpatienten involviert sind. Im Grunde könnte man die Diagnose ´Tumor´ auch ersetzen durch ´chronische ernste Krankheit´, da aber mein Erfahrungshorizont ganz überwiegend onkologische Patienten umfasst, sei dies auch in den Mittelpunkt gestellt.
Der hier vertretene Ansatz steht in keiner Weise in einem Widerspruch zur onkologischklinischen Behandlung nach neuestem Wissensstand und in meiner Praxis beispielsweise akzeptiere ich nur Patienten, die auch kompetent ärztlich‐onkologisch betreut werden.
Der Ausgangspunkt hier ist der betroffene Mensch selbst. In dieser Perspektive ist er oder sie eben nicht Patient, hat nicht zu dulden, ist nicht in einer Opferrolle gefangen, sondern bewegt sich hinaus in die Übernahme einer eigenen Verantwortung für das eigene Leben und den eigenen Körper. Ja, das mag nicht immer von jetzt auf nachher gehen. Es ist ein Prozess. Oft ist es eine Reise nach innen, oder man könnte auch sagen nach „unten“ und nach „oben“; eine Reise, die über verschiedene Bewusstseinsebenen führt und das Potential aufdecken kann, das in den verschiedenen Bewusstseinsfragmenten schlummert. Und ohne Widerspruch dazu kann es auch eine Reise des eigenen kritischen Verstandes sein, der sich Meta‐Ebenen erschließt. So sind es denn verschiedene Zugänge, die hier vorgestellt werden, die alle das Ziel haben, Veränderung bewirken zu können: erst durch Aha‐Erlebnisse des Verstehens und dann in der Auswirkung auf eine immer wandelbare gestaltbare Realität. Diese Instrumente, die in Kapitel II jeweils einzeln näher vorgestellt werden, lassen sich in drei Kategorien einteilen:
Mediationen (kognitive Techniken, die primär unseren Verstand nutzen)
Meditationen (spirituelle Techniken der Innenschau)
Migrationen (eine handwerkliche Technik der Bewegung von Energien)
Nun sind auf diesem Weg der persönlichen direkten Einflussnahme auf die Realität durchaus einige Hürden zu nehmen. Wir Menschen sind komplexe Geschöpfe. In uns tummeln sich Widersprüche, Unverträgliches, unbekannte Einflüsse von Ahnen und aus Vorgeschichte, aus Umwelt und generell Nicht‐Verstandenes. Daher ist wenigstens der Versuch hilfreich, die verschiedenen Ich‐Positionen und Ich‐Rollen zu erkennen und die wesentlichen inneren Widersprüche weitgehend eliminieren zu können, dass sich die verschiedenen Ich‐Anteile kongruent auf ein Ziel ausrichten können (Kapitel I). Auch die ungewollten Teile seiner Selbst müssen berücksichtigt werden.
In diesem Zusammenhang ist es nahezu unvermeidbar auch auf Störfaktoren zu stoßen, die, falls sie aufkommen, unbedingt adressiert werden müssen (Kapitel III). Es können dies verletzte innere Kinder sein; d.h. beängstigende, bedrohliche und andere adverse Erlebnisse in unserer Jugend, der frühen und frühesten Kindheit. Falls mögliche Traumata bestehen, so sind auch diese wahrzunehmen und zu befrieden. Es gibt das Phänomen von Fremdenergien, die zu eliminieren sind. Man mag feststellen, dass einer Entwicklung oder Heilung hinderliche Glaubenssätze entgegenstehen. Weitere Störfaktoren können Stress, Depression und Fatigue sein und auch Angst, wenn sie nicht bearbeitet und zur Transformation genutzt wird.
Es gibt aber auch Bündnisfaktoren und neue Ressourcen, die gefunden werden können und die uns beistehen können (Kapitel IV). Äußere oder innere Bewegungen sind hilfreich solche neuen Kräfte zu finden mit deren Unterstützung es dann möglich werden mag, eingelaufene Pfade zu verlassen. Beispiele dafür sind Prozesse, eine neue Achtsamkeit zu entwickeln, Reflektionen über die Sinn‐Frage oder auch ganz banal darauf zu achten, dass Schlaf, Ernährung, Bewegung, oder soziale Bedürfnisse förderlich auf das Immunsystem wirken können.
Als eine Art Essenz, was sich in diesen Prozessen immer wieder herauskristallisiert, steht die These, dass sich eine entsprechende körperliche Dysfunktionalitäten als Repräsentation eines Themas oder Spannungsbogens darstellen lässt Kapitel V). Wenn es schlüssig gelingt, im Kern des Problems ein Muster zu identifizieren, kann genau darin für einen einzelnen Betroffenen eine Schlüsselerkenntnis liegen. Ein Muster mag ein bestimmtes, sich wiederholendes emotionales Erleben sein, das sich durch ganz verschiedene Lebensdimensionen durchzieht. Fallbeispiele erläutern diesen Gedanken unter der Überschrift: „Ein Ass ziehen‐ Erkenntnisse als mögliche Wendepunkte zur Heilung und Gesundung.“ Es gibt jedoch auch ein Folgekapitel mit der Überschrift:“ Ein Ass allein macht noch keinen Royal Flash.“
Es scheint sprachlich durchaus legitim, diesen skizzierten Prozess eines schaffbaren Gestaltungsraumes mit der Metapher „Verhandlung mit dem Tod“ zu belegen und, wie bei jeder Verhandlung, gibt es erfolgsversprechende Strategien und weniger erfolgsversprechende. Die Diskussion in diesem Buch hat genau dies zum Thema, unabhängig vom initialen Verhandlungsziel, was jeder zu Anfang selbst für sich bestimmen mag.
Von Beginn an stellte sich mir das Ziel, so praxisnah wie möglich zu sein und auch so konkret wie möglich zu sein. Konkret bedeutet dies, hier auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen und diese nachvollziehbar darzustellen. Die Kernthesen und das Vorgehen entspringen daher meiner Erfahrung, die ich mit Patienten habe machen dürfen und den unmittelbaren Erkenntnissen, die sich aus solchen begleitenden Prozessen ergeben haben. Ich weiß, dass manche Meinungen und Themen (etwa Fremdenergien oder spirituelle Ressourcen) in unserem westlichen Kulturkreis nicht vertraut sind und manchem Leser vielleicht sperrig erscheinen, aber gleichwohl müssen sie einfach benannt werden, denn sie sind relevant und Teil dessen, was immer wieder erlebbar ist.
Über 70 integrierte Fallbeispiele, konkret und anschaulich, verdeutlichen einzelne Aspekte dieses Prozesses und machen ihn nachvollziehbar. Damit kann gezeigt werden, dass das zu diskutierende Spektrum sich durchaus jedem einzelnen ´normalen´ Menschen erschließen kann und man dazu kein indischer Yogi oder tiefer Mystiker zu sein braucht. Die inhaltliche Ausprägung einer jeden Methode ist ohnehin in jedem Einzelfall wieder anders gelagert. Letztlich zählt allein das eigene Erfahren. Keine noch so plausible Erläuterung wird dies ersetzen können. Tiefe Wahrheiten müssen erlebt werden. Von daher ist die Landkarte nicht die Landschaft und der Reiseführer nicht die Reise.
