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Dieser Band enthält folgende Krimis: Eine Ermittlerin wird entführt (Horst Friedrichs) Kubinke im Sinnennetz (Alfred Bekker) Ein gefährliches Rendezvous (Theodor Horschelt) Eigentlich haben Leviene und Gillespie Urlaub, doch die beiden G-men werden ohne ihr Zutun in einen verzwickten Mordfall hineingezogen. Ist Sartori-Long unschuldig oder ein gewiefter Verbrecher, der mehr als eine Straftat zu verbergen? Der Fall wird immer verzwickter, doch dann unterläuft dem Täter ein winziger Fehler. Dennoch braucht es alles an Geschick, was die beiden Bundespolizisten aufbringen können, um diesen Fall zu lösen.
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2022
Krimi Dreierband 3036 - 3 Thriller in einem Band!
Copyright
Eine Ermittlerin wird entführt
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Kubinke im Spinnennetz: Kriminalroman
Ein gefährliches Rendezvous
Dieser Band enthält folgende Krimis:
Eine Ermittlerin wird entführt (Horst Friedrichs)
Kubinke im Sinnennetz (Alfred Bekker)
Ein gefährliches Rendezvous (Theodor Horschelt)
Eigentlich haben Leviene und Gillespie Urlaub, doch die beiden G-men werden ohne ihr Zutun in einen verzwickten Mordfall hineingezogen. Ist Sartori-Long unschuldig oder ein gewiefter Verbrecher, der mehr als eine Straftat zu verbergen? Der Fall wird immer verzwickter, doch dann unterläuft dem Täter ein winziger Fehler. Dennoch braucht es alles an Geschick, was die beiden Bundespolizisten aufbringen können, um diesen Fall zu lösen.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.
© by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Krimi von Horst Friedrichs
Der Umfang dieses Buchs entspricht 116 Taschenbuchseiten.
Es ist purer Zufall, dass die junge FBI-Agentin Jolene Danvers dem Mann begegnet, der als „Der Hexer“ bekannt wurde, weil er mordet, ohne Spuren zu hinterlassen. Doch er fühlt sich von ihr durchschaut und entdeckt. Um sie zum Schweigen zu bringen, entführt er sie und will sie töten, doch da zeigt sich, dass der Mörder ungeahnte Hemmungen bekommt.
Er fuhr der aufgehenden Sonne entgegen und pfiff den Song mit, der die Cornflakes-Reklame im Morgenprogramm von WCBS einleitete. Der Mittelstreifen der steil ansteigenden Küstenstraße zielte auf den glutroten Feuerball am östlichen Horizont.
Lennie Justin liebte diese morgendliche Ruhe auf seinem gewohnten Trip nach Oakbeach, Long Island. Es war ein Gefühl der Freiheit. Hinter ihm lag die Nacht. Und New York City, der dreckige Sumpf, in dem der selbst kräftig mitrührte.
Es gab einen dumpfen Schlag, als Lennies knallroter Ford Mustang den Scheitelpunkt der Steigung erreichte.
Er schaltete das Radio ab, nahm Gas weg, horchte auf verdächtige Geräusche. Wieder dieses verdammte Radlager? Erst letzten Monat hatten sie in der Werkstatt …
Lennies Gedanken erloschen.
Sein Kragen wurde plötzlich zu eng. Er zerrte daran, doch es half nichts. Sein Gesicht färbte sich seltsam blau.
Die feinen Schwaden, die unter dem Armaturenbrett hervorquollen, waren farblos und nahezu unsichtbar, verteilten sich sehr schnell im Cockpit des sportlichen Flitzers.
Selbst wenn Lennie Justins Sinne noch funktioniert hätten, wäre er kaum in der Lage gewesen, den tödlichen Nebel mit bloßem Auge zu erkennen.
Er würgte, stieß röchelnde Laute aus. Sein Adamsapfel bewegte sich in furchtbaren Krämpfen vor und zurück. Es schien, als drückten unsichtbare Krallen seinen Hals zusammen.
Mit den linken Reifen rollte der Mustang auf dem Mittelstreifen entlang, als handle es sich um eine Schiene.
Die Tachonadel vibrierte auf 40 Meilen pro Stunde.
Lennies Augen waren weit aufgerissen. Doch das Bild, das er sah, begann zu verschwimmen. Unter seinen zerrenden Fingern platzte der Kragenknopf des Hemdes auf. Aber es brachte keine Erleichterung. Die Atemnot nahm zu, steigerte sich synchron mit den Krämpfen, die seinen Körper von innen her zu packen schienen.
30 Yards voraus verlief die Leitplanke in einem weit geschwungenen Bogen nach links, durchkreuzte den Feuerball der aufgehenden Sonne als leuchtend weiße diagonale Linie.
Lennie wollte schreien, doch seine Stimmbänder gehorchten nicht mehr. Schweiß rann in Strömen über sein verfärbtes Gesicht. Seine Rechte war um das Lenkrad verkrampft. Die freie Hand bewegte sich zitternd und unsicher durch den leeren Raum, bis sie die Kurbel des Seitenfensters fand.
Jäh verstärkten sich die Krämpfe. Ein grausamer Ruck durchlief den hageren Körper des Mannes. Die Rückenlehne des Sitzes ächzte unter seinem Gewicht.
Und der Krampf war es, der Lennie Justin das Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten ließ.
Der Motor des Mustang brüllte auf. Mit wimmernden Hinterreifen machte der knallrote Flitzer einen Satz nach vorn. Die Tachonadel kletterte rasend schnell.
Frischer Fahrtwind fächerte durch das offene Seitenfenster herein.
Es half nichts mehr.
Die Starre hatte Lennie Justin bis in die Muskelspitzen erfasst. Sein Atem war wie abgeschnürt, und sein qualvolles Röcheln ging im Motorenlärm unter. Sein Gesicht färbte sich zunehmend dunkler. Kleine Schaumbläschen traten über seine Lippen, und die Augäpfel quollen bedrohlich weit aus den Höhlen.
Er sah die Leitplanke auf sich zurasen, doch die Wahrnehmung drang nicht mehr in sein Gehirn vor. Das Giftgas hatte die Zellen bereits ausgeschaltet.
Das glühende Rot der Morgensonne umhüllte ihn wie ein Höllenfeuer.
Selbst der versiegende Rest eines instinktiven Überlebenswillens konnte Lennie Justin nicht mehr retten.
Seine verkrampfte Faust mit den weiß hervortretenden Knöcheln hielt das Lenkrad, als sei es in einem Schraubstock arretiert.
Das Weiß der Leitplanke überdeckte die Sonnenglut mehr und mehr.
Lennies Körper schraubte sich im Sitz empor, als das Nervengas seine Atemwege endgültig versiegelte. In einer letzten Reflexbewegung ruderte seine Linke ruckartig zum Hals, wie um sich von einer imaginären Schlinge zu befreien.
Es war Lennie Justins letzte instinktmäßige Reaktion.
In einem ohrenbetäubenden Donnern ging die Welt um ihn herum unter.
Die bullige Chromschnauze des Ford Mustang grub sich in den Stahl der Leitplanke, deformierte ihn zu einem bizarren Gebilde. Blechteile lösten sich und wirbelten durch die Luft. Eine Radkappe rollte torkelnd quer über den Asphalt.
Das Heck des Wagens flog empor, wie von einer gigantischen Faust gepackt. Räder drehten sich im Leeren.
Anfangs wie in Zeitlupe, dann zunehmend rascher, überschlug sich der Mustang und segelte vor der steil abfallenden Felswand in die Tiefe. Ein Regen von Glaskrümeln umgab das halb zertrümmerte Fahrzeug bei seinem Fall.
Den Aufprall auf die Wasseroberfläche spürte Lennie Justin nicht mehr. Sein Leben war von einem Atemzug zum anderen versiegt, kurz bevor der knallrote Wagen mit dem Bodenblech auf die graugrünen Fluten des Atlantik schlug – in 90 Fuß Tiefe unterhalb der Küstenstraße. Und Lennie hörte nicht mehr das urwelthafte Bersten und Krachen, das durch die Karosserie lief.
Weiße Gischtfontänen spritzen empor. Wie durch ein Wunder hielt die Karosserie dem Aufprall stand, ohne sich in ihre Einzelteile aufzulösen. In einem mächtigen Ring aufgewühlten Wassers sank der Ford Mustang langsam in die Tiefe, wurde zu einem Sarg aus Stahlblech für den Mann, der in den qualvollen Sekunden seines Todes nicht hatte begreifen können, weshalb er sterben musste.
Sekundenlang war nur noch das Wagendach zu sehen. Dann neigte sich der Mustang unvermittelt nach vorn und versank endgültig in einem gischtenden Strudel.
Die Wasseroberfläche beruhigte sich rasch.
Es dauerte fast 20 Minuten, bis oben auf der Küstenstraße erneutes Motorengeräusch zu hören war. Ein Zwei-Tonnen-Lieferwagen mit Gemüsekisten für den Großmarkt in Queens, New York City, stoppte vor der eingebeulten Leitplanke. Und weitere zehn Minuten dauerte es, bis der Fahrer des Trucks die nächste menschliche Behausung erreichte und die Außenstelle der Suffolk County Police in Oakbeach verständigen konnte.
Unter uns auf dem Harlem River tuckerte der Hilfsmotor einer Segeljacht, die über den East River und die Upper New York Bay Kurs auf den offenen Atlantik nahm. Von Bord der Jacht winkten lachende Girls und Boys zu uns herauf, als wir über die Willis Avenue Bridge dem riesigen Areal des Harlem-River-Güterbahnhofs entgegenrollten.
Ich streckte meinen linken Arm durch das offene Seitenfenster des Jaguars und winkte zurück. Dann lag die Brücke bereits hinter uns.
Sonntagmorgen. Sechs Uhr.
