Ein Harry Kubinke Kriminalroman
von Alfred Bekker
Harry Kubinke und sein Kollege Rudi Meier nehmen an einer
großangelegten Operation gegen CASH FLOW teil, einem illegalen
Bezahldienst im sogenannten Darknet. Marvin Manteufel wird
verhaftet, der Kopf dieser Organisation. Zeitgleich greifen auch
Beamten in anderen Städten zu, um diese kriminelle Organisation zu
zerschlagen. Doch nach kurzer Zeit kommen Zweifel auf, ob das
Netzwerk wirklich zerschlagen wurde.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian
Leschek, Jack Raymond, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und
Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Twitter
https://twitter.com/BekkerAlfred
Zum Blog des Verlags geht es hier
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
1
Sie trafen sich zum Essen im nobelsten Lokal, das man in
Quardenburg finden konnte. Auch wenn das den gehobenen Ansprüchen
von Herrn Förnheim nicht unbedingt entsprach, und natürlich nicht
mit der gehobenen Gastronomie in Berlin oder Förnheims Hamburger
Heimat zu vergleichen war. Annehmbar, das war Herrn Förnheims
Urteil gewesen. Einigermaßen annehmbar. Oder anders ausgedrückt:
Man musste sich nicht übergeben.
Sie waren beide hochqualifizierte Sachbearbeiter im
Erkennungsdienst des Bundeskriminalamts: Er, Friedrich G. Förnheim,
mit mehreren Doktortiteln ausgestatteter Forensiker mit
akademischen Graden in Physik, Chemie, Pharmakologie und ein paar
mehr oder minder verwandten Gebieten. Sie, Lin-Tai Gansenbrink, war
IT-Spezialistin und Mathematikerin. Allerdings hatte sie nur einen
Doktortitel, was sie in Förnheims Augen zu einer allenfalls
mittelmäßig Begabten degradierte.
Sie waren Kollegen, arbeiteten oft zusammen.
Förnheim war gleichermaßen für sein Genie wie für seine
Arroganz bekannt. Menschen mit einem IQ, der nicht im Bereich
seiner eigenen Spitzenwerte lag, waren für ihn wahlweise Objekte
des Mitgefühls oder des Forschungsinteresses, aber keineswegs
adäquate Gesprächspartner, mit denen er seine Zeit
verschwendete.
Als Test für die intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit des
Gegenübers verwendete Förnheim häufig feinsinnige Ironie oder
raffiniert-zynischen Humor.
Wer das nicht verstand, landete in der Rubrik Dummerchen.
Bedauernswert, hilfsbedürftig, aber ein längeres Gespräch wäre
Zeitverschwendung gewesen.
Frau Gansenbrink hingegen war bekannt dafür, dass ihr
jeglicher Sinn für Humor abging und dass ihr insbesondere jedes
Verständnis für Ironie völlig fehlte. Sie war eben ein trockener
Zahlenmensch.
Mit anderen Worten: Zwischen den beiden herrschten die besten
Voraussetzungen für ein prickelndes Date.
“Ich hoffe sehr, dass die zugegebenermaßen etwas einfache
Quardenburger Küche einem kultivierten Gourmet wie Ihnen zusagt”,
sagte Lin-Tai Gansenbrink.
Förnheim sagte: “Oh, seien Sie versichert, Frau Kollegin, ich
werde zumindest satt - auch wenn Sie natürlich Recht haben, dass
ich die lokale Küche für gewöhnlich meide, soweit das möglich ist.
Allerdings - besser als unsere Kantine ist dieses Etablissement
schon! Das muss ich zugeben!”
“Dann bin ich ja beruhigt”, sagte Frau Gansenbrink.
Förnheim hob die Augenbrauen.
“Etwas überrascht war ich allerdings schon, Lin-Tai!”
Sie nannten sich beim Vornamen. So viel Kollegialität musste
sein. Selbst für Förnheim, der eigentlich niemanden, mit dem er
zusammenarbeitete, auch nur annähend als gleichwertig ansah.
“Worüber waren Sie überrascht?”, fragte Frau
Gansenbrink.
“Darüber, dass Sie mich eingeladen haben!”
“So wie ich überrascht darüber war, dass Sie die Einladung
überhaupt angenommen haben!”
“So ist es uns also anscheinend gelungen, uns gegenseitig zu
überraschen!”
“Sie sagen es!”
“Wieso haben Sie mich denn eingeladen?”, fragte Förnheim.
“Mein Sinn für Humor kann es ja wohl nicht sein, dem können Sie ja
eben sowenig folgen wie anderen Gedankengängen meinerseits, die ich
ja, wenn ich sie im dienstlichen Zusammenhang äußere, für Sie immer
möglichst auf das Wesentliche reduziere!”
“Ich habe Sie eingeladen, um Ihnen im privaten Rahmen eine
Frage zu stellen, die mich beschäftigt.”
Förnheim lächelte kurz. “Das soll jetzt aber nicht so etwas
wie ein Heiratsantrag werden, wie ich hoffe! Unsere Kinder hätten
auf Grund des von Ihnen eingebrachten DNA-Anteils auf jeden Fall
massive Schulschwierigkeiten und wäre kaum in der Lage, einen
ersten Universitätsabschluss zu machen bevor sie 15 - also uralt! -
sind! Meines Erachtens wäre das unverantwortlich!”
“Keine Sorge, darum geht es nicht.”
“Dann bin ich ja froh, dass ich nicht Opfer eines plötzlichen
Anfalls von romantischer Zudringlichkeit Ihrerseits werde, wie es
scheint.”
“Ganz sicher nicht.”
“Und was ist das für eine Frage, die Sie mir stellen
wollen?”
“Es geht um die Staatsanwältin, die vor kurzem verstorben
ist.”
“Was habe ich mit der zu tun?”
“Ich denke, dass Sie sie umgebracht haben, Friedrich.”
Eine Pause entstand.
Friedrich G. Förnheim blickte auf. Nur einen kurzen Moment
erschien ein Ausdruck von Überraschung in seinem Gesicht.
Er meinte: “Das sagt Ihre algorithmus-basierte Analyse aller
Fakten, richtig?”
“So ist es. Ich kann nicht genau sagen, wie Sie es gemacht
haben. Aber es spricht alles dafür, DASS Sie für ihren Tod
verantwortlich sind. Natürlich gehe ich eingedenk Ihres Genies
davon aus, dass es dafür keine physischen Beweise gibt. Schließlich
kennen Sie alle Tricks - als Forensiker, Tatortanalyst,
Ballistiker, Chemiker und was Sie sonst alles so sind!”
“Die Staatsanwältin, von der Sie sprachen, hat Beweise
gefälscht, um einen geistig zurückgebliebenen Mann verhaften zu
können, von dem sie glaubte, dass er ein paar Kinder umgebracht
hat. Sie hat dafür gesorgt, dass die Mitgefangenen von der Anklage
wussten und er entgegen den Gepflogenheiten nicht in Einzelhaft
war, was dazu führte, dass man den Verdächtigen umgebracht hat. Wie
sich später herausstellte, war er völlig unschuldig.”
“Und Ihr bekanntermaßen unerbittlicher Sinn für Gerechtigkeit
hat das nicht ertragen!”
“Ich finde, so jemand sollte nicht bei der Staatsanwaltschaft
sein. Und ich finde, dass so jemand bestraft gehört.”
“Womit wir dann bei dem wären, was mir unter anderem noch
fehlte: Ihrem Motiv für die Tat, Friedrich!”
“Falls Sie auf ein verbales Geständnis meinerseits aus sind,
weil natürlich schon festgestellt haben, dass es unmöglich ist,
physische Beweise gegen mich zu finden, möchte ich Sie auf
folgendes hinweisen: Ich trage aus persönlichen Sicherheitsgründen
immer einen selbstgebauten, aber sehr effektiven Störsender bei
mir, der jegliche Abhörtechnik in meiner Umgebung unbrauchbar
macht.” Er nahm sein Handy aus der Jacketttasche und hielt ihr das
Display hin. “Das ganze wird über eine praktische App gesteuert.
Die Technik, mit der Sie sich verkabelt haben, ist wirkungslos. Sie
werden damit nicht mehr als ein Rauschen aufzeichnen,
Lin-Tai!”
Frau Gansenbrink schluckte.
