Krieg und Chaos in Nahost - Aktham Suliman - E-Book

Krieg und Chaos in Nahost E-Book

Aktham Suliman

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Beschreibung

Millionen Menschen auf der Flucht, auch zu uns nach Europa. Blinder Terror überall, auch bei uns in Europa. Krieg und Chaos drohen überhandzunehmen. Was ist nur im Nahen und Mittleren Osten passiert? Mit viel Sachverstand, Gefühl und Ironie richtet der ehemalige al-Dschasira-Korrespondent einen speziellen, arabischen Blick auf die krisenhaften Entwicklungen der letzten 25 Jahre zwischen dem Westen und der Arabisch-Islamischen Welt. Der Autor zeichnet die unsichtbare Verbindungslinie zwischen dem Islamischen Staat, dem Arabischen Frühling, dem Irak-Krieg, den Angriffen vom 11. September und dem zweiten Golfkrieg. Er versucht das Muster hinter dem Chaos zu erkennen und nimmt dabei seine Leser mit auf eine spannende analytische, journalistische und biografische Reise. Das Buch ist ein Aufschrei gegen Erdöl-, Anti-Terror-, Präventiv-, Demokratisierungs-, Schutzverantwortungs-, Regime-Change- und Wie-Auch-Immer-Kriege im Nahen und Mittleren Osten, mit besonderem Augenmerk auf Medien und Kriegspropaganda. "Weder wüstengelb, noch himmelblau: Blutrot war die eigentliche Farbe von Bagdad im Jahr 2003, denn das Zeitalter des gesichtslosen Todes war angebrochen." Aktham Suliman

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nomen

Aktham Suliman

Krieg und Chaos in Nahost

Eine arabische Sicht

Keine Erde, vermute ich,wurde so sehr mit Sonne und Blut begossenwie die meiner Heimat;keine Trauer auf Erden ist so großwie die der Menschen dort.Doch es ist meine Heimat:Nirgends sonstlache ich aus ganzem Herzen,weine ich aus ganzem Herzen,sterbe ich aus ganzem Herzen.Nur dort.

Muthaffar al-Nawwab– irakischer Dichter –

© Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2017Alle Rechte vorbehalten

www.nomen-verlag.de

Lektorat: Wolfgang MetzlerUmschlaggestaltung: Blazek Grafik, Frankfurt am MainSatz und Layout: Nomen Verlag, Frankfurt am MainDruck und Bindung: CPI Clausen und Bosse, LeckPrinted in Germany

ISBN 978-3-939816-40-9eISBN 978-3-939816-41-6

In Gedenken– stellvertretend für Millionen Getöteter seit 1991 – an:

Atwar Bahjat,sie wäre heute 40,

Mazen al-Tmaizi,er wäre heute 37,

und

Rasheed Hameed Waali,er wäre heute 56,

und wir wären alle vermutlichnoch immer Freundeund hätten– wie damals in Bagdad –sehr viel gelacht„aus ganzem Herzen“

Berlin, Frühjahr 2017

Inhalt

Statt einer Einleitung: Eine Gebrauchsanweisung

Mit dem Zweiten (Golfkrieg) sieht man besser

Die Welt zu Gast bei uns

Hinter dem Rauch brennender Ölfelder

Am Anfang war das Wort, dann das Bild

„Ende der Geschichte“ gut, alles gut

The days after the day after

Der 11. September: Der Tag nach dem 10. September

Arabien und der Westen: die Eiszeit

Von Bin Laden 40 DM, von Bush die Freiheit

Der „Messias“ von Tora Bora am Apparat

Hurra, wir sind alle Muslime, inschallah!

Nicht ohne meinen Wie-Auch-Immer-Dialog

Der Irak-Krieg: „Schrecken und Furcht“ ohne Ende

Der Fall von Bagdad – ein Fall für sich

Gelbe Stadt, blaue Kuppeln, rotes Blut

Tod hinter, Tod vor laufender Kamera

Pressefreiheit, Marktwirtschaft und Demokratie

Im freien Fall durch die Hölle

„Arabischer Frühling“ mitten im Winter

Der Nahe Osten und der zu nahe Westen

Von der „Fata-Morgana-Demokratie“ zum „Kalifat“

Syrien, Syrer, am Syrealsten

Wenn die Post „postfaktisch“ abgeht

Wir zu Gast bei der Welt

Statt eines Schlussworts: Des Rätsels Lösung?

Personenregister

Karte Nordafrikas und des vorderen Orients

Statt einer Einleitung: Eine Gebrauchsanweisung

Sterben ist, wenn man sich tot glaubt. Eine Angelegenheit des Bewusstseins, der Wahrnehmung eben. An jenem Abend Ende Oktober 2003 bin ich in Bagdad in meinen Augen kurz gestorben. Es gab nach einer Explosion ein Großfeuer, Löscharbeiten und ein Durcheinander. Ich lag mitten auf der durch das Löschwasser nass gewordenen Straße. Einen halben Meter entfernt von mir lag mein Journalistenausweis mit Bild und Namen nach oben. Dieser war beim Fallen oder durch den Knall auf den harten Boden aus der oberen Hemdtasche geflogen. Gefühllosigkeit, Kälte und Stille bestimmen die Perspektive des Todes. Nur ein Gedanke kreiste wie verrückt in mir vor – oder über? – dieser Kulisse: „Den Ausweis, den Ausweis, damit meine Leiche identifiziert werden kann.“ So bewegte sich meine rechte Hand irgendwann in Richtung Ausweis und ich mich in Richtung Leben. Nun war ich, anders als mich meine Wahrnehmung für einen kurzen Moment glauben ließ, doch nicht gestorben und meine Prellungen waren im Vergleich zu den in solchen Fällen zerfetzten Menschenkörpern eher symbolisch. Die Vorstellung allerdings, dass auch Tote, Totgeglaubte oder sich tot Glaubende auf ihr ICH, auf NAMEN, KÖRPER und IDENTITÄTEN bestehen, faszinierte mich und tut es bis heute: Auch eine Leiche braucht einen Namen, auch ein Tod braucht einen Lebenslauf.

