Ohne Eile setzte der Killer sein Präzisionsgewehr zusammen.
Jeder Handgriff saß, war oft geübt. Der Mann befand sich in einem
kleinen, schmalen Raum. Es roch nach Reinigungsmitteln. Über der
Tür befand sich ein rechteckiges Fenster, durch das ein wenig Licht
sickerte.
Der Mörder hätte kein Licht gebraucht. Er hätte die Waffe auch
mit verbundenen Augen zusammenbauen können. Darauf war er mal
gedrillt worden, und er hatte nichts von dem, was man ihm damals
beigebracht hatte, vergessen. Nachdem Schalldämpfer und
Zielfernrohr montiert waren, verließ der Killer den Raum, und von
diesem Moment an hatte sein Opfer nur noch kurze Zeit zu
leben…
June Archibald, Annie Lamontino, Milo Tucker und ich hatten an
diesem Abend keinen Dienst. Wir freuten uns auf die Premiere des
Sensations-Musicals »Lavinia«. Die Musik hatte Jack F. Hammersteen,
ein ganz Großer in der Branche, komponiert, und der Text stammte
von Sal Martino, dem derzeit erfolgreichsten Drehbuchautor
Hollywoods.
Filme wie »Bloody Law«, »Kill Baby Kill«, »Murder Town« und
»Double Spy« waren nach seinen Scripts gedreht worden und hatten
sensationelle Einspielergebnisse erzielt.
Mit »Lavinia« hatte er Neuland betreten, doch wenn man den
Zeitungsberichten Glauben schenken durfte, war ihm damit erneut ein
ganz großer Wurf gelungen.
Die Produzenten Joe Jordan und Wayne Randle hatten weder
Kosten noch Mühen gescheut, um dem Musical zu einem fulminanten
Start zu verhelfen.
Vor einem Monat hatte es zwischen den beiden einen
mordsmäßigen Krach gegeben, Jordan war erbost ausgestiegen, hatte
rücksichtslos sein Geld aus der aufwendigen Produktion gezogen, und
Randle war gezwungen gewesen, auf die Schnelle einen neuen
finanzstarken Partner aufzutreiben.
Er hatte ihn in Marty Connick, einem üblen Gangsterboss,
gefunden, und Connicks einzige Bedingung war gewesen, dass
Hammersteen und Martino für Forest Gordon, seinen Schützling, der
für die männliche Hauptrolle vorgesehen war, einen weiteren
zugkräftigen Song schreiben sollten.
Komponist und Texter hatten das getan, und die neue Nummer
befand sich in den amerikanischen Charts bereits auf Platz 15 -
Tendenz steigend.
»Honey I Miss You« - so der Titel des Songs, der auf dem
besten Weg war, zum Mega-Seller zu werden - wurde täglich von allen
Sendern des Landes gespielt.
Man munkelte zwar, dass Marty Connick das Produkt mit
unlauteren Mitteln pushte - was ihm durchaus zuzutrauen war aber
»Honey I Miss You« hätte auch ohne ihn seinen Weg gemacht, weil
sich Qualität einfach immer und überall durchsetzt.
»Lavinia« konnte mit einer repräsentablen Star-Besetzung
aufwarten. Neben Forest Gordon, der bei der letzten
Oscar-Verleihung als bester Nebendarsteller in einem
Rauschgiftdrama namens »Deadly Snow« ausgezeichnet worden war,
würde keine Geringere als Theresa Demme, die derzeit beliebteste
und begehrteste Power-Frau Hollywoods, auf der Bühne stehen.
Filmfirmen und Star-Regisseure hofierten sie und versuchten
sie zu Super-Gagen für geplante Projekte zu gewinnen. Sie konnte
sich aus einem Berg von hochkarätigen Drehbüchern aussuchen, was
sie spielen wollte.
Ihre beiden letzten Streifen »Nervous Breakdown«, eine
Screwball-Komödie, und »Pick Up«, ein Kriegsdrama, lagen auf der
ganzen Welt hervorragend im Rennen.
Und nun würde sie als »Lavinia« auf dem Broadway - wo schon
1935 George Gershwin mit »Porgy and Bess« Triumphe gefeiert hatte -
wie eine Bombe Anschlägen.
Seit der Vor-Premiere überschlugen sich die Medien vor
Begeisterung und heizten das Interesse an »Lavinia« ungemein an.
Deshalb war die Vorstellung auch restlos ausverkauft, und wenn June
Archibald nicht ihre guten Beziehungen zum Direktor dieses Theaters
hätte spielen lassen, hätten wir keine vier Logenplätze
bekommen.
Unsere sexy Kolleginnen hatten sich hübsch herausgeputzt. June
hatte ihr blondes Haar hochgesteckt, und ihren schlanken Hals
zierte ein goldenes Collier. Annie wirkte trotz des wilden Feuers
in ihren dunklen Augen höchst damenhaft.
Niemand wäre wohl auf die Idee gekommen, diese beiden
zauberhaften Geschöpfe für zähe, durchtrainierte, kampferfahrene
und in allen Bereichen der Verbrechensbekämpfung bestens
ausgebildete FBI-Agentinnen zu halten.