Förnheim fuhr fort: “Ich gehe davon aus, dass Sie das selbst
installiert haben. Sollte es allerdings noch weitere beabsichtigte
Zuhörer dieses Gesprächs geben oder sollten Sie dieses Rauschen an
Ihren Rechner senden, so empfehle ich Ihnen, Ihre Apparatur jetzt
abzuschalten. Warum? Weil jetzt der Teil des Gesprächs kommt, der
für Sie peinlich werden könnte und Sie wissen ja nicht, ob ich ganz
plötzlich meinen Störsender abgeschaltet habe, sodass dann ein
kompromittierender Mitschnitt auf Ihrem Rechner oder einem Server,
zu dem Sie Zugang haben zu finden ist. Ich würde das
vermeiden.”
Frau Gansenbrink fasste unter ihre Bluse und ruckelte etwas
herum. “Das ist nur mein BH, der etwas kneift.”
“Natürlich!”
“An Ihren Vermutungen ist nichts dran!”
“Haben Sie in der letzten Zeit doch noch gelernt, was Ironie
ist - oder meinen Sie das wirklich im Ernst, Lin-Tai?”
“Ich frage mich, wie ich damit umgehen soll, mit jemandem
zusammenzuarbeiten, der ein Mörder ist!”, sagte Frau
Gansenbrink.
“Finden Sie denn nicht, dass die Staatsanwältin Ihr Schicksal
verdient hat. Lin-Tai.”
“Darum geht es hier nicht.”
“Oh, das hätte ich mir denken können. Mit einem geistig
Minderbemittelten, der von einer ehrgeizigen Staatsanwältin in den
Tod getrieben wurde, hat jemand wie Sie kein Mitleid. Das wundert
mich nicht. Mittelmäßige Talente haben mit Menschen, die sie für
weniger klug halten oft keinerlei Empathie. Die wirklich Begabten
hingegen schon.”
“Damit meinen Sie dann sich selbst!”
“Natürlich!”
“Friedrich, egal ob diese Frau ein Scheusal war: Was Sie getan
haben, war falsch! So etwas dürfen wir nicht!”
“Es war ein Dienst an der Gesellschaft und der Gerechtigkeit.
Lin-Tai. Sie hätte noch viel Schaden anrichten können.”
“Aber... es ist ungesetzlich, Friedrich!”
Förnheim zuckte die Achseln.
“Meinen Sie so ähnlich wie die kriminellen Anlagegeschäfte,
die Sie nebenbei betreiben, Lin-Tai?”
“Wie?”, fragte sie und schien jetzt zum ersten Mal überrascht
zu sein.
“Nicht nur Sie haben sich anscheinend bemüht, etwas über mich
herauszufinden, sondern umgekehrt sind mir bei Ihnen auch ein paar
Dinge aufgefallen, denen ich nachgegangen bin. Sie benutzen Ihre
Fähigkeiten und Ihr Equipment sowie Ihre Zugangsmöglichkeiten zu
sensiblen Informationen, die eigentlich ausschließlich beruflich
genutzt werden dürfen, um Ihre finanziellen Interessen zu
verfolgen. Und im Gegensatz zu den Dingen, die Sie über mich
herausgefunden haben wollen, lassen sich diese Dinge beweisen. Ich
verfüge da familiär bedingt über ein paar hilfreiche Kontakte unter
Hamburger Geschäftsleuten. Wie auch immer. Sie nutzen für Ihre
Anlagegeschäfte eine Plattform, die Teil von Terra Nostra ist,
einem kriminellen Netzwerk. Mittelbar profitieren Sie von der
Geldwäsche des organisierten Verbrechens. Dem ein- oder anderen
Investor, der sich daran beteiligt, wird man am Ende vielleicht
noch abnehmen, dass er diese Hintergründe nicht kannte - einer
BKA-Expertin aber wohl kaum.”
“Wollen Sie... mich anzeigen?”, fragte Frau Gansenbrink.
“Warum denn? Nein, ich denke, wir lassen alles, wie es ist.
Allerdings empfehle ich Ihnen, Ihr Erspartes möglichst bald von
dieser dubiosen Plattform abzuziehen. Es könnte sonst peinlich für
Sie werden.”
“Wieso?”
“Nun, spätestens dann, wenn gegen dieses Netzwerk ermittelt
wird. Und wie ich gehört habe, steht da ein Schlag unmittelbar
bevor.” Förnheim lächelte. “Ja, es gibt Menschen, die noch besser
informiert sind als Sie! Auch, wenn Sie das bisher nicht für
möglich gehalten haben.” Er sah sie an. “Anscheinend haben wir alle
unsere dunklen Seiten, Lin-Tai. Übrigens hat man mir eine
Beteiligung an den Geschäften, mit denen Sie so gut verdienen, auch
angeboten. Das ging über Kontakte aus meiner Familie und eine
Geschäftsmann, der... aber auch egal. Ich habe das abgelehnt.
Manche Dinge sind eben eine Frage des Charakters.”
2
Auf dem Anwesen von Marvin Manteufel...
„Zum Teufel mit diesen Schweinen!”
Marvin Manteufel trug einen dunklen Rollkragenpullover. Sein
Gesicht war zur Maske verzerrt. Er stand an der offenen Haustür,
riss seine MPi hoch und feuerte. Mündungsfeuer blutete aus der
Waffe heraus. Dreißig Schuss knatterten mit dem ersten Feuerstoß
aus der Waffe heraus. „Das ist für euch! Wenn ihr mich kaputt zu
machen versucht, mache ich euch kaputt!”
Erneut feuerte Manteufel die Waffe ab, so lange bis das ganze
Magazin leergeschossen war.
Eine Megafonstimme ertönte.
„Achtung! Achtung! Das Gelände ist umstellt. Legen Sie Ihre
Waffen auf den Boden und leisten Sie keinen Widerstand.”
Ein Helikopter mit der Kennung der Polizei näherte sich jetzt
dem Anwesen und kreiste über dem Haupthaus.
Manteufel zog sich ins Haus zurück und ging in Deckung. Er
riss das leergeschossene Magazin aus seiner Waffe, lud ein neues
nach und eröffnete erneut das Feuer.
3
Ich duckte mich hinter den Kotflügel unseres Dienstfahrzeugs.
Eine MPi knatterte los und nur Augenblicke später wurde aus einer
Reihe weiterer Waffen geschossen. Ein wahrer Kugelhagel prasselte
in unsere Richtung. Scheiben gingen zu Bruch. Aus Reifen entwich
die Luft.
Ich hielt meine Dienstpistole in der Faust. Mein Kollege Rudi
Meier befand sich in meiner Nähe. Er war ebenso in Deckung gegangen
wie ich.
Wie alle anderen an dieser Großoperation beteiligten Kollegen
trugen wir eine schusssichere Kevlar-Weste. Über ein Headset waren
wir funktechnisch alle untereinander verbunden.
Die Einsatzleitung lag in diesem Fall bei meinem Kollegen
Rudi.
Die Schussgeräusche mischten sich jetzt mit dem Rotorenlärm
eines Helikopters, der für uns im Einsatz war. Er stieg deutlich
höher und kreiste über dem Hauptgebäude des Marvin Manteufel
Anwesens. Dieser weiträumige Landsitz lag nur ein paar Meilen von
der Stadt Martinsburg. Niemand sah dieser ländlichen Idylle an,
dass von hier aus eine der größten und effektivsten
Geldwaschanlagen betrieben wurde, die es in der Geschichte des
organisierten Verbrechens je gegeben hatte.
Hier stand ein Teil der Server, mit deren Hilfe CASH FLOW
betrieben worden war, ein illegaler Bezahldienst im sogenannten
Darknet, dem dunklen, nicht für jedermann zugänglichen Teil des
Internets. Über CASH FLOW waren anonyme Zahlungen über den ganzen
Globus möglich, die in einer virtuellen Währung abgewickelt wurden.
Es gab keine Limits, keine Regeln, keine Möglichkeit der
Rückverfolgung. Ein Service, der sich ideal für Geldwäsche und
illegale Geschäfte aller Art eignete, angefangen vom
Drogen-Großdeal bis zur Bezahlung eines Lohnkillers. Und anders als
bei legalen Bezahldiensten dieser Art, war es unmöglich, den Weg
des Geldes zu verfolgen.
Das Internet-Genie Marvin Manteufel hatte sich mit CASH FLOW
ein dunkles Imperium aufgebaut und mutmaßlich Milliarden Euro
verdient.
Aber jetzt war er dran. Intensive, langwierige Ermittlungen
des BKA, die Steuerbehörden von drei Dutzend Staaten und
verschiedener anderer Polizeieinheiten, die im Kampf gegen das
organisierte Verbrechen aktiv waren, hatten schließlich dazu
geführt, dass nun der Tag X gekommen war.