Dieses Buch versteht sich grundsätzlich als Lebenslauf des Todes im Nahen Osten des letzten Vierteljahrhunderts aus arabischer Sicht. Vor circa 25 Jahren, Anfang 1991, erreichte die Zahl ausländischer bewaffneter Männer und Frauen aus über dreißig Ländern auf einem kleinen Fleck Wüste im Nordosten der Arabischen Halbinsel mehr als eine halbe Million. Für den Westen war es der Beginn der „Operation Wüstensturm“ zur Befreiung Kuwaits von der im Sommer davor erfolgten irakischen Invasion. Für viele in der Arabischen Welt war es ein Sturm des Todes, von dem sich die Region zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Persischen Golf bis heute nicht erholt hat. Mit dem Kriegsbeginn im Jahr 1991 – das ist die Kernthese dieses Buches – nahmen viele später stattfindende Entwicklungen und Ereignisse zwischen der Arabisch-Islamischen Welt und dem Westen ihren Lauf: vom 11. September 2001 und dem „Krieg gegen den Terror“ bis hin zum Irak-Krieg 2003 und dem „Arabischen Frühling“ 2011 sowie später der Entstehung des „Islamischen Staates“ (IS). Ein weiterer Aspekt des Buches entstand zugegebenermaßen beim Schreibprozess selbst. Immer eindringlicher stellte sich die Frage nach den Hintergründen: Warum so viel Krieg und Chaos? Ein Lebenslauf des Todes im Nahen Osten mag als dokumentarisches Vorhaben sehr interessant sein. Für einen Erklärungsansatz ist er auf jeden Fall zu wenig.

Vor diesem Hintergrund entstand während des Schreibens zusätzlich zur oben erwähnten Kernthese über die Folgen des Krieges von 1991 eine Art Sinn-These. Diese kristallisierte sich erst später heraus, nachdem das Buch fast fertig war. Sie entsprang der Ratlosigkeit angesichts der Lücken und Widersprüche im Lebenslauf des Todes, wurde dann im Schlusskapitel angeschnitten und bedarf sicherlich einer weiteren separaten und tiefergehenden Behandlung in der Zukunft. Dabei geht es um Weltkonstellationen bzw. die politischen und ökonomischen Interessenlagen internationaler Akteure, die herangezogen werden müssen, um die Entwicklungen im Nahen Osten zu verstehen. Mehr zur Kernthese und zur Sinn-These des Buches sei an dieser Stelle nicht verraten, nur so viel: Das Buch verfolgt nicht unbedingt die Frage nach den Fehlern oder gar der Schuld des Westens. Hierzu sei auf andere Werke verwiesen, denen man nicht genug Respekt zollen kann, wie zum Beispiel Jürgen Todenhöfers Warum tötest Du, Zaid? (2008), Peter Scholl-Latours Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient (2014) sowie Michael Lüders’ Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet (2015). Der Umgang des Westens mit dem Nahen Osten bleibt jedoch auch jenseits der Suche nach Fehlern und der Klärung von Schuldfragen zutiefst entscheidend. Denn ohne den Einfluss des Westens wäre die Nahost-Region nicht so geworden, wie sie heute ist. Aus diesem Grund bewegt sich dieses Buch nicht nur entlang vieler Schauplätze in der Arabischen Welt, sondern auch entlang der Reibungslinien zwischen der Arabisch-Islamischen Welt und dem Westen.

Krieg und Chaos in Nahost beansprucht nicht DIE, sondern EINE arabische Sicht zu präsentieren, wohl wissend, dass mehr als 400 Millionen Araber in über zwanzig arabischen Staaten und im Ausland das Recht auf mehr als nur eine Sicht haben. Es gibt aber das empfundene Gemeinsame. Aus arabischer Sicht handelt es sich bei den letzten 25 Jahren nicht nur um historische Entwicklungen und Ereignisse, sondern vielmehr um konkrete Schicksalsmomente für Menschen aus Fleisch und Blut. Dabei änderten sich Biographien von Millionen von Arabern, darunter auch die des Autors dieses Buches. Nichtsdestoweniger oder gerade deswegen sei auch daran erinnert, dass just aus jener arabischen Sicht – allen Nachrichtenbildern zum Trotz – im Nahen Osten nicht nur gestorben und geweint, sondern auch gelebt und gelacht wird. Diesem auf den ersten Blick paradox erscheinenden Zustand wollen die Kapitel dieses Buches inhaltlich und stilistisch Rechnung tragen, sei es auch um den Preis, dass sich das Buch den Vorwürfen des Zynismus oder – Gott und Allah bewahren! – der Political Incorrectness ausgesetzt sieht. Zu einer arabischen Sicht gehört außerdem eine breitere, auch die Gefühle umfassende Definition des Begriffs Sachlichkeit. Denn was ist eine sachliche Analyse ohne Menschen, die Weltgeschichte ohne Seele? Aus den Zeilen dieses Sachbuches blicken die Gesichter dreier Freunde: Atwar Bahjat, Mazen al-Tmaizi und Rasheed Hameed Waali. Sie lagen, wie ich, auch irgendwann einmal, jeder für sich anderswo regungslos im Irak. Nur, sie blieben liegen.

Die Frage nach der Relevanz einer arabischen Sicht für eine westliche Leserschaft ist und bleibt legitim. Moralische, kulturelle und ökonomische Antworten gibt es genug; dieses Buch bevorzugt allerdings eine praktische Antwort. Der Westen und die Arabische Welt sind Nachbarn. Sie sind es einmal durch tatsächliche geographische Nähe, wie im Falle von Europa. Böse Zungen behaupten mittlerweile: Von Arabien nach Europa ist es nur noch ein „Flüchtlingssprung“. Sie sind es aber auch oft durch strategische Nähe, wie im Falle der USA. Böse Zungen behaupten hierzu: Von einem fahrenden Auto irgendwo in der Nahost-Wüste bis in die Hölle – oder das Paradies? – ist es nur noch ein „Fingersprung“. Gemeint ist der Fingersprung eines in der Wüste von Nevada auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Creech stationierten US-Drohnen-Bombers. Ein Sprung hin zum entsprechenden Knopf mit der roten Aufschrift „FIRE“ vor einem Bildschirm, der das weit entfernte Ziel zeigt. An der geographischen, strategischen und somit geostrategischen Nachbarschaft des Westens zur Arabischen Welt ändert auch die Wahl eines Donald Trump als US-Präsident im Herbst 2016 nichts. Denn auch unter einem Trump gilt: So einander nah und fern zugleich wie der Westen und die Arabische Welt sind sich wahrscheinlich kaum zwei andere Regionen auf der Erdkugel. Der Weg vom „Wüstensturm“ im Zweiten Golfkrieg hin zu jenem Flüchtling und jenem Von-Drohnen-Getroffenen ist der Leitfaden der analytischen, journalistischen und persönlichen Reise auf den folgenden Seiten.