Ja, es ist möglich mit dem Tod zu verhandeln. Und gleichzeitig kann dieser Prozess sowohl tiefe Ergriffenheit als auch beglückende Erfahrungen bergen – und zwar unabhängig vom Ergebnis. Dies gilt auch dann, gerade auch dann, wenn sich letztlich zeigen sollte, dass die Einladung von Bruder Tod vielleicht doch anzunehmen ist. Ein letztes Kapitel VI geht auf den Prozess des Sterbens und den Tod an sich ein. Niemand von uns hat den finalen Tod in diesem Körper wirklich und selbst erlebt und könnte darüber berichten und doch gibt es viele wertvolle Erfahrungen dazu ‐ nicht nur aus den Erlebnissen der Nah‐Tod‐Erfahrung.
Gleichwohl, nichts ist unabwendbar vorgegeben. Es gibt keine unumstößliche Zwangsläufigkeit, wonach ein bedrohliches Geschehnis wie bspw. ein fortgeschrittener Pankreastumor innerhalb eines Jahres zum Tod führen würde. Statistisch gesehen mag dies in den meisten Fällen so sein, aber es ist eben nicht zwangsläufig! Und die Grundthese dieses Buches ist, dass grundsätzlich viel mehr durch uns selbst, aus uns selbst heraus, gestaltbar ist, als wir gemeinhin annehmen. Wie Caryle Hirshberg treffend formuliert hat: Akzeptieren Sie die Diagnose, aber nicht die Prognose der Erkrankung.2
Die Diagnose Krebs hat die Chance eines Weckrufes und bietet die Gelegenheit, eigenes Bewusstsein gezielt weiter zu entwickeln. Ein sich entwickelndes Verständnis ist letztlich ein Prozess der Gnade. Und Gnade ruht in Vergebung und Liebe – Liebe zu Anderen und zu Allem, vor allem aber auch zu sich selbst. Das Ziel dieses Buches ist es, Impulse zu vermitteln
in andere Sichtweisen zu gelangen,
für sich selbst, die eigenen tieferen Bewusstseinsschichten zu erschließen,
Ansätze für neue Gestaltungskraft zu entdecken und
neue Möglichkeitsräume zu erkennen.
Zum Schluss dieser Einleitung ist es mir ein Bedürfnis, meine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, den Patientinnen und Patienten gegenüber, die ich über die letzten Jahre hindurch habe begleiten dürfen und die mich jeweils ein Stück mitgenommen haben auf Ihrer Reise. Denn ohne deren Erfahrungen, die mir durch diese Begleitung wenigstens in manchen Kernlinien auch zuteilwurden, hätte ich mir nicht anmaßen können, über dieses Thema zu schreiben.
Die Dialoge in den Fallbeispiele sind wörtliche Wiedergaben und lediglich alle Namen wurden anonymisiert. Ich habe von allen Patienten das Einverständnis zur anonymisierten Veröffentlichung erhalten.
1Das tibetanische Buch vom Leben und Sterben von Sogyal Rinpoche (1992 in deutsch) beschreibt -mit Worten eingebettet in die Kultur und dem Glaubenssystem des tibetischen Volkes- den eigentlichen Sterbeprozess und die langsam nach und nach abfallenden verschiedenen Bewusstseinsschichten.
2 Caryle Hirschberg hat mit Marc Barasch ein wissenschaftlich recherchiertes Buch geschrieben über unerwartete Genesungsverläufe bei eigentlich aussichtslosen Fällen (Caryle Hirschberg & Marc Ian Barasch, Remarkable Recovery, Headline Book Publisching, London 1996.) Die zitierte Aussage formulierte sie auf der Heidelberger Krebstagung der GfbK 2015.
1. Körper, Verstand und Geist
2. Wachbewusstsein,´Unter´‐Bewusstsein und transzendiertes Bewusstsein
3. Die Verhandlungspartner (Me, Myself and I)
3.1 Ich, der Tod und das Leben
3.2 Wer bin ich denn? Die verschiedenen ICH‐Rollen.
3.3 Mein Ich und mein Körper
4. Das Verhandlungsziel
5. Die Verhandlungs‐Aussichten
Du gleichst dem Geist, den Du begreifst.
J. W.Goethe: Faust I 1808; Nacht, Geist zu Faust
Wenn man ein wenig allgemein bleibt, dann wäre zu vermuten, dass die allermeisten Menschen der These zustimmen würden, dass wir Menschen aus Körper, Verstand und Geist bestehen. Unter ´Geist´ sei grob alles subsumiert, was nicht fassbar materieller Körper darstellt und auch nicht kognitives rationales Wachbewusstsein, dem wir den Begriff Verstand zuweisen würden. Geist kann also sein: Zustände im sogenannten Unterbewusstsein, das manifeste oder diffuse Gefühl eines ICHs oder auch so etwas wie Seele. Auf eine solche weite Fassung dürften sich sowohl religiöse Menschen ebenso wie Agnostiker oder Atheisten ohne Widerstand einlassen können. Jedenfalls sind es verschiedene Dimensionen und alle repräsentieren ein Stück von mir. Alle sind ein Stück meines ´Ich´s.
Wenn nun der Körper erkrankt mit einer chronischen Erkrankung wie Krebs, ist es noch immer meist so, dass nur der Körper behandelt wird. Der ist ja schließlich das Problem. Die anderen Dimensionen unseres Seins ‐ Verstand und Geist ‐ werden vielfach nicht eingebunden. Außer, sie werden als Störfaktoren erkannt, wie beispielsweise Stress. Diese Nicht‐ oder Kaum‐Berücksichtigung ist schade, denn hier liegt ein immenses Potential verborgen! Dass wir uns nicht missverstehen, natürlich muss der Körper behandelt werden, wenn im Körper Probleme und Widrigkeiten auftreten. Und die wissenschaftliche klinisch‐onkologische Medizin hat inzwischen Erstaunliches geleistet. Wir haben heute viel Wissen über förderliche (und überholte) Therapieoptionen. Die evidenzbasierte Medizin hat zurecht einen wichtigen Stellenwert. Das Plädoyer in diesem Buch zielt darauf ab, ergänzend (!) zur klinischen Medizin auch das Potential von Verstand und Geist zu nutzen.
Wer glaubt, dass Gedanken Auswirkungen auf unser Leben haben? Der Anteil Personen, der das bestreiten wollte, würde vermutlich nicht groß sein. Die entscheidende weiterführende Frage ist vielmehr, wie Gedanken eingesetzt werden können, dass sie ein konkretes Ergebnis wie beispielsweise Heilung unterstützen? Und dies vor dem Hintergrund, dass es sich hier um eine komplexe Aufgabe handelt, die meist nicht einfach allein mit einem willentlichen Verstand erreicht werden kann.
Wir werden sehen, dass auch der Verstand allein keine homogene Dimension ist. Es gibt in unserem Verstand viele inhärente Widersprüche, Zielkonflikte, verschiedene Rollenverständnisse und Erwartungen. Sie alle stehen in einer Auseinandersetzung miteinander. Auch Körperfunktionen spielen mit, wenn der Kopf beispielsweise gerne noch ein Stückchen Kuchen vertilgen würde, aber der Bauch schon schreit: nichts geht mehr. Mein Körper ist ein Teil von meinem ´Ich´, natürlich auch mein Bauch und meine Gedanken sind auch Teil von ´Ich´, selbst die widersprüchlichen. Wenn dann noch Gefühle wie etwa ein schlechtes Gewissen sich nicht unterdrücken lassen, denen wir natürlich auch zugestehen müssen, dass sie Teil von unserem ´Ich´ sind, nun, dann wird deutlich, dass es sich um ziemlich viele und oft sehr unterschiedliche ´Ich´‐Energien handelt, die meist alles andere als an einem Strang ziehen.