Zeitgleich mit unserem Einsatz fanden an mehr als zwei Dutzend
Orten im In- und Ausland ebenfalls Verhaftungen statt. CASH FLOW
war ein international agierender Faktor des organisierten
Verbrechens geworden und damit war Marvin Manteufels Organisation
auch nur international wirklich nachhaltig zu bekämpfen. Man kann
sich vorstellen, wie schwierig die Koordination einer derartigen
Aktion im Vorfeld gewesen war. Allein die juristische Abstimmung
war ein gewaltiges Problem gewesen.
Aber das Zentrum dieser Krake, die sich global ausgebreitet
hatte, lag hier, in diesem idyllischen Ort. So zumindest lauteten
unsere bisherigen Erkenntnisse.
Wir waren mit einem großen Aufgebot an Einsatzkräften
angerückt. Das gesamte Gebiet um Marvin Manteufels Besitz war
dermaßen abgeriegelt, dass eine Flucht unmöglich war.
Nicht einmal in die Luft konnte er entkommen, obwohl diese
Möglichkeit grundsätzlich gegeben war. Manteufel unterhielt auf
seinem Gelände nämlich einen kleinen Privatflugplatz. Der war
allerdings bereits von Einsatzkräften eingenommen und gesichert
worden. Blieb der Helikopterlandeplatz direkt neben seinem
Wohnhaus. Aber um dort hinzugelangen hätte Manteufel zumindest für
kurze Zeit das Haus verlassen müssen. Und davon abgesehen wäre ein
Start des Helikopters unter den gegenwärtigen Umständen völlig
unmöglich gewesen.
Manteufel hatte selbst einen Flugschein. Er konnte sowohl
Flugzeuge, als auch Helikopter fliegen. Letzteres hatte er während
seiner Zeit in der Bundeswehr gelernt, aus der er schließlich wegen
Veruntreuung von Bundeswehreigentum entlassen worden war. Das war
sein erstes Strafverfahren gewesen. Manteufels kriminelle Energie
hatte sich bereits im Ansatz offenbart. Nur war er damals noch
lange nicht so geschickt gewesen, wie später. Jedenfalls hatte man
ihn danach jahrelang nicht mehr erfolgreich anklagen können.
Aber das würde sich mit dem heutigen Tag ganz sicher
ändern.
Es lag bereits mehr als genug an gut dokumentiertem
Beweismaterial vor, um Manteufel und seine Helfershelfer für sehr
viele Jahre aus dem Verkehr zu ziehen.
Wieder prasselten Kugeln in unsere Richtung. Manteufel und
seine Getreuen waren schwer bewaffnet. Offenbar verfügten sie über
ein ganzes Arsenal von automatischen und halbautomatischen
Waffen.
„Das wird nicht so einfach, den Kerl und seine Meute da
herauszuholen”, meinte Rudi.
Zeit war in so einem Fall immer ein wichtiger Faktor. Und
dieser Faktor arbeitete grundsätzlich für uns. Schließlich hatten
wir es mit gewöhnlichen Kriminellen zu tun, die letztlich ein
Interesse daran hatten, mit heiler Haut aus der Sache
herauszukommen. Bei fanatisierten Terroristen oder psychisch
kranken Amokläufern lag die Sache natürlich anders. Aber es gab
keinerlei Hinweis darauf, dass so etwas hier im Spiel war.
Andererseits wunderte es mich schon ein wenig, dass selbst
angesichts dieser aussichtslosen Lage gleich auf uns geschossen
worden war.
Der Geschosshagel verebbte.
Über Megafon wurden alle Personen, die sich gegenwärtig im
Hauptgebäude des Marvin Manteufel Anwesen befanden, nochmals
aufgefordert, sich zu ergeben und die Waffen niederzulegen. Diesmal
mit Erfolg. Die ersten Bewaffneten ergaben sich und ließen sich von
den Kollegen widerstandslos festnehmen. Wir kamen aus der Deckung
und näherten uns zusammen mit weiteren Kollegen dem Haus. Die Tür
stand offen. Wir drangen ein. Einsatzkräfte sicherten uns.
Nacheinander kamen die Meldungen, dass einzelne Räume gesichert
worden waren.
Mehrere Bewaffnete wurden festgenommen. Wer diese Personen
waren, musste erst noch festgestellt werden. Vermutlich Angehörige
des inneren Kreises von Manteufels Organisation, denn ansonsten
hatte zu diesem Anwesen unseren Erkenntnissen nach niemand Zutritt
gehabt. In diesem Punkt hatte es Manteufel sehr genau
genommen.
Ein kriminelles Großprojekt wie CASH FLOW war natürlich nicht
ohne Mitwisser aufzubauen. Aber abgesehen davon hatte Manteufel
immer darauf geachtet, ihre Zahl möglichst niedrig zu halten.
Entsprechend schwierig war es für uns gewesen, verdeckte Ermittler
in die inneren Kreise dieser Organisation einzuschleusen und an
Informationen zu gelangen.
Es brandete noch einmal MPi-Feuer auf. Dutzende von Schüssen
knatterten. Die Schussgeräusche kamen irgendwo aus dem Inneren des
Hauses.
Rudi und ich gelangten in einen großen Raum im Zentrum des
Hauses. Er hatte keine Außenwände und dementsprechend auch keine
Fensterfront. Dafür erweckte ein Glasdach den Eindruck eines
Atriums.
Der Raum war eine Computerzentrale. Dutzende von Rechnern
standen hier. Flachbildschirme in beeindruckender Größe reihten
sich aneinander.
Ein Mann mit einer MPi feuerte auf die Anlage. Die Kugeln
fetzten in die Rechnergehäuse hinein und durchsiebten die Computer
reihenweise.
„Waffe weg, BKA!”, rief ich.
Der Kerl mit der MPi gehorchte augenblicklich, ließ die Waffe
fallen und hob die Hände. Noch bevor er sich umdrehte, erkannte ich
ihn. Ich hatte schließlich oft genug Bilder von ihm in diversen
Dossiers gesehen, die uns bei den Ermittlungen zur Verfügung
gestanden hatten.
„Marvin Manteufel, Sie sind verhaftet”, erklärte ich ihm,
während ein Kollege ihm bereits Handschellen anlegte. „Sie haben
das Recht, zu schweigen. Falls Sie von diesem Recht keinen Gebrauch
machen, kann und wird alle, was Sie von nun an sagen, vor Gericht
gegen Sie verwendet werden. Haben Sie das verstanden?”
„War ja deutlich genug”, grinste Manteufel.
Er kicherte wie irre.
„Ich nehme an, diese Ballerei hier diente dem Zweck, noch so
viel wie möglich Beweismaterial wie möglich zu vernichten”, meinte
Rudi.
„Sie werden mir auch so nichts beweisen können”, sagte
Manteufel. „Und wenn Sie denken, dass Sie irgendetwas gegen mich in
der Hand hätten…”
„Ich denke, wir haben genug, um zu verhindern, dass Sie in den
nächsten Jahrzehnten noch einmal Unheil anstiften können”,
unterbrach ich ihn.
„Wir werden ja sehen. Ich will jetzt meinen Anwalt sprechen”,
lächelte Manteufel. Ich fragte mich, ob er irgendwelche
Aufputschmittel oder Drogen genommen hatte. Er schien sehr
aufgedreht zu sein. Die Pupillen waren vergrößert.
„Ihren Anwalt können Sie sehr bald sprechen”, sagte Rudi
sachlich.
„Ich habe etwas Einzigartiges aufgebaut”, sagte Manteufel.
Eine Ader an seiner Stirn trat dabei stark hervor. Sein Gesicht
verzog sich maskenhaft. „Es wird Ihnen nicht gelingen, das kaputt
zu machen!”
„Herr Manteufel, Sie haben gegen ein Dutzend Gesetze verstoßen
und wahrscheinlich unzähligen Drogenhändlern, Waffenschiebern und
Auftragskillern überhaupt erst ermöglicht, ihren Geschäften
nachzugehen”, gab ich zu bedenken.
„Ich weiß nicht, welche Ratten in meinem engeren Umkreis Sie
bezahlt haben, dass sie mich verraten”, sagte Manteufel. „Aber Sie
werden nicht lange Freude an Ihrem vermeintlichen Erfolg haben!
Meine Anwälte werden Sie ganz persönlich so durch den Fleischwolf
drehen, dass Sie anschließend froh sind, wenn Sie einfach nur Ihren
Dienst quittieren dürfen und Sie irgendwo in einem Provinznest
vielleicht noch eine Anstellung als Nachtwächter bekommen.”
„Abführen”, sagte ich.
Zwei Kollegen nahmen Manteufel mit.
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!”, rief Manteufel
mit heiserer, sich überschlagender Stimme.
„Ziemlich großmäulig”, meinte Rudi, nachdem Marvin Manteufel
nicht mehr im Raum war.