Es sollte ein schöner Abend werden. Wir vier hatten auch etwas
zu feiern, nämlich Annies Rückkehr nach New York. Wegen eines
Dramas, das sich während ihres letzten Falles hier in der
Weltmetropole am Hudson River zugetragen hatte, hatte sie
kurzzeitig New York City verlassen und sich nach Thailand in ein
buddhistisches Kloster zurückgezogen, wo die Kung-Fu-Fighterin und
FBI-Agentin zu sich selbst hatte finden wollen.
Sie hatte noch mehr gefunden - nämlich eiskalte Verbrecher,
die in der Nähe des Klosters ihr Drogen-Hauptquartier aufgeschlagen
hatten. Annie hatte uns daraufhin unverzüglich verständigt, und
Milo und ich waren nach Thailand gereist, um sie im Kampf gegen den
Drogen-General Loi und dessen Armee skrupelloser Verbrecher zu
unterstützen.[1]
General Loi war tot - er hatte sich selbst das Leben
genommen,als Milo und ich sein Hauptquartier stürmten. Sein
US-amerikanischer Komplize Jeremy Holden allerdings war uns
entkommen, doch ich war mir sicher, dass wir irgendwann wieder von
ihm hören würden.
Ja, und jetzt waren wir alle wieder hier in New York und
wollten den Abend irgendwie feierlich begehen, denn Annie, unsere
junge Latina-Kollegin, hatte erneut zurück in unsere Reihen
gefunden…
Milo blätterte im Programmheft und blieb an Forest Gordons
Foto hängen. »Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, denke ich automatisch
an den jungen Frank Sinatra«, sagte er.
»Es gibt ja auch eine Menge Parallelen zwischen den beiden«,
bemerkte Annie. »Sinatra war sowohl als Sänger als auch als
Filmschauspieler erfolgreich. Gordon ist es ebenfalls. Sinatra
wurden Beziehungen zur Mafia nachgesagt. Über Gordon hält Marty
Connick schützend seine Hand.-Das ist ein offenes Geheimnis.«
Es begann künstlich zu dämmern.
»Es geht los«, sagte June Archibald und machte es sich in
ihrem Sessel bequem.
Es wurde dunkel. Stille. Erwartungsvolle Spannung. Im
Orchestergraben ertönte eine kleine Glocke. Geigen spielten zum
ersten Mal das harmonische Hauptthema an, das sich durch das ganze
Stück ziehen würde.
Klavier und Bläser stimmten nacheinander ein, und ein harter
Rhythmus trieb die Ouvertüre, sich kontinuierlich steigernd, auf
den ersten Höhepunkt des großen Abends zu.
Mit einem Paukenschlag hob sich der Vorhang, und fast das
ganze Ensemble sang die erste mitreißende und ins Ohr gehende
Nummer. Ein Kunstgenuss vom Feinsten.
Man merkte sofort, dass Komponist, Textautor, Musiker und
Interpreten wahre Meister ihres Fachs waren.
Niemand ahnte, dass sich irgendwo in diesem Theater ein
skrupelloser Killer auf einen eiskalten Mord vorbereitete…
***
Er pirschte sich an einen grauhaarigen Mann auf der
Beleuchterbrücke heran.
Fürs Erste war hier oben nicht viel zu tun. Erst im zweiten
Akt fiel diesen Scheinwerfern eine größere dramaturgische Bedeutung
zu, dann sollten sie nämlich punktgenau in das Geschehen mit
einbezogen werden. Vorläufig aber hatten sie lediglich dazu
beizutragen, dass die Bühne in ihrer Gesamtheit voll ausgeleuchtet
wurde, und der Beleuchter hatte dadurch Zeit, die-Darbietung
entspannt zu genießen.
Als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahmahm, ruckte sein
grauer Kopf herum. Es war ziemlich dunkel hinter den heißen
Scheinwerfern, deshalb konnte der Beleuchter das Gesicht des
Killers kaum sehen. Glück für ihn, weil er sonst hätte sterben
müssen.
»Sir«, sagte er höflich, aber bestimmt. »Hier darf sich kein
Unbefugter aufhalten.«
Der Killer näherte sich ihm.
»Sir, ich muss Sie bitten, die Beleuchterbrücke augenblicklich
zu verlassen.«
Der Killer holte eine kleine Spraydose aus der Tasche seines
langen schwarzen Ledermantels.
»Hören Sie nicht, was ich sage, Sir? Unbefugte haben hier
keinen Zutritt! Was wollen Sie hier oben?«
Der Killer antwortete nicht. Er hob die Hand. Ein leises
Zischen war zu hören.
Der Beleuchter griff sich erschrocken an die Kehle, riss die
Augen auf, japste verzweifelt nach Luft und sackte bewusstlos
zusammen.
Achtlos schob der Mörder den Mann zur Seite, holte sein Gewehr
unter dem Mantel hervor und suchte sich die beste Position für den
tödlichen Schuss…
***
Lavinias Auftrittslied wurde von Theresa Demme gefühlvoll und
professionell nuanciert vorgetragen. Sie war als Schauspielerin
ebenso begnadet wie als Sängerin, deshalb war sie für Wayne Randle
auch von Anfang an und ohne Diskussion die erste Wahl gewesen,
während Joe Jordan lieber seiner Lebensgefährtin Sandra Heald den
Vorzug gegeben hätte.