Halb New York City drehte sich noch einmal auf die andere Seite. Frühaufsteher wie Milo und ich waren in der Minderheit, und die Fenster der Apartmenthäuser schienen die Trägheit auszustrahlen, die an einem Tag wie diesem von der Acht-Millionen-Stadt Besitz ergriff.
Mein Freund und Kollege gähnte herzhaft, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schüttelte missbilligend den Kopf.
»Wenn wir eine Stunde später losgebrummt wären, hätte es auch noch gereicht.«
Ich lächelte, nahm Gas weg und bog nach rechts auf den Bruckner Boulevard ab.
»Hältst du einen Typ wie Paul Sherrard für pünktlich?«
Milo zündete sich die dritte Zigarette seit unserem frühen Aufbruch an und nuschelte durch die Mundwinkel. »Überflüssige Frage.«
»Eben. Und ich möchte, dass wir auf Nummer Sicher gehen. Das ist alles.«
»Dafür stehen wir uns dann zwei Stunden lang die Beine in den Bauch. Quincy hat noch immer hundertprozentige Tipps geliefert.«
»Selbst der beste V-Mann kann sich irren.« Ich musterte Milo mit einem kurzen Seitenblick. »Irgendwas schiefgelaufen gestern Abend? Fehlt dir ein bestimmtes Erfolgserlebnis?«
»Darüber rede ich nur mit meinem Seelendoktor«, knurrte Milo.
»Himmel!«, stöhnte ich mit gespielter Besorgnis. »Wenn das jemals an die Öffentlichkeit dringt! FBI-Agenten, die einen Psychiater brauchen …«
»Falls du mich auf die Palme bringen willst, bist du auf dem besten Weg dazu. Denk an unseren Freund Paul und kümmere dich nicht um meine privaten Erfolgserlebnisse.« Milo blickte geradeaus durch die Windschutzscheibe und setzte eine verkniffene Miene auf.
Ich stieß einen leisen Pfiff aus und zog es vor zu schweigen.
Die blonde Carol, mit der Milo gestern Abend verabredet gewesen war, kannte ich als eine bezaubernde, temperamentvolle und eigenwillige kleine Lady.
Ich bog nach links in die Willis Avenue ab und befolgte den Rat meines Freundes, mich gedanklich auf Paul Sherrard zu konzentrieren. Der spärliche Sonntagmorgen-Straßenverkehr, hier in der berüchtigten South Bronx, forderte ohnehin nicht viel Aufmerksamkeit.
Mein Flitzer wirkte ein wenig deplatziert in der deprimierenden Umgebung aus Autowracks, die am Fahrbahnrand vor sich hin rosteten, umgekippten Müllkübeln, verdreckten Bürgersteigen, Häusern, die man besser als Ruinen bezeichnete, und Gebäudewänden, an denen die mit Lackspraydosen gemalten Durchhalteparolen puertoricanischer Straßenbanden prangten.
Ich zog den Sportwagen nach rechts in die 139 th Street. Die Szenerie verdüsterte sich. Vor uns lag eins der Viertel, in denen ganze Häuserblocks leerstehen, die für unbewohnbar erklärt worden sind. Sanierungsgebiete, für die seit Jahren eindrucksvolle Neubaupläne in den Schubladen der Stadtverwaltung liegen. Die Bewohner der Süd-Bronx glauben nicht mehr an solche Pläne.
Paul Sherrard stammte aus diesem Stadtteil. Und regelmäßig verkroch er sich hierher, wenn er seine Jobs für den großen Rowntree erledigt hatte. Nach allem, was wir bisher über ihn wussten, war Sherrard ein Mann, der an bestimmten Gewohnheiten festhielt, der aus unerfindlichen Gründen ein festes Gerüst für seinen düsteren Lebenswandel brauchte. Und die South Bronx war Sherrards Heuhaufen, in dem er winziger wurde als eine Stecknadel.
Er hatte allen Grund, von Zeit zu Zeit von der Bildfläche zu verschwinden. Er zählte zu jener hartgesottenen Truppe, die Rowntrees Revier in Manhattan Uptown unter Kontrolle hielt. In unregelmäßigen Abständen musste hier und dort den Aufmuckern auf die Finger geklopft werden. Geschäftsleute, die ihre Schutzgebühren nicht zahlten. Dealer, die in die eigene Tasche wirtschafteten. Zuhälter, die anfingen, ihre Bordsteinschwalben auch außerhalb von Rowntrees Machtbereich laufen zu lassen.
In besonderen Fällen übernahmen Sherrard und seine Komplizen auch Aufträge, bei denen es galt, Leute aus den eigenen Reihen zurechtzustutzen. Männer, die glaubten, Rowntree und sein Syndikat bei der City Police und bei uns vom FBI ans Messer liefern zu können.
Dass Sherrard ein Schlägertyp von der brutalsten Sorte war, stand fest. Ob er auch als Killer arbeitete, mussten wir ihm erst noch nachweisen.
Der Tipp, den uns unser V-Mann Quincy geliefert hatte, war ein erster Schritt. Sherrard traf sich seit einiger Zeit regelmäßig sonntagmorgens mit seinem Girl. Gegen acht Uhr. In der South Bronx, 142 nd Street. Nach Quincys Meinung wussten nicht mal Sherrards beste Kumpel, weshalb er diese Heimlichtuerei betrieb und das Girl nicht einfach in seine Bleibe an der Cypress Street kommen ließ. Möglich, dass Sherrard ein Sonderling war.
Ich vermutete eher, dass er seinen Partnern das Mädchen aus einem anderen Grund vorenthielt.
Es konnte der gleiche Grund sein, aus dem wir uns für Rowntrees Syndikat mehr als sonst interessierten.
Irgend etwas war im Busch. Etwas, das nicht einmal Quincy und andere Typen aus den sogenannten eingeweihten Kreisen näher beschreiben konnten.
Nervosität. Unsicherheit, Aggressivität.
Rowntrees Killer- und Schlägertruppe schlich mit verkniffenen Gesichtern und misstrauischen Blicken durch die Gegend. Die gewohnte Selbstsicherheit fehlte. Sherrard und seine Komplizen setzten ihre Fäuste und Schießeisen vorschnell in Aktion, reagierten gereizt und brutal, wo sonst noch ein klärendes Wort möglich gewesen wäre.
Unser Verbindungsmann Quincy war einer von den Kennern der Unterweltszene, denen solche Feinheiten nicht entgingen.
Deshalb meine Ahnung, dass Sherrard sein Girl aus Angst nicht öffentlich präsentierte. Ein Mann wie er musste wissen, dass er durch die Freundschaft mit einem Mädchen immer eine schwache Seite zeigte. Eine verwundbare Stelle, auf die sich ein Gegner mit Freuden stürzte, wenn er sie erst einmal entdeckt hatte.
Haargenau an dem Punkte wollte ich ansetzen.
Gegen Sherrard selbst hatten wir ebenso wenig in der Hand wie gegen seinen Boss, Porter Rowntree. Aber die untrügliche Ahnung unserer V-Leute, dass etwas in der Luft lag, hatte Milo und mich wach gekitzelt. Eine der ständigen Aufgaben des FBI ist es, das organisierte Bandenverbrechen unter Kontrolle zu halten und zu bekämpfen. Die Zuständigkeitsfrage ist also eindeutig geregelt. Wir arbeiten Hand in Hand mit der New Yorker City Police, was unseren fortwährenden Kampf gegen die Verbrechersyndikate betrifft.
Im Fall Paul Sherrard erhoffte ich mir Aufschlüsse durch das Girl, mit dem er sich eingelassen hatte. Weibliche Wesen schaffen es, einem Mann Dinge aus der Nase zu ziehen, über die er sonst nicht mal im Traum reden würde. Eine Binsenwahrheit.
Ich parkte den Sportwagen vor der Kreuzung Brook Street.
Milo rümpfte die Nase, zertrat seine Zigarettenkippe auf dem verwitterten Bürgersteig, wo aus jeder Ritze zwischen den Betonplatten Unkraut wucherte.
Leere Fensterhöhlen gähnten uns von allen Seiten an. Die Gegend wirkte menschenleer, und dennoch wussten wir, dass hinter diesen scheinbar toten Fassaden ein fast quirlendes Leben herrschte. Tramps strömten aus allen Windrichtungen in die South Bronx, um hier in den abbruchreifen Ruinen unterzukriechen. Die berüchtigten Straßenbanden richteten ihre Schlupfwinkel in dem unübersehbaren Gewirr der leerstehenden Wohnblocks ein. Jugendliche, die von zu Hause weggelaufen waren und sich auf der Schattenseite des Großstadtlebens hoffnungslos verstrickt hatten, fanden in diesen Ruinen eine vorläufige Endstation, die sich dann nicht selten als Anfang eines Lebens auf der schiefen Bahn entpuppte.
Wir waren gezwungen, den Sportwagen weit genug von der 142 nd Street entfernt zurückzulassen. Mitten in dieser Trümmerlandschaft an der 139 th. Doch wahrscheinlich stand mein Flitzer hier sicherer als an der 42 nd Street in Manhattan. Denn die trüben Existenzen in den Ruinen fürchteten nichts mehr als eine Großrazzia der Polizei. Und einer, der einen Sportwagen fuhr, sah verdammt nicht danach aus, als ob er zögern würde, die Bullen zu verständigen, wenn an seinem fahrbaren Untersatz Chromteile oder gar Räder fehlten.
Zügig stiefelten Milo und ich über den rissigen Asphalt der Fahrbahn, wo es sich immer noch besser marschieren ließ als auf den Unkrautfeldern, die früher Bürgersteige gewesen waren.
Die Brook Street bot keinen erhebenden Anblick. Wir brachten zwei Ruinenblocks hinter uns und schlugen uns auf die linke Straßenseite.