„Ich hatte den Eindruck, dass er vorher was eingepfiffen hat,
was ihn ihn richtig in Stimmung brachte”, gab ich zurück. „Mit
mildernden Umständen kann er deswegen allerdings nicht rechnen.
Jedenfalls nicht, was den Angriff auf Polizisten angeht.”
„Ich bin auf jeden Fall froh, dass der ganze
Ermittlungskomplex jetzt vor seinem Abschluss steht”, meinte Rudi
und unterdrückte ein Gähnen. Ein Gähnen, das natürlich nicht von
ungefähr kam. Wir hatte in letzter Zeit wiederholt Nächte
durcharbeiten müssen. Wahrscheinlich litt jeder, der an den
Ermittlungen gegen Marvin Manteufel und CASH FLOW beteiligten
Ermittler momentan unter akutem Schlafmangel.
„Der Prozess wird sich vermutlich eine ganze Weile hinziehen”,
gab ich zu bedenken.
„Die Beweise sind so wasserdicht, dass da selbst dann nichts
mehr schiefgehen kann, wenn der Staatsanwalt ein Anfänger ist und
sich herausstellen sollte, dass die Hälfte unser Beweismittel nicht
gerichtsverwertbar sein sollten.”
„Du weißt, dass wir beide schon Pferde kotzen gesehen haben,
Rudi.”
„Ja, aber zu Pessimismus ist nun heute wirklich kein Anlass.
Wir können uns selbst auf die Schultern klopfen, Harry. Ich würde
sagen, dass zu Anfang kaum jemand wirklich daran geglaubt hat, dass
man CASH FLOW und der Organisation, die sich um diese
Darknet-Plattform herumrankt, jemals das Handwerk legen könnte. Und
nun stehen wir kurz davor.”
Ich atmete tief durch. „Vielleicht hast du recht und ich
sollte das Positive sehen.”
In diesem Moment bekamen wir wie aufs Stichwort die Nachricht,
dass es bei der Schießerei nur zwei Leichtverletzte gegeben hatte,
die bereits in ärztlicher Obhut waren. Angesichts der Menge an
Projektilen, die bei dem Feuergefecht verschossen worden waren, war
das mehr als erstaunlich.
Kurz danach rief ich Kriminaldirektor Hoch an, um ihm zu
melden, dass die Aktion erfolgreich zum Abschluss geführt werden
konnte. Zumindest was die Teiloperation betraf, an der Rudi und ich
beteiligt gewesen waren.
„Gute Arbeit”, sagte unser Vorgesetzter. „Bei mir sind
inzwischen auch schon einige Meldungen eingetroffen, die die
parallel durchgeführten Verhaftungsaktionen betreffen. Wenn ich
mich nicht völlig täusche, dann dürfte die Organisation, die hinter
CASH FLOW steht, damit vollkommen zerschlagen sein.”
Kriminaldirektor Hoch hatte normalerweise auf Grund seiner
enormen Erfahrung ein sehr sicheres Urteil, auf das man sich fast
blind verlassen konnte.
In diesem Fall allerdings hatte er sich gründlich getäuscht,
wie wir alle sehr bald erfahren sollten.
4
Hamburg, Hafen City...
Der Mann mit der weinroten Krawatte und den goldenen
Manschettenknöpfen nahm schon seinen zweiten Espresso. Ungeduldig
sah er auf die Uhr.
Dann bemerkte er den hageren Kerl mit dem Kapuzen-Shirt durch
die Tür des Bistros kommen. Er hatte die Kapuze über den Kopf
gezogen. Der größte Teil des Gesichts lag daher im Schatten. Nur
das Kinn ragte hervor. Das Kinn und der sehr spezielle Spitzbart,
den der Kapuzen-Shirt-Träger sich hatte stehen lassen.
Er drehte sich einmal um, musterte die wenigen Gäste, die um
diese Zeit das Bistro frequentierten und wandte sich dann
zielsicher in Richtung des Mannes mit der roten Krawatte.
Ohne zu fragen, setzte er er sich.
„Schön, Sie mal persönlich zu treffen, nachdem wir schon so
lange zusammenarbeiten”, sagte der Kapuzen-Shirt-Mann.
„Wir hätten das Risiko vermeiden können”, lautete die kühle
Antwort.
„Nein, dieser Ansicht bin ich nicht.”
„Ach, nein?”
„Bevor ich so einen Auftrag übernehme, weiß ich immer gerne
noch etwas genauer, mit wem ich es zu tun habe, Herr…”
„Nennen Sie mich Frank.”
„Frank.” Der Kapuzen-Shirt-Mann grinste. „Sie verstehen das
doch sicher, Frank. Es geht um die Chemie. Um den Eindruck, den man
hat. Bei sehr wichtigen Geschäften spielt das immer eine Rolle,
finden Sie nicht?”
Frank sah den Kapuzen-Shirt-Mann geradewegs in die Augen. „Sie
sind zu alt und nicht schwarz genug, um solche albernen Klamotten
zu tragen”, sagte er unvermittelt.
Frank beugte sich jetzt etwas vor. Beide Hände waren jetzt auf
dem Tisch. Die Krawattenknöpfe waren jetzt gut sichtbar. Und auch
die Gravur, die sie kennzeichnetet: Ein stilisierter Globus.
Der Kapuzen-Shirt-Mann zupfte sich etwas an seinem exakt
ausrasierten Spitzbart herum. „Was soll der Mist? Will so ein
spießiger Sack wie Sie mir jetzt erzählen, was cool ist? Oder wie
soll ich das jetzt verstehen?”
„Ich weiß nicht, ob Sie sich eigentlich darüber im Klaren
sind, wie ernst die Lage für uns alle ist”, sagte Frank.
„Sie meinen wegen diesem Scheißkerl?” Der Kapuzen-Shirt-Mann
machte eine wegwerfende Handbewegung. „Der wird ja wohl nicht
gleich zum Kronzeugen mutieren. Und so, wie sich Manteufel
verhalten hat, wird er sich in der Justiz auch nicht gerade viele
Freunde gemacht haben, die jetzt bereit wären als erstes einen Deal
mit jemanden einzugehen, der eine wilde Schießerei mit BKA-Beamten
vom Zaun gebrochen hat.”
„Können Sie es ausschließen?”
„Nein, natürlich nicht.”
„Sehen Sie!”
„Hey, Mann, Frank! Ich hatte gedacht, Sie wären die obercoole
Sau schlechthin. Und jetzt sehe ich, dass Sie offenbar ziemlich
nervös sind.”
„Sie können dazu beitragen, dass sich diese Nervosität wieder
in Grenzen hält”, sagte Frank.
„Ich ziehe es durch, Frank! Und ich weiß ehrlich gesagt auch
nicht, worüber Sie sich Sorgen machen! Es gibt ein paar Geschäfte,
die man wohl einfach abschreiben muss, aber ansonsten geht alles
einfach so weiter wie bisher. Das habe ich Ihnen versprochen und
das halte ich auch.”
„Das freut mich zu hören”, sagte Frank. „Ich verlasse mich
allerdings darauf, dass Sie tatsächlich mehr drauf haben als nur
ein paar Sprüche.”
„Sonst hätten Sie sich doch gar nicht mit mir getroffen,
Frank.”
„Im Übrigen teile ich Ihre optimistische Einschätzung nicht in
vollem Umfang”, erklärte Frank. „Aus meiner Sicht hängt jetzt sehr
viel davon ab, dass die Sache mit Manteufel durchgezogen
wird.”
„Sie können sich auf mich verlassen, Frank.”
„Das will ich hoffen.” Frank lehnte sich zurück und schnippste
mit den Fingern. „Ich möchte zahlen!”, rief er zu dem Mann hinter
dem Tresen.
„Zahlen ist ein gutes Stichwort”, sagte der
Kapuzen-Shirt-Mann. „Ich denke nämlich, dass wir angesichts der
hohen Priorität, die die Sache mit Manteufel hat, nochmal über ein
paar finanzielle Konditionen verhandeln müssen.”
Frank hob etwas irritiert die Augenbrauen. „Sie wollen die
Situation ausnutzen und mich erpressen?”
„Ich will einfach nur darauf hinweisen, dass ich erhöhte
Aufwendungen zu bestreiten haben werde, wenn ich die Sache für Sie
so erledigen soll, dass Ihrem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis
dabei Rechnung getragen wird”, konterte der Mann im
Kapuzen-Shirt.
Frank lächelte breit und aasig. Seine makellos weißen Zähne
blitzten dabei hervor. Ein Raubtierlächeln. „Okay, dann sagen Sie
mir mal, was Sie sich da so im Einzelnen vorstellen.”