Als Randle seinen Willen durchgesetzt und Sandra Heald zur
zweiten Besetzung degradiert hatte, war es zwischen den Produzenten
zur ersten leidenschaftlichen Auseinandersetzung gekommen, der
etliche weitere in immer kürzeren Abständen gefolgt waren - bis sie
nicht mehr miteinander konnten und Jordan daraus die bekannten
Konsequenzen gezogen hatte.
Nach dem Auftrittslied der Lavinia gab es einen so lange
anhaltenden frenetischen Applaus für Theresa Demme, dass sie den
Song wiederholen musste.
Erst danach konnte das Stück weitergehen.
Auch Forest Gordon wurde vom Publikum begeistert begrüßt.
Zwischen ihm und Theresa Demme flogen die Pointen wie
Pingpong-Bälle hin und her. Es war ein Vergnügen, den beiden
zuzusehen und zuzuhören. Sie waren exzellente Vollblutkomödianten,
und ich konnte nicht verstehen, warum Gordon seine Seele dem Teufel
verkauft hatte. Er wäre mit Sicherheit auch ohne Marty Connicks
Hilfe groß geworden.
Vielleicht hätte er den einen oder anderen Rückschlag
einstecken müssen, aber geschafft hätte er den Aufstieg auf jeden
Fall.
Während Gordon von Liebe und Leidenschaft sang, schaute er
nicht seine Partnerin an, sondern Annie Lamontino. Außer uns fiel
das niemandem auf.
Die Latina fühlte sich natürlich geschmeichelt. Gleichzeitig
war es ihr aber auch unangenehm. Mir fiel auf, dass sie nicht mehr
ruhig sitzen konnte.
Dieser Forest Gordon war ein Halunke. Der wusste, wie man bei
einer schönen Frau punktete. Es kam nicht oft vor, dass ein Mann
unsere wilde Kollegin in Verlegenheit bringen konnte, aber Gordon
schaffte es.
June beugte sich zu Annie hinüber und flüsterte: »Der Kerl
macht dich an.«
Ich hörte es, weil ich direkt hinter Annie saß.
»Lass dich von dem bloß nicht einwickeln«, warnte June ihre
Partnerin. »Der sammelt schöne Frauen wie andere Münzen, Bierdeckel
oder Briefmarken.«
»Keine Sorge«, flüsterte Annie. »Für die nächsten hundert
Jahre lasse ich die Finger von Männern.«
Ich hörte es und wusste, was sie meinte. Der tragische Tod von
Curtis Bennett war der Grund für sie gewesen, New York für einige
Zeit zu verlassen. Curtis Bennett, in den sie sich verliebt hatte,
ohne zu wissen, dass er ein berufsmäßiger Killer gewesen war. Doch
auch er hatte sich in Annie verliebt, hatte aussteigen und sich uns
stellen wollten -und war dann an Gangsterkugeln gestorben.[2]
Annie hatte sich deswegen schreckliche Vorwürfe gemacht…
Theresa Demme und Forest Gordon klinkten sich nun in eine
Tanzszene ein und boten auch dabei eine großartige Leistung. Sie
mussten lange trainiert haben, um diese Perfektion zu
erlangen.
Es war harte Knochenarbeit, was sie boten.
Alles sah spielerisch leicht aus, aber da wir so nahe an der
Bühne saßen, konnten wir genau sehen, wie sehr die Künstler sich
anstrengten…
***
Der Killer schob sein Gewehr zwischen den klobigen
Scheinwerfern durch, justierte das Zielfernrohr mit großer
Gelassenheit und ließ das Fadenkreuz sodann von einem Akteur zum
anderen wandern. Haarscharf waren sie alle zu sehen.
Die tanzenden Girls in ihren aufreizend spärlichen Kostümen
gefielen ihm besonders gut. Da war eine heiße Rothaarige mit
üppigen Brüsten - was für eine durchtrainierte Tänzerin höchst
ungewöhnlich ist.
An ihr konnte sich der Killer kaum satt sehen. Ihretwegen
hätte er beinahe vergessen, weshalb er hier war. Er musste sich von
ihrem umwerfenden Anblick regelrecht losreißen.
Verdammt, die Kleine wäre eine Sünde wert, ging es ihm durch
den Sinn, während er sich die Lippen leckte. Doch er nahm sich
zusammen und konzentrierte sich wieder auf seinen Job.
Das Fadenkreuz kroch über die Bühne und an Forest Gordon hoch.
Langsam wanderte es über dessen Beine, erreichte den Leib, glitt
höher… Brust. Hals. Mund. Nase. Linkes Auge. Nasenwurzel. Rechtes
Auge. Stirn.
Der Killer sah das sensible hautfarbene Mikrofon, das man dem
Star an die Stirn geklebt hatte. Carusos Zeiten gehören der
Vergangenheit an.' Heute lassen sich die Künstler von der Technik
helfen. Eine ausgeklügelte Elektronik unterstützt sie beim Sprechen
und Singen.
Gordon ging aufrecht und elastisch von der linken Bühnenseite
zur rechten. Der Killer folgte ihm mit dem Gewehrlauf. Er behielt
ihn ständig im Visier.
Theresa Demme begann zu singen. Leise stimmte sie ein
trauriges Lied an, wobei sie mit langsamen Schritten der
Bühnenmitte zustrebte.
Forest Gordon drehte sich zu ihr, stimmte behutsam ein,
ordnete sich gekonnt unter und ließ sie weiterhin das Lied tragen.