Mit dem Zweiten (Golfkrieg) sieht man besser

„Als ob das Schicksal nun, wo ich ans Aufhören denke, mich zum Ursprungsort zurückführen und somit unbedingt einen kreisförmigen Verlauf nehmen wollen würde.“ Diese durchaus kitschig klingenden Worte schrieb ich Mitte Mai 2012 in meinen zu einer Art Tagebuch umfunktionierten Kalender. Sie waren allem Kitsch und fehlender Originalität zum Trotz ehrlich gefühlt und gemeint. Der Auftrag meines Arbeitgebers, des arabischen Nachrichtensenders Al-Dschasira (auch: Al Jazeera), klang harmlos: Von Deutschland aus in den Irak zu fliegen und dort über die Gespräche zwischen den 5+1-Mächten (den ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates und Deutschland) und dem Iran über dessen Atomprogramm zu berichten. Diese Gespräche waren im Übrigen eine immer wiederkehrende diplomatische Dauerangelegenheit, bis das Iran-Atom-Abkommen Mitte Juli 2015 vereinbart wurde. Im Jahr 2012 fanden sie in der irakischen Hauptstadt Bagdad statt.

Ich war zu jener Zeit innerlich so weit: Fast eineinhalb Jahre nach dem sogenannten Arabischen Frühling und mehr als zehn Jahre nach dem Unterschreiben meines Arbeitsvertrages konnte ich mir sehr wohl das Ende meiner Karriere als Korrespondent und Büroleiter von Al-Dschasira in Deutschland vorstellen. Sechs Wochen später, Ende Juli, werde ich meinen Chefs schreiben: „Nach langem Nachdenken kündige ich hiermit – fristgerecht – … zum 1. Oktober 2012. Meine Kündigung ist endgültig. … Ich wünsche dem Sender und all unseren arabischen Ländern bessere Zeiten als die jetzigen.“ Es war eine Art Genesungswunsch an die Chefetage, der meine Kritik an dem unprofessionellen Umgang des Senders mit dem Arabischen Frühling eher zu betonen als zu verbergen vermochte.

Damit war das Ende eines Märchens namens Al-Dschasira,auch – in Anlehnung an den erfolgreichen amerikanischen Sender – das „Arabische CNN“ genannt, in meinen Augen besiegelt. Sechzehn Jahre nach Gründung des Senders im Jahr 1996 war mir und vielen anderen klargeworden: Die Araber bekamen mit Al-Dschasira ihren eigenen, lang ersehnten, unabhängigen und professionellen Sender nun doch nicht. Stattdessen eher einen weiteren Propaganda-Sender, der mittlerweile eine klare politische Ausrichtung aufweist: mal als Instrument der Mutter aller späteren islamistischen Bewegungen, der Muslimbruderschaft, mal als Instrument der katarischen Außenpolitik und immer im Dienste der Interessen der USA. Das ging auf Kosten der Glaubwürdigkeit und blieb in der arabischen Öffentlichkeit selbstverständlich nicht unbemerkt. So begann zu jener Zeit zum Beispiel der in Kalifornien lebende libanesische Intellektuelle Asad Abu Khalil, Al-Dschasira in seinen Artikeln als „Sprachrohr der NATO“ (North Atlantic Treaty Organization) zu bezeichnen. Das war eine Anspielung auf den mittlerweile offensichtlichen Einklang der Programminhalte mit der Außen- und Sicherheitspolitik der USA. Für mich war dies eine nicht hinnehmbare End-station für einen Sender, der sich in der Vergangenheit durch seine abweichende Berichterstattung über den 11. September 2001 oder den Irak-Krieg 2003 als Alternativmedium zu den westlichen Medien einen Namen gemacht hatte.

Ich nahm den Auftrag des Noch-Arbeitgebers im Mai 2012 dennoch sofort an: Am Anfang war der Irak und auch am Ende sollte er es sein; ein passender Abschiedsort. Es war mein letzter Auslandseinsatz für Al-Dschasira. Am Anfang war der Irak, weil alles, was ich später meine journalistische Karriere nennen durfte, mit dem Irak und dem Zweiten Golfkrieg begann. Dabei bin ich eigentlich Syrer und kam Ende 1989 von Damaskus nach Europa, ursprünglich um Informatik zu studieren. Eine persönliche Geschichte? Keineswegs. In Wahrheit ist es die Geschichte einer ganzen Region und vieler, sehr vieler Millionen von Menschen, deren Leben ohne den Zweiten Golfkrieg und dessen Nachbeben ganz anders verlaufen wäre.

Die Reichweite dessen, was am 2. August 1990 begann, als irakische Panzer die Grenze zum benachbarten Kuwait überquerten, war niemandem klar. Es war die erste Stufe einer Entwicklung, die Monate später zu einem erschütternden und neuartigen Krieg im Nahen Osten führen würde: dem Zweiten Golfkrieg (der erste fand von 1980 bis 1988 zwischen dem Irak und dem Iran statt). Bereits einige Monate vor dem militärischen Ausbruch des Konfliktes entflammte ein Streit zwischen dem Irak und Kuwait über die Höhe der Ölfördermengen bzw. den Ölpreis, des Weiteren über die sich während des ersten Golfkrieges angehäuften Schulden Bagdads bei dem Golfemirat und über angebliche unzulässige Bohrungen in irakischen Ölfeldern seitens Kuwaits.

