Kriegskinder - Yury Winterberg - E-Book

Kriegskinder E-Book

Yury Winterberg

4,8

Beschreibung

Eine Kindheit im Krieg: Was registrieren Kinderaugen, was brennt sich ins Gedächtnis ein, was wird ausgeblendet? Wie erleben Kinder den Alltag im Krieg: Verdunklung, Nächte im Luftschutzkeller, Bombardierung, Vertreibung, Soldatenwillkür, Vaterverlust. Nie zuvor in der Geschichte der Zivilisation sind Kinder so grausam zu Opfern, aber auch zu Akteuren eines unmenschlichen Krieges geworden. Kriegskinder aus Frankreich, England, Deutschland, Polen, der Ukraine und aus Weißrussland erinnern sich, schildern Alltägliches und Außergewöhnliches aus den Tagen, in denen Europa in Flammen stand. Doch nicht nur die Geschehnisse innerhalb Deutschlands sind Thema: Wie erleben Kinder jenseits der damaligen deutschen Grenzen diese Zeit, was die verschleppten Kinder aus den Ostgebieten? Die letzte Generation von Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs antwortet.

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Yury und Sonya Winterberg

Kriegskinder

Yury und Sonya Winterberg

Kriegskinder

Erinnerungen einer Generation

Inhalt

Vorwort

»Warum weinen die Frauen?« – September 1939

Krieg ist nur ein Spiel

»Ich starb in den Armen meiner Mutter« – Frankreich 1940

Die Schule der Herrenmenschen

Bomben auf Engeland

Rechte Seite Leben, linke Seite Tod

Heldenmut und Opfer – Sowjetunion 1941

Verbrannte Menschen – klein wie Puppen

Aufbruch ins Kinderland

»Todesanzeige unzulässig« – Kinder und Widerstand

Kriegswichtig – Verdienste mit und ohne Kreuz

Zwischen Hoffnung und Angst – Weihnachten 1944

Flucht – Der lange Weg nach Westen

Das letzte Aufgebot

Die vielen Gesichter der Sieger

Verlorene Heimat – Das Schicksal der Vertriebenen

»Dann war ich erwachsen« – Die Jahre nach dem Krieg

Weiterführende Literatur

Danksagung

Bildnachweis

Vorwort

Der verheerendste aller bisherigen Kriege liegt gerade einmal zwei Generationen zurück. Die Zahl derjenigen, die ihn als Erwachsene durchleben mussten, schwindet. Doch noch sind jene Zeitzeugen zahlreich, deren Kindheit durch den Zweiten Weltkrieg geprägt wurde. Gerade ihre Erfahrungen und Leiden blieben jedoch über viele Jahrzehnte hinweg gleichsam unter den Trümmern des Krieges verschüttet. Kinder bewältigen Schrecken anders als Erwachsene. Oftmals schließen sie ihre Erinnerungen weg, hoffend, dass dem Schweigen das Vergessen folgen möge. Die Folgen von Sprachlosigkeit und Entwurzelung sind bis heute spürbar. Erst seit wenigen Jahren haben die Kriegskinder begonnen, ihr Schweigen zu brechen, sind sie bereit, an die schmerzlichen Wunden von einst zu rühren. Sie müssen dabei auch die Angst vor einer neuerlichen Verletzung überwinden – dass sie sich öffnen, aber niemand ihnen wirklich zuhört.

Dabei haben sie viel zu berichten, was so bisher kaum beachtet wurde. Kinder sehen die Welt mit anderen Augen, als es Erwachsene tun. Umso mehr gilt dies für das Erleben des Krieges. Vieles, was ihnen da geschieht, verstehen sie nicht, geben ihm eigene Deutungen; manches fassen sie so anders auf, dass sie am Ende der Wahrheit näherkommen, als es die Erwachsenen tun.

Das vorliegende Buch geht auf eine vierteilige Fernsehdokumentation von Martin Hübner und Gabriele Trost zurück, die ihre Premiere 2009 in der ARD hatte. Zum ersten Mal kommen in Buch und Film nicht nur deutsche Kriegskinder zu Wort, sondern ebenso Kriegskinder aus Polen, Frankreich, England und der damaligen Sowjetunion. So entsteht eine europäische Perspektive, rücken die Wirklichkeiten der sich einst feindlich gegenüberstehenden Länder enger zusammen.