Kurz vor der 142 nd Street belebte sich die Szenerie ein wenig. Aus einer Hofeinfahrt schoss eine struppig-graue Promenadenmischung auf uns zu und umkreiste uns mit schrillem Kläffen. Kinder, die Gummibänder zwischen Mülltonnen gespannt hatten, unterbrachen ihr Hüpfspiel und musterten uns mit feindseligen Blicken.
Es war diese anerzogene Feindseligkeit, die ihnen in diesem Elendsviertel zwangsläufig in die Wiege gelegt wurde – Misstrauen und unverhohlene Aggression gegenüber allem Fremden, was nach Behörde oder gar Polizei aussah.
Die gleichen feindseligen Blicke folgten uns aus offenen Fenstern. Die Menschen, die hier wohnten, schienen zu spüren, dass auch ihren Unterkünften in absehbarer Zeit das gleiche Schicksal drohte wie den benachbarten Blocks, die bereits zu verfallen begannen.
Und wer sagte den Leuten in den erbärmlichen Wohnhöhlen, dass Milo und ich nicht irgendwelche Bürohengste von der Stadtverwaltung waren, die diese ungewöhnliche Zeit an einem Sonntagmorgen nutzten, um einen diskreten Inspektionsgang zu unternehmen? Verdammt, ich konnte mir vorstellen, dass wir einigen Familien allein durch unser Erscheinen gründlich die Stimmung verdarben. Denn die Befürchtung, dass ein amtlicher Räumungsbefehl ins Haus flatterte, schwebte wie eine ständige unausgesprochene Drohung über den Bewohnern dieses Teils der South Bronx.
Aber wir konnten unsere wahre Identität nicht hinausschreien. Dadurch hätten wir uns keineswegs beliebter gemacht. Und unser Freund Sherrard wäre durch das geheimnisvolle Informationsnetz, das die Leute hier entwickelt hatten, im Handumdrehen gewarnt worden.
An der Ecke Brook Street – 142 nd Street gab es einen kleinen Coffeeshop, der bereits um sieben Uhr morgens öffnete. Wegen der Männer, die von irgendwelchen Nachtschichten in irgendwelchen Fabriken kamen. Auch sonntags. Der Laden nannte sich schlicht Mario’s.
Wir stießen eine klapprige Glastür auf und blinzelten sekundenlang, um unsere Augen an das Halbdunkel zu gewöhnen. Der Raum war ein Schlauch von bestenfalls 20 Squareyard, mit einer Theke, die drei Viertel dieser Länge einnahm. Irgendwo summte ein Ventilator. Außer frischem Kaffeeduft lagen überraschenderweise keine anderen Dünste in der Luft. Tische, Stühle und Barhocker sahen betagt und abgenutzt aus, vermochten keine Gemütlichkeit zu verbreiten. Doch die Einrichtung war blitzsauber. Immerhin. Mario tat mehr für seinen Laden als andere, die sich gerade eben noch innerhalb der Hygienevorschriften bewegten.
Der Mann, der hinter dem Tresen Pizzateige vorformte, war groß und schlank, mit einem müden Gesicht und grauen Strähnen im schwarzen Haar. Seine blütenweiße Schürze hätte jeder Waschmittelreklame zur Ehre gereicht.
Milo und ich ließen uns auf Hockern am Tresen nieder.
»Guten Morgen, Gentlemen.« Kein Stirnrunzeln, kein misstrauischer Blick, obwohl wir absolut nicht in die Landschaft passten.
Wir erwiderten den Gruß.
Er nickte. Lächelte ein bisschen und hörte dabei nicht auf, eine mehlig-weiße Teigscheibe mit atemberaubender Geschicklichkeit auf seinen geballten Fäusten kreisen zu lassen.
»Sie kommen auf Empfehlung, Signori?«
Milo und ich nickten zurück.
»Genügt das?«, fragte mein Freund. Mario ließ die Pizzascheibe mit gekonntem Schwung auf ein Backblech segeln. Er wischte seine Hände an einem Tuch ab, das hinter der Theke hing, und wandte sich uns zu.
»Ich halte nichts davon, viele Fragen zu stellen. Es ist besser, nicht zu wissen, wer wen hergeschickt hat. Und behalten Sie Ihre Dienstmarken in der Tasche, Signori! Es ist besser, wenn ich nicht weiß, zu welchem Verein Sie gehören.«
»Sie sind ein alter Fuchs, Mario.« Ich zündete mir eine Zigarette an. »Von wem haben Sie etwas zu befürchten?«
Er lächelte breiter, schüttelte den Kopf.
»Sie denken in die falsche Richtung, Signore. Bei uns in der Süd-Bronx gibt es keine Mafia und keine Syndikate. In Ruinen kann man keine Geschäfte machen, capito? Dafür verkriechen sich hier die Ratten, denen drüben in Manhattan, Queens und Brooklyn das Licht zu hell ist. Die Süd-Bronx wird langsam zu einem ganzen verdammten Rattenloch. Ich gehöre zu den paar Leuten, die noch ein bisschen Hoffnung haben, wissen Sie. Wenn wir es schaffen, uns die Ratten einigermaßen vom Hals zu halten, erleben wir vielleicht noch den Tag, an dem hier all die schönen neuen Häuser gebaut werden, die uns die Stadtverwaltung versprochen hat. Man muss einfach vorsichtig sein, capito? Ich habe keine Angst vor einem 16-jährigen Strolch, der großspurig in meinen Laden stolziert und behauptet, dass ich gestern versprochen hätte, ihm eine Pizza zu schenken. Aber wenn ich ihm zeige, dass ich keine Angst habe, dann kann ich Gift darauf nehmen, dass er eine halbe Stunde später mit 20 anderen Strolchen wieder auftaucht und meine Einrichtung in Stücke schlägt. Sie verstehen, was ich meine?«
»Hundertprozentig«, sagte Milo, »Sie sind nicht nur ein Fuchs, sondern auch ein Lebenskünstler.«
»In der Bronx wird man das automatisch.« Einen Moment lang senkte er verlegen den Blick. Dann sah er uns wieder an. »Ich habe es Ihnen erklärt. Ich wehre mich auf meine Weise gegen die zweibeinigen Ratten. Also: Hinter wem sind Sie her? Was brauchen Sie von mir? Eine Adresse? Auskünfte? Irgendwelche Tipps?«
»Unser Mann heißt Paul Sherrard«, entgegnete ich und fügte hinzu, was wir über den Schläger aus Rowntrees Syndikat wussten, inklusive Personenbeschreibung.
Marios Miene erhellte sich.
»Sie haben noch viel Zeit, Signori. Wenn Sie hier in meinen bescheidenen vier Wänden warten wollen … wie wäre es mit Espresso, Pizza-Slices … oder haben Sie schon ausgiebig gefrühstückt?«
Ich las in Milos Gesichtsausdruck, dass sich seine Laune zusehends besserte. Wir nahmen Marios Angebot an, bestanden jedoch darauf, die Sachen aus unserem Spesenbudget zu zahlen. Mit einiger Mühe ließ er sich überreden, hantierte an Espressomaschine und Pizzabackofen und redete dabei.
»Ich kenne diesen Sherrard nicht dem Namen nach, nur vom Sehen. Aber so, wie Sie ihn beschrieben haben, bin ich hundertprozentig sicher, dass er es ist. So ein Typ fällt in dieser Gegend auf, kann ich Ihnen sagen. Erstens fährt er einen Mordsschlitten. Einen Stingray, silbermetallic. Wenn der draußen vorbeibrummt, zittern bei mir die Fensterscheiben. Und dann dieser Sherrard selbst! Sieht aus wie der reinste Zuhälter. Zwei- oder dreimal war er hier im Laden, wenn sein Mädchen sich verspätet hatte…«
»Moment«, unterbrach ich ihn, »wo treffen sich die beiden?«
»Sie sind an der richtigen Adresse, Signori.« Mario servierte uns den dampfenden Espresso in kleinen braunen Tassen und lächelte. »Einen besseren Beobachtungsposten als meinen Laden können Sie sich nicht wünschen.«
Blasse Sonnenstrahlen brachen durch den Smog, der über New York City hing. Die Wohnruinen nordöstlich vom Harlem River waren in ein unwirkliches Licht getaucht, das der Gegend keinen Hauch von Freundlichkeit zu geben vermochte.
Avril Grainger öffnete ihre Handtasche und schob zwei Ein-Dollar-Noten durch die kleine Schiebeöffnung in der Panzerglasscheibe, die den Innenraum des Taxis in zwei Hälften teilte.
Der Driver gab zwei Nickel als Wechselgeld zurück. Er musterte das dunkelhaarige Girl mit einem besorgten Blick.
»Ehrlich gesagt, Miss, nicht mal ich würde hier aussteigen. Und ich bin schließlich …«
»Ja, Sie sind schließlich ein Mann«, unterbrach ihn Avril lächelnd, »und ich habe noch keinen Taxifahrer erlebt, der nicht haargenau den gleichen Vers aufsagt. Vielen Dank für die Warnung, Mister. Passen Sie auf, dass Ihnen keiner einen Stein in die Windschutzscheibe wirft.«
Sie stieß die Tür auf, schwang sich hinaus und zog die Handtasche hinter sich her.
Der Driver blickte ihr kopfschüttelnd nach. Sie war mehr als nur einen Blick wert. Ein Rassegirl. Aber ausgerechnet in dieser Gegend? Achselzuckend ließ der Fahrer seine gelbe Limousine vorwärts schießen.
Avril Grainger ging mit zügigen Schritten auf dem unkrautüberwucherten Bürgersteig der Brook Street entlang. Sie trug einen enganliegenden hellblauen Hosenanzug, der die Vorzüge ihres schlanken Körpers auf dezente Weise unterstrich. Ihr langes dunkles Haar schimmerte seidig matt im blassen Sonnenlicht.
Anfangs hatte sie fast panische Angst empfunden, als sie zu ihren heimlichen Verabredungen in die South Bronx gefahren war. Aber dann hatte sie festgestellt, dass Paul recht behielt.