Auch für uns junge arabische Studenten aus Syrien, Palästina, dem Jemen oder Jordanien bedeutete der Ausbruch eines Krieges in unserer Herkunftsregion wenige Monate nach der Ankunft in Deutschland einen Schock. Die Polarisierung unter uns erreichte bis dahin nicht gekannte Formen: Man war jetzt für oder gegen Präsident Saddam Hussein (1979-2003). Dazwischen gab es nichts. Das mag an unserem jugendlichen Alter gelegen haben oder an den spärlichen Informationen, die uns zur Verfügung standen. Wir hatten damals ja weder Internet, noch Handys, noch arabische Satellitenfernsehsender. Es gab lediglich zwei oder drei internationale arabische Zeitungen, von denen sehr wenige Exemplare, oft um einen Tag verspätet, in den Hauptbahnhofkiosken größerer deutscher Städte lagen. Die Polarisierung mag aber auch mit dem Ausmaß des Krieges selbst zusammengehangen haben. Regionalkriege und Flächenbrände waren auch für hart gesottene „Nahostler“ wie uns etwas ganz Neues. Sicher ist: Für seine Befürworter war der irakische Präsident der Ritter der arabischen Nation, für die Gegner ein Dummkopf, der sein Land und die ganze Region ins Verderben führen würde. Die konkreten persönlichen Ängste, die letztendlich alle erfassten, waren hingegen gleich: Etwas Großes und Bedrohliches ist im Gange und unsere Familien sind mitten drin. Die Rede war sogar vom Einsatz chemischer und biologischer Massenvernichtungswaffen und von Dutzenden von Ländern, die an diesem Krieg teilnehmen würden.

Dabei hatten wir es in Deutschland besser als die Araber in den USA oder in Großbritannien. Denn Deutschland beteiligte sich nur finanziell an dem Konflikt. Scheckbuchdiplomatie hieß eine solche außenpolitische Vorgehensweise damals. Die einzige deutsche Kontroverse zeigte sich in Form einer Mini-Debatte über die Zulässigkeit des Einsatzes deutscher Bundeswehringenieure auf AWACS-Ausspähflugzeugen der NATO, die den Luftraum über Saudi-Arabien überwachen sollten. Wenn wir – die arabischen „Nix-Ganz-Verstehen-Studenten“ – die Bewegungen der Brille des Moderators Erich Böhme (gest. 2009) in seiner damaligen Sendung „Talk im Turm“ auf Sat.1 richtig interpretiert hatten, dann war die vorherrschende Meinung in seiner Politrunde: nicht zulässig! Dieser pflegte seine Brille, je nach Diskussionslage, hektisch auf- und abzusetzen oder einfach ausdrucksstark zu jonglieren: mal damit in der Hand spielend, mal deren Spitze nachdenklich in den halboffenen Mund steckend. Keiner konnte damals unter Einheitskanzler Helmut Kohl (1982-1998) ahnen, dass deutsche Soldaten wenige Jahre später auf dem Balkan, ja gar am Hindukusch stehen würden.

In einer Herbstnacht 1990 waren wir, etwa 15 arabische Studenten, in einem Zimmer versammelt. Man suchte in der Fremde die Nähe und den Zusammenhalt, während irgendwo nicht weit entfernt in der Heimat ein Großkrieg drohte. Der Rauch unzähliger Zigaretten hielt sich trotz offener Fenster hartnäckig im oberen Drittel des Raumes. Nach einigen Kartenspielrunden, vielen mit halb zugefallenen Augen und zitternder Stimme vorgetragenen Pro- und Contra-Argumenten und noch mehr Wodka schliefen die Jungs ein. Es war ungeheuerlich, wie viel Energie und Machtlosigkeit sich in diesem kleinen Raum gleichzeitig stauten, einfach zum Heulen, zumindest aus der Sicht des 20-Jährigen, der ich damals war. Dass wir die in wenigen Stunden stattfindenden Informatik-, Mathematik- und Physikvorlesungen an der Universität nicht würden besuchen können, lag auf der Hand. Sie erschienen uns sogar nutzlos und überflüssig angesichts der zugespitzten und dramatischen Situation in unserer Heimatregion. Denn der Tag wurde beherrscht vom mühsamen Kampf mit der deutschen Sprache im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Konflikt am Golf – und die Nacht von endlosen Diskussionen auf Arabisch. In jener Herbstnacht überkam mich, während die anderen um mich herum schliefen, ein quälendes Gefühl absoluter Macht- und Sinnlosigkeit und mündete schließlich in eine kleine innere Explosion mit allem, was dazu gehört. Am nächsten Morgen war mir klar: Ich werde kein Informatiker, sondern Journalist. Das schien zumindest für jemanden wie mich sinnvoller zu sein, der es mit der Nachrichtenverfolgung nicht sein lassen konnte und trotzdem noch ein ganzes Leben lang über die Runden kommen will, ja kommen muss.

Doch in der Region selbst blieben die Explosionen mit dem Ausbruch des Krieges im Januar 1991 weder klein noch innerlich.

Die Welt zu Gast bei uns

Nicht nur im Empfinden junger arabischer Studenten im Ausland erschien der Umfang der Militärpräsenz ausländischer Truppen auf der Arabischen Halbinsel im Jahr 1991 ungeheuerlich. Es war fast ein halbes Jahrhundert her, als so viele ausländische Truppen auf arabischem Boden standen. Damals, kurz vor dem endgültigen Scheitern des deutschen Afrikafeldzuges im Zweiten Weltkrieg standen in Libyen Ende Januar 1943 die Truppen der Achsenmächte einer halben Million alliierter Soldaten und somit einer doppelten Übermacht gegenüber (bei der berühmteren Schlacht von El Alamein in Ägypten waren es 1942 insgesamt nur circa 300.000 Mann). Der Zweite Golfkrieg war der bedeutendste Krieg seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sowohl was Rüstungsgüter als auch den Mobilisierungsgrad der Kriegsparteien angeht.

Anders als im Zweiten Weltkrieg bekämpften sich allerdings die ausländischen Truppen auf arabischem Boden im Jahre 1991 nicht gegenseitig. Der einzige Gegner der circa 700.000 in Saudi-Arabien versammelten Soldaten, die mehrheitlich von außerhalb der Region stammten (über 75 Prozent von ihnen aus den USA und Großbritannien), war augenscheinlich die irakische Besatzungsarmee auf kuwaitischem Gebiet. Dieses Mal bekämpften sich zudem die Araber selbst, auch wenn die Beteiligung von circa 110.000 Soldaten aus arabischen Staaten an dem von den USA gebildeten internationalen Militärbündnis aus 34 Ländern eher symbolischer Natur war. Denn Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten fühlten sich durch den Irak bedroht und befürchteten ein ähnliches Schicksal wie Kuwait. Bereits damals haben Länder des „Neuen Europa“ – wie einige Jahre später der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld (2001-2006) die ehemaligen europäischen Ostblockstaaten lobend hervorhob – ihre Hilfsbereitschaft bei neuen Aufgaben bekundet. Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei, damals offiziell noch Mitglieder des Warschauer Paktes, beteiligten sich bereitwillig am Bündnis gegen den Irak. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass auch Afghanistan unter der – trotz Abzug der Roten Armee im Februar 1989 – noch sowjetisch gestützten Regierung von Präsident Mohammed Nadschibullah (1986-1992) ein Teil des Militärbündnisses war.