Wenn wir die Analogie ziehen zur Politik, zur Wirtschaft, dem Kulturbetrieb oder gesellschaftlichen Bewegungen, in denen es auch vorkommt, dass die verschiedenen Mitglieder unterschiedliche Meinungen haben, so zeigt sich, dass es letztlich immer auf eine Art Verhandlungsprozess hinausläuft, Energien (Mehrheiten) so zusammenziehen zu können, dass eine genügend große kritische Masse entsteht, die sich auf ein Ziel einigen kann und dann auch die Kraft mobilisieren kann, dies durchzusetzen. Ein solcher Prozess einer Verhandlung ist auch in und mit den verschiedenen ´Ich‐Energien möglich. Und als Verhandlungsführer mag sich der bewusste Wille aufschwingen.
Das ist die Ausgangslage dieses Buches. Es umfasst die Dimension des Verstandes, aber auch die Dimension des Geistes, der sich dem Verhandlungsführer des willentlichen Verstandes zunächst oft so entzieht, dass diesem nicht einmal die gegenwärtigen wichtigsten Wirkkräfte bekannt sein mögen. Und natürlich umfasst es auch den Körper mit seiner ebenfalls vielfältigen komplexen Physiologie und Funktionalität von Organen bis auf die Zellebene, Zellorganellen und DNA.
Lieber Leser, die austauschende Kommunikation zwischen den verschiedenen Ich-Anteilen und mit dem eigenen Körper und mit dem eigenen Geist mag sich nach einem übergroßen Versprechen anhören. Jedoch, ich weiß, dass dies möglich ist und ich weiß auch um die Möglichkeit erstaunlicher Ausweitungen des eigenen Erkenntnisraumes. Natürlich gibt es – wie in jeder Verhandlung ‐ keine Garantie auf ein Happy End, aber ganz bestimmt hat es das Potential die Wahrscheinlichkeit für ein erfolgreiches Ergebnis zu erhöhen.
Dieser Verhandlungsprozess, einige idealisierte Akteure und die Methoden, die als Instrumente einer solchen Verhandlung eingesetzt werden können, werden im Folgenden vorgestellt und diskutiert. Viele Fallbeispiele von Tumorpatienten stellen sicher, dass es sich hier um keine theoretisch‐abstraktes Abhandlung handelt, sondern tatsächlich auch ´Fleisch am Knochen´ ist.
Meinst du, du könntest den Sonnenschein von der grünen Farbe der Blätter trennen? Ebenso wenig kannst du das beobachtende Selbst trennen von dem beobachteten Selbst.
Tich Nhat Hanh, vietnamesischer Mönch und Lehrer (1926-2022)
Unser kognitives Wachbewusstsein, also das uns bewusste ICH, ist uns zwar am vertrautesten gleichzeitig jedoch in seinen Fähigkeiten der Informationsverarbeitung ziemlich begrenzt. Wir können mit seiner Hilfe nur etwa 6‐7 Eindrücke simultan verarbeiten. Daneben gibt es eine weitere Intelligenz in uns, die eine Vielfalt weiterer Parameter steuert. Erlauben Sie hierfür zunächst den sprachlichen Begriff des Unterbewusstseins. Unser Unterbewusstsein steuert tausende von Prozessen gleichzeitig: Es reguliert Neurotransmitter, Hormone, physische Funktionen wie Atmung, Herzschlag, Verdauung, Agilität, Stimmung und vieles mehr. Funktionen unterhalb unseres Wachbewusstseins sorgen dafür, dass wir müde werden oder in wichtigen Situationen hellwach sind. Und ob wir etwas mögen oder abstoßend finden, ist vielfach schon klar bevor wir uns im zweiten Schritt darüber bewusst werden. Das Unterbewusstsein greift blitzschnell auf sehr viel mehr Information und Erfahrung zu als uns im gleichen Moment kognitiv verfügbar sind. Es kann sich an alles erinnern. Unter Hypnose beispielsweise können auch früheste Kindheitserlebnisse aus dem Unterbewussten in das beobachtende Wachbewusstsein zu Tage kommen. Der Detailreichtum ist immer wieder faszinierend, wenn ein Mensch sich z.B. an seine ersten selbstständigen Schritte erinnert und plötzlich wieder in Erinnerung erlebt, wer damals im Raum war, welches Kleid die Mama trug und so weiter. Diese Möglichkeiten schließen selbst Erinnerungen an die eigene Geburt mit ein3. Wenn wir unter Stress kognitiv überfordert sind (schon bei mehr als sechs Informationen gleichzeitig) etwa in einer brenzligen Situation im Straßenverkehr, greifen unsere Reflexe. Durch sie agieren wir viel schneller als aufgrund von Reaktionen, die seitens kognitiver Überlegungen angestoßen werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Unser Unterbewusstsein ist weitaus mächtiger, als wir das gemeinhin glauben. Wenn es uns gelingt, auf diese Ressource bewusst zuzugreifen, ist das eine großartige Erfahrung. Wird aus einer vagen Intuition oder Ahnung eine subjektive Gewissheit, erleichtert dies unsere Entscheidungsfindung zum weiteren Vorgehen oder zur aktuellen Priorisierung ungemein. Alle unsere Fragen kommen aus unserem kognitiven Wachbewusstsein, die Antworten liegen meist schon im Unterbewusstsein bereit. Wir müssen dieses Potenzial nur erschließen.
Ein uns eher vertrauter Aspekt des Unterbewusstseins ist das sog. Körpergedächtnis. Wer etwas routiniert lange geübt hat, braucht nicht mehr bewusst an einzelne Aktionsabfolgen denken. Schön zu erleben ist das beim Tanzen. Der Anfänger ist mit voller Aufmerksamkeit bei seinen Schritten, man mag im Kopf den Rhythmus mitverfolgen und mit den Füssen zu koordinieren versuchen. Irgendwann weiß dies der Körper von alleine und der Kopf wird wieder frei, frei um Ästhetik, Einklang und Verbundenheit zu genießen.
Unser Unterbewusstsein ist uns also nichts Fremdes, gleichwohl ist diese wertvolle Ressource nicht ganz in unserer kognitiven Kontrolle. Allenfalls in einem Übergangsbereich können wir es direkt beobachten: bei Träumen bspw. oder intuitiven Ahnungen, dem oft zitierten Bauchgefühl. Im Fall von Träumen: sie kommen einfach; vielfach entziehen sie sich sogar der bewussten Erinnerung indem sie einfach wieder vergessen gehen. Inhalt und Ablauf sind nur in seltenen Fällen (sog. luzide Träume) beeinflussbar. Meist entzieht sich das Unterbewusstsein auch einer konkreten Befragung. Selbst in Situationen, wenn wir schon eine intuitive Ahnung haben, genügt vielfach nur ein kleiner aufkommender Zweifel unseres Kontroll‐Ichs und schon scheint es wie weggeblasen. Oft ist das Gefühl, ich habe keinen Zugang, und wenn, kann ich mich nicht darauf verlassen. Schon die grundsätzliche Möglichkeit einer Kommunikation mit dem Unterbewusstsein scheint unrealistisch – zumindest für alle Menschen, die das noch nicht selbst in eigener Erfahrung erlebt haben.