Yury Winterbergs Eltern sind Kriegskinder wie die in diesem Buch versammelten Zeitzeugen auch. Die Mutter, am Stadtrand von Dresden lebend, wurde Zeugin des Infernos vom 13. Februar 1945, welches die Elbmetropole auslöschte. Sieben Familienangehörige des Vaters kehrten von der Front nicht nach Hause zurück, und die daheimgebliebenen Frauen trugen in seinen Kinderjahren niemals eine andere Farbe als Schwarz. Für beide Eltern bedeutet noch heute jeder Sirenenton und jedes Feuerwerk eine Wiederkehr der Erinnerungen an den Bombenkrieg.

Während Sonya Winterberg mit dem Bewusstsein aufwuchs, dass ein Großteil ihrer Familie nach dem Krieg aus Böhmen vertrieben wurde, blieb ein ganz anderes Trauma jahrzehntelang ein Geheimnis. Die jüdische Herkunft des Großvaters väterlicherseits, die Umstände seiner Internierung und seines Überlebens wurden allseits verschwiegen. Erst nach dem Tod ihres Vaters entdeckte sie ihre jüdischen Wurzeln. Eine Freundin, jüdische Überlebende des Shoah, half ihr schließlich mit dem Satz: »Die traumatischen Erlebnisse, die eine Generation nicht aufarbeitet, werden an die nächste Generation weitergegeben. Es ist an Dir, diesen Kreislauf zu durchbrechen.«

Die Kriegskinder, die in diesem Buch zu Wort kommen, haben mit ihrem Erzählen genau das versucht.

»Warum weinen die Frauen?« – September 1939

Im Juli 1939 geht für den vierjährigen Hans Hanf-Dressler aus Frankfurt am Main ein Herzenswunsch in Erfüllung. Anlässlich ihres Geburtstages wird die Großmutter im ostpreußischen Königsberg besucht, und Hans darf das Transportmittel wählen. Selbstverständlich entscheidet er sich gegen die Bahn und für die Tante Ju. Nach gut zwei Flugstunden erklärt der Pilot der Ju-52 den Passagieren: »Da unten liegt Polen.« Hans beugt sich zum Fenster und ruft: »Du lügst!« Die pikierten Blicke der Erwachsenen stören Hans nicht. »Das sieht man ja gar nicht, dass es Polen ist«, erklärt er. »Das müsste doch rot sein. Die Bäume müssten rotes Laub haben.« Für Hans kann es anders nicht sein. Denn in dem großen Atlas, den die Eltern vor der Reise mit ihm angeschaut haben, ist Polen rot gezeichnet.

Die Geburtstagsfeier der Großmutter ist von Streit überschattet. Hans’ Vater sagt stirnrunzelnd, es werde bald Krieg geben. Und die beiden Onkel erwidern: »Ja, das wird auch Zeit!« Immer lauter und ärgerlicher wird da der Vater. Eine Katastrophe werde über Europa hereinbrechen. Doch der Onkel widerspricht: »Das wird ein Spaziergang für uns.« Hans genießt die spannungsgeladene Atmosphäre, obwohl er kaum versteht, worüber geredet wird.

Die polnische Jüdin Ruth Wermuth verbringt zur selben Zeit ihre Schulferien im pommerschen Ostseebad Krynica. Die friedliche Urlaubsstimmung ist plötzlich vorbei, als Ende August die Zeitungen vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt berichten. Panikartig reisen die Gäste ab, die Züge sind so überfüllt, dass viele am Bahnsteig zurückbleiben. Doch Ruth ergattert gemeinsam mit Mutter und Bruder einen Platz im Zug. Für die Elfjährige ist klar, dass Deutschland und Russland beschlossen haben, Polen unter sich aufzuteilen. Die Frage ist nur: Wann?

Dass es Krieg geben wird, glauben auch die Eltern der achtjährigen Blandyna Lewińska in Warschau. Weil der Vater ein krankes Bein hat, kommt eine Einberufung zur Armee für ihn nicht infrage. Doch die patriotisch gesinnten Eltern haben bereits im Rahmen einer nationalen Sammelaktion ihre Eheringe für das polnische Vaterland gespendet.

Im Hause des zehnjährigen Günter Kunert, später ein bedeutender Schriftsteller, wird heftig politisiert. Mit dem nahenden Krieg verbinden Familie und Freunde die Hoffnung auf ein Ende der Nazidiktatur. Verfolgt und gegängelt werden sie schon seit Jahren, die einen, weil sie politisch links stehen, die anderen, weil sie Juden sind. Kunert gilt wegen seiner jüdischen Mutter und seines arischen Vaters als »Mischling ersten Grades«, weshalb ihn seine Mitschüler für eine seltsame Hunderasse halten. Der Berliner Junge lauscht, in einer Ecke sitzend, gespannt den Gesprächen der Verwandten und wundert sich. »Hitler wird im polnischen Korridor stolpern!« Wieso soll Hitler im Korridor stolpern? Und warum ausgerechnet im polnischen?