Niemand belästigte sie.
Niemand wagte es, sie zu belästigen.
Es musste einen seltsamen Kodex geben, durch den man hier in diesem miesesten aller New Yorker Stadtteile unantastbar wurde. Avril Grainger empfand einen Stolz, den sie sich selbst nicht zu erklären vermochte. Paul Sherrard zu kennen, hatte ihr ein Privileg eingebracht – das Privileg, keine Angst mehr zu kennen. Unschätzbar für jemand, der in New York lebte, in Fear City, der Stadt der Angst, wie die Acht-Millionen-Stadt schon seit Langem genannt wird.
Lächelnd schritt Avril durch die Ruinenwüste. Ja, Paul hatte ihr die Angst genommen. Vielleicht lag es daran, dass sie sich noch immer mit ihm traf. Diese Bekanntschaft hatte etwas Aufregendes, Prickelndes und zugleich einen Grad von Ehrlichkeit, den Avril gerade bei jenen Männern vermisst hatte, die sich selbst als anständig und bürgerlich bezeichneten.
Sie erreichte die Kreuzung 142 nd Street und lächelte einer Schar von halbwüchsigen Puertoricanern zu, die ihr aus einem Hauseingang heraus mit schwärmerischen Blicken nachschauten.
Vor Mario’s Coffeeshop überquerte Avril die Fahrbahn. Der Wohnblock auf der anderen Straßenseite war dem Verfall preisgegeben, zum Abbruch vorgesehen. Hölzerne Barrieren mit der Aufschrift »Police Line – Do not cross!« lagen umgekippt auf dem Bürgersteig. Jemand hatte das Wort »Police« zerkratzt. Zeichen des Hasses auf alles, was sich mit dem Begriff Behördenautorität verband.
Wie gewohnt, wartete Avril neben der Telefonzelle, die komischerweise immer noch in Betrieb war. Vielleicht, weil die Häuser gegenüber noch bewohnt waren. Auch die drei Automaten an der verwitterten Gebäudefassade hinter der Telefonzelle funktionierten noch. Zigaretten. Kaugummi. Fruchtbonbons. Ein Rest von Komfort für die Bewohner der Ruinenlandschaft.
Avril zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Morgenluft.
Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig tauchten die ersten Gruppen von Männern auf. Müde, zerfurchte Gesichter. Abgewetzte Segeltuchtaschen in schwieligen Fäusten.
Schichtwechsel in der nahegelegenen Papierfabrik. Einige der Männer verschwanden in Mario’s Coffeeshop.
Avril brauchte nicht auf ihre Uhr zu blicken. Paul war noch nie unpünktlich gewesen. Er fuhr los, wenn in der Fabrik die Sirene heulte.
Wie zur Antwort auf die Gedanken des dunkelhaarigen Girls ertönte das Röhren einer bulligen Achtzylinder-Maschine. Unverwechselbar.
Drei Straßenzüge entfernt fegte die silbergraue Silhouette des Stingray aus der Cypress Street hervor, wedelte mit dem Heck und jagte mit zunehmender Drehzahl heran.
Avril trat die Zigarette aus. Paul mochte es nicht, wenn sie auf der Straße rauchte.
Mit verhalten kreischenden Reifen stoppte der Sportwagen vor Avril Grainger an der Bordsteinkante. Die Handbremse ratschte. Der Motor bullerte im Leerlauf. Auf der Fahrerseite wurde die Tür aufgestoßen.
Paul Sherrard sprang heraus. Groß, schlank, strahlend. Der blonde Sonnyboy, der keine Sorgen zu kennen schien. Er trug einen sehr eleganten Anzug in modisch hellem Grau, dazu ein weinrotes Hemd mit duftigem weißem Halstuch.
Behände flankte er über den rechten Kotflügel des Stingray hinweg, lief auf Avril zu und nahm sie in die Arme.
Sie küsste ihn.
»Steig ein, Baby«, flüsterte er, »wir haben einen ganzen Tag vor uns, und wir werden jede verdammte Minute genießen. Okay?«
»Okay«, gab sie leise zurück. Sie löste sich lächelnd von ihm.
Mit Daumen und Zeigefinger hielt er ein Geldstück hoch.
»Nur noch den Balsam für die Lungen, Baby.«
»Du verschwendest die ersten Minuten, Paul.«
»Fang nicht an, kleinlich zu werden!«, entgegnete er lachend. Dann lief er auf den Zigarettenautomaten zu.
Avril blickte ihm gedankenverloren nach, während sie die Beifahrertür des schnittigen Wagens öffnete.
Ich fasste einen Blitzentschluss, änderte meine Absichten von einer Sekunde zur anderen.
»Wir schnappen ihn uns«, sagte ich so leise, dass nur Milo es hören konnte. Ich glitt vom Barhocker, nickte Mario zu und steuerte auf die Tür zu.
Mein Freund holte mich ein.
»Bist du verrückt?«, protestierte er gedämpft. »Was versprichst du dir davon?«
»Ihn aus der Reserve zu locken. Wir nehmen ihn in die Zange.«
Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Milo begriff. Erstens ahnte Sherrard nicht, dass überhaupt jemand von seinen heimlichen Verabredungen wusste. Zweitens würden wir ihm den Sonntag verderben. Beides zusammen musste ihn wütend machen. Und wer wütend ist, reagiert unvorsichtig. Den Umweg über das Girl konnten wir uns für später aufheben.
Ich stieß die Tür auf. Das Gemurmel der müden Männer im Coffeeshop blieb hinter uns zurück.
Drüben glänzte der Stingray im trüben Morgenlicht. Der Motor dröhnte im Leerlauf.
Paul Sherrard strebte mit beschwingten Schritten dem Automaten entgegen.
Ich marschierte im Eiltempo los. Ich blieb auf dem diesseitigen Bürgersteig.
Milo wartete. Sobald ich vor dem silbergrauen Schlitten war, würden wir gleichzeitig die Straßen überqueren.
Ich erreichte die Längsseite des Stingray. Ungeniert warf ich einen Blick hinüber. Schließlich kann ein Auto dieser Art an Exklusivität durchaus mit meinem Sportwagen konkurrieren.
Das Girl ließ sich auf den Beifahrersitz sinken und sah mich. Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck erstarb. Selbst für sie musste es deutlich sein, dass ich nicht in die Landschaft passte.
Drüben versenkte Sherrard seine Münze in den Automatenschlitz.
Ich brachte vier weitere Schritte hinter mich. Vollführte eine fast militärische Wende auf dem rechten Absatz und gab Milo das Zeichen.
Wir sprinteten los.
Sherrard zog an der Griffmulde des Zigarettenautomaten.
Sein Girl stieß einen Warnruf aus.
Ihre helle Stimme ging im Inferno unter.
Es brach über uns alle herein, ohne dass es die winzigste Ankündigung gegeben hätte.
Ein urwelthaftes Donnern ließ den Boden unter uns erbeben.
Ich prallte zurück, wie von einer unsichtbaren Wand aufgehalten.
Das Brüllen der Detonation löschte jeden anderen Laut aus.
Innerhalb von einem Sekundenbruchteil nahm ich Einzelheiten wahr, die ich gedanklich nicht mehr verarbeiten konnte.
Paul Sherrard, der zusammenzuckte, als habe er ein glühendes Eisen angefasst.
Das Mädchen, dessen Gesicht sich vor Entsetzen verzerrte.
Milo, der sich herumwarf und zurückweichen wollte.
Aus einem verrückten Reflex heraus fuhr meine Rechte unter das Jackett. Dass ich den 38er in der Hand hielt, wurde mir erst bewusst, als ich mit langen Sätzen in der Mitte der Fahrbahn entlanghetzte, weg von der Motorhaube des Stingray.
Es gab keine andere Möglichkeit. Keine Chance mehr zu helfen.
Ich sah es aus den Augenwinkeln heraus, und es geschah wie in Zeitlupe – obwohl es sich innerhalb von höchstens zwei Sekunden abspielte.
Die Gebäudewand, an der die drei Automaten hingen, löste sich auf. Wie ein Spielzeugbauwerk aus tausend leeren Streichholzschachteln, für das einmal Luftholen genügte, um es umzublasen.
Ziegelsteine wirbelten durch die Luft. Mörtelstaub vermischte sich mit dem Qualm des Sprengstoffes. Holzsplitter von Türen und Fenstern und Fußböden sirrten wie Pfeile auf die Straße herab.
Ich glaubte, den gellenden Todesschrei eines Menschen zu hören. Aber es konnte eine Sinnestäuschung sein – vorgegaukelt durch das Unfassbare, das Grauenvolle des Geschehens.
Noch immer hallte das Donnern der Explosion nach, legte sich mit stechendem Schmerz auf die Trommelfelle.
Ich wusste nicht, wie viele Schritte ich hinter mich gebracht hatte, als ich von der Druckwelle erfasst wurde.
Eine Gigantenfaust packte mich, schleuderte mich nach vorn.
Geistesgegenwärtig ließ ich den Revolver fallen, barg das Gesicht zwischen den Armen. Und vielleicht half mir das, was in unzähligen FBI-Trainingsstunden einstudiert und fast zu einem Instinkt geworden ist.
Ich segelte drei Yards weit durch die Luft, wie von einem Katapult abgefeuert. Doch trotz des höllischen Infernos aus ohrenbetäubendem Krachen und Bersten, aus Steinen und ganzen Mauerbrocken, die auf die Straße polterten, behielt ich die Nerven und schaffte es, mich zusammenzukrümmen und zu entspannen.
Mit der linken Schulter schrammte ich über den rissigen Asphalt. Nur einen winzigen Moment lang. Dann klappte das Abrollen fast schulmäßig.
Im nächsten Augenblick schlug ich mit meinen hochfliegenden Unterschenkeln gegen etwas Hartes. Eine Wand. Eine Wand aus Blech, die unter dem Anprall eindellte.