In der Zeit zwischen dem Fall der Berliner Mauer im November 1989, der Auflösung des Warschauer Paktes im Juli und dem Zerfall der Sowjetunion im Dezember 1991 erkannten viele Staaten, dass sie politisch obdachlos geworden oder auf dem besten Weg zur Obdachlosigkeit waren. Das betraf auch einige arabische Staaten, die sich Jahrzehnte lang nach Osten orientiert hatten. So beschreibt zum Beispiel Faruk al-Scharaa, der Ex-Außenminister Syriens (1984-2006) in seinem 2015 auf Arabisch erschienenen Buch Al-Rewaya al-Mafqooda (Das fehlende Narrativ) seine Eindrücke nach einem Moskau-Besuch Ende April 1990 mit dem ehemaligen Präsidenten Hafiz al-Assad (1970-2000) wie folgt: „Es wurde uns klar, dass die Sowjetunion in eine Phase des Rückgangs eingetreten, dass der Kalte Krieg zugunsten der USA ausgegangen und dass auf unseren Alliierten, die Sowjetunion, kein Verlass mehr ist.“ Vier Monate später hat sich Syrien dazu entschieden, sich an der internationalen Militärkoalition zur Befreiung Kuwaits mit 17.000 Mann zu beteiligen. Es sah so aus, als ob sich die Hauptakteure der Gruppe, die sich später „Internationale Gemeinschaft“ nennen würde, und diejenigen, die dazu gezählt werden wollten, ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer auf der Arabischen Halbinsel verabredet hätten. Die Welt zu Gast bei uns in Arabien, sogar in Uniform.

Apropos Mauer. Die Berliner Luft roch im Sommer 1990 nach großen Hoffnungen, nicht nur, weil die Mauer verschwunden war. Die Deutsche Mark befand sich bereits ab Juli in den Portemonnaies aller Deutschen. Diese waren dann auch – alle zusammen – am 8. Juli 21:45 Uhr unter Teamchef Franz Beckenbauer Fußballweltmeister geworden. Die Volkskammerwahl in der Noch-DDR fand bereits im Frühling statt und brachte die Ost-CDU als stärkste Kraft hervor. Ein Votum für die deutsche Einheit, würde man später sagen, weil die CDU im Wahlkampf das Ziel der Wiedervereinigung groß auf ihre Fahne geschrieben hatte. Auch im Alltag standen die Zeichen auf Entspannung. Fahrradtouren durch Ganz-Berlin waren – nach jahrzehntelanger Kriegsangst – in jener Zeit sehr angesagt.

Die Nachrichten über die parallel laufenden und beunruhigenden Entwicklungen im Nahen Osten konnten die euphorische Stimmung hierzulande nicht trüben. Lediglich in den Nachrichten liefen Meldungen über die Krise am Golf und auf dem Berliner Bahnhof Zoologischer Garten war aus den im hinteren Teil der großen Halle aneinander gereihten Telefonzellen vermehrt lautes Arabisch zu hören. Andere Länder, andere Stimmlagen und anderes Telefonierverhalten, würde wahrscheinlich der deutsche Otto Normalverbraucher damals gedacht haben. Otto-Kataloge waren übrigens zu jener Zeit tatsächlich noch sehr verbreitet und erlebten nach der deutschen Wiedervereinigung sogar einen echten Boom. Der Fernsehbildschirm und die auffällig laut in ihre Heimat telefonierenden Araber: das war es aber auch schon mit der Golfkrise in Deutschland. Dabei hatte sich seit Sommer 1990 ein Prozess in Gang gesetzt, der Kriegszeiten erahnen ließ. Es ging Schlag auf Schlag, quasi atemlos im Zeitraffertempo.

Wenige Stunden nach Beginn der irakischen Invasion verabschiedete der UNO-Sicherheitsrat die Resolution 660. Diese verurteilte die Invasion und verlangte einen Rückzug der irakischen Truppen vom kuwaitischen Territorium. Vier Tage später, am 6. August, verabschiedete der Sicherheitsrat die Resolution 661 und verhängte Wirtschaftssanktionen gegen den Irak. Eine Weltsensation, genauer eine Weltsicherheitsratssensation: Denn dies waren die ersten wirtschaftlichen UNO-Sanktionen, die auf Artikel 41 (nichtmilitärische Maßnahmen) und Artikel 25 (für alle Mitglieder bindend) der Charta der Vereinigten Nationen basierten. In Straßenkampfsprache: der Würgegriff. Am 8. August kündigte US-Präsident George Herbert Walker Bush (1989-1993), später auch Bush Senior genannt, den Beginn einer „insgesamt defensiven“ Militäraktion „Operation Desert Shield“ (Operation Wüstenschild) an, um Saudi-Arabien vor einem angeblich möglichen irakischen Angriff zu schützen. Am 9. August wurde die Resolution 662 verabschiedet. Diesmal ging es darum, die Wiederherstellung der „Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität“ Kuwaits zu fordern.

Am 10. August trafen sich die arabischen Staaten zu einem Sondergipfel der Arabischen Liga in Kairo, verurteilten mehrheitlich den irakischen Truppeneinmarsch in Kuwait und beschlossen die Entsendung einer Friedenstruppe zum Schutze Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten. Die Zerrissenheit der arabischen Staaten angesichts der sich überschlagenden Ereignisse zeigte das Abstimmungsergebnis: zwölf für den Beschluss, drei dagegen bei fünf Enthaltungen.