Durch diesen polnischen Korridor, der Ostpreußen und das Deutsche Reich seit dem Versailler Vertrag trennt, fährt die elfjährige Berlinerin Gisela Ott. Die Familie musste ihren Besuch in Ostpreußen vorzeitig abbrechen, um zurück nach Hause zu kommen. Der Zug ist verschlossen, sodass während der Fahrt durch das fremde Territorium niemand aus- oder zusteigen kann. An den Straßenrändern und Bahndämmen stehen Polen und drohen dem Zug mit der Faust. Erst auf deutschem Boden werden die Türen wieder geöffnet.

Am letzten Augustwochenende findet im thüringischen Hohenleuben das traditionelle Schützenfest statt. Ein Nachbar schaut aus dem Fenster, als die Familie des achtjährigen Ernst Woll zum Markt aufbricht, und ruft: »Esst bloß noch mal richtig Rostbratwürste, denn am Montag werden wir Lebensmittelkarten ausgeben.« Dieser Montag, der 28. August 1939, ist für Ernst daher der eigentliche Kriegsbeginn.

Londoner Kinder nach Bombenangriff, 1940

Die Mutter der siebenjährigen Jutta Schneider aus Berlin kann sich noch gut an den Ersten Weltkrieg erinnern. Gemeinsam mit der Tochter geht sie auf der Stelle Schuhe kaufen. »Hinterher gibt es das dann alles nicht mehr.« Im schulischen Handarbeitsunterricht häkelt Jutta von nun an keine Topflappen mehr, sondern sie näht Gasmasken.

Für den fünfjährigen Klaus Kammerichs im sauerländischen Iserlohn bedeutet der Kriegsbeginn vor allem, dass sich die Klangfarbe im Radio ändert. Ein erstaunliches Getöse erfüllt die Wohnstube, gänzlich neue Formen von Geräuschen. Eine Sondermeldung jagt die andere, eine Fanfare löst die vorherige ab. Mit Empörung registriert der Kleine die abfälligen Bemerkungen seiner Eltern angesichts des Krieges. »Unsere tapferen Soldaten«, so empfindet es Klaus, »machen die tollsten Sachen da draußen, und die reißen Witze darüber, das geht ja wohl nicht.« Ihm kommt das Verhalten seiner Eltern ein wenig wie Verrat vor.

Skeptisch ist auch der Vater der zehnjährigen Gisela Hielscher aus Breslau. Hitlers Brandrede »Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen!« kommentiert er lakonisch mit dem Satz: »Zurückgeschossen ist gut.«

»Der Herr Hitler wird schon wissen, was er macht, und wenn wir so viele Feinde haben, die uns an den Kragen wollen, dann müssen die eben auch bestraft werden«, denkt die neunjährige Rosemarie Heinze und kann die Angst ihrer Eltern vor dem Krieg nicht verstehen. Ihre Berliner Wohnung liegt an einer Bahnlinie. Schwer beladen mit Panzern und Kanonen rollen die Truppentransporte über Straußberg in Richtung Osten vorbei. Rosemarie wirft den fröhlich singenden Soldaten Blumen zu. Später bindet sie kleine Sträuße schon auf Vorrat, um den blendend aussehenden jungen Männern eine Freude zu machen.