Ich warf mich auf die Seite und begriff. Ein Autowrack. Der Himmel mochte wissen, welchem gütigen Zufall ich es verdankte, dass die rostige Kiste noch auf ihren vier Rädern stand, wenn auch ohne Luft in den Reifen.
Ich brauchte keine Zehntelsekunde, um unter das Bodenblech der ausgedienten Limousine zu rutschen.
Ein harter Schlag traf meine linke Wade, bevor ich vollends in Sicherheit war. Aber ich spürte keinen Schmerz. Meine Sinne waren wie gelähmt.
Immer noch prasselten die Mauersteine herab. Über mir klatschten die Brocken in das rostige Karosserieblech. Das Autowrack begann zu schwanken. Ich machte mich flach. Mit verrückter Deutlichkeit war das Knarren der altersschwachen Federung zu hören. Aber das Wrack hielt den dumpfen Einschlägen stand.
Die Augen mit der flachen Hand abgeschirmt, spähte ich unter dem Bodenblech hervor.
Ein schmutzig-grauer Vorhang aus Staub und Qualm umgab mich. Undurchdringlich.
Der Höllenlärm versiegte allmählich. Es schien Ewigkeiten gedauert zu haben, obwohl seit der Detonation keine 30 Sekunden verstrichen sein konnten.
Ich hörte Stimmen durch diesen grauen Vorhang, der jedes Geräusch dämpfte. Aufgeregte Männerstimmen. Dazwischen energische, entschlossene Rufe. Dann hastige Schritte.
Und kurz darauf Sirenengeheul, das sehr rasch anschwoll und bald darauf vielstimmig durch die Ruinenschluchten der Süd-Bronx gellte.
In meiner unmittelbaren Umgebung war eine seltsame Ruhe eingekehrt. Die Ruhe des Todes.
Ich kroch auf den Asphalt hinaus, rappelte mich auf. Mein linkes Bein knickte ein. Schmerz zuckte bis in die Hüfte hinauf. Ich biss die Zähne zusammen, sah dass das Hosenbein knapp über dem Knöchel zerfetzt und blutgetränkt war. Aber mit einiger Anstrengung gelang es mir, fest aufzutreten. Es konnte sich nur um eine Fleischwunde handeln, verursacht durch einen herumfliegenden scharfkantigen Stein.
Ich humpelte auf den gegenüberliegenden Bürgersteig zu. Silhouetten von Männern kamen mir entgegen. Ich sah die müden Gesichter wieder, die ich aus Mario’s Coffeeshop in Erinnerung hatte. Doch diese Gesichter waren jetzt hellwach, vom Entsetzen gezeichnet.
Jemand wollte mich stutzen. Aber ich lehnte ab.
»Bin okay«, krächzte ich und hustete den Staub hinaus, der sich in meine Atemwege gelegt hatte.
Die schmutzig-graue Wolke senkte sich herab. Das Blickfeld wurde klarer.
Es war ein Anblick, der mich mit der Wucht eines Stromstoßes traf.
Dort, wo Paul Sherrard gestanden hatte, türmte sich ein Hügel aus zerborstenem Mauerwerk und zersplitterten Holzteilen. Dünne Staubschwaden stiegen aus dem Trümmerhaufen empor. Der Explosionskrater dahinter war nur zu ahnen.
Sherrards silbergrauer Stingray war unter den Tonnenlasten begraben. Auch die Telefonzelle war nicht mehr zu sehen.
Mir schnürte sich die Kehle zusammen.
Von dem Haus, dessen Fassade eingestürzt war, stand noch die Rückfront. Die Fragmente von Zwischendecken und Wänden ragten mit bizarren Linien hervor.
Ich drehte mich um, sah, dass hier auf meiner Straßenseite sämtliche Fenster der noch bewohnten Häuser durch den Explosionsdruck glaslos geworden waren. Doch schlimmerer Schaden schien an den Wohngebäuden nicht entstanden zu sein.
Die jäh aufkeimende Besorgnis durchzuckte mich siedend heiß.
»Milo!«, brüllte ich. »Milo!« Ich wollte losrennen, auf die Stelle zu, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Es musste etwa dort sein, wo sich jetzt die Ausläufer des Trümmerberges befanden.
Der Schmerz in meinem linken Bein behinderte mich. Und eine Hand, die sich auf meine Schulter legte.
»Ihr Kollege?«, fragte eine Stimme, die ich kannte.
Ich wandte mich zur Seite.
Mario. Sein Gesicht war so weiß wie seine Schürze.
»Was ist mit ihm?«, stieß ich hervor, barscher als beabsichtigt.
»Nichts Lebensgefährliches«, antwortete unser Kontaktmann, »wir haben ihn in meinen Laden gebracht.«
Trotz meiner Wunde rannte ich los. Den glühenden Schmerz, der durch mein Bein tobte, beachtete ich nicht. Als ich die zersplitterte Fensterfront des Coffeeshop erreichte, rollten auf der Kreuzung die ersten Fahrzeuge der New Yorker Feuerwehr aus. Männer mit Helmen und schwerer Schutzkleidung sprangen heraus. Ich sah große, metallisch schimmernde Werkzeuge, deren Funktion ich nicht kannte. Die Männer, die hier zum Einsatzort stürmten, gehörten zur Katastrophenbereitschaft des Fire Department.
Ich stieß Marios demolierte Ladentür auf.
Milo lag auf einer Decke auf dem Fußboden. Eine Frau kniete neben ihm, legte ihm feuchte Umschläge auf die Stirn. Es konnte nur Marios Ehefrau sein.
Über der rechten Schulter war Milos Jackett blutgetränkt. Er hatte das Bewusstsein verloren. Sein Gesicht war bleich, wirkte eingefallen.
Ich blieb stehen, brachte kein Wort hervor.
Die Frau blickte zu mir auf.
»Der Ambulanzwagen wird gleich hier sein«, sagte sie leise, »aber es sieht schlimmer aus als es ist, Sir. Er kann den Arm noch bewegen. Bevor er ohnmächtig wurde, hat er nach Ihnen gefragt.«
Ich musste mich setzen, zog mir einen Stuhl heran, fingerte mit vibrierenden Händen eine Zigarette aus der zerknautschten Packung.
Mario kam herein.
»Sie haben sich schon bis zu dem Stingray vorgearbeitet«, sagte er, »aber sie kommen zu spät. So, wie der Wagen aussieht, kann das Mädchen nur …« Er sprach nicht weiter.
Ich nickte und stand auf.
Draußen fuhr der Ambulanzwagen vor. Ich ging hinaus, noch bevor die Sanitätshelfer in den Coffeeshop gelaufen kamen.
»Sind Sie verrückt?«, brüllte Mario hinter mir her. »Sie müssen auch ins Hospital!«
Ich hörte nicht auf ihn, beschleunigte stattdessen meine Schritte, als ich die Streifenwagen der City Police sah, die in geringer Entfernung hinter den Fahrzeugen der Feuerwehr ausrollten.
Ich sprach mit dem ranghöchsten Beamten des Einsatzkommandos, einem Lieutenant in Zivil.
Keine fünf Minuten vergingen, bis ich die Meldung erhielt: Sämtliche umliegenden Straßenzüge waren hermetisch abgeriegelt. Und zusätzliche Beamte waren bereits im Anmarsch, um die Wohnblocks innerhalb des Sperrgürtels zu durchforsten.
In einem der Patrol Cars nahm ich Funkverbindung mit dem FBI-District-Office auf.
»Ich brauche Fachleute für Sprengstoffanschläge«, erklärte ich meinem Kollegen Leon Eisner, der an diesem Sonntag in unserer Zentrale Dienst schob. »Sieh zu, wo du sie auftreibst, aber erledige es schnell!« Ich fügte die notwendigen Einzelheiten in Stichworten hinzu und beendete das Gespräch.
Irgendwo zwischen den Feuerwehrfahrzeugen stöberte ich einen tatenlosen Polizeiarzt auf, der auf das wartete, was die Beamten der Katastrophenbereitschaft zutage fördern würden. Ich ließ mir an Ort und Stelle einen Notverband anlegen. Der Doc schilderte in düsteren Farben, was passieren würde, wenn ich nicht umgehend die Ambulanz des nächstgelegenen Hospitals aufsuchte.
Ich hörte nur mit halbem Ohr hin und kehrte dann zu dem Lieutenant zurück, der inzwischen vollauf damit beschäftigt war, den Einsatz seiner Beamten per Funk zu koordinieren.
Bereits eine Stunde später stand fest, dass alle verfügbaren Gefangenentransporter der umliegenden Polizeireviere nicht ausreichen würden, um auf einen Schlag sämtliche Tramps und jugendlichen Streetgangster abzutransportieren, die in den Ruinen aufgescheucht worden waren.
Eine graue Limousine mit drei in Zivil gekleideten Beamten drang bis zur Kreuzung Brook Street – 142 nd Street vor. Spezialisten, die einer Sonderabteilung der City Police angehörten. Experten für alle Arten von Sprengstoffanschlägen.
Als die Leiche des Mädchens geborgen wurde, war bereits zu viel Zeit verstrichen. Ich glaubte nicht mehr daran, dass der Bursche, der das abbruchreife Haus in die Luft gejagt hatte, noch in der Nähe war. Wahrscheinlich hatte er seinen Fluchtweg so präzise vorbereitet, dass er nach der Explosion in Minutenschnelle das Weite gesucht hatte.
Wie schief ich mit dieser Vermutung lag, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.
Gemeinsam mit den Feuerwehrmännern krochen die Sprengstoffexperten in den Trümmern des eingestürzten Hauses herum.
Nachdenklich schüttelte ich den Kopf.