Am 18. August verabschiedete der UNO-Sicherheitsrat die Resolution 664, die den Irak aufforderte, allen damals im Land festgehaltenen ausländischen Bürgern die Ausreise zu ermöglichen. Am 22. August ordnete Präsident Bush die Mobilisierung der Reservisten an. Am 25. August wurde die Resolution 665 des UNO-Sicherheitsrates zur Durchsetzung der Sanktionen, unter Anwendung von den auf die Schifffahrt begrenzten Blockaden, verabschiedet. Am 28. August erklärte die irakische Regierung Kuwait zur 19. Provinz des Irak. Am 13. September wurde die Resolution 666 verabschiedet, die aus humanitären Gründen wenigstens begrenzte Lebensmitteltransporte in den Irak erlaubte. Am 16. September folgte Resolution 667, die die irakischen „Übergriffe auf die diplomatischen Vertretungen“ in Kuwait verurteilte. Am 25. September weitete der Sicherheitsrat durch die Resolution 670 das Embargo auch auf den Luftverkehr aus.

Aus der Sicht der arabischen Massen erschien das alles wie eine juristisch einwandfrei laufende Kriegsmaschinerie. Aus westlicher Sicht sah es im Allgemeinen nach einem UNO-Sicherheitsrat aus, der endlich mal so geschlossen, aktiv und effektiv wie noch nie zuvor funktionierte. Nach einem Welt-Sicherheitsrat, der zu „The New World Order“, der neuen Weltordnung ohne den alten Kalten Krieg, passte. West-Optimismus gegenüber Arab-Pessimismus: Des einen Fried ist des anderen Krieg.

Natürlich war die Besetzung eines Mitgliedslandes der Vereinten Nationen wie Kuwait nach internationalem Recht nicht hinnehmbar. Das Bombardement von acht UNO-Resolutionen innerhalb weniger als zwei Monaten läutete allerdings weniger den Sieg des internationalen Rechts ein; es stand vielmehr symbolisch für den Beginn des „Neuen Amerikanischen Jahrhunderts“. Eine neokonservative amerikanische Denkfabrik nannte sich zwischen 1997 und 2006 tatsächlich „Project for the New American Century“ (PNAC) und hatte einen großen politischen Einfluss, auch auf die späteren Ereignisse im Nahen Osten. Deren Prinzipien sind sehr einfach: US-amerikanische Führerschaft ist erstens gut für Amerika und die ganze Welt und erfordert militärische Stärke; die multipolare Welt mit der Sowjetunion als ebenbürtiger Gegenpol hat zweitens doch nur zu Kriegen geführt und die US-Regierung soll drittens nun Kapital aus ihrer technologischen, wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit in einer unipolaren Welt schlagen. Genau das praktizierten die USA bereits in den Jahren 1990/1991.

Am 29. November 1990 war es dann mit der Resolution 678 so weit. In dieser ermächtigte der UNO-Sicherheitsrat die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, „alle notwendigen Mittel, die Resolution 660 zu unterstützen und durchzuführen“, einzusetzen, sofern der Irak nicht bis zum 15. Januar 1991 den UNO-Resolutionen Folge leistete. Gemeint oder verstanden wird dabei im UNO-Sprachgebrauch nur das eine unausgesprochene Mittel: das Militärische. Es wurde somit Zeit, dass hunderttausende von amerikanischen und anderen Soldaten, die erst seit circa drei Monaten in der Region zusammengetrommelt wurden, endlich „höhere“ Ziele ins Auge fassten. Der scheinbar harmlose Schutz-Schild einer „insgesamt defensiven“ „Operation Wüstenschild“ verwandelte sich über Nacht in einen aggressiven „Sturm“: Damit war die offensive „Operation Desert Storm“ (Operation Wüstensturm) geboren. Mit der Namensänderung der Operation und der damit verbundenen verstärkten ausländischen Militärpräsenz veränderten sich auch die Einstellungen und Gefühle der Bewohner der Region. Aus der von vielen Arabern sonst nur als ungerecht empfundenen Weltgemeinschaft wurde somit über die Wochen des Konfliktes am Ende eine feindliche. Drei Tage vor Ablauf des UNO-Ultimatums beschloss der amerikanische Kongress, die irakischen Truppen unter Anwendung militärischer Gewalt aus Kuwait zu vertreiben.

So begann durch die massiven US-Luftangriffe auf den Irak am 17. Januar 1991 um 3:00 Uhr Ortszeit – mehrheitlich beschlossen und somit demokratisch legitimiert – das neue Zeitalter im Nahen Osten. Ein Beginn, der kaum zu übersehen oder zu überhören war, mit einem Luftkrieg, reißerisch über die Medien fast in Echtzeit in Szene gesetzt, wie ihn die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg in dieser Form nicht mehr erlebt hatte: Hunderte Kampfflugzeuge und Bomber, mehr als 1000 Luftangriffe mit 1400 Tonnen abgeworfenen Bomben täglich und somit die totale Beherrschung des Schlachtenhimmels, gegen die der Irak keine Chance hatte. Quantitativ betrachtet haben die angreifenden Kampfflugzeuge während des kurzen Krieges am Golf – mehreren Quellen zufolge – eine größere Bombenlast abgeworfen als während des gesamten Zweiten Weltkrieges.

Der Versuch des Irak, Israel mit dem Beschuss von Scud-Raketen ab dem zweiten Kriegstag direkt in die kriegerischen Handlungen einzubeziehen, schlug fehl. Die Hoffnung, dass dann die arabischen Staaten zum Verlassen des Bündnisses bewogen werden könnten, weil diese sich sonst mit dem „Erzfeind“ Israel in einer gemeinsamen Kriegsfront gegen einen anderen arabischen Staat befänden, erwies sich als die zweitgrößte Fehleinschätzung der irakischen Führung. Die erste stellte die Annahme dar, dass die USA die Besetzung des mit ihnen verbündeten Kuwait im Sommer 1990 irgendwie hinnehmen würden. Denn die USA nahmen nicht nur die Besetzung des einen Regionalpartners Kuwait nicht hin, sondern unterbanden auch jegliche Reaktion des anderen Partners Israel auf die irakischen Angriffe, um die verbündeten arabischen Staaten nicht zu desavouieren. Zum ersten Mal in der Nahost-Geschichte griffen die USA in solch direkter kriegerischer Form in die Region ein, ganz nach dem Motto: Das hier ist Chefsache. Und das sehr zum Ärger des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Schamir (1986-1992) von der konservativen Likud-Partei.