In Polen zeigt der Krieg ein ganz anderes Bild. Ende August trifft Janusz Krasiński, aus den Ferien kommend, im heimatlichen Warschau ein. Sein Vater, ein älterer Herr, holt ihn am Wilnaer Bahnhof ab. Er ist der einzige Mann inmitten einer Traube von Frauen. Alle anderen Männer sind bereits »mobilisiert«. Es ist das erste Mal, dass der Elfjährige das Wort »Mobilisierung« hört. Zwei Tage nach Kriegsbeginn wird der Pfadfinder Janusz durch seinen Gruppenführer zum Güterbahnhof beordert. Gemeinsam mit seinen Kameraden soll er die Gleise bewachen, um zu verhindern, dass deutsche Saboteure Sprengstoff unter Schienen oder Waggons legen. Die Jungen werden mit Brötchen und Orangeade versorgt und sind stolz, etwas für die Heimat tun zu dürfen. Doch der Einsatz findet bereits am darauffolgenden Mittag ein jähes Ende. Der Bahnhof wird von Stukas angegriffen. Eine Ju-87 stürzt mit dem ohrenbetäubenden Geheul der »Jericho-Trompete« genannten Fahrtwindsirene direkt auf die Jungen herab. Janusz kann sich gerade noch hinter einen mit Pflastersteinen beladenen Güterzug werfen, als die Bombe einschlägt. Als er aus dem Bahnhof flieht, sieht er Schreckliches – die erste Kriegsleiche. Der Junge ist überrascht, dass ein »toter Neger« vor ihm liegt. Dabei gibt es »Neger« doch so gut wie gar nicht in Polen. In einem Restaurant hat er einmal einen gesehen. Erst sehr viel später begreift Janusz, dass der Tote durch Hitze und Rauch versengt worden ist. Die Fußwege sind mit Glassplittern übersät. In der Panik verliert der Junge einen Schuh, am anderen reißt der Riemen. Barfuß rennt er durch die halbe Stadt bis nach Hause, ohne auf die Scherben achtzugeben.

Jan Karpiński erlebt die Bombardierung von Krakau zunächst noch als ein abenteuerliches Spiel. Es wird geschossen, Flugzeuge und Rauchwolken sind am Himmel zu sehen. Menschen rennen umher. Es ist für den jüdischen Jungen wie im Wilden Westen, er ist Indianer, die anderen sind die Cowboys. Am ersten September ist in Polen Schulbeginn. Doch 1939 fällt an diesem Tag die Schule aus, und das ist das Beste für den Neunjährigen.

Anderthalb Stunden nachdem der Onkel des elfjährigen Zenon Malec im Radio gehört hat, dass es Krieg gibt, fallen in Posen bereits die ersten Bomben. Die Familie flüchtet in einen Schutzraum, der unter einem Kino eingerichtet ist. Hunderte Menschen warten dort schon, als sie eintreffen. Nicht alle schaffen es rechtzeitig. Eine Bombe zerreißt eine Frau direkt vor dem Schutzraum, eine zweite Bombe fällt auf die Treppen. Trümmer verschütten den Eingang. Die Männer schlagen eine Bresche nach draußen. Während seine Familie nach Hause rennt, ist Zenon durch den Anblick eines bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Jungen wie gelähmt. Der Tote trägt die gleiche Hose und das gleiche Hemd wie Zenon, der sich daraufhin stundenlang verängstigt in einer Toreinfahrt versteckt. Erst gegen Abend wagt er sich zurück in die Wohnung, froh zu Hause zu sein. Weder vorher noch nachher hat ihn seine Mutter jemals geschlagen. Doch diesmal prügelt sie ihn bis zur Besinnungslosigkeit. Weshalb, versteht Zenon nicht. Die Mutter hatte auf ihrer Suche nach dem Sohn ebenfalls das verbrannte Kind erblickt und die Leiche für Zenon gehalten.

Wie schnell wird das verbündete Ausland dem bedrängten Land zu Hilfe kommen?, fragen sich die polnischen Familien. Der neunjährige Jean-Louis Cholet aus Paris erfährt in der Schule von der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland. Die Schüler erhalten Gasmasken. Sie stammen aus tschechischer Produktion, sind aus Gummi, und für Jean-Louis ist es ein großer Jux, sie auszuprobieren.

Am 3. September ist die Familie des 1931 geborenen Alan Rushton in Coventry in der Küche versammelt. Dort hören sie im Radio, wie Premierminister Chamberlain seinem Volk mitteilt, dass sich Großbritannien im Krieg mit Deutschland befindet. Sperrballons werden nach Coventry gebracht. Alan will wissen, wozu diese Ballons dienen. »Um Seile in der Höhe zu halten, damit die feindlichen Flugzeuge nicht tieffliegen können«, ist die Antwort. Die Erwachsenen wollen sich einen Spaß mit ihm erlauben, denkt der Junge und glaubt ihnen nicht.

Im September 1939 beginnt für den fünfjährigen Kenneth Lester aus London das erste Schuljahr statt mit Lesen und Schreiben mit einer anderen Lektion: Gasmaske tragen. Die Maske ist staubig und juckt. Eine halbe Stunde lang sollen die Kinder unter den schweißnassen Gasmasken ausharren. Kenneth schiebt einen Finger unter die Maske, um frische Luft zu bekommen, und wird sofort ausgeschimpft. Auch die Londonerin Louise Griffiths ängstigt sich vor den Gasmasken, obwohl sie schon elf Jahre alt ist, und beneidet die kleineren Kinder, die Gasmasken mit dem Gesicht von Micky Maus aufsetzen dürfen.