Ganz pragmatisch, sprachlich und in der Vorstellung kann man das Unterbewusstsein als separate Ressource sehen. Letztlich ist es egal, wie man das konzeptionell fasst, ob als Persönlichkeitsanteil, Teil des vegetativen Nervensystems, Funktionen des Gehirns oder die Vorstellung einer anderen imaginären Ich‐Wesenheit. Es ist nur ein Konstrukt. Ein Konstrukt ist wie eine Landkarte. Es ist nicht die Realität aber es bildet einen Teil einer Realität so ab, dass es nützlich erscheint. Keiner würde das Konstrukt der Landkarte mit der tatsächlichen Geographie gleichsetzen. Von Unterbewusstsein zu sprechen als Teil unserer umfassenderen inneren Intelligenz ist also einfach ein Konstrukt – vielleicht ein sinnvolles, gleichwohl ein Konstrukt.
Wenn wir also in die Vorstellung einer Kommunikation zwischen dem kognitiven Wach‐ICH und dem mächtigen Unterbewusstsein gehen, so ist dies ein sprachlicher Kniff und in der Vorstellung kann dies sogar wie eine eigene Wesenheit wirken, mit der man kommunizieren kann. Es ist keine eigene Wesenheit, aber man kann so tun als ob und hat es damit manchmal konzeptionell leichter.
Das Unterbewusstsein und der fließende Übergang zum transzendierten Bewusstsein
Neben dem Unterbewussten gibt es noch andere Ebenen von Bewusstsein, die sich auf den Außenbereich oder eine Verbindung mit anderen Personen beziehen und die nicht über einen materiellen Input über unsere fünf Sinne ausgelöst werden. Es handelt sich quasi um ´über´‐sinnliche Wahrnehmungen. Ein transzendiertes Bewusstsein liegt beispielsweise vor, wenn wir Dinge erfahren, die wir eigentlich gar nicht wissen können.
Die Mutter eines guten Freundes erzählte mir, dass sie vor vielen Jahren mitten in der Nacht aufwachte, eine panikartige Angst hatte und spürte, dass ihre Tochter in akuter Lebensgefahr sei. Diese Tochter war in Urlaub in einem anderen Land und es gab zuvor kein mögliches Anzeichen einer Gefahrenlage. Aber die Mutter „wusste“ einfach, dass etwas passiert ist und ihre Tochter ums Leben gekommen ist. Als der Familie am Nachmittag des Folgetages die Bestätigung seitens der Polizei gebracht wurde, war sie schon gefasst. Es war ihr persönlich keine Neuigkeit mehr.
Es braucht aber gar keine solche dramatischen Beispiele. In der Technik des Familienstellens beispielsweise haben viele Menschen inzwischen die Erfahrung machen können, dass sie in der Rolle eines Stellvertreters für eine ihnen völlig fremde Person Aspekte von Innenansichten oder Eigenschaften dieses Menschen erleben können. Eine harmlose kleine Episode:
Als Stellvertreter des Großvaters einer Klientin wurde ich einmal an einen Platz im Aufstellungsraum gestellt. Kurz danach bemerkte ich, dass sich mein rechtes Bein seltsam steif anfühlte und ich in einer folgenden Bewegung tatsächlich humpelte. Da ich selbst keine Schwierigkeiten mit meinen Beinen habe, bemerkte ich dieses eigentümliche Gefühl und brachte es in der Runde zum Ausdruck. Die Klientin erläuterte daraufhin, selbst überrascht, dass sie vergessen habe zu erwähnen, dass dieser Großvater tatsächlich ein kriegsbedingt versteiftes Bein hatte.
In den Fallbeispielen speziell in den Kapitel II 2. und II 3. sind eine ganze Reihe ausführlicher beschriebene Vorkommnisse aufgeführt, wie Zugang geschaffen werden kann zu transzendiertem Bewusstsein und was sich das inhaltlich alles zeigen kann. Jedenfalls sind solche Meta‐Ebenen des erfahrbaren Bewusstseins relevant und hilfreich in der Gestaltung von Gesundungsanliegen. Wenn eine sog. genetische Veranlagung für ein bestimmtes Tumorgeschehen in der Familie vorliegt, scheint es sinnvoll, auch in die Familiengeschichte einzusteigen. Wenn dies gelingt, und das tut es im Regelfall, können sich im Bewusstsein Zusammenhänge eröffnen (siehe bspw. das Fallbeispiel von Ulma Z. in Kap VII oder den Fall von Christa M. in Kap. III 3.). In diesem Fall kann man zutreffend von einem transzendenten Bewusstsein sprechen, das zusätzlich zum beobachtenden Wachbewusstsein im Hier und Jetzt in Erscheinung tritt.4 Zu Recht kann man hier auch von einem spirituellen Bereich sprechen. Es gibt keine Glaubensvoraussetzungen hierfür außer vielleicht der Haltung offen zu sein für das, was erlebt werden kann.
In den schamanischen Traditionen wird eine Art transzendenten Bewusstseins zielgerichtet geschaffen in der Vorstellung eine benötigte Unterstützung in die Repräsentation einer Gestalt zu projizieren. Wenn eine Person, durch Trommeln in Trance versetzt, sich auf die gedankliche Suche begibt nach einem persönlichen Beistand und dann beobachtet, wie sich in der Imagination ein Büffel, Bär, Adler oder Wiesel zeigt, dann ist ein solches Krafttier ein Gestalt gewordenes Abbild einer inneren Kraft, die mit Eigenschaften eines solchen Tieres korrespondiert. Aufgrund weiterer Rituale kann diese Repräsentation einer inneren Energie weiter aufgeladen werden und in der Vorstellung schließlich ein Eigenleben entwickeln als Mittler zwischen den Welten des kognitiven Wachbewusstseins und den nicht wirklich zugänglichen gleichwohl existenten anderen Energien in und um ein Individuum. Aus dem tibetischen Kulturraum gibt es Berichte über noch viel weitergehende Möglichkeiten (die sog. Tulpas). Das soll hier jedoch nicht weiter erörtert werden, denn das Thema ist ja Verhandlungen in und mit den verschiedenen inhaltlichen Bewusstseinsformen und Bewusstseinsebenen für unseren westlichen Kulturkreis beim Thema Krebserkrankung.