Der Kapuzen-Shirt-Mann lächelte nun ebenfalls und zupfte dabei
erneut an seinem Spitzbart herum. „Ich wusste doch, dass heute doch
ein guter Tag werden würde.”
„Man sollte sich nie zu früh freuen.”
„Soll das eine Drohung sein, Frank?”
„Ich drohe nicht. Ich kündige vielleicht etwas an, aber ich
drohe nicht.”
5
Zwei Tage nach der konzertierten Aktion, die zur Zerschlagung
jener mächtigen Organisation geführt hatte, die hinter CASH FLOW
steckte, saßen wir in Berlin in einem schmucklosen
Besprechungszimmer.
Anwesend waren abgesehen von Rudi und mir noch Staatsanwalt
Gustav Driemeyer sowie Marvin Manteufel und seine Anwältin Melanie
Paretti von der Kanzlei Delbrügge, Gallus & Paretti.
Vieles andere musste jetzt erst mühsam ermittelt werden. Aber
unter den im Rahmen der Großaktion verhafteten Personen waren
etliche, die gerne bereit waren, als Kronzeugen auszusagen. So
würde man vermutlich auch die letzten Einzelheiten nach und nach
klären können.
Für Marvin Manteufel, daran ließ keiner der
Pressekommentatoren auch nur den Hauch eines Zweifels, würde es eng
werden. Sehr eng.
Ich persönlich grübelte immer noch darüber nach, wieso
Manteufel kurz vor seiner Verhaftung eine Schießerei quasi vom Zaun
gebrochen hatte, von der er eigentlich gewusst haben musste, dass
sie ihm nichts einbringen konnte, außer vielleicht ein paar Jahre
mehr im Hochsicherheitstrakt einer JVA. Selbst wenn er davon
ausgegangen war, dass das bei dem zu erwartenden Strafmaß nicht
weiter erheblich war, fragte ich mich doch, ob es da noch
irgendeinen anderen Hintergrund gab, von dem wir nichts
wussten.
Nach allem, was uns bekannt war, war Manteufel ein kühler,
abwägender Charakter. Er war auf Drogen getestet worden. Man hatte
nichts gefunden. Zumindest keine Spuren der gängigen Drogen oder
irgendwelcher Aufputschmittel.
„Ihr Mandant hat eine Schießerei begonnen, in deren Verlauf
zwei BKA-Beamte verletzt wurden”, hielt Staatsanwalt Gustav
Driemeyer Manteufel entgegen. „Er hat, abgesehen von den schweren
Gesetzesverstößen, die ihm zur Last gelegt werden, versucht,
Polizeibeamte zu töten, um sich der Festnahme zu entziehen.”
„Mein Mandant befand sich in einem psychischen Ausnahmezustand
und war nur begrenzt fähig, die Folgen seiner Tat zu überblicken”,
unterbrach ihn die Anwältin des Beschuldigten. „Ich habe hier
medizinische Unterlagen, die beweisen, dass mein Mandant wegen
Stimmungsschwankungen und manisch depressiven Schüben in Behandlung
war.”
Driemeyer hob die Augenbrauen. „Und das rechtfertigt es, dass
Ihr Mandant wie ein Irrer auf BKA-Kommissars feuert? Und nicht nur
das! Seine Handlungsweise hat die gesamte Situation eskalieren
lassen. Auch andere Personen auf dem Anwesen von Herr Manteufel
haben daraufhin zu schießen begonnen.”
„Sie haben das richtige Stichwort bereits gegeben”, sagte
Melanie Paretti. „Sie haben gesagt: ‘Wie ein Irrer’. Genau das ist
nach den mir vorliegenden Unterlagen der Fall.”
„Sie wollen nicht im Ernst auf Unzurechnungsfähigkeit
plädieren!”, ereiferte sich Driemeyer.
Er war kein Anfänger und eigentlich mit allen Wassern
gewaschen. Ein so wichtiges Verfahren hätte man auch niemandem in
die Hand gegeben, der im Verdacht stand, den Prozess vielleicht
durch ein ungeschicktes, überehrgeiziges Verhalten insgesamt in
Gefahr zu bringen. Aber das, was Melanie Paretti uns allen hier
auftischte, schien ihn geradezu fassungslos zu machen.
Ich wechselte einen Blick mit Rudi. Keiner von uns brauchte
ein Wort dazu zu verlieren. Uns hatte Melanie Parettis Auftritt
ebenso überrascht. Wir hatten mit vielem gerechnet. Auch damit,
dass Paretti vielleicht versuchte, irgendeinen Deal für ihren
Mandanten auszuhandeln, auch wenn es sicher schwierig geworden
wäre, da noch irgendeinen Spielraum zu sehen. Aber es hätte ja zum
Beispiel sein können, dass Manteufel bereit war, Aussagen über die
Hintermänner einiger krimineller Organisationen zu machen, die den
Betrieb von CASH FLOW tatkräftig unterstützt hatten, um diesen
Bezahldienst für ihre Geldwäschegeschäfte nutzen zu können. Uns war
durchaus bewusst, dass Manteufel und seine Organisation nur Teil
eines größeren Netzwerkes gewesen sein konnten.
Aber ein Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit war wirklich eine
Überraschung.
„Haben Sie deswegen mit der Schießerei angefangen, um dieses
Plädoyer vorzubereiten?”, mischte ich mich jetzt in das Gespräch
ein und fixierte dabei Manteufel mit meinem Blick.
Dieser grinste leicht.
„Hey Mann, ich bin nicht verrückt und habe das auch nie
gesagt!”, meinte er.
„Sie haben in völlig aussichtsloser Lage das Feuer eröffnet”,
stellte ich fest. „Ein Mann, der unseren Erkenntnissen nach als ein
berechnendes, kühles Genie des Internets bekannt ist. Jemand, der
für alles mögliche bekannt ist, aber nicht dafür, dass er spontanen
Regungen nachgibt. Sie wussten genau, dass Sie keine Möglichkeit
mehr zur Flucht hatten. Ihren Helikopter neben dem Haus hätten Sie
nicht mehr erreichen können. Dazu waren wir einfach zu schnell. Und
abgesehen davon…”
„Herr Kubinke, es geht um hier um eine juristische Bewertung
der Handlungsweise meines Mandanten”, sagte Melanie Paretti kühl.
„Und ich sehe nicht, dass Sie auf diesem Gebiet irgendeine
Fachkompetenz besitzen.”
„Ich…”
„Sie werden uns zu gegebener Zeit sicherlich Auskünfte zum
Stand der Ermittlungen gegen meinen Mandanten geben können und man
wird Sie auch sicherlich eingehend zum Ablauf der Operation
befragen, die letztlich zur Festnahme meines Mandanten und
bedauerlicherweise auch zur Verletzung von zwei BKA-Kommissars
geführt hat.”
„Sie drehen das jetzt so, als wäre das ein Versagen der
Einsatzleitung gewesen. Aber es war Ihr Mandant, der das Feuer
eröffnet hat, obwohl er verpflichtet gewesen wäre, sich
widerstandslos festnehmen zu lassen”, gab ich zurück und musste
mich sehr zusammennehmen, um meinen Ärger etwas
herunterzuschlucken.
„Das wird eine Frage sein, die noch Gegenstand des Verfahrens
sein könnte, Herr Kubinke”, sagte die Anwältin daraufhin. „Wir
werden vor Gericht darlegen, dass mein Mandant sich in einem
psychischen Ausnahmezustand befand. Er hat sein Leben dem Aufbau
einer Plattform gewidmet…”
„...die verbrecherischen, gesetzwidrigen Zwecken diente!”,
unterbrach sie Gustav Driemeyer trocken.
Aber Melanie Paretti ließ sich nicht beirren. Sie sprach
einfach weiter. „Mein Mandant ist subjektiv der Auffassung, dass
sein Lebenswerk durch einen Anschlag zerstört werden soll.”
„Auf den Video-Aufzeichnungen vom Einsatz ist die
Megafonstimme nicht zu überhören, die klarstellt, dass das eine
Operation des BKA ist”, erwiderte Driemeyer.
„Können Sie beweisen, dass auch mein Mandant dies so
verstanden hat?”, konterte Driemeyer. „Immerhin trugen die
Einsatzfahrzeuge keine deutliche Kennung als
BKA-Einsatzfahrzeuge.”
„Dafür ist der Schriftzug Polizei auf den Einsatzjacken der
eingesetzten Beamten so groß, dass er selbst für Sehbehinderte
erkennbar sein dürfte!”