Jetzt ging er auf sie zu.
Sie trafen sich in der Bühnenmitte und umarmten sich. Ihre
Stimmen schwollen an. Wange an Wange sangen sie dieses gefühlvolle
Liebeslied.
Der Killer sah durch das Zielfernrohr beide Gesichter. Das
Fadenkreuz pendelte leicht hin und her, als könne es sich für kein
Ziel entscheiden.
Aber dann… Dann hatte es sich entschieden. Der Killer wartete
geduldig, bis die Künstler das Lied fertig gesungen hatten…
Dann drückte er ab!
***
Das stimmungsvolle Lied war ein wahrer Ohrenschmaus. Ich
genoss ihn mit halb geschlossenen Augen, ließ die wohlüberlegte
Melodie und die hervorragend aufeinander eingestellten Stimmen auf
mich einwirken, in mich eindringen und hatte dabei eine
Gänsehaut.
Als der letzte Ton verhallt war, als wir alle noch einen
Sekundenbruchteil lang den Applaus hinauszögerten, um dem klangvoll
Schönen Gelegenheit zu geben, in uns restlos auszuklingen, ging
urplötzlich ein heftiger Ruck durch Theresa Demmes schlanken
Körper, und im selben Moment hatte sie ein Loch in der Stirn!
Jemand hatte auf sie geschossen!
Jemand hatte den Hollywood-Star erschossen!
Forest Gordon hielt eine Tote im Arm!
Die meisten Zuschauer realisierten das nicht. Sie
applaudierten stürmisch und ließen sich zu begeisterten Bravo-Rufen
hinreißen.
Makaber. Bravo-Rufe zu einem Mord!
So sah es aus. Erst als Forest Gordon seine tote Partnerin
entsetzt losließ, als Theresa Demme, die beliebte und gefeierte
Hollywood-Größe, blutüberströmt auf die Bühnenbretter fiel,
begriffen alle, welch grauenvolles, heimtückisches und
verabscheuungswürdiges Verbrechen in ihrer Gegenwart, vor ihren
Augen verübt worden war.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir unsere Loge bereits verlassen.
June Archibald und Annie Lamontino waren über die Brüstung
geklettert und auf die Bühne gesprungen, während Milo und ich uns
kurz orientiert hatten, zu der Überzeugung gekommen waren, dass der
Todesschuss von einer Beleuchterbrücke abgefeuert worden sein
musste, und zu dieser im Laufschritt unterwegs waren.
Hinter uns aufgeregte Stimmen: »Was ist passiert?« - »Die
Demme wurde ermordet !« - »Das gibt’s doch nicht! Von wem?«
- »Keine Ahnung.« - »Wie hat man sie…?«
- »Sie wurde erschossen.« - »Auf offener Bühne? Das - das ist
ja unfassbar.«
Wir stürmten eine Treppe hoch. Im Theatersaal spielten sich
tumultartige Szenen ab. Panik brach im Zuschauerraum aus. Die
Menschen befürchteten, zum Ziel eines geistesgestörten Killers zu
werden, der wahllos auf Leute schoss. Angstvoll rannten sie zu den
Ausgängen. Jeder, der nicht schnell genug war, wurde
niedergetrampelt.
Vernunft und rationales Denken hatten in dieser Situation
keine Chance mehr. Jeder war sich nur noch selbst der Nächste. Der
Mensch wurde zum egoistischen Tier, das auf niemanden mehr
Rücksicht nahm.
Treppen. Gänge. Wir wussten nicht mehr genau, wo wir waren.
Ein Platzanweiser kam uns entgegen. Ich zeigte ihm meinen
Dienstausweis. »FBI!«, keuchte ich. »Wo geht es hier zur
Beleuchterbrücke?«
»Die letzte Tür dort«, antwortete der Mann.
»Danke.«
Wir hasteten weiter. Ich erreichte die Tür, auf die der
Platzanweiser gezeigt hätte, riss sie auf, streckte den Kopf kurz
vor, zog ihn aber gleich wieder zurück.
Nichts passierte.
Niemand schoss auf uns.
Ich sprang vorwärts und entdeckte einen grauhaarigen Mann, der
reglos hinter den Scheinwerfern lag. Noch eine Leiche?
Ich beugte mich über ihn, legte meine Finger auf seine
Halsschlagader. Sie zuckte. Ich atmete erleichtert auf. Der Mann
war nicht tot, nur bewusstlos.
Vom Killer fehlte jede Spur. Er hatte reichlich Zeit gehabt,
unbemerkt zu verschwinden.
Ich packte den Beleuchter an den Schultern und schüttelte ihn
heftig.
Allmählich kam wieder Leben in ihn. Er öffnete die Augen und
schaute mich verwirrt an.
»Ich bin FBI-Agent«, sagte ich eindringlich. »Was ist hier
passiert?«
»Da war ein Mann…«, kam es schleppend über die Lippen des
Grauhaarigen. »Ich sagte ihm, hier hätten Unbefugte keinen Zutritt.
Er sprühte mir irgendetwas ins Gesicht, und ich wurde
ohnmächtig…«
»Wie sah der Mann aus?«
»Es war zu dunkel, Sir…«
»War er groß oder klein?«, bohrte ich.
»Mittelgroß…«
»Dick oder dünn?«
»Das kann ich nicht sagen, Sir…«
, »Wie war er gekleidet?«, wollte ich wissen.