Es gibt eine Vielzahl Quellen und Bücher zu den Phänomenen von Wahrnehmungen, die zwar mit unseren Sinnen erlebt werden können, nicht aber als originärer physischer Input vorhanden sind. Seit jeher berichten Menschen immer wieder von solchen Wahrnehmungen und Erlebnissen. Eine repräsentative Umfrage unter 1.510 Personen in der Bundesrepublik Deutschland (um das Jahr 2000) ergab: „So können sich zwischen rund 50 und 70 Prozent der Befragten vorstellen, dass es bestimmte paranormale Phänomene wie außersinnliche Wahrnehmung, Telepathie oder Präkognition tatsächlich gibt. … Die positive Einstellung gegenüber dem ,Übersinnlichen' korrespondiert mit der Verbreitung persönlicher Erfahrungen in diesem Bereich: Fast drei Viertel der Befragten hatten in ihrem Leben mindestens ein außergewöhnliches Erlebnis, das sich im weitesten Sinne dem Bereich paranormaler Erfahrungen zuordnen lässt.“5
Unsere tieferen oder höheren Bewusstseinsschichten6 bergen eine enorme mögliche Wirkquelle sowie ein wertvolles kreatives Potential. Wir wollen und müssen dies nutzen können; erst recht in einer Situation, die ein Verhandeln auf Leben und Tod darstellt. Daher ist es mehr als sinnvoll, diese Kräfte, diese verschiedenen Ebenen des Unter‐ und transzendierenden Bewusstseins im eigenen Erleben zu entdecken, sie sich entfalten zu lassen und nutzen zu können.
Ich weiß ich war´s.
Titel des autobiografischen Buches von Regisseur Christoph Schlingensief (2012 posthum)
Zu Beginn einer Verhandlung steht zunächst die Frage, welche Parteien denn betroffen sind. Wer sitzt in einer solchen Verhandlung sozusagen am Tisch? Auf den ersten Blick scheint dies ganz einfach: Ich und der Tod. Aber, wie Sie schon ahnen, es wird erheblich komplexer.
Zunächst, quasi als Vorbemerkung: der Tod ist ja keine Person oder Entität. Wie kann sie sprechen oder verhandeln? Man kann den Tod jedoch als Energie sehen, etwas, das anzieht oder abstößt; etwas, vor dem man Angst haben kann oder sich sehnend hingezogen fühlen mag. Man kann einer solchen Energie auch eine symbolische Gestalt oder Form geben. Und über die Jahrhunderte hinweg ist dies in unserem Kulturkreis auch geschehen. Im Schauspiel Jedermann etwa ist der Tod in der Gestalt einer menschlichen Person. In der Allegorie des Mittelalters ist der Tod dargestellt als Knochenmann, der mit der Sense umgeht. Auch bis heute findet sich die Darstellung des Todes als Person bspw. im Bühnenstück Jedermann. In vielen Märchen wird der Tod als Gestalt beschrieben, mit der Protagonisten direkt sprechen können (Gevatter Tod bspw. aus der Sammlung Grimms Märchen). Ebenso ist der Tod schon in den frühen Mythologien vieler Kulturen eine personifizierte Gestalt / Gottheit. In Ägypten spielt Osiris, der Totengott, mit seinem Begleiter Anubis eine ganz zentrale Rolle. In der griechischen Welt war Thanatos der personifizierte Gott des Todes (römisch: Mors) und Ker die Verkünderin insbesondere gewaltsamer Tode. Ebenso findet sich diese personifizierten Repräsentationen auch im außereuropäischen Raum. Im indischen Kulturkreis ist es Yama, und es sind wunderbare tiefgründige Dialoge aufgezeichnet, die Yama mit Sterblichen geführt hat (so bspw. in den Katha‐Upanischad, das Gespräch mit Nachiket).
Energien sind zunächst nicht unmittelbar sichtbar, sie sind jedoch wirkmächtig vorhanden und so scheint es ein legitimer Kunstgriff, diesen Energien eine Form zu geben, mittels deren wir diese Energien und ihre Veränderbarkeit leichter fassen können. Denn keine Energie ist statisch sondern ‐wie alles‐ durchaus wandelfähig und sich veränderbar. Auch dieser Prozess von Wandlung ist leichter fassbar für uns, wenn wir uns eine Repräsentation vorstellen. Eine Vorstellung ist grundsätzlich einfacher, wenn sie eine visuelle Konnotation hat, jedoch muss das nicht zwingend so sein. Es genügt auch, sich diese Energie als ein SEIN vorzustellen.
Also, es ist zweckmäßig, den Tod als einen der Partner in der Verhandlungsrunde zuzulassen.
Nun ist der Tod jedoch schon selbst ein Element einer Dualität. Es muss schon eine Form oder etwas Lebendiges vorhanden sein, sonst könnte es deren Auslöschung nicht geben, den Tod. So wie der „liebe Gott“ als Gegensatz den „bösen Teufel“ braucht ‐ sonst könnte der Begriff „lieb“ nicht bestehen. „Stark“ lässt sich nur definieren in der Abgrenzung zu „schwach“, „hell“ nur gegenüber „dunkel“ etc. Der notwendige Gegenpol zum Tod ist das Entstehen bzw. weitere Fortbestehen der Form, in unserem Fall: des Lebens.
Erlauben Sie, an dieser Stelle auf ein praktisches Beispiel aus meiner Arbeit einzugehen. Immer wieder nutze ich, speziell wenn wir eine Gruppe sind, die Technik einer sogenannten Systemaufstellung, die sich dem Familienstellen wie es von Virginia Satir und später von Bert Hellinger initiiert wurde, anlehnt. Hier werden für Themen oder Energien repräsentative Stellvertreter ausgewählt, die dann physisch im Raum aufgestellt werden.
In diesem Fall handelte es sich um einen Tumorpatienten. Er sei Theodor genannt. Schon im Vorfeld war mir aufgefallen, dass Theodor nicht wirklich benennen konnte, was er noch machen oder noch erreichen wolle wenn er seine Tumorerkrankung, ein Prostata CA, überwindet. Wir haben aus der Gruppe zwei Stellvertreter ausgesucht, einer stellte den Tod dar, die andere das Leben. Beide haben sich im Raum aufgestellt mit etwa 6 Meter Distanz und schauten einander direkt an. Theodor schaute sich beide Vertreter an und es wurde noch einmal die Rollenverteilung benannt: Dies ist das Leben, dies ist der Tod. Nun wurde Theodor genau in die Mitte dieses Spannungsbogens gestellt mit dem Gesicht hin zum Stellvertreter für den Tod. Theodor war nun völlig wach aber ruhig und gefasst. Sein Atem war gleichmäßig. Dann begannen beide Stellvertreter gleichzeitig in ganz ganz langsamen Schritten auf Theodor zuzugehen. Die Spannung war für alle Teilnehmer greifbar spürbar und verdichtete sich mit dem ganz langsamen Näherkommen. Theodors Atem ging etwas schneller, aber irgendwie hatte sein Gesicht auch einen Anflug eines Lächelns. Und dann, für ihn ganz plötzlich und überraschend, wurde er an den Schultern umgedreht, sodass er nunmehr die Stellvertreterin für das Leben anschaute. Spontan entfuhr ihm ein Schrei und ein Entsetzen zeichnete seinen Gesichtsausdruck. Vorbei die Ruhe. Angst, fast Panik stand im Gesicht geschrieben.
Theodor erlebte seine Emotionen in dieser überraschenden Hinwendung. Auf die Nachfrage nach seinen Assoziationen gab es Hinweise, die später aufgegriffen und näher angeschaut werden konnten. In der Rückwendung dann wieder zur Gegenseite des Todes war Theodor zwar wieder ruhig aber das vormalige Lächeln war völlig entschwunden; es war offensichtlich, dass sich etwas geändert hatte.