Okay, ein Mann wie Paul Sherrard hatte Feinde. Eine zwangsläufige Begleiterscheinung in seiner Branche. Aber diese Feinde benutzten ein Messer oder ein Schießeisen, wenn sie sich einen lästigen Kontrahenten vom Hals schaffen wollten.
Für Paul Sherrard war jedoch ein Aufwand betrieben worden, der einem Attentat auf einen ranghohen Politiker entsprach.
Welchen Sinn das ergeben sollte, begriff ich nicht.
Noch nicht.
»… steht damit vorläufig fest, dass der Anschlag zwei Menschenleben gefordert hat. Weder über die Identität der Toten noch über mutmaßliche Motive wurden bislang von der Polizei Auskünfte ge …«
Die Stimme des Nachrichtensprechers im lokalen Fernsehprogramm von NBC-TV versiegte, als Geoff Murray die Aus-Taste drückte.
Lächelnd blickte er dem Bild nach, das kleiner wurde und als glimmender Punkt in einer imaginären Tiefe der Bildröhre zu verschwinden schien.
Murray wandte sich ab, nahm den braunen Airlines-Koffer, der fertig gepackt auf dem Bett lag, und sah sich ein letztes Mal in dem spärlich möblierten Hotelzimmer um. Nein, nichts vergessen! Nicht das geringste, was auf seine Person hätte schließen lassen.
Wie gewohnt, ließ er die Maßnahmen seiner Spurenbeseitigung noch einmal gedanklich Revue passieren. Dann wischte er die Sensortasten des Fernsehgeräts mit dem Taschentuch ab. Es gab nichts mehr, was er übersehen hatte. Sein Gedächtnis funktionierte mit fotografischer Präzision.
Unten an der Rezeption gab er den Zimmerschlüssel ab und bezahlte die Rechnung für die eine Nacht, die er hier verbracht hatte. Der Schlüssel würde durch genügend Hände wandern, um seinen Teil-Fingerprint schon in den nächsten Stunden zu verwischen.
Murray trug einen leichten dunkelblauen Straßenanzug, dessen sportlicher Schnitt seine schlanke Statur unterstrich. Dazu ein Hemd mit feinem blaugrauen Streifenmuster, am Kragen offen.
Geoff Murray wusste, dass er für New York bei Tageslicht unauffällig genug gekleidet war. Falls ihn überhaupt jemand beachtete, würde man ihn für einen Touristen oder bestenfalls für einen Handelsvertreter halten. Den Einheimischen wollte er nicht spielen. Dazu kannte er die Stadt zu wenig.
Er ging einen Häuserblock weit, bis zur Ecke 8 th Avenue – 47 th Street, und winkte ein Taxi heran.
»Grand Central Terminal«, sagte er, warf den handlichen Koffer auf die hintere Sitzbank und schwang sich selbst in den Fond.
Der Fahrer musterte ihn mit einem flüchtigen Blick in den Innenspiegel.
Es gab nichts an Murrays Äußerem, was auffällig gewesen wäre, ungewöhnlich oder besonders einprägsam. Sein ovales Gesicht mit der schmalen Nase und dem dünnlippigen Mund hatte nichts Prägnantes, was jemals eine Frau veranlasst haben könnte, zweimal hinzusehen. Männer schon gar nicht.
Murray trug das dunkelblonde Haar halblang, die Ohren nur im Ansatz bedeckt. Eine blasse Narbe, etwa einen Inch lang, zog sich diagonal über seine rechte Wange. Eine zweite Narbe, parallel verlaufend und nur wenig kürzer, verlängerte seinen rechten Mundwinkel und gab seinem Gesicht einen Ausdruck ständiger Bitterkeit. Geoff Murrays dunkelbraune Augen blickten scheinbar interesselos und träge, doch es war nur ein Teil des tarnenden Schutzschildes, mit dem er sein äußeres Erscheinungsbild umgab.
Er stieg an der Vanderbilt Avenue aus, gab dem Taxi Driver ein durchschnittliches und damit unauffälliges Trinkgeld und schlenderte im Strom der Passanten in die riesige Bahnhofshalle der Grand Central Station.
Murray deponierte seinen Koffer in einem Schließfach, verstaute den Schlüssel sorgfältig in seinem Portemonnaie und gönnte sich eine halbe Stunde Zeit, um die Auslagen der Kioske zu betrachten. In einer Snack Bar bestellte er Kaffee, rauchte eine Zigarette dazu und verließ anschließend die Bahnhofshalle durch den Ausgang zur östlichen 42 nd Street.
Unmittelbar vor der Grand Central befand sich die Subway-Station, von der die Züge im Pendelverkehr zum Times Square fuhren.
Ohne sonderliche Eile lief Murray die schmutzigen Steinstufen hinunter, löste ein Automatenticket und wartete zwei Minuten auf den Zug. Der Fußboden der Subway-Wagen war mit alten Zeitungen und leeren Coke- und Bierdosen übersät. Murray rümpfte die Nase.
New York war eine dreckige, heruntergekommene Stadt, dreckiger als alle anderen Städte, die er in den Staaten kannte. Für ihn stand es schon jetzt fest, dass er keine Stunde länger als nötig hierbleiben würde, sobald er seine Aufträge erledigt hatte.
Am Times Square kehrte er auf die Erdoberfläche zurück. Auf dem Broadway gab es zu dieser sonntäglichen Mittagszeit mehr Fußgänger als in den übrigen Straßen Manhattans – elegant gekleidete Ehepaare ebenso wie Jugendliche in zerschlissenen Jeans und schmuddeligen Parkas.
Er löste eine Netzkarte, fuhr bis zur Montgomery Ward Building an der 32 nd Street, stieg um und verließ den zweiten Linienbus an der Kips Bay Plaza, Second Avenue.
Es gab eine Reihe von sechs Telefonzellen. Die ersten drei waren unbesetzt. Murray betrat die zweite und zog die Glastür hinter sich zu. Er warf einen ausreichenden Münzenvorrat in den Automatenschlitz, klinkte den Hörer aus und wählte eine achtstellige Nummer, die er im Kopf hatte.
Am anderen Ende wurde nach dem zweiten Rufzeichen abgehoben.
»Hallo?« Eine Männerstimme, dunkel, fast knarrend.
»Aurelia«, sagte Murray.
Kurze Pause. Dann ein Schnaufen.
»Hervorragende Arbeit, Mann. Wo stecken Sie jetzt?«
Murray legte auf. Er nahm das Wechselgeld aus der Rückgabemulde, verließ die Telefonzelle und winkte ein Taxi heran.
»Central Park South.«
Der Fahrer kurvte kreuz und quer durch Manhattan, ehe er das genannte Ziel ansteuerte. Eine bekannte Gewohnheit der New Yorker Taxi Driver, wenn sie glauben, einen Touristen an Bord zu haben, für den die Straßenschluchten unübersichtlich und hoffnungslos verwirrend sind. Murray protestierte nicht, obwohl er den Stadtplan im Gedächtnis hatte und die dollarschindenden Umwege des Fahrers sehr wohl mitbekam.
Eine halbe Stunde war seit seinem Anruf vergangen, als er an der Südseite des Central Park ausstieg, die Taxigebühr mit dem üblichen Trinkgeld zahlte und eine Telefonzelle vor dem Columbus Circle ansteuerte.
Abermals wählte er die Nummer, die er auswendig kannte.
Es war die gleiche Stimme, die sich meldete, angespannter diesmal, ungehalten.
»Aurelia«, sagte Murray.
»Zum Teufel«, knurrte der Mann am anderen Ende der Leitung, »was soll der Unsinn? Weshalb …?«
»Ich sage es Ihnen zum letzten Mal«, unterbrach Murray ihn, »stellen Sie mir nie wieder Fragen! Unsere Zusammenarbeit ist sonst beendet. Sofort. Haben Sie mich verstanden?«
»Mann, Sie spucken verdammt große Töne.«
»Ich kann es mir leisten. Wenn Ihnen irgend etwas nicht passt, sagen Sie es! Dann war dies der letzte Anruf.«
»Schon gut, Mann, regen Sie sich nicht künstlich auf! Ihre Methoden sind immerhin…« Wieder ein Schnaufen »… immerhin ungewöhnlich.«
Murray lachte leise.
»Deshalb bin ich noch am Leben. Zur Sache jetzt: Nummer eins und zwei sind in meiner Liste abgehakt. Irgendwelche Beanstandungen?«
»Menschenskind, nein! Ich bin hundertprozentig zufrieden.«
»Schön. Haben Sie die erste Rate bereitliegen?«
»In gebrauchten Scheinen, verschiedene Werte, wie bestellt.«
»Gut. Packen Sie ein Paket, und lassen Sie es in ein Schließfach in der Pennsylvania Station bringen. Den Schlüssel heben Sie gut auf. Ich gebe Ihnen Nachricht, wann und wie ich ihn mir hole.«
Murrays Gesprächspartner schnaufte. »Weshalb so umständlich? Sie tun gerade so, als ob Sie den Zaster überhaupt nicht brauchen.«
»Keine Fragen«, entgegnete Murray warnend, »und prägen Sie sich für alle Fälle eins ein: Falls Sie jemals auf den Gedanken kommen sollten, mir nachzuspionieren, rate ich Ihnen, es sich zweimal zu überlegen. Ich wäre schneller als Sie, denn ich weiß, wer Sie sind. Umgekehrt ist das nicht der Fall. Im Klartext heißt das: Wenn Sie versuchen, mich hereinzulegen, sind Sie ein toter Mann. Ihre Leute genauso. Begriffen?«
Der Mann schnaufte heftiger.