Während Kinder in halb Europa auf den Krieg vorbereitet werden, ist er für andere bereits vorbei. »Das wird ein Spaziergang«, hatte der Onkel von Hans Hanf-Dressler noch im August erklärt. Im September sieht Hans seine Mutter bitterlich weinen. Es ist ihr Geburtstag. An so einem Tag weint man doch nicht! Eben hat die Mutter die Nachricht erhalten, dass ihr Bruder bereits am dritten Tag des Polenfeldzugs als Offizier gefallen ist.

Der Vater der elfjährigen Elfriede Wilhelm aus Stettin ist am 26. August eingezogen worden. Der SA-Offizier hat schon im Ersten Weltkrieg kämpfen müssen. Elfriede sitzt auf der Teppichstange im Hof, als weinende Frauen aus dem Haus kommen. »Warum weinen die Frauen denn?«, fragt sie ihre Mutter. – »Sie haben Angst um ihre Männer.« – »Warum denn?« – »Na ja, die könnten doch fallen.« Für Elfriede ist das kein Grund, zu weinen. »Dann sind sie doch Helden?« – »Aber Kind«, erklärt die Mutter, »ein Held, ein toter Held, ist auch ein toter Papa oder ein toter Ehemann.«

Erst da wird Elfriede bewusst, wie schrecklich ein Krieg ist. Vorher hatte sie nicht darüber nachgedacht. Dennoch ängstigt sie sich nicht allzu sehr um den abwesenden Vater. Die Ehe der Eltern verläuft nicht glücklich, und sie findet es schön, allein mit ihrer Mutter und den Brüdern im Haus zu sein.

Wenige Tage nach Kriegsbeginn bekommen die Stettiner Bauern schon die ersten polnischen Kriegsgefangenen zugeteilt. Mit vier anderen Kindern marschiert Elfriede auf den Nachbarhof, um die Sensation zu bestaunen – ein echter Kriegsgefangener namens Leon. Die Kinder starren den jungen Mann fasziniert an, der nicht wie jemand aussieht, der schießen oder etwas Böses tun könnte. Dann lächeln die Kinder, und Leon lächelt zurück. Sie werden Freunde.

Frankreich hat versprochen, im Kriegsfall innerhalb von zehn Tagen einzugreifen und eine zweite Front gegen Deutschland zu errichten. Doch nichts geschieht. Auch Großbritannien greift zugunsten Polens nicht ein. So kann nun auch die Sowjetunion jene territorialen Begehrlichkeiten stillen, die im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes zugesichert wurden.

Hans Hanf-Dressler: Kriegsbeginn aus Kindersicht

Mitte September wälzt sich eine endlose Autokolonne durch das galizische Städtchen Kolomyja in Ostpolen. Staunend beobachtet Ruth Wermuth vom Balkon der Wohnung aus die Flucht der polnischen Regierung in Richtung Rumänien. Nach Tagen der Ungewissheit ist ihnen inzwischen klar, dass nicht die Wehrmacht, sondern die Rote Armee Kolomyja besetzen wird. »Vati, was werden diese Kommunisten machen, wenn sie zu uns kommen?«, fragt Ruth. Die Antwort, so erinnert sie sich heute, sei in ihrer Art ebenso einfach wie typisch jüdisch gewesen. »Kind, jetzt haben wir den Kapitalismus. Das heißt, es gibt Arme und es gibt Reiche, es herrscht Vielfalt. Wenn die Russen, die Kommunisten, kommen, werden sie den Reichen alles wegnehmen, es den Armen aber nicht geben. Und so werden alle arm sein.«

Als die Sowjets einmarschieren, halten diese auch die Familie Wermuth für reich. Sie werden aus ihrer Wohnung geworfen, das Geschäft und damit ihre einzige Erwerbsquelle wird ihnen weggenommen. Der fünfköpfigen Familie bleibt nur ein kleines Zimmer und die Küche.