Dieses Erlebnis von Theodor ist deswegen hier aufgenommen worden, weil es deutlich macht, dass eine einseitige Fokussierung auf den Tod zwar Angst besetzt sein kann, unter Umständen aber nur die Hälfte der Medaille ist. Das Gegenstück, Leben, ist durchaus ebenso ein Mitspieler und Verhandlungspartner im Prozess von Wandlung.
So mag es auch für das andere Szenario bedeutsam sein, wenn sich ein palliativer Patient einen baldigen Tod wünscht, hier die Position des Lebens noch einmal ganz explizit anzuschauen und in Kontakt zu treten mit der prüfenden Frage, was es vielleicht noch abzuschließen gilt. So, dass auch das Leben einverstanden ist mit dem Loslassen‐Prozess.
Nun müsste man noch das ´Ich´ im engeren Sinne betrachten. Es ist das Wachbewusstseins‐Ich und es setzt sich aus zwei Anteilen zusammen. Einmal ist dies das stets gewahrsame, beobachtende ICH, jenes Bewusstsein, das sich über das gegenwärtige Bewusstsein bewusst ist. Es ist diejenige Dimension, die jeden von uns auch über das eigene Selbst, die eigene ICH‐ Existenz bewusst sein lässt (das Seins bewusste Seiende (Heidegger)). Wir verlieren dieses gewahrsame ICH aber auch regelmäßig, wenn wir in Tiefschlaf fallen. Daneben kann man eine inhaltliche Form des ICHs fassen, jenes nämlich, was jeden von uns in einem gegenwärtigen Moment ausfüllt. Wer wütend ist, sagt: „Ich bin wütend“. Wer Liebe verspürt, sagt: „Ich liebe“. Wer als Mutter sich besorgt mit dem Kind beschäftigt, hat ein Gefühl von „Ich bin Mutter“. Wenn andere Aufgaben von Haushalt, Kochen, Wäsche waschen, Einkaufen, Taxi‐Dienst spielen und vieles weitere dazukommen, mag ein anderes Gefühl aufkommen von ´Wo bleib denn Ich? Bin ich hier die Magd vom Dienst?´. Und wieder zu anderen Gelegenheiten in einem anderen Kontext mag es vorkommen, dass man sich attraktiv fühlt und die Vorstellung und Rolle einer begehrten Frau das Ich ausfüllt.
Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
Bonmot des Therapeuten Gunther Schmidt, bekannt geworden als Buchtitel von R. D. Precht
Dieses Bonmot deutet in witziger Weise darauf hin, dass wir wohl alle kein monolithisches einheitliches ICH besitzen, sondern, dass sich dieses in viele Rollen aufgliedert. Es sind hier nicht nur die äußeren Rollen im Leben wie Berufsmensch, Ehepartner, Elternteil, die uns in den verschiedenen Situationen unterschiedlich agieren lassen, es sind vor allem die inneren Anteile in uns, die zum Teil sequentiell abwechselnd die Oberhand übernehmen, teilweise simultan im Konflikt miteinander stehen und teilweise ganz im Verborgenen wirken können.
Wir kennen alle diese ambivalenten Situationen: soll ich dieses Stück Schokolade jetzt essen oder nicht? Ein Teil von uns, der Genießer, will das, ein anderer Teil etwa, die Kontrolle, warnt davor. So gibt es in vielen Entscheidungssituationen und Lebenslagen verschiedene Ich‐Anteile, die jeweils andere Rollen wahrnehmen. Ein Beispiel eines Patienten mit metastasiertem Peritoneal Karzinom: Es liegt die Entscheidung an, soll er einwilligen in eine große umfassende Baumraum‐Operation oder sich lieber für konservativere Methoden entscheiden? In diesem Abwäge Prozess gibt es immer mehr als nur einen Ich‐Anteil. Und jeder Mensch ist einzigartig aufgrund seiner Herkunft, seiner Prägung, seiner Lebensgeschichte. Die damit entstandenen ganz verschiedenen Ich‐Anteile können sich in ihrer Dominanz sehr schnell abwechseln und im Bewusstsein sehr leicht einen Eindruck von Chaos hinterlassen. Oft lässt sich nicht kontrollieren, wer sich das Zepter jetzt als nächstes holt und wir beobachten uns selbst manchmal in Verzweiflung dann, wenn wir trotz oder gerade in wichtigen Situationen einer solchen inneren Vielfalt nur schwierig Herr werden können.
Es ist hilfreich, diesen Prozess zu verlangsamen und in einer Meditation/ Mediation erst einmal verstehen und erkennen, welche ICH‐Anteile denn in einer gegebenen Situation überhaupt wirkmächtig sind. Diesen entscheidenden Ich‐Anteilen ist dann Raum zu geben, sie zu verstehen, sie in Beziehung zu anderen ICH‐Anteilen zu verstehen und dann sozusagen in sich selbst in den inneren Dialog zu bringen. Ein in‐sich‐abgestimmtes ICH ist viel mächtiger und einflussreicher als eine Schar unabgestimmter Energie‐fragmente, die zudem damit beschäftigt sind, sich untereinander in Schach zu halten.
Ziel und Chance für die Verhandlung ist es, diese oft bestehenden inneren Widersprüche zwischen verschiedenen ICH‐Anteilen zu erkennen und diese Ich‐Energien idealerweise auf einen Nenner zu bringen. Dann ist ein solches erstarkte ICH in einer deutlich stärkeren Stellung in der Verhandlung mit den anderen Kräften. Auf diese Differenzierungen muss näher eingegangen werden. Und das daraus erwachsende Verständnis ist entscheidend für die potentielle Dynamik und Beeinflussung des Verhandlungsprozesses. Zwei Fallbeispiele sollen einen Eindruck darüber vermitteln.
Fallbeispiel Tanja T.: Eine Ego-Konferenz mit der Wut-Tanja und der Ohnmacht-Tanja
Tanja T. ist eine gestandene Frau, Mitte 50, mit zwei nun erwachsenen Kindern und sie ist in einem sozialen Beruf tätig. Tanja T. wurde ursprünglich mit einem Rektumkarzinom diagnostiziert, das gleich nach der Diagnose operativ entfernt wurde. Die letzten CT-Aufnahmen zeigten nun Metastasen in der Leber.
Emotional fühlte Tanja T. in dieser Phase Wut, Ärger, aber auch Ohnmacht und Enttäuschung. Nicht selten richtete sich dieses Gefühlspotpourri auch gegen ihren Mann, den sie immer wieder als übergriffig empfand. Auch in der beruflichen Umgebung erlebte sie immer wieder diese oben genannten Gefühle. Wir kamen überein, in einer Meditation ganz offen zu schauen welche Persönlichkeits-Anteile sich zeigen würden, wenn einmal ein entsprechender Rahmen geschaffen würde.
Die Meditation begann mit einer bewussten Konzentration auf den eigenen Atem. Der eigene Atem ist eine wunderbare Hilfestellung, einfach in den Modus des reinen Wahrnehmens zu gelangen. Wie der Atem fließt, ob rasch, ob langsam, ob mit Pausen zwischen Ein- und Ausatmen oder kontinuierlich. Es ist alles gut, wie es ist. So wie es gut ist, welche Gedanken dann spontan auftauchen. Und bei jedem Ausatmen kann man sich dann vorstellen, tiefer und tiefer in sich selbst einzudringen, bis man ganz ruhig geworden ist. Tanja wurde dann gefragt, ob sie sich einen Wohlfühl-Ort vorstellen könne. In ihrer Vorstellung tauchte ein Innenraum auf mit großen Fenstern, Marmorboden und hellen Kalkwänden, kaum möbliert.