„Als mein Mandant seinen Irrtum erkannte, hat er das Feuer
eingestellt und sich widerstandslos festnehmen lassen!”
„Ich dachte, Sie gehen davon aus, dass Ihr Mandant sich nicht
mehr zu steuern vermochte. Ist das nicht ein Widerspruch zu dem,
was Sie jetzt behaupten?”
„Das lassen wir doch einfach die Gutachter entscheiden”, sagte
Melanie Paretti. „Und dann werden wir ja sehen, ob es in diesem
Punkt überhaupt zu einer Eröffnung des Hauptverfahrens kommt. Was
die Anschuldigungen im Hinblick auf die zur Last gelegte Beihilfe
zu diversen kriminellen Geschäften angeht, so werden Sie dazu einen
Einzelfall-Nachweis führen müssen. Und ich bin mir nicht sicher, ob
Sie das wirklich hinbekommen.”
„Wenn Sie denken, dass Sie für Ihren Mandanten hier und jetzt
einen Deal herausschlagen können, dann sind Sie schief
gewickelt.”
„Und wenn mein Mandant zur Aufklärung von Verbrechen beitragen
könnte, von denen Sie ohne seine Hilfe nicht einmal Kenntnis
erlangen könnten?”
Jetzt mischte sich der Beschuldigte selbst sein. „Lassen Sie
es gut sein, Frau Paretti”, pfiff er seine Anwältin zurück.
„Herr Manteufel, wir hatten doch…”
„Ich will keinen Deal”, erklärte er.
Driemeyer lächelte kühl. „Das trifft sich gut, Herr Manteufel,
Sie bekommen nämlich auch keinen. Kronzeugenregelung hin oder
her!”
Ich hörte mir das Hin und Her zwischen Anwalt und Staatsanwalt
eine Weile an und fragte mich, was es eigentlich war, das mich so
irritierte. Aber ich hatte es ihm Gefühl, dass hier irgendetwas
nicht stimmte. Ich zermarterte mir das Hirn darüber, was es wohl
sein konnte. Aber ich kam einfach nicht drauf.
Etwas später fuhr ich mit Rudi zurück zum Hauptpräsidium, wo
wir beide seit unserer Beförderung zu BKA-Kriminalinspektoren
unsere Büros hatte.
Ich benutzte dabei meinen Dienst-Porsche.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen”, sagte Rudi. „Die
Eröffnung eines Hauptverfahrens nur noch Formsache. Ich kann mir
kein Gericht vorstellen, dass anhand der vorliegenden Beweislage
die Eröffnung eines Verfahrens ablehnen würde. Und selbst wenn
diese Anwältin mit ihrem sehr eigenwilligen Vorstoß durchkommt,
dass Manteufel wegen eines angeblich vorhandenen psychischen
Ausnahmezustandes und einer ohnehin vorhandenen seelische
Erkrankung, wegen der er in Behandlung war, auf uns geschossen hat:
Angesichts dessen, was ihn sonst noch so erwartet, sind das
Peanuts.”
„Er scheint sich in diesem Punkt mit seiner Anwältin nicht
ganz einig gewesen zu ein.”
„Oder er hat uns nur eine Show vorgespielt, Harry. Eine Show,
die dieses Märchen noch überzeugender machen soll.”
„Schon möglich.”
„Ich wette, sogar diese psychiatrischen Gutachten oder was
Frau Paretti da auch immer vorgelegt haben mag, lässt sich fachlich
leicht zerpflücken. Das sind doch irgendwelche
Gefälligkeitsgutachten, die nur den Sinn haben, etwas Sand in das
Getriebe dieses Prozesses zu werfen.”
„Rudi, ich habe in sein Gesicht gesehen…”
„Und was willst du da gesehen haben?”
„Ich glaube, dass der noch was vorhat.”
„Du siehst in seine Augen und liest seine Gedanken! Harry, das
ist jetzt aber noch billiger als die Gefälligkeitsattestierungen,
die Frau Paretti uns heute präsentiert hat!”
„Der wusste genau, was er tat.”
„Harry, du hast dich auch bei deiner Annahme getäuscht, dass
der Kerl Drogen oder Aufputschmittel genommen hat.”
Ich atmete tief durch, während wir an einer Kreuzung auf dem
Weg ins Zentrum von Berlin halten mussten. „Ja, ich weiß”, gab ich
zu. „Trotzdem, ich bleibe dabei, seine Pupillen waren
geweitet.”
„Ich habe unseren Kollegen Gerold mal danach gefragt”, sagte
Rudi.
Dr. Gerold M. Wildenbacher war der Gerichtsmediziner des
Ermittlungsteam Erkennungsdiensts in Quardenburg, dessen Dienste
uns für unsere Ermittlungen im Bedarfsfall zur Verfügung
standen.
Ich hob die Augenbrauen.
„Wann hattest du dazu denn Zeit?”
„Gestern Abend, nachdem du mich abgesetzt hattest, habe ich
mit ihm telefoniert. Er war mal wieder länger in seiner
Leichenkammer.”
„Und, was hat er dir gesagt?”
„Dass erweiterte Pupillen durch Ausschüttung von Adrenalin
verursacht werden können. Die Ursache der Adrenalinausschüttung
muss aber nicht unbedingt eine Droge sein.”
„Was sollte es in diesem Fall gewesen sein?”
„Ganz normale Erregung. Der berühmte sprichwörtliche
Schlafzimmerblick kommt dadurch zustande.”
„Vielleicht haben wir an diesem Fall einfach schon zu lange
und zu intensiv gearbeitet, dass ich so etwas kaum noch in
Erinnerung habe, Rudi.”
„Extreme Erregungszustände aller Art lassen die Pupillen
mitunter ebenso extrem klein werden wie Drogen, sagt unser Doc aus
Quardenburg.”
„Du willst doch jetzt nicht etwa darauf hinaus, dass diese
Anwältin am Ende sogar noch recht hat und sich Manteufel in einer -
wie nannte sie das noch? - emotionalen >Ausnahmesituation<
befand?”
„Lassen wir einfach die Justiz ihren Job machen, Harry.”
„Trotzdem - ich habe das Gefühl, dass die ganze Sache noch
nicht abgeschlossen ist. Für uns nicht - und für Manteufel sowieso
nicht.”
6
Wir erreichten das Hauptpräsidium und fanden uns wenig später
im Büro unseres Chefs ein. Im Vorzimmer begrüßte uns Dorothea
Schneidermann, seine Sekretärin. „Gehen Sie einfach durch. Er weiß,
dass Sie kommen”, sagte sie.
„Okay”, nickte ich.
Wir betraten das Büro.
Kriminaldirektor Hoch war gerade am Telefonieren. Mit einer
Handbewegung bedeutete er uns, Platz zu nehmen. Von dem Gespräch
bekamen wir nicht mehr viel mit, denn es war ein paar Sekunden
später beendet. Aber man konnte spüren, dass es sich um eine Person
handelte, der selbst Kriminaldirektor Hoch höchsten Respekt
entgegenbrachte.
„Das war der Justizminister persönlich”, sagte unser
Vorgesetzter anschließend. „Er hat sich sehr lobend zur Arbeit der
Ermittlungsbehörden und insbesondere des BKA geäußert. Da Sie beide
wesentlichen Anteil an der Verhaftung von Marvin Manteufel und dem
inneren Kreis seiner Helfershelfer hatten, gebe ich dieses Lob
gerne an Sie beide weiter.”
„Danke”, sagte Rudi und ich wie aus einem Mund.
„Leider musste ich inzwischen erfahren, dass sich die
Kooperationsbereitschaft der Verhafteten anscheinend in engen
Grenzen hält. Ich habe gerade mit einem Staatsanwalt in Hamburg
unterhalten, der gerade damit beschäftigt ist, eine Anklage gegen
die dortige Zelle von Manteufels Organisation vorzubereiten.”
Allzu lange war es ja noch nicht her, dass Kriminaldirektor
Hoch, Rudi und ich von Hamburg nach Berlin versetzt worden waren.
Auf Grund seiner langjährigen Tätigkeit als Dienststellenleiter in
Hamburg kannte unser Chef natürlich jeden Abteilungsleiter in der
Staatsanwaltschaft und verfügte auch sonst noch immer über
exzellente Kontakte dorthin.
„Könnte es sein, dass die Verhafteten unter Druck gesetzt
wurden, nicht mit uns zu kooperieren?”, fragte ich.
„Ja, anscheinend zieht da jemand in dieser Hinsicht aus dem
Hintergrund die Fäden.”
„Mit Organisationen wie der, die hinter Marvin Manteufels CASH
FLOW steckt, ist es doch wie mit Eisbergen”, sagte Rudi. „Neun
Zehntel sieht man nicht, weil sie unter der Oberfläche verborgen
sind.”