»Hölle und Teufel, ich kann nicht gerade sagen, dass es erfreulich ist, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
»Faseln Sie nicht herum! Was für Sie zählt, ist das Ergebnis. Richtig?«
»Klar, Mann. Sonst hätte ich Sie nicht gerufen.«
»Also weiter. Wer ist die Nummer drei auf der Liste?«
»Chester Simon. Weißer, 31 Jahre alt, unverheiratet. Aber er hat ein Mädchen, mit dem er zusammenlebt. Wilde Ehe, sozusagen.«
»Das genügt. Die Adresse!«
»Zwo-acht-acht, 151 st Street Manhattan. Wohnungsinhaberin ist das Girl. Die Kleine heißt Lorna Guildford. Noch was?«
»Nein, das reicht.«
»Übrigens …, wenn Sie was damit anfangen können: Simon ist ein Boxfan. Der Junge hat ein Abonnement für sämtliche Wettkämpfe im Madison Square Garden. Einmal die Woche, soweit ich weiß. Bei dem Gedränge, das da entsteht, ließe sich doch leicht was arrangieren, oder?«
»Weshalb lassen Sie den Job nicht von Ihren eigenen Leuten erledigen?«, entgegnete Murray kalt.
Der andere blies zischend die Luft durch die Zähne.
»Meine Güte! Ich wollte Ihnen doch nur ’nen Tipp geben.«
»Ich arbeite nach meinen eigenen Erkenntnissen. Legen Sie die zweite Rate bereit! Sie hören wieder von mir.«
Murray hängte ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Er steckte die überschüssigen Münzen ein, die in die Wechselmulde geklimpert waren, und verließ die Telefonzelle.
Mit einem Linienbus fuhr er zum Port Authority Bus Terminal an der 8 th Avenue. Aus einem Schließfach holte er einen schwarz glänzenden Lederkoffer, den er dort deponiert hatte.
Zu Fuß ging er zur 7 th Avenue hinüber und weiter bis zur Ecke 36th Street. Dort mietete er ein Einzelzimmer im Keystone Hotel, das zur unteren Preisklasse gehörte. Eine bessere Absteige für Touristen, die mit jedem Cent rechnen mussten.
Murray verriegelte die Tür von innen, legte die Sicherungskette vor, schaltete den Fernsehapparat ein, zog das Jackett aus und warf sich aufs Bett.
Er hatte genügend Zeit, um die stündlichen Lokalnachrichten des Senders NBC-TV zu verfolgen.
Ich stieß die angelehnte Tür unseres gemeinsamen Büros mit dem Fuß auf und trug die beiden Pappbecher mit dem brühheißen Automatenkaffee hinein. Besseres gab es nicht. Die Kantine im Distrikt-Office hat sonntags geschlossen.
Meine Beinwunde schmerzte kaum noch. Im Bellevue Hospital hatten sie mir eine Spritze verpasst und einen erstklassigen Verband angelegt.
Mein Freund und Kollege saß hinter seinem Schreibtisch und betastete den Schulterverband, über dem sich sein Hemd spannte. Er bedankte sich mit einem gequälten Lächeln, als ich ihm den schwarzen Lebenswecker hinstellte.
»Die Krankenschwestern wollten mich für eine Woche dabehalten«, grinste er, »wenn du nicht gekommen wärst, hätten sie mich glatt überredet.«
»Kein Zweifel daran«, entgegnete ich, ließ mich auf meinem gewohnten Drehstuhl nieder, verbrannte mir die Lippen an dem Kaffee und setzte eine Zigarette in Brand. »Was ist mit der Schulter?«
»Holzsplitter. Sie haben mir die Dinger im Hospital herausgezogen. Es hat fürchterlich geblutet, aber im Grunde waren es nur ein paar Kratzer.«
Ich nickte und wusste, dass mein Freund wieder mal mächtig untertrieb. Aber ich wusste auch, dass er es ebenso wenig wie ich fertigbrachte, untätig in einem Krankenzimmer herumzuhängen, während sich draußen rivalisierende Gangsterorganisationen die Köpfe einschlugen.
War es das? Rivalität? Ein Konkurrenzkampf, der plötzlich mit unerbittlicher Härte entbrannt war?
Möglich.
Aber im Moment wussten wir einfach zu wenig, um unsere Vermutungen in die richtigen Bahnen zu lenken.
Ich blickte auf meine Armbanduhr. Zwei Uhr nachmittags. An ein gepflegtes Dinner in irgend einem Restaurant, wie wir es uns vorgenommen hatten, war vorläufig nicht zu denken.
Ich angelte meinen Telefonhörer von der Gabel und wählte die Nummer des City Police-Hauptquartiers. Der Beamte in der Zentrale verband mich mit der Sonderabteilung der Sprengstoffexperten.
»Captain Holbrook«, meldete sich eine sonore, fast militärisch klingende Stimme, die ich auf Anhieb wiedererkannte.
»Trevellian, FBI«, sagte ich, »wir haben heute morgen in der Süd-Bronx miteinander gesprochen. Richtig?«
»Richtig. Und wie ich das FBI kenne, hättet ihr unsere Ergebnisse am liebsten gestern.«
Ich schmunzelte.
»Sie kennen uns ziemlich gut, Mr. Holbrook. Aber die Tatsache, dass Sie sich in Ihr Büro zurückgezogen haben, lässt mich hoffen.«
Milo kam herüber und stülpte sich die Mithörmuschel über das Ohr.
»Hieb- und Stichfestes kann ich noch nicht liefern«, erklärte der Captain, »vorläufig sind es nur ein paar Puzzlestücke, die wir noch zusammenfügen müssen. Nageln Sie mich also bitte nicht darauf fest!«
»Ich denke, Sie kennen das FBI.«
»Schon gut. Folgendes: Nach den Beweisstücken, die wir bislang sicherstellen konnten, hat sich Sherrard selbst in die Luft gejagt … beziehungsweise sich die Hauswand auf den Kopf fallen lassen.«
Mir verschlug es sekundenlang die Sprache. Milo und ich sahen uns verblüfft an.
»Wenn ich Sherrard richtig einschätze«, sagte ich dann, »hat er seinen Selbstmord garantiert nicht freiwillig begangen. Oder?«
»Nein. Wir haben den Zündmechanismus der Sprengladung fast lückenlos rekonstruiert. Ich will Ihnen die technischen Einzelheiten ersparen. Die Zündung wurde in dem Moment ausgelöst, als Sherrard den Griff für seine Zigarettenmarke aus dem Automaten zog. Der Stromkreis wurde geschlossen und … den Rest kennen Sie.«
Das zweite Telefon schrillte. Milo hängte die Mithörmuschel weg, lief hinüber zu seinem Schreibtisch und nahm ab.
»Captain Holbrook«, sagte ich fassungslos, »sind Sie hundertprozentig von dem überzeugt, was Sie mir da eben gesagt haben?«
»Mr. Trevellian«, erwiderte er leicht pikiert, »was den Zündmechanismus betrifft, gibt es keinen Zweifel mehr. Wir haben genügend Fundstücke aus dem Trümmerhaufen. Fest steht, dass ein überdurchschnittlicher Experte am Werk war. Ich habe in New York noch nichts Vergleichbares gesehen. Die Attentäter, die wir hier bislang hatten, waren dagegen Stümper. Sobald wir Genaueres über Art und Anbringung der Sprengladung wissen, können wir Ihren FBI-Computer in Washington befragen. Vielleicht ist unser geheimnisvoller Bombenkünstler schon woanders in Erscheinung getreten.«
Ich schüttelte den Kopf, immer noch ungläubig.
»Holbrook, sind Sie sich darüber im Klaren, was Ihre Feststellungen bedeuten?«
»Ihr Bier, Trevellian. Ich beneide Sie nicht darum. Unser Job ist es, aus ein paar Tonnen Schutt all die winzigen Teilchen herauszusieben, die wie Kabelreste und Metallsplitter aussehen.«
»Schicken Sie mir Ihren Bericht«, bat ich.
»Morgen oder übermorgen. Festlegen kann ich mich noch nicht.«
»Danke, Ende.« Ich legte auf und blickte zu Milo hinüber. Meine Gedanken kreisten.
Milo notierte schweigend, was sein Anrufer ihm vorbetete.
Ich konnte es noch immer nicht fassen. Paul Sherrard erschien pünktlich zur gewohnten Zeit und an der gewohnten Stelle, um sich mit seinem Girl zu treffen. Bevor die beiden losfuhren, zog Sherrard eine Packung Zigaretten aus dem Automaten.
Auch Gewohnheit?
Ich riss noch einmal den Hörer von der Gabel und störte Captain Holbrook erneut in seiner Puzzlearbeit.
»Ist der Automat halbwegs heil geblieben?«
»Ziemlich verbeult und angesengt.«
»Wieso?«
»Welche Zigarettenmarke hat Sherrard gezogen?«
»Oh, sorry … das hätte ich Ihnen vorhin schon sagen können: Camel mit Filter.«
»Danke.«
Ich tippte auf die Gabel, wählte eine andere Nummer, die ich auswendig kannte. Das Rufzeichen ertönte ein halbes Dutzendmal, ehe am anderen Ende abgenommen wurde.
Mein Gesprächspartner meldete sich mit einem herzerfrischenden Gähnen, hustete sich die Glimmstängel der letzten Nacht aus der Lunge. Ich wusste, dass er noch eine Weile brauchte, ehe er seine Kehle klar hatte.
»Quincy!«, rief ich, um sein Husten zu übertönen. »Welche Zigarettenmarke rauchte Sherrard?«
Das Husten brach ab. Dann ein Räuspern.
»Trevellian, sind Sie denn … Teufel auch, was wollen Sie noch wissen? Welche Zahnpasta, welches Rasierwasser, welche Schuhgröße? Der gute alte Quincy schüttelt so was natürlich im Handumdrehen aus dem Ärmel. He … sagten Sie: rauchte?«
»Haargenau. Sherrard hat es erwischt. Ich habe keine Zeit, Quincy. Können Sie mir die Information liefern? Es ist verdammt wichtig.«
»Wenn Sie es sagen … okay, geben Sie mir eine Stunde. Vergessen Sie nicht, dass vernünftige Menschen an einem Sonntag um diese Zeit schlafen! Sonst noch was?«
»Ja. Halten Sie die Ohren offen! Alles, was über Sherrards Tod geredet wird, interessiert mich.«
Ich legte auf. Milo hatte sein Gespräch ebenfalls beendet.