Martin:
Schauen Sie sich mal um, Tanja, gibt es in diesem Raum auch eine Türe?
Tanja:
Ja, die ist aus Holz und hat eine rosarote Farbe.
Martin:
Prima. Und jetzt schauen Sie auf die Türe und beobachten, wer jetzt eintritt, irgendein Aspekt, ein Teil Ihrer Persönlichkeit. Ich zähle bis drei und sage dann ´Jetzt´. … 1,2,3 JETZT!
Tanja:
<unmittelbar:> Ah, die kenne ich.
Die Verständnis-Tanja,
die hat für alles Verständnis... Die hat gelöste lange Haare, freut sich, hat ein einladendes Wesen und ist so etwa 10 Jahre jünger als ich es heute bin. ... Sie geht vor das Fenster und schaut hinaus.
Analog fragen wir weiter, der Reihe nach und folgende Personen treten ein:
Die Ohnmachts-Tanja Sie ist grau, dunkler, kleiner …, grau/ schwarz gekleidet. Sie setzt sich in eine Ecke und macht sich ganz klein; sie hat keinen Blickkontakt mit niemand.
Die Tanja, die sich nicht abgrenzen kann Das ist eine Tänzerin. Sie hat einen Rock an und dreht sich dauerhaft.
Die Wut/ Ärger-Tanja Die sieht stark aus. Kraftvoll! Die kann rumstampfen. Sie hat Hosen an, gutes Schuhwerk. Sie ist kraftvoll … bisschen rot im Gesicht, etwas kleiner. Steht eher an der Wand.
Die heile Tanja Die ist schön. Sie hat etwas engelsgleiches, sanftmütiges.... so eine goldene Haube. Steht etwas im freien Raum
Wir bitten dann noch die Leber einzutreten. [Anmerkung: die Leber ist natürlich keine Teilpersönlichkeit des Ichs und gleichwohl in einer fortgeschrittenen vertieften Meditation gelingt auch dies, dass Organe eine Form annehmen und wie eine eigene vorgestellte Person agieren können; Die Leber ist in der derzeitigen Gesundheitssituation von Tanja T. schließlich das mit Metastasen belastete Organ.]
Die Leber
Die kommt von rechts… sieht ein bisschen plumpig aus, rot, braun, grau… Die bleibt im Raum, ein bisschen rechts, nicht ganz in der Mitte, so etwas frei, nahe der Tänzerin, die steht auch in der Mitte.
Martin:
Jetzt, Tanja, schau Dich mal um, wer schaut wen an? Wer interagiert mit wem? Und zu wem hast Du gar keinen Kontakt?
Tanja:
Na ja, die Ohnmachts-Tanja, die schaut eigentlich nur nach unten. Und auch die Leber, die liegt so verwundet da…
Martin:
Was macht denn die Wut/Ärger-Tanja, wenn sie die Leber ankuckt? Du bist telepathisch in einer Vorstellung mit Allen verbunden.
Tanja:
Die (Wut-/Ärger-Tanja) sagt zur Leber: „Wie konntest Du das zulassen?“
Martin:
Und was macht die heile-Tanja?
Tanja:
Die möchte ihr sofort das goldene Licht geben [
Tanja sagt dies sehr emotionalisiert und berührt
].
Martin:
Dann schaue doch zu was sie macht …
Tanja:
Die geht auf sie zu und gibt ihr Liebe und Licht…. Dann kommt die verständnisvolle-Tanja dazu….
<Stille>
… eigentlich fehlt noch die Liebe.
Martin:
OK, schau dich im Raum um, zur Türe oder sonst wo hin und dann rufe die
Tanja der Liebe…
1,2,3 JETZT!
Tanja:
Ja! Sehr schön! Hat ein Kleid an mit Herz [
Tanja lacht
] … Sie dreht sich jetzt um zur Ohnmachts-Tanja. Da geht sie als erstes hin… Die Ohnmachts-Tanja, kann diesen Blick aushalten…
Martin:
Und was geschieht dann?
Tanja:
Sie reicht ihr die Hände … nimmt sie auf und nimmt sie in Arm.
Der nun folgende Prozess der verschiedenen Interaktionen sei nun etwas straffer zusammengefasst. Die Ohnmachts-Tanja erfährt Dank für ihre belastete Rolle und sie wird von allen aufgenommen und integriert. Insbesondere die Wut-/Ärger-Tanja freut sich darüber und sagt so etwas wie „endlich!“. Nach und nach kommen die anderen Rollen in die Mitte. Die Wut-Tanja reicht nun die Hand zur Leber und lässt ihre Wärme einstrahlen. Die Leber fühlt Staunen, Freude, Leichtigkeit. Tanja kann sich einfühlen in die verschiedenen Körper und spürt direkt das Fließen.
Die Tänzerin möchte nun zum Stillstand kommen, aber es gelingt nicht recht. Die Heilerin wendet sich ihr zu und macht eine einladende Geste zu ihr zu kommen, denn sie möchte nicht weg von der Ohnmachts-Tanja. Beide kommen zusammen und rücken Richtung Leber. Jetzt sind alle versammelt in der Mitte; geben sich die Hand, sitzen in der Mitte auf dem Boden. Die Tänzerin kommt nun auch zur Ruhe. Der Kreis der verschiedenen Tanjas rückt nun zusammen, kompakter, enger, wird dann ganz integriert miteinander. Es liegt Liebe und Licht im Raum. Alle sind verbunden rund um die Leber, die im Schoss der Heilerin liegt und alle anderen legen nach und nach Ihre Hände auf die Leber. Licht leuchtet nun in die Gruppe; erst rot-lila um die Leber, dann weißlich und dann wird es bläulich.[ Anmerkung: Tanja sieht und erlebt alles sehr unmittelbar, fühlt und visualisiert ganz flüssig.]
In diesem Beispiel ist es Tanja T. gut gelungen, die anfangs doch sehr unterschiedlichen Ich‐Rollen zu integrieren, zu befrieden und ganz harmonisch auf ein vereinigtes Ziel hin auszurichten. Sie hat das erreichte Ergebnis nicht nur visualisiert, sondern auch in ihrer Vorstellung unmittelbar erlebt. Sicherlich eine günstige, förderliche Situation für eine mögliche Heilung.
Die in solchen Ich‐Konferenzen auftauchenden einzelnen ICH‐Energien/ Ich‐Rollen können ganz unterschiedlich sein. Meist entstehen sie von allein. (Beispiel: die Ausgangs‐Person X. als zunächst beobachtendes‐Ich, dann der strenge X., der verschlafene X., der traurige X., der unsichere X., der Selbstverstrauens‐X., der Leistungs‐X., der alleingelassene X. und der zerstörerische X. Oder anderes Beispiel: die Ausgangs‐Person Y., dann die glückliche, vitale Y., die Störenfried Y., die liebevolle Mamma‐Y., die Ehefrau‐Y., die Geschäftsfrau‐Y., die zweifelnde Y., die Angst‐Y., die Krankheits‐Y. und die starke Y.)