»Das weiß ich nicht, Sir…«
»Er hat von hier oben Theresa Demme erschossen!«
»O mein Gott…«
»Sie haben nichts davon mitbekommen?«, fragte ich.
Ȇberhaupt nichts, Sir. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht
helfen kann, Sir. Theresa Demme ist tot? Das ist ja nicht zu
fassen, Sir…«
***
Helen, die junge, ungemein attraktive Sekretärin unseres
Vorgesetzten, servierte mir den besten Kaffee zwischen der Ost- und
der Westküste der Vereinigten Staaten.
June Archibald, Annie Lamontino und Milo Tucker redeten mit
sämtlichen Angestellten des Broadway-Theaters, in der Hoffnung,'
dass irgendjemand den Killer gesehen hatte und beschreiben konnte.
Theresa Demme war seit vierzehn Stunden tot. Niemand konnte es
verstehen.
Keiner hatte eine Erklärung dafür. Die Film- und Fernsehwelt
war schwer geschockt. Sämtliche Medien verlangten den Kopf des
Täters, und unsere Ermittlungen liefen auf Hochtouren.
Mr. McKee saß hinter seinem Schreibtisch und sah mich mit
sorgenumwölkter Stirn an.
»Was glauben Sie, Jesse?«, fragte der Special Agent in Charge.
»Haben Sie irgendeine Vermutung, wer es getan haben könnte?«
»Im Moment nicht, Sir«, gab ich bedauernd zurück.
»Sieht nach der Tat eines Wahnsinnigen aus.«
Ich trank einen Schluck Kaffee. »Wir tappen noch im
Dunkeln.«
»Ich hoffe, das ändert sich bald.«
Ich nickte. »Wir ziehen alle Register, Sir.«
»Ich habe die Demme sehr gemocht«, gestand mir der SAC.
Der asketische Leiter des FBI District New York ein Fan von
Theresa Demme! Das hatte ich nicht gewusst.
»Sie war eine großartige Künstlerin«, erwiderte ich, »ein
Multitalent.«
»Die ganze Welt hat sie geliebt«, sagte John D. McKee mit
finsterer Miene. »Wer bringt so jemanden um?«
Ich hob die Schultern. »John Lennon. Monika Seles… Prominente
leben gefährlich. Es gibt immer wieder Psychopathen, die ihnen aus
den abstrusesten Gründen nach dem Leben trachten. Viele von ihnen
wagen sich ohne Bodyguards nicht mehr auf die Straße.«
»Es muss nicht unbedingt ein durchgedrehter Fan gewesen sein«,
meinte Mr. McKee. »Vielleicht steckt auch ein Racheakt dahinter.
Vielleicht sogar noch viel, viel mehr. Erinnern Sie sich noch ah
den Fall des ›Erlösers‹?«
O ja, das tat ich. Damals hatten wir es mit einem
brandgefährlichen Killer zu tun gehabt, der es ebenfalls auf eine
berühmte Hollywood-Schauspielerin abgesehen hatte. Sicherlich war
der Kerl, der sich selbst der »Erlöser« genannt hatte, geistig
krank gewesen, doch er hatte auch sehr persönliche Gründe für sein
Handeln gehabt - eiskalte Rache und unbändiger Hass.[3]
Ich sah Mr. McKee an, musterte ihn und konnte am Blick seiner
Augen erkennen, was er dachte. Er hielt es für möglich, dass auch
diesmal mehr dahintersteckte, ähnlich wie beim Fall des »Erlösers«.
Das tödliche Attentat auf die Schauspielerin war professionell
durchgezogen worden, der Mörder hatte sie mitten in die Stirn
getroffen.
Mr. McKees unausgesprochener Verdacht, den ich jedoch in
seinem Gesicht regelrecht »lesen« konnte, war nicht von der Hand zu
weisen, und da gleich vier FBI-Agenten bei dem Attentat zugegen
gewesen waren und durch Forest Gordon beziehungsweise Marty Connick
irgendwie auch das organisierte Verbrechen mit im Spiel war, konnte
man die Angelegenheit durchaus als FBI-Fall ansehen…
»Finden Sie Theresa Demmes Mörder, Jesse«, sagte Mr. McKee
hart. »Finden Sie ihn schnell. Das sind wir dieser großen
Schauspielerin, die den Menschen mit ihrer Kunst so viel Freude
gemacht hat, schuldig.«
»Sie können sich darauf verlassen, dass wir alle unser Bestes
geben, Sir«, versicherte ich, leerte meine Tasse und kehrte in mein
Büro zurück…
***
Kaum saß ich an meinem Schreibtisch, klopfte es.
»Come in!«, rief ich in Richtung Tür.
Blackfeather, unser indianischer Kollege, trat ein. »Hallo,
Jesse.« Er trug einen Maßanzug aus grauer Seide. Sehr elegant. Sehr
teuer.
Es war ein Tick von ihm, sich gut zu kleiden. Eine Menge von
dem, was er verdiente, ging dafür drauf. Aber jedem Tierchen sein
Pläsierchen.
»Was gibt’s, Blacky?«, fragte ich.
»Da ist jemand, der dich sprechen möchte.« Der Indianer nickte
nach draußen, und im nächsten Moment trat ein Mann ein schmales
Gesicht, Dreitagebart, rotblondes Haar.