Am 6. Oktober kapitulieren die letzten polnischen Truppen. Die Nachricht von dem unerwartet schnellen Sieg der Wehrmacht verbreitet sich auch im thüringischen Dörfchen Großensee unweit der Wartburg. Der neunjährige Artur Führer nimmt erfreut zur Kenntnis, dass Polen »niedergerungen« sei. »Krieg«, so erinnert er sich, »war eine Veränderung zunächst einmal zum Guten. Denn wir hatten ja die Bösen besiegt, die waren jetzt weg. Es war wie in einem Spiel.«

FEINDBILDER

— Wie sieht ein Jude aus? Im Jungvolk wurde uns das so erklärt: Er hat eine Hakennase, riecht nach Knoblauch, hat Handschweiß und einen Watschelgang, wobei die Füße nach links und rechts weit ausgestellt sind.

Gerhard Krone, Jahrgang 1934

— Uns wurde immer gesagt, wir kämpfen gegen die Russen, denn wenn die Russen Deutschland überfallen, schneiden sie den Kindern die Zunge raus.

Renate Doufexis, geb. Lang, Jahrgang 1930

— Wir waren bei der 8,8-Flak. Und russische Kriegsgefangene waren die Ladekanoniere. Das waren keine »Untermenschen«, sondern ganz liebe Kerle. Das hätte auch mein Vetter oder Onkel sein können. Da wurde das etwas zurechtgerückt.

Peter Hartmann, Jahrgang 1928

— Ein französischer Kriegsgefangener war bei unserem Nachbarn. Das war ein Lehrer, der sehr gut Deutsch sprach. Der hat mir von seiner Heimat erzählt. Es war sehr nett. Aber wenn ich als Hitlerjunge meine Pimpfuniform anhatte, hat er mich ignoriert. Ich konnte ihn ansprechen oder machen, was ich wollte, er hat weggeguckt. Da habe ich mir ausgemalt: Er ist zwar ein guter Mensch, ein intelligenter Mensch, aber er ist unser Feind.

Ernst Woll, Jahrgang 1931

— Ich hatte Bilder gesehen von dem Massaker an Volksdeutschen in Bromberg und dachte: Die Polen, das müssen ja alles furchtbare Menschen sein. Verbrecher. Und eines Tags kam ich nach Hause, da stand bei uns ein polnischer Kriegsgefangener und hat Holz gehackt. Ich hatte Angst. Und eine Axt in der Hand hatte der auch noch. Dann blickte er auf und lachte mich an. Und dann ging ich näher hin. Und dann stellten wir uns vor. Da war klar: Das ist ja ein Mensch wie jeder andere auch.

Maria Pohlmann, Jahrgang 1927

— Einmal sind russische Kriegsgefangene durch Neckarau marschiert, und die waren alle kahl geschoren. Jeder hatte eine Glatze. Da haben wir unter uns Jungvolkleuten gesagt: »Die sehen ja aus wie Verbrecher.« Wie ich dann später selbst in Gefangenschaft war und meine Glatze hatte, habe ich gedacht, jetzt glauben die anderen, du bist ein Verbrecher.

Karl Heinz Mehler, Jahrgang 1929

— Die Deutschen, das waren Feinde, das waren Mörder. Ich war gierig nach Blut und Gerechtigkeit. Der Hass hat in einem bestimmten Moment eine solche Größe erreicht, dass er mich überragte. Bis heute kann ich mir nicht verzeihen, dass ich mich von zwei deutschen Soldaten erweichen ließ, dass ich sie nicht einfach abgeknallt, sondern nur gefangen genommen habe … dass ich weich geworden bin, dass ich meiner Aufgabe als Mann nicht gewachsen war.

Zenon Malec, Jahrgang 1928

Krieg ist nur ein Spiel

Der 1935 in Dessau geborene spätere Kabarettist Dieter Hallervorden stellt als Kind eine ganze Kompanie von Wehrmachtssoldaten zu Pferde und in Panzern in seiner Spielecke auf. Dort kämpfen sie gegen eine gleiche Anzahl britischer Soldaten, »Tommys«. Es wird auch mit Kugeln geschossen, und natürlich gewinnen immer die deutschen Soldaten. Angst, dass aus dem Spiel Ernst werden könnte, muss der Junge nicht haben. Der Vater ist Flugzeugkonstrukteur bei den Dessauer Junkers-Werken. Hier werden die legendäre alte Tante Ju und der berühmteste Sturzkampfflieger des Zweiten Weltkriegs, die Ju-87, hergestellt. Keine Frage, Vater Hallervorden ist »UK-gestellt«. Das steht für »unabkömmlich«. Zudem muss er wegen einer schweren Gehbehinderung ohnehin nicht mit einer Einberufung rechnen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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