Am 24. Februar 1991 begann der Bodenkrieg mit dem Einmarsch von US-Marines auf kuwaitisches, aber auch auf irakisches Territorium. Zwei Tage später ordnete der Irak offiziell den Rückzug aus Kuwait an. Am Tag darauf erreichten die amerikanischen Truppen die Hauptstadt Kuwait-City und am 28. Februar verkündete Präsident Bush: „Kuwait ist befreit, Iraks Armee ist besiegt, wir haben das Vietnam-Syndrom ein für alle Mal verscheucht.“ Diese Worte waren insofern sehr auffällig, als sie kaum in Einklang mit einem Narrativ über den Zweiten Golfkrieg als einem Krieg mit UNO-Mandat und einer internationalen Koalition zur Befreiung von Kuwait zu bringen waren. Vielmehr wirkten sie als kompensatorische Siegesmetapher für die USA zur Überwindung der Schmach der Niederlage im Vietnamkrieg, dem verlustreichsten US-Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg.

Hinter dem Rauch brennender Ölfelder

Trotz der hochinteressanten Verbindung zwischen dem Trauma des Vietnamkrieges und dessen kompensatorischer Bewältigung durch den Zweiten Golfkrieg seitens des mächtigsten Mannes der Welt war es weniger die Vietnam-Syndrom-Aussage, die in den arabischen Ohren hängenblieb. Vielmehr machte eine andere Formulierung von George Bush Senior die Runde: Amerika habe die nuklearen Fähigkeiten des Irak „in die Steinzeit zurück gebombt“. Das war eine noch denkwürdigere Begriffsverknüpfung durch den US-Präsidenten, diesmal zwischen dem Irak von 1991 und seinen angeblichen Massenvernichtungswaffen. Dabei wurde wieder einiges unter den Teppich gekehrt: Erstens wurde der einzige irakische nukleare Reaktor für die zivile Nutzung der Kernenergie, der mit Hilfe der Franzosen im Aufbau war, bereits 1981 durch die israelische Luftwaffe zerstört. Zweitens hatte der Irak, wenn es sich um Massenvernichtungswaffen handelte, die Materialien und das Know-how für sein Chemie- und Biowaffenprogramm zur Zeit des Irak-Iran-Krieges interessanterweise gerade von den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland erhalten. Für die Menschen im Nahen Osten legten diese Tatsachen den Verdacht nahe: ABC-Waffen sind in dieser Region dann in Ordnung, wenn sie in den Händen einer mit dem Westen befreundeten Atommacht wie Israel sind oder von einem arabischen Land wie dem Irak gegen die Feinde des Westens, wie den Iran im ersten Golfkrieg, eingesetzt werden. Ansonsten stellten die gleichen Waffen einen Anklagepunkt dar – Doppelmoral und das Messen mit zweierlei Maß lassen grüßen.

Parallel dazu verbreitete sich auf breiter Front bis weit in die Kreise arabischer Studenten in Deutschland und anderen Ländern der Verdacht, nicht seine nuklearen Fähigkeiten, sondern der Irak als Ganzes sollte in die Steinzeit zurück gebombt werden. Die Frage, warum der Irak im Krieg zerstört wurde, anstatt nur Kuwait zu befreien, wurde in den darauffolgenden Wochen und Monaten immer lauter und heftiger diskutiert. Diese Frage war in Anbetracht der Luftkriegsführung der Koalition nicht ganz aus der Luft gegriffen. Denn bombardiert wurde im Irak alles: Elektrizitäts- und Wasserversorgungsanlagen, Kommunikations- und Hafeneinrichtungen, Ölraffinerien und -pipelines, Eisenbahnen, Verbindungsstraßen und Brücken.

Vor der Befreiung Kuwaits gab es nicht nur in der Berliner Studentenszene innerarabische Differenzen im Hinblick auf den bevorstehenden Krieg, die oft mit der Haltung des jeweiligen Heimatlandes übereinstimmten. So waren Syrer und Libanesen eher skeptisch, dass die verfahrene Lage gut ausgehen würde. Syrien und der Irak hatten seit der Machtübernahme von Saddam Hussein im Jahr 1979 schlechte Beziehungen miteinander, obwohl die panarabische Baath-Partei in beiden Ländern an der Herrschaft war. Jemeniten und Palästinenser waren wie ihre jeweilige Führung eher zuversichtlich, dass mit dem Irak eine arabische Großmacht wieder auferstehen könnte, die der Arroganz der Golfstaaten und der Aggression Israels Grenzen setzen würde. Während die allgemeine arabische Haltung gegenüber Israel mit dem damals bereits 40 Jahre alten Nahostkonflikt zu erklären war, trat mit dem Zweiten Golfkrieg die innerarabische Feindschaft zu den Golfstaaten zum ersten Mal in dieser deutlichen Form zutage. Ein Aspekt dieses Zwists war sicherlich auf den durch Erdöl entstandenen Reichtum von Kleinscheichtümern in einer sonst armen Region zurückzuführen. Ein beträchtlicher Teil hing allerdings mit dem erniedrigenden Umgang dieser Staaten mit praktisch rechtlosen und abhängigen – weil jederzeit ohne Angabe von Gründen abschiebbaren – Gastarbeitern aus anderen arabischen Ländern zusammen. Nur aus asiatischen Ländern stammende Gastarbeiter, die ebenfalls erheblich zum Aufbau dieser Scheichtümer und dem Wohlstand ihrer einheimischer Bevölkerung beitrugen, wurden noch massiver ausgebeutet und schlechter behandelt. Auf arabischer Ebene gehörten und gehören Palästinenser und Jemeniten bis heute zu den größten Gruppen unter den Arabern, die am Golf arbeiten.

Ein großer Teil der Differenzen unter den Arabern aus der Zeit vor dem Krieg verschwand als Resultat der Steinzeit-Strategie der USA gegenüber dem Irak innerhalb kurzer Zeit. Auch die Gegner der irakischen Besetzung Kuwaits empfanden die Kriegsführung der Amerikaner bestenfalls als nicht verhältnismäßig. Nach und nach verbreitete sich der Eindruck, dass der Westen vorsätzlich und böswillig den Irak zerstört hatte, um an dem Zweistromland mit Militärmacht ein Exempel zu statuieren und der gesamten arabischen Welt zu signalisieren, wer nun allein das Sagen hat, wenn es um die Durchsetzung politischer und ökonomischer Interessen in der Nahost-Region geht. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die Tatsache, dass die Besetzung Kuwaits keine wirkliche Überraschung war. Bereits zehn Tage vor dem irakischen Einmarsch schrieb DER SPIEGEL (30/1990), der Irak bereite einen „Eroberungskrieg gegen Kuwait“ vor.