»Was redest du dauernd von Zigaretten?«, erkundigte er sich stirnrunzelnd. Ich erklärte es ihm.
»Du meinst, der Bombenleger hat haargenau gewusst, dass Sherrard heute morgen um acht Uhr eine Packung Camel-Filter aus diesem Automaten ziehen würde?«
Ich nickte.
»Wenn ich nicht ganz falsch liege, hat der Bursche sogar noch mehr gewusst. Dass nämlich mit ziemlicher Sicherheit kein anderer vor Sherrard aufkreuzen würde, um sich mit Zigaretten zu versorgen.«
»Hm. Der Killer war also überhaupt nicht am Tatort, als die Ladung hochging. Deshalb auch die erfolglose Durchsuchungsaktion. Die City Police hat gerade durchgegeben, dass alle Festgenommenen wieder auf freien Fuß gesetzt werden mussten.«
»Logisch. Nach dem, was Captain Holbrook über die Zündanlage herausgefunden hat, hätten wir es uns sparen können, an Ort und Stelle nach Verdächtigen zu suchen.« Ich nahm einen Schluck von dem inzwischen erkalteten Kaffee. »Okay. Wir fahren zweigleisig. Erstens lassen wir uns von Washington die Daten über alle Bombenanschläge der letzten drei Jahre durchpusten.«
»Willst du eine Lesewoche einlegen?«
»Arbeit lässt sich aufteilen. Schließlich wissen wir, wonach wir suchen. Zweitens werden wir Rowntree auf den Pelz rücken. Wir haben mehr als nur Gerüchte.«
»Deshalb empfängt er uns trotzdem nicht mit offenen Armen.«
»Dich sowieso nicht«, grinste ich, »mit deiner Schulter bist du höchstens innendienstfähig.«
Milo wollte protestieren. Aber jetzt fingen die Drähte an heiß zu laufen. Das Schrillen meines Telefons schnitt ihm den Protest von den Lippen ab.
Ich meldete mich.
»McKee«, ertönte die stets gleichbleibend energische Stimme unseres Chefs, »bitte kommen Sie sofort herüber, Jesse!«
»Sie sind im Office, Sir? Heute?«
»Seit fünf Minuten. Alles Weitere besprechen wir gleich.«
Ich versenkte den Hörer in die Gabel, winkte Milo zu und stürmte hinaus. Mein Freund folgte mir, den Notizzettel in der Hand. Jonathan D. McKee, Chef des FBI-Distrikts New York, war eben dabei, den Mantel abzulegen, als wir sein Office betraten. Er musterte Milos aufgebauschte Schulter mit einem kurzen Blick und nickte.
»Ich habe eben von Ihrer Aktion in der Süd-Bronx erfahren«, sagte der Chef und wandte sich uns zu, »ich wurde wegen eines anderen Falles benachrichtigt. Die Meldung lief in unserer Zentrale ein: Lennie Justin verunglückte heute morgen auf der Küstenstraße bei Oakbeach, Long Island. Die Suffolk County Police hat sehr viel Zeit gebraucht, um die Leiche zu bergen und zu identifizieren.«
Milo und ich mussten uns setzen. Diese neue Nachricht war mehr als ein Paukenschlag.
Lennie Justin.
Paul Sherrard.
Bedeutete dies den Anfang eines mörderischen Krieges in der New Yorker Unterwelt? Ich kannte noch mindestens ein Dutzend weitere Namen auswendig, die in die Kategorie Justin und Sherrard passten. Rowntrees Killer- und Schlägertruppe, auf die wir seit Langem ein wachsames Auge warfen. Handelte es sich tatsächlich um einen von Rowntrees Konkurrenten, der plötzlich mit diesem enormen Aufwand eine blutige Fehde anzettelte?
»Justin war auf dem Heimweg«, erklärte der Chef, »er hatte draußen in Oakbeach eine Wohnung am Meer gemietet. Soweit wir wissen, hatte er die Nacht wie üblich damit verbracht, die Einnahmen aus Rowntrees Glücksspiel-Racket abzukassieren.«
»Aber der Unfall war kein Unfall«, folgerte ich.
Jonathan D. McKee schüttelte den Kopf. »Nervengas aus Armeebeständen. Die Flasche war versteckt unter dem Armaturenbrett angebracht und wurde durch einen Zeitzünder ausgelöst. Das Zeug wirkt innerhalb von zwei, drei Sekunden. Sie kennen diese Lehrfilme, die den Rekruten bei der Army vorgeführt werden.«
Milo und ich nickten. Grauenhafte Bilder menschlichen Leidens. Lennie Justin musste einen qualvollen Tod gestorben sein.
Doch abgesehen von diesen Einzelheiten, nahm eine Vermutung, die in mir aufstieg, allmählich handfeste Formen an.
Ich berichtete über die Ermittlungsergebnisse, die bislang im Fall Sherrard vorlagen. Und ich sah, wie die Miene des Chefs versteinerte. Es war klar, dass sich seine Gedanken in die gleiche Richtung bewegten wie die meinen.
»Die City Police konnte Sherrard inzwischen eindeutig identifizieren«, fügte Milo hinzu, »Das Mädchen hieß Avril Grainger. Kaufmännische Angestellte bei Sperry Rand im Rockefeller Center. Wie sie ausgerechnet an Sherrard geraten ist, werden wir wohl nie mehr erfahren.«
Jonathan D. McKee und ich wechselten einen bedeutungsvollen Blick.
»Zwei Mann aus Rowntrees Fußvolk werden am gleichen Tag ermordet«, sagte ich, »in beiden Fällen werden raffiniert ausgeklügelte Methoden angewendet, die eine genaue Kenntnis von den Gewohnheiten der Opfer zur Voraussetzung haben. Und: In beiden Fällen hat sich der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht am Tatort aufgehalten.«
»Keine voreiligen Schlüsse«, entgegnete der Chef, »uns bleibt im Augenblick nichts anderes, als den Hebel bei Rowntree anzusetzen, auch wenn wir Gefahr laufen, mit der Tür ins Haus zu fallen.«
»Ich übernehme das«, erklärte ich, »aber ich bin der Meinung, dass wir trotzdem schon eine Anfrage an Washington abschicken sollten … bezüglich aller Sprengstoffanschläge in den letzten drei Jahren.«
»Einverstanden«, sagte Mr. McKee und blickte Milo an.
Mein Freund und Kollege seufzte.
»Ich sehe, ich bin hoffnungslos überstimmt. Also, auf in den Papierkrieg!«
»Mit Ihrer Verletzung«, belehrte ihn der Chef, »müsste ich Sie eigentlich mindestens für eine Woche nach Hause schicken. Wenn ich es trotzdem nicht tue, dann nur, weil ich Ihren Dickschädel kenne.«
Milo sagte nichts mehr.
Der rostrote Volkswagen-Käfer rollte mit spuckendem Motor auf den Hof unserer Fahrbereitschaft, als ich im Laufschritt meinen Sportwagen ansteuerte.
Ich gab mir eine Minute Zeit, wartete lächelnd, bis der Käfer neben meinem roten Flitzer patschend zur Ruhe kam.
Jolene Danvers strahlte mich an, als sie ausstieg.
»Hallo, Jesse! Verdirbst du dir auch das Wochenende?«
»Dir scheint es Spaß zu machen, Kollegin«, erwiderte ich, »ist das Diensteifer, oder hast du einen Erfolg verbucht – eine unserer ehrenwerten Mafia-Familien hinter Schloss und Riegel gebracht?«
»Spotte nicht«, schmollte Jolene, »du weißt genau, dass ich vorläufig nur gegen weibliche Kriminelle eingesetzt werde.«
»Ein Job, um den ich dich nicht beneide. Lieber zehn hartgesottene Gangster jagen als eine Giftmischerin, die mit allen Tricks und Raffinessen arbeitet.«
»Jetzt brauchst du nur noch von der Statistik zu reden. Dass mit der zunehmenden Emanzipation auch die weibliche Kriminalität sprunghaft angestiegen ist …«
»Brauchst du einen Tipp?«, unterbrach ich sie, um das Ganze nicht in eine langwierige Diskussion ausarten zu lassen. Jolene lachte.
»Was tust du, um ein Mädchen zu überführen, das zur Tarnung halbtags als Sekretärin arbeitet, abends Bardame ist und nebenbei Drogen verkauft?«
»Kein Problem«, antwortete ich, »ich würde in ihre Bar gehen und mit ihr anbändeln.«
»Himmel!«, seufzte Jolene in gespielter Verzweiflung. »Ihr Männer seid uns immer noch ein Stück voraus, wie?«
»Die Sache mit dem kleinen Unterschied«, nickte ich, »sag mir Bescheid, wenn ich für dich einen Barbesuch unternehmen soll.«
»Ich werde es mir überlegen«, erwiderte Jolene lächelnd, winkte mir noch einmal zu und wandte sich ab.
Ich blickte ihr sekundenlang nach, wie sie über den Hof ging. Jolene Danvers war eine bezaubernde junge Frau, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Als Spezialagentin des FBI war sie seit einem knappen halben Jahr unsere Kollegin. Sie hatte die Ausbildung auf der FBI-Akademie in Quantico mit Erfolg absolviert und war auf ihren persönlichen Wunsch und dank der Fürsprache Jonathan D. McKees zum Distrikt New York versetzt worden.
Vom Typ her erinnerte sie ein wenig an Kim Novak. Sie trug das blonde Haar halblang, weil es für den Beruf praktisch war. Aus dem gleichen Grund trug sie eine weiche hellbraune Lederjacke und enganliegende blaue Hosen im Jeans-Stil.