„Vorhin kam die Nachricht, dass eine der Personen, die
zusammen mit Manteufel auf dem Anwesen bei Martinsburg festgenommen
wurden, unter bisher ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaft
umgekommen ist. Ob es Mord oder Selbstmord war, wird noch
festzustellen sein.”
„Um wen handelt es sich?”, fragte ich.
„Albrecht Gernrath. Da er auf dem Marvin Manteufel Anwesen
festgenommen wurde, gehörte er vermutlich zum engeren Kreis um den
Boss von CASH FLOW. Er war ausgebildeter Programmierer und hat
ursprünglich mal die Sicherheitssysteme von Banken entworfen, bevor
er sein Wissen in dieser Hinsicht kriminell ausgenutzt hat.
Verurteilt wurde er dafür nie. Nicht einmal angeklagt. Man hat ihn
nur rausgeworfen und sich zur Vermeidung eines Skandals
außergerichtlich mit ihm geeinigt. Danach führte sein Weg in
Manteufels Organisation.”
„Der Name Gernrath sagt mir natürlich was”, sagte ich, auch
wenn ich nicht alle Einzelheiten über ihn präsent hatte. „Wie ist
er gestorben?”
„Er hat sich mit einem Bettlaken erhängt” sagte
Kriminaldirektor Hoch. „Das ist zumindest eine Möglichkeit. Die
andere ist, dass da jemand nachgeholfen hat. Der vorläufige
Obduktionsbericht legt das nahe.”
„Aber normalerweise hätte Gernrath keinen Kontakt zu
Mitgefangenen haben dürfen.”
„Hatte er auch nicht. Und deswegen werden jetzt die
Dienstpläne des JVA-Personals und alle sonstigen Umstände peinlich
genau unter die Lupe genommen. Tatsache ist, dass es da ein paar
Unregelmäßigkeiten zu geben scheint. Vielleicht wissen wir morgen
schon mehr darüber. Ich halte Sie natürlich auf dem Laufenden. Und
dann ist da noch etwas.”
„Wir sind ganz Ohr”, sagte Rudi.
Kriminaldirektor Hoch wandte den Kopf in Rudis Richtung und
fuhr nach einer kurzen Pause fort. „Es hat sich ein Informant
gemeldet. Er behauptet, Aussagen über Manteufel und CASH FLOW
machen zu können, die den Fall in einem neuen Licht erscheinen
lassen würden.”
„Die Tatsache, dass wir hier darüber reden heißt, dass Sie
diese Quelle zumindest als so glaubhaft einstufen, dass es sich
lohnt, dass wir uns überhaupt damit beschäftigen.”
Kriminaldirektor Hoch nickte. „Zunächst mal kurzgefasst die
Fakten: Der Anruf konnte bis zu einem Anschluss des Berlin
Polizeipräsidium zurückverfolgt werden. Von dort hat allerdings
definitiv niemand angerufen. Anscheinend hat der Täter die
Telefonanlage gehackt und zur Weiterleitung seines Anrufs
benutzt.”
„Das heißt, dass er über entsprechende Fähigkeiten verfügt”,
stellte ich fest.
„Ja, und vielleicht wollte er das sogar mit seinem Vorgehen
demonstrieren”, meinte Kriminaldirektor Hoch. „Des weiteren hat er
Insider-Wissen preisgegeben. Er erwähnt fünf Personen, die zum
Zeitpunkt Ihrer Verhaftungsaktion im Marvin Manteufel Anwesen bei
Martinsburg tatsächlich auch im Gebäude angetroffen und verhaftet
wurden. Namen, die bisher nicht an die Presse weitergegeben wurden.
Und zum dritten erwähnt er ausdrücklich Sie beide, Harry und
Rudi.”
„Jemand, den wir kennen?”, fragte Rudi.
„Eher jemand, der Sie kennt”, gab Kriminaldirektor Hoch
zurück. „Beziehungsweise jemand, der sich über Sie informiert hat
und Sie für vertrauenswürdig hält. Er weiß, dass Sie mit den
Ermittlungen gegen Marvin Manteufel betraut waren und hat
angekündigt, sich heute Abend mit Ihnen treffen zu wollen.”
„Wann und wo?”, fragte ich.
„Sie werden nur ein paar GPS-Koordinaten bekommen. Und zwar
während Sie nach Hause zu Ihren Wohnungen fahren, bevor Sie Rudi an
seiner Ecke absetzen, Harry.”
„Also, ich muss sagen, es gefällt mir überhaupt nicht, wieviel
der Kerl über uns weiß”, gestand ich.
„Es muss sich um jemanden handeln, der sich offenbar schon
länger überlegt hat, die Seiten zu wechseln und der jetzt durch die
jüngsten Verhaftungen den Mut gefunden hat, diesen Sprung auch
tatsächlich zu vollziehen.”
„Warten wir ab, was der Kerl uns zu sagen hat”, meinte
Rudi.
„Die meisten Computer-Nerds sind zweifellos männlich”, sagte
Kriminaldirektor Hoch. „Aber streng genommen können wir nichtmal in
dieser Hinsicht sicher sein, was die Identität des Anrufers angeht.
Es wurde ein Verzerrungsprogramm benutzt, das es unmöglich macht,
sie zu identifizieren. Die spezifische Höhenkurve ist nicht mehr
identifizierbar. Die Stimme ist zwar von ihrer Höhe her in einem
Bereich, der als männlich angesehen wird, aber das kann manipuliert
sein. Und was geschlechtsspezifische, tonhöhenunabhängige
Unterschiede in der Sprechweise angeht, so behauptet unsere
Kollegin Dr. Gansenbrink, dass die nicht mehr nachweisbar
seien.”
Dr. Lin-Tai Gansenbrink war die Mathematikerin und
IT-Spezialistin unseres Ermittlungsteam Erkennungsdiensts. Wenn Sie
mit ihren Methoden nicht mehr herausfinden konnte, ob es
irgendwelche spezifisch männlichen oder weiblichen Muster in den
Audiodaten der Anrufaufzeichnung gab, dann konnte es niemand.
„Können wir uns die Aufzeichnung mal anhören?”, fragte
Rudi.
„Selbstverständlich”, sagte Kriminaldirektor Hoch.
7
Etwas später kam noch der gerichtsmedizinische Bericht zum Tod
von Albrecht Gernrath herein. Die Obduktion hatte ein Arzt der aus
Berlin durchgeführt. Aber die Ergebnisse waren von Dr. Wildenbacher
in Quardenburg überprüft worden. Beide Pathologen waren sich
sicher, dass Gernrath nicht Selbstmord begangen hatte. Jemand hatte
versucht, es so aussehen zu lassen, aber diverse Hämatome und
andere Spuren am Körper des Toten ließen den Schluss zu, dass es
einen Kampf gegeben hatte.
Wahrscheinlich waren sogar zwei Personen an dem Verbrechen
beteiligt gewesen. Diese These vertrat zumindest Dr. Wildenbacher,
der das in dem Bericht auch mit Befunden belegte.
Nachdem Rudi und ich den Bericht gelesen und besprochen
hatten, telefonierte ich noch mit kurz mit Wildenbacher, um mir
noch ein paar Details erläutern zu lassen. „Der Kollege in Berlin
ist nicht ganz so mutig, was die Festlegung auf mindestens zwei
Täter in diesem Fall angeht”, sagte Wildenbacher mit seinem
unnachahmlichen Bayern-Dialekt. „Aber meiner Ansicht nach, ist das
Ergebnis sonst so nicht erklärbar. Ich habe mir genauestens die
Fotos vom Tatort angesehen und kann nur feststellen, dass die Täter
ausgesprochen clever vorgegangen sein müssen.”
„Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass Angehörige des
Wachpersonals in die Tat verwickelt sein könnten?”, fragte ich.
„Zum Beispiel Spuren üblicher Griffe zum Fixieren des
Gefangenen?”
„Soweit ist da nichts feststellbar, Harry. Ich werde mich
allerdings mit einem Spezialisten für Fälle von Polizeigewalt
unterhalten. Der Kollege wohnt allerdings auf Hawaii und das legt
bekanntlich in einer anderen Zeitzone, sodass ich Sie da noch um
etwas Geduld bitten muss.”
„Ich nehme an, ich höre von Ihnen, sobald Sie was Neues
wissen.”
„Worauf Sie sich verlassen können. Aber erwarten Sie nicht
zuviel. Solche Druckspuren sind häufig sehr unspezifisch und es
würde sehr schwer, darauf tatsächlich eine Beweiskette
aufzubauen.”