Die Skepsis gegenüber den tatsächlichen Kriegsmotiven der USA wuchs zusätzlich mit der steigenden Zahl irakischer Opfer, die ohne militärische Notwendigkeit gefallen waren. So ereignete sich in der Nacht vom 26. (an diesem Tag kündigte der Irak den Rückzug aus Kuwait an) zum 27. Februar (an diesem Tag erreichten die Amerikaner die Hauptstadt Kuwait-City) eines der dramatischsten Kapitel des Zweiten Golfkrieges, das Kapitel des „Highway of Death“ (Autobahn des Todes). Dabei hatte die US-Luftwaffe, die sich auf dem Rückzug befindlichen irakischen Truppen und eingeschlossenen Zivilisten entlang der Hauptverbindungstrasse zwischen Kuwait und dem Irak stundenlang bombardiert. Die US-Piloten bezeichneten ihre Angriffe später als „Turkey Shoot“ (Truthahn-Schießen) – der Truthahn ist kein besonders beweglicher Vogel, weder in der Luft noch auf dem Boden. Diese Kennzeichnung drückte auf den ersten Blick lediglich die sehr geringe Wahrscheinlichkeit aus, dass die vielen tausend irakischen Soldaten auf dem Asphaltstreifen inmitten dieser offenen Wüstenlandschaft hätten leicht entkommen können. Bei genauerer Betrachtung drückte sie aber auch den enthemmten Spieltrieb der Angreifer bei einer vorsätzlichen Entmenschlichung der Angegriffenen aus. Denn mit Truthahn-Schießen drückt man in den USA das Schießen auf Zielscheiben aus: eine Übung, ein Hobby, eben ein Spiel mit Gegenständen.

Einer der „Truthähne“ auf dem Sandboden zwischen dem Irak und Kuwait hieß Rasheed Hameed Waali und war beweglich genug, um das Ganze zu überleben. Der damals 30-jährige Soldat einer Spezialeinheit der irakischen Armee war allerdings auch Soldat genug, um später weder die eigene irakische Führung noch die Amerikaner für die Erfahrungen jener Zeit verantwortlich zu machen. Danach gefragt, pflegte Rasheed im Jahr 2003 öfters ausweichend zu betonen, Soldaten seien Kämpfer, keine Philosophen. Er wich dann auf Erlebnisse aus dem Ersten Golfkrieg mit dem Iran aus. Dieser sei ein normaler Krieg gewesen. Und die Winternacht Ende Februar 1991? „Das war kein Krieg“, sagte er leise und fast beschämt, bevor er aufstand und angab, jetzt anderswo irgendetwas machen zu müssen. Es war vermutlich die Hölle.

Im westlichen Gedächtnis steht das Bild der circa 700 von irakischen Truppen bei ihrem überstürzten Abzug in Brand gesetzten kuwaitischen Ölfelder symbolisch für den Zweiten Golfkrieg. Die Löscharbeiten dauerten Monate und der schwarze Rauch über Kuwait machte den Tag zur Nacht. Demgegenüber prägte sich im arabischen Gedächtnis eher das Bild der vielen völlig verbrannten und kilometerlang chaotisch entlang der „Autobahn des Todes“ verstreuten Zivil- und Militärfahrzeuge ein. Es hatte etwas Gespenstisches, denn weit und breit waren auf den Bildern keine lebenden menschlichen Wesen zu sehen; alle waren entweder getötet oder geflohen.

Mit Unverständnis und Erschrecken verfolgten auch die Araber im Westen jene schockierenden Bilder aus der Ferne. Sie verfolgten allerdings auch hautnah, wie sich hier in der westlichen Welt spätestens mit dem Zweiten Golfkrieg die Meinung durchsetzte, der Tod sei eine PR-Angelegenheit. Mitte Februar 1991 erklärte zum Beispiel die US-Regierung nach dem berüchtigten Angriff auf den Al-Amiriya-Bunker in Bagdad mit über 400 zivilen Opfern, dieser sei ein „legitimes militärisches Ziel“ gewesen und sie „bedauere den Verlust von Menschenleben“. Punkt. Der Satz, der alle Regeln der Public Relations befolgte, wirkte auf die Araber eher zynisch als tröstlich. Auf Arabisch gibt es sogar eine Redewendung für ähnliche Fälle von empfundener Dreistigkeit: „Jemanden umbringen und dann noch bei dessen Trauerzug zum Friedhof mitmarschieren.“ Das ist dreist.

Westliche PR kann vieles schmackhafter machen, nicht jedoch den Tod von hunderten sieben Tage jungen bis 93 Jahre alten Menschen in einem deutlich erkennbar markierten Bunker. Dieser befand sich zudem nicht in der Nähe von Kampfhandlungen, sondern mitten in der Hauptstadt, weit entfernt von jeglicher Front. Genauso wenig tröstlich wie das westliche Bedauern des Verlustes von Menschenleben wirkte auch die Tatsache, dass der Tod äußerst schnell durch zwei bunkerbrechende Präzisionsraketen eintrat, abgefeuert durch zwei zum ersten Mal eingesetzte F117-Kampfflugzeuge, für feindliches Radar unsichtbar. Diese Kampfbomber waren nicht die einzigen Waffen, die im Zweiten Golfkrieg zum ersten Mal zum Einsatz kamen; es waren auch nicht unbedingt die gefährlichsten. Dieser Krieg geht wahrscheinlich als einer derjenigen in die Geschichte ein, in denen nicht nur erprobte Waffen eingesetzt wurden, sondern die selbst zur Erprobung neuer Waffen „eingesetzt“ wurden. Jedenfalls heißt das unsichtbare Flugzeug F117 seit 1991 auf Arabisch: „Das Gespenst“.

Das Werk der unsichtbaren Gespenster lernte Atwar Bahjat mit 14 Jahren kennen. Als irakischer Teenager in der konservativen Kleinstadt Samarra verfolgte sie wie viele andere Millionen Iraker die Bilder vom „Kollateralschaden“ im zerstörten Al-Amiriya-Bunker auf dem Bildschirm des irakischen staatlichen Fernsehens. Vermutlich entstanden bereits damals ihre ersten Negativgefühle im Zusammenhang mit dem Westen. Sie war damit nicht allein.