Im Folgenden sei noch ein kurzes Beispiel aufgeführt, in dem ein anderer Mensch, Angelika N., überraschend eine Ich‐Rolle aufgespürt hatte, die ihr gar nicht richtig bewusst gewesen war.
Fallbeispiel Angelika N.: Begegnung mit dem inneren Richter
Angelika N. ist 48 Jahre alt, beruflich sehr erfolgreich, sie ist geschieden und hat einen Sohn. Angelika N. ist mit einem Brustkrebs-Rezidiv diagnostiziert. Nach Auskunft ihrer Ärzte könne Sie zuversichtlich bleiben. Man hat gleich operiert und sie befindet sich nun in einer adjuvanten Hormontherapie. Gleichwohl hat sich Angelika N. für die Frage interessiert, ob sie vielleicht etwas in ihrem Lebensstil ändern könnte, um künftig solch ähnliche Komplikationen vielleicht zu vermeiden. Eine nahliegende Frage darauf ist, wie denn ihr Lebensstil aussehe.
Angelika N. reflektiert, wer und wie sie ist und berichtet, sie sei sehr verantwortungsbewusst, zuverlässig, sie habe oft viel Stress, sie stelle immer hohe Anforderungen an sich selbst und sie sei sehr kritisch anderen gegenüber aber auch gegenüber sich selbst. In der weiteren Diskussion erläutert Angelika N., dass sie diesen Hang zum Perfektionismus wohl schon immer hatte auch weil sie meinte, ihr Vater hätte das stets von ihr erwartet. Auf konkrete Nachfrage war sie sich jedoch gar nicht mehr sicher über des Vaters Erwartung.
Sie wurde dann gefragt, wo sie den Stress, den sie oft habe, denn primär im Körper spüre. Sie zeigte auf Ihre Brust. Ob sie sich vorstellen könne, gedanklich einfach mal – nur in der Vorstellung- einzutauchen an dieser Stelle in ihre Brust hinein? Angelika N. konnte das sogleich und äußerte unmittelbar, dass es da dunkel sei.
Martin:
Gut, Angelika, da ist es dunkel. Können Sie sich vorstellen, dass Sie sich einfach weiter fallen lassen in dieses Dunkel hinein. Sie sind ganz sicher und in Ihrem Bewusstsein sind sie ganz frei.
Angelika N. konnte das gut; es gab kein Zögern…
Martin:
Und dann…, Angelika, lassen Sie sich fallen in das Dunkle, immer tiefer und tiefer und wenn es irgendwo noch dunkler ist, dann steuern Sie genau auf die Stellen zu, die noch dunkler erscheinen, noch tiefer und tiefer, dahin wo es ganz dicht und ganz dunkel erscheint….
Und wenn Sie dann ganz in der Tiefe angekommen sind, dann tunen Sie Ihre Wahrnehmung. Hier gibt es einen Hinweis, was im Kern dieser Dunkelheit ist. Sie werden etwas wahrnehmen. Was nehmen Sie wahr jetzt?
Angelika N.:
Es ist dunkel. Ich spüre einen Steinboden. Auch die Wände sind aus Stein. Es ist wie ein Keller.
7
Und da gibt es ein kleines Licht etwas weg von hier.
Martin:
Gut. Wie ein Keller ... und ein kleines Licht. Wenn Sie sich jetzt diesem kleinen Licht nähern ….?
Angelika N.:
Da ist ein Tisch. Und eine Lampe darüber. Da sitzt jemand. Ein Mann … Er sieht aus wie ein Richter … Und er liest Papiere.
Martin:
Ein Richter. Und welche Papiere liest er?
Angelika N.:
Er arbeitet an Fällen.
Martin:
Ja, an Fällen. Und an welchem Fall arbeitet er jetzt gerade?
Angelika N.:
...an meinem Fall …. Er beurteilt meine Aktivitäten …
Martin:
Und was urteilt er an Ihren Aktivitäten?
Angelika N.:
Er möchte, dass ich bessere Leistung erbringe.
<jetzt wird Angelika N. ärgerlich. Ziemlich bestimmt äußert sie:>
Ich möchte aber nicht mehr Leistung erbringen! …
Martin:
Was ist seine Reaktion darauf?
Angelika N.:
Er ist überrascht. … <
Pause>
… … Ich möchte ihm sagen, er soll mich in Ruhe lassen!
Martin:
Übrigens, fragen Sie ihn doch einmal, wie lange er das schon macht?
Angelika N.:
< spontane unmittelbare Antwort
> Seit ich zwei Jahre als bin. …<
Pause
> …
Martin:
Lange Zeit. Seit Kindeszeiten… Fragen Sie ihn doch mal, ob das nicht eine ermüdende Tätigkeit ist, all diese Jahre so im dunklen Keller zu sitzen und zu über Aktivitäten zu urteilen.
Angelika N.:
Ja, das ist es. …Ja.
In der Folge wendet sich Angelika N. diesem inneren Richter wieder zu. Sie bedankt sich für seine langjährige anstrengende Arbeit und bietet ihm an, dass er nun gehen dürfe. Der innere Richter greift das gleich auf – mit einer Erleichterung wie es scheint. Und Angelika N. stellt fest, dass nicht nur der Richter verschwunden ist, sondern auch alle Papiere und sogar der Tisch weg ist. Angelika N. beginnt zu lachen.
Es ist eine große Errungenschaft der Psychologie herausgearbeitet zu haben, dass es ein homogenes ICH nicht gibt. Zu diesem Thema gibt es hilfreiche Konzepte wie die Ego‐State‐Therapie, ausgehend von den Watkins oder die Transaktionsanalyse von Berne, bei der ein Kindheits‐Ich, Eltern‐ Ich und Erwachsenen‐Ich unterschieden werden. Oft geht es darum, das unabhängige Erwachsenen‐Ich zu stärken und auf negative Anteile einzuwirken. Meiner Erfahrung nach ist es jedoch zielführender, gerade den sogenannten negativen Ich‐Anteilen ganz explizit Raum zu geben, die dahinterstehenden Bedürfnisse genau zu verstehen, ihre Genese nachzuvollziehen und anzuerkennen, um sie schließlich befrieden zu können. Genau damit ergibt sich dann oft, quasi wie von alleine, eine Transformation von ehemals innerer Zersplittertheit zu stärker erlebter Homogenität.
Unser ICH aus der Wahrnehmung eines Wachbewusstseins heraus ist fragmentiert und setzt sich aus ganz verschiedenen Rollen, Interessen und Zielen zusammen. Es gibt ICH‐Anteile, deren Motivation und Ziel im Gegensatz zu den vor sich selbst formulierten ´eigentlich´ gewollten Zielen steht. So mag ein Patient durchaus für das Leben kämpfen und gleichzeitig eine ihn selbst verstörende diffuse Todessehnsucht erleben. Wie so etwas erkannt und dann auch angegangen werden kann wird sowohl als Methodik als auch mit vielen Fallbeispielen in Kapitel II behandelt. Ziel ist es, die Kraft des ICHs nicht zersplittert, sondern möglichst gebunden und einheitlich zu erleben.
´Ich´ sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das Größere ist – woran du nicht glauben willst – Dein Leib und seine große Vernunft.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra Kap.15