Er streckte mir die Hand entgegen. »Mr. Trevellian. Mein Name
ist Norman Snake. Ich bin Reporter, schreibe für den Culture
Chronicle. Hätten Sie ein paar Minuten für mich Zeit?«
Ich deutete auf den Besucherstuhl und forderte den
Journalisten auf, sich zu setzen. Blackfeather zog sich zurück. Ich
musterte mein Gegenüber. »Was kann ich für Sie tun, Mr.
Snake?«
»Ich bin wegen des Mordes an Theresa Demme hier.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Ein großer Verlust.«
»Sie sagen es.«
»Man kann ohne zu übertreiben sagen, die Welt ist erschüttert.
Auch mich hat diese Wahnsinnstat tief ins Mark getroffen. Haben Sie
schon irgendeinen Verdacht?«
»Die Ermittlungen laufen.«
»Womit kann ich unsere Leser trösten, Sir?«, erkundigte sich
Norman Snake.
»Dass dieser hinterhältige Mord nicht ungesühnt bleiben wird«,
gab ich überzeugt zur Antwort.
»Verfolgen Sie eine konkrete Spur?«
»Wir verfolgen viele Spuren.«
Ein kurzes Lächeln umzuckte Snakes Mund. »Ich kenne solche
Formulierungen. Ich weiß, was sie bedeuten.«
»Tatsächlich? Was denn?«
»Dass Sie - mit Verlaub gesagt - im Moment noch völlig
ahnungslos sind. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Mr.
Trevellian. Ich will Sie weder kritisieren, noch möchte ichlhnen
sagen, wie Sie Ihren Job tun sollen, aber wenn ich an Ihrer Stelle
wäre, würde ich mich mal mit Joe Jordan unterhalten. Mit Jordan,
dem Produzenten.«
»Ich weiß, wer Jordan ist, Mr. Snake.«
»Er und Wayne Randle haben sich getrennt.«
Ich nickte. »Auch das ist mir bekannt.«
»Nun steckt Marty Connicks Geld in der Produktion.«
Ich nickte wieder, sagte nichts.
»Kennen Sie den Grund, weshalb Rändle und Jordan sich getrennt
haben, Mr. Trevellian? Genau genommen gibt es mehrere. Aber es gibt
auch einen Hauptgrund.«
»Jordan wollte Sandra Heald, seine Lebensgefährtin, als
Lavinia auf der Bühne sehen.«
»Aber Rändle hat Theresa Demme den Vorzug gegeben«, sagte der
Reporter des Culture Chronicle. »Und die Heald war bloß zweite
Besetzung, wäre nur dann zum Einsatz gekommen, wenn die Demme krank
geworden oder indisponiert gewesen wäre. Nach dem Mord an Theresa
Demme sieht die Sache nun völlig anders aus. Jetzt darf, kann und
muss Sandra Heald die Lavinia spielen. The show must go on. Die
Produktion hat ein Vermögen verschlungen. Das Musical muss
weitergespielt werden, damit das Geld, das dafür ausgegeben wurde,
wieder hereinkommt. Nach Theresa Demme ist ohne Zweifel Sandra
Heald die Idealbesetzung für die Titelrolle.«
»Sie meinen, Joe Jordan könnte den Mord in Auftrag gegeben
haben, um seine Lebensgefährtin zur Nummer eins zu machen?«, fragte
ich.
Norman Snake hob die Schultern. »Wäre das nicht denkbar?
Manchmal wird hinter den Kulissen mit verdammt harten Bandagen
gekämpft. Dazu fallen mir auf Anhieb zwei konkrete Fälle ein: In
San Francisco brechen bezahlte Schläger der Hauptdarstellerin einer
großen Theaterproduktion das Nasenbein, damit die zweite Besetzung
zum Zug kommt. Oder denken Sie an das Eis-›Biest‹ Tonya Harding und
an die von ihr initiierte und von ihrem Leibwächter ausgeführte
Eisenstangen-Attacke an ihrer Konkurrentin Nancy Kerrigan im
Vorfeld von Olympia 94 in Lillehammer.«
»Kennen Sie Joe Jordan?«, fragte ich.
Der Journalist schüttelte den Kopf. »Nicht persönlich.«
»Aber Sie würden ihm Zutrauen, einen Killer zu engagieren,
um…?«
Norman Snake hob sofort abwehrend beide Hände. »Das habe ich
nicht gesagt, Mr. Trevellian. Ich habe Ihnen lediglich empfohlen,
sich mal mit Joe Jordan zu unterhalten.«
»Weil Sie es für möglich halten, dass er mit dem Mord zu tun
hat.«
»Es hegt mir fern, diesen mächtigen Produzenten in irgendeiner
Form einer kriminellen Handlung zu bezichtigen«, erklärte der
Reporter des Culture Chronicle vorsichtig. »Mr. Jordan ist ein
reicher Mann. Er könnte mich verklagen, könnte seinen Anwälten
auftragen, mich gnadenlos fertig zu machen, mich wie eine Kakerlake
im Staub der Gosse zu zertreten.«
»Und deshalb halten Sie lieber den Mund, was?«
Er grinste schmal. »Ich mache mir bloß meine Gedanken. Dagegen
kann niemand etwas haben.«
»Hat auch keiner. Teilen Sie Ihre Gedanken mit mir. Hier kann
uns kein Dritter zuhören.«
Er kratzte seinen Dreitagebart. »Wenn ich mich frage, wer am
meisten von dem Mord profitiert, fällt mir als erstes Joel Jordan
ein - beziehungsweise seine Lebensgefährtin Sandra Heald.«
»Das war’s, was Sie mir sagen wollten?«
»So ist es, G-man.« Er rieb seine Handflächen an den
Oberschenkeln warm und erhob sich. »War mir eine Freude, Sie kennen
zu lernen, und ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern, Mr.
Trevellian. Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich einen
Teil unseres Gesprächs in meinen Artikel einfließen lasse.«
»Solange Sie mich richtig zitieren, geht das in Ordnung«, gab
ich zurück, schüttelte ihm die Hand, und er ging.
***
June Archibald saß dem kleinen, unscheinbaren Theaterdirektor
gegenüber, den sie sei t Jahren kannte und der ihr die vier
Logenplätze für die Premiere verschafft hatte.
»Es ist eine ganz schlimme Tragödie«, wehklagte Eric Knight.
»Mord auf offener Bühne.« Er raufte sich die Haare. »So etwas hat
es in diesem traditionsreichen Haus noch nie gegeben. Vor fünf
Jahren hatten wir mal einen Bombenalarm, der sich hinterher als
dummer Streich von Jugendlichen herausstell -te. Aber ansonsten
ging es hier immer friedlich zu.« Er seufzte schwer. »Und plötzlich
diese unbegreifliche Bluttat vor Tausenden von Augen«, sagte er
erschüttert.
»Hatte Theresa Demme Feinde?«, fragte die blonde
FBI-Agentin.
Knight schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.« Er
öffnete eine Zigarrenschachtel. »Sie war beliebt, war ein
gefeierter Star, wurde angehimmelt und vergöttert.« Er nahm eine
Zigarre heraus. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte er.
Die schöne Agentin lächelte. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie
es nicht tun würden, Eric.«
»Okay. Kein Problem.« Knight steckte die Zigarre in die
Schachtel zurück.
»Bekam Theresa Demme viel Fanpost?«, erkundigte sich June
Archibald.
Der Theaterdirektor nickte. »Waschkörbeweise.«
»Hat sie alle Briefe beantwortet?«
Eric Knight nickte abermals. »Alle. Selbst die Dümmsten und
Verrücktesten.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Da war einer, den
hielt sie für schizophren und paranoid, aber sie ließ dennoch
keinen seiner Briefe unbeantwortet. Er bezeichnete sich als ihren
allergrößten Fan. Niemand könne sie mehr verehren als er. Er
behauptete, er wäre von Gott auserkoren, sie bis in alle Ewigkeit
zu lieben.«
»Haben Sie mal einen Brief von ihm gelesen?«
»Nicht nur einen, Theresa ließ mich einige seiner Briefe
lesen. Es haperte mit der Rechtschreibung. Die Sätze waren
verdreht. Die Euphorie des Super-Fans schlug immer neue
Kapriolen.«
»Wie ist sein Name?«, fragte June Archibald gespannt.
Eric Knight runzelte nachdenklich die Stirn. »Tim… Tim… Tim
Davidson.«
»Wissen Sie zufällig seine Adresse?«, wollte die Agentin
hoffend wissen.
Der Theaterdirektor zuckte bedauernd mit den Achseln. »Tut mir
Leid, June.«
»Kann ich einen Brief von ihm sehen?«
»Theresa hat die Post weggeworfen, sobald sie die Briefe
beantwortet hatte«, erwiderte Knight. »Ich habe sie mal gefragt:
›Warum, um alles in der Welt, machst du dir mit diesem Verrückten
so viel Mühe?‹ Und sie antwortete: ›Weil er mir Leid tut. Weil ich
Angst habe, dass er sich etwas antut, wenn ich nicht mehr
zurückschreibe.‹ Sie war ein guter Mensch. Sie hatte ein ganz
großes Herz.«
»Das hat man gespürt«, sagte June Archibald. »Das kam in jedem
ihrer Filme rüber.«
»In letzter Zeit hat Davidson weniger geschrieben und mehr
telefoniert«, erzählte Eric Knight. »Er wollte unbedingt mal mit
Theresa ausgehen, sie ganz für sich allein haben. Diesen Wunsch hat
sie ihm natürlich nie erfüllt.«
»Hat sie ihn damit nicht verärgert?«
»Doch. Angeblich wollte er einmal wissen, warum sie sich nicht
mit ihm treffen wolle, ob er ihr zu minder wäre.«
»Was hat sie geantwortet?«
»Sie verstand es immer wieder, sich recht wortgewandt aus der
Affäre zu ziehen, aber Davidson wurde immer ungeduldiger und
zorniger, und kurz vor der Premiere soll er gesagt haben, wenn
Theresa sich nicht endlich mit ihm treffen würde, würde ihr das
schon bald sehr Leid tun.«
June Archibalds Augen wurden schmal. »Was kann er damit
gemeint haben?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete der Theaterdirektor. »Er hat
es nicht präzisiert. Vielleicht…«
»Ja?«, fragte die FBI-Agentin gespannt. »Ja, Eric?«
»Vielleicht das, woran Sie offenbar gerade denken, June«,
sagte Eric Knight mit belegter Stimme.
***
Tim Davidson klebte Fotos von Theresa Demme in ein Album.
Jodie Bloom, seine Freundin, sah ihm dabei missbilligend zu. Sie
hasste die Filmgöttin abgrundtief.
Ärgerlich schüttelte sie die fettigen Strähnen ihres langen,
ungepflegten Haares in den Nacken. Sie hatte einen aufgeschwemmten
Körper, trank jeden Tag mehr, als ihr gut tat, war auch jetzt nicht
ganz klar im Kopf.
Soeben nippte sie wieder an ihrem Flachmann. Er war der
einzige Freund, der immer treu zu ihr hielt, der sie noch nie
enttäuscht hatte, weil sie ihn stets rechtzeitig wieder füllte,
damit er nie leer war, wenn sie ihn brauchte.
In verwaschenem Slip und zerschlissenem BH baute sie sich mit
gegrätschten Beinen mitten im Wohnzimmer auf. Ordinär.
Obszön.
Sie klatschte sich mit den Händen auf die Cellulite-Schenkel,
um Tim auf sie aufmerksam zu machen, doch er schenkte ihr keine
Beachtung.
»Hey!«
Er reagierte nicht, war in einer anderen Welt, war bei Theresa
Demme, war glücklich mit ihr.
»Hey, du!«, rief Jodie streitsüchtig.
»Was ist?«
»Sieh mich an!«, verlangte sie.
»Ich hab keine Zeit.«
Sie schob ihr Becken vor - buschiges Schamhaar bauschte sich
unter dem Slip - und schrie: »Verdammt noch mal, dreh dich um und
sieh mich an!«
»Später.«
»Ich will was von dir!«
»Nicht jetzt.«
»Oh, doch!«, fauchte Jodie Bloom. »Jetzt! Ich möchte jetzt
bumsen, Tim Davidson, du verfluchter Scheißkerl! Wozu bin ich zu
dir gezogen, wenn du nichts von mir wissen willst? Immer begeilst
du dich an dieser Schlampe. Starrst ihre Bilder an und befriedigst
dich im Geist selbst. Zum Geier, sie ist nicht hier! Aber ich bin
hier! Sie ist tot! Aber ich lebe! Komm her und besorg es mir! Oder
kriegst du ihn bei mir nicht mehr hoch, du Versager?«
Davidson fuhr herum und erdolchte das betrunkene Girl mit
seinen stechenden Augen. »Halt’s Maul, du besoffenes Luder!«
»Was bleibt mir denn anderes übrig, als mich zu besaufen?« Sie
trank demonstrativ wieder vom verchromten Flachmann.
Davidson zog die Mundwinkel nach unten. »Du widerst mich
an.«
»Weil ich nicht so schöne Titten und so stramme Schenkel habe
wie deine Angebetete?«, ätzte Jodie.
»Du kannst dich mit ihr überhaupt nicht vergleichen.«
»Sie ist eine Hure.«
»Das ist gie nicht!« Seine Stimme zitterte vor Wut.
»Na schön, sie war eine, hat für jeden die Beine breit
gemacht, nur für dich nicht.«
Er sprang auf. »Ich verbiete dir, so über Theresa zu reden!«
Er ballte die Hände zu Fäusten.
Doch sie hatte keine Angst vor ihm. »Dü Schlappschwanz hast
mir überhaupt nichts zu verbieten!«, schrie sie verächtlich. »Du
bist ein durchgeknalltes Arschloch, tickst nicht richtig. Dir geht
einer ab, wenn du die Fotos von dieser Edel-Nutte aus Hollywood
siehst. Das ist nicht normal. Du bist krank im Kopf. Total ga-ga,
vertrottelt, plemplem bist du!«
»Halt’s Maul!«, brüllte er außer sich vor Wut. Speichelbatzen
flogen ihm aus dem Mund. »Halt dein gottverdammtes, dreckiges Maul,
sonst…«
»Sonst was?«, wollte Jodie Bloom mit hohntriefender Stimme
wissen.
»Sonst passiert etwas!«, drohte Tim Davidson.
Sie fürchtete sich nicht. »Was denn, eh? Was denn?«
»Ich mach dich kalt!«, fauchte er aggressiv.
Sie lachte ihn aus. »Das schaffst du nicht. Dafür hast du
nicht genug Mumm.« Sie leerte ihren Flachmann, warf ihn aufs Sofa
und griff sich eine Alabasterfigur. »Komm her, du perverse Kreatur!
Nun komm schon! Komm her, du Theresa-Demme-Söhnchen, damit ich dir
den Schädel einschlagen kann!«
Mit lautem Zorngebrüll, das einem Urschrei glich, stürzte er
sich auf sie.
Sie holte mit der Statue aus und schlug ihn nieder. Die Figur
zerbrach in vier Teile.
Tim Davidson blutete stark aus einer Platzwunde an der Stirn.
Benommen griff er nach Jodies Beinen. Er riss das Girl zu Boden und
warf sich auf sie.
»Ich bring dich um!«, schrie er. »Ich bring dich um! Ich bring
dich um!«
Seine Hände legten sich um Jodies fetten Hals. Sie strampelte
und kreischte, versuchte sich von seinem harten Würgegriff zu
befreien, doch es gelang ihr nicht.
Sie wäre verloren gewesen, wenn nicht urplötzlich die Tür
aufgestoßen worden wäre.