Innendienstler des BKA-Büro Berlin waren derweil damit
beschäftigt, alles auszuwerten, was es an Daten zu Gernraths Fall
gab. Insbesondere Dienstpläne, Aufzeichnungen von
Überwachungskameras, Protokolle von Essensausgaben und so
weiter.
Etwa eine halbe Stunde, nachdem ich mit Wildenbacher
telefoniert hatte, bekamen wir von den Kollegen die Meldung, dass
sich da Unregelmäßigkeiten ergeben hatten. Es lief schlicht darauf
hinaus, dass ein Teil des angeforderten Materials fehlte.
„Schlamperei oder Vertuschung, das ist hier die Frage”, meinte
Rudi dazu.
„Sieht mehr nach Vertuschung aus”, meinte ich.
„Und einer Organisation, die mächtig genug ist, jemandem auch
im Knast umzubringen, wenn es die Umstände erfordern.”
„Eigentlich gehen wir doch davon aus, dass die Organisation
zerschlagen ist, Rudi. Oder etwa nicht?”
„Auch das größte Syndikat steht nicht für sich allein, das
wissen wir doch”, gab Rudi zurück. „Es ist immer Teil eines
größeren Netzwerkes.”
8
Als wir später das Hauptpräsidium verlassen hatten und auf dem
Weg nach Hause waren, erwarteten wir jeden Augenblick, die
Koordinaten des unbekannten Informanten zu bekommen, der sich so
viel Mühe gegeben hatte, seine Identität zu verbergen. Die Daten
sollten im Hauptpräsidium eintreffen und von dort aus sofort an uns
weitergegeben werden.
Ob der betreffende Informant auf irgendeine Weise die Nummern
unserer Diensthandys in Erfahrung gebracht hatte, wussten wir
nicht. Aber auf irgendeine Weise schien er dazu in der Lage zu
sein, uns zu orten. Das Tracken unserer Handys war eine
Möglichkeit. Eine andere die Lokalisierung der GPS-Signale, die
auch mein Dienst-Porsche aussandte.
Wenn er ganz clever war, dann war es ihm vielleicht nur
gelungen, die Überwachungskamera am Ausgang des Parkbereichs der
BKA-Zentrale zu hacken. Wenn er dann einfach die übliche
Verkehrszeit bis zu meiner Wohnungsadresse dazurechnete, konnte er
sich ungefähr ausrechnen, wann wir wo waren und trotzdem
demonstrieren, dass er uns angeblich überwachen konnte.
Denn genau darum ging es dem oder der Unbekannten
offensichtlich. Der Informant war jemand, der das Heft des Handelns
nicht aus der Hand geben wollte.
Ob er sich als ergiebige Quelle erwies, musste sich erst noch
herausstellen.
„Gleich kommt die Ecke”, sagte Rudi. „Kann es sein, dass wir
es mit einem Aufschneider zu tun haben, der nur viel Wind macht,
ohne dass etwas dahinter steckt?”
„Eigentlich gibt’s im Hauptpräsidium doch Leute, die darauf
spezialisiert sind, solche Anrufe herauszufiltern.”
„Heißt ja nicht, dass denen nicht auch mal was durchgeht,
Harry.”
Rudis Handy gab ein Signal von sich. Die Koordinaten waren
da.
„Und? Wo geht es jetzt hin?”, fragte ich.
„Umdrehen und dann nochmal durch die halbe Stadt,
Harry.”
„Hätte ich mir ja denken können.”
9
Die Koordinaten gehörten zu einem Parkgelände. Wir hatten es
beinahe erreicht, als wir eine neue Nachricht bekamen.
„Die Koordinaten haben sich geändert, Harry.”
„Da will offenbar jemand wirklich auf Nummer sicher gehen”,
meinte ich.
„Oder der Unbekannte hat nur Freude daran, uns ein paar mal
durch die Stadt zu scheuchen, Harry.”
„Wenn Gernrath tatsächlich durch den verlängerten Arm dieses
kriminellen Netzwerks umgekommen ist, dann hat dieser Informant
wohl auch allen Grund, sich Sorgen zu machen.”
Die neuen Koordinaten gehörten zu einem Billard Club im Norden
von Berlin. Er lag auf einem ehemaligen Industriegelände, das
inzwischen anderen Zwecken diente. Zahllose schwere Motorräder
standen vor dem Club, der in einer ehemaligen Fabrikhalle
angesiedelt war. ‘Dark & Loud’ stand in großen, flackernden
Neonbuchstaben an der Außenfassade.
Besonders glücklich war ich jetzt nicht, dass wir mit dem
Dienst-Porsche hier waren. Der fiel hier schließlich ziemlich auf.
Aber anscheinend war es so der Wille unseres unbekannten
Informanten gewesen und wenn wir mit ihm reden wollten, hatten wir
keine andere Wahl, als auf dessen spezielle Wünsche so umfassend
wie möglich einzugehen.
„Es gibt abgesehen von den Koordinaten keinerlei
Erläuterungen”, meinte Rudi. „Also entweder, wir warten hier im
Wagen und sehen einfach mal zu, was passiert, oder…”
„Wie genau sind die Koordinaten?”, unterbrach ich Rudi.
„Auf zwei Meter genau. Und wenn man es genau nimmt, dann liegt
der Punkt mitten in dem Gebäude, in dem der Club ist.”
„Unser Freund nimmt die Dinge sehr genau. Also sollten wir es
auch tun”, war ich überzeugt.
Wir stiegen also aus.
Ein paar Typen in Rockerkluft standen vor dem Club, rauchten
irgendetwas, von dem ich nicht genauer wissen wollte, ob es nur
Tabak oder irgendetwas anderes war, und glotzten zu uns
hinüber.
„Nicht eingebildet werden, Harry.”
„Wieso?”
„Es ist nicht deine charismatische Erscheinung, die sie
hersehen lässt, sondern vermutlich dein Dienst-Porsche.”
„Ich hoffe, es fehlen nicht die Reifen, wenn wir zurück
sind.”
Wir gingen zum Eingang des Clubs. Aus dem Inneren drang Heavy
Metal Musik. Gitarren heulten auf und die Bass Drum ließ den Boden
vibrieren.
Ein baumlanger Kerl mit Lederweste über beinahe restlos
tätowiertem Oberkörper musterte ans am Eingang von oben bis
unten.
„Ziemlich gewagt, wie ihr herumlauft”, meinte er dann
angesichts unserer vergleichsweise biederen Erscheinung und
grinste.
„Kann ja nicht jeder spießig sein”, gab ich zurück.
„Richtig erkannt!”
Er winkte uns durch und wir betraten das Innere des Clubs. Die
Musik war ziemlich laut. Es gab Billard-Tische, eine Bühne, auf der
sich eine Band ins Zeug legte und eine Bar. Im übrigen war wir
keineswegs die einzigen Schlipsträger in dieser Umgebung. Offenbar
gab es etliche Berliner Beamte, die nach Feierabend gerne mal ein
oder zwei Stunden jemand anderes wurden, aber nicht genügend Zeit
zum Umziehen hatten.
„Die Koordinaten passen eigentlich ziemlich genau für die
Bar!”, sagte Rudi mit Blick auf sein Smartphone.
„Dann sollten wir uns dort vielleicht einfinden.”
„Wenn das so ein Kontrollfreak ist, weiß unser Informant
längst, dass wir im Anmarsch sind, Harry.”
Ich nickte. „Vermutlich beobachtet er uns, oder sie, falls es
eine Frau sein sollte.”
Ich bemerkte eine dunkelhaarige Frau mit schwarz geschminkten
Lippen, die ziemlich auffällig in unsere Richtung starrte.
Wir erreichten die Bar.
Der Mann hinter dem Tresen hatte glücklicherweise genug zu
tun, sodass uns erstmal niemand fragte, ob wir was trinken
wollten.
Wir warteten einfach erstmal ab und ließen den Blick
umherschweifen, ob sich irgendwo jemand in irgendeiner Weise
auffällig verhielt.
Aber das war nicht der Fall. Die Band spielte inzwischen so
laut, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.
Der nächste Song war dann etwas ruhiger.
Ein unscheinbar wirkender Mann Ende zwanzig hatte sich in
unserer Nähe aufgehalten. Er trug zwar eine martialisch bedruckte
Lederjacke, wirkte aber ziemlich schmächtig. Die flaschendicke
Brille passte irgendwie nicht zu einem Rocker-Outfit. Er sprach
mich an. „Folgen Sie mir mit Abstand”, sagte er und und ging
los.
Ich hatte keine Gelegenheit näher nachzufragen.
Der schmächtige Kerl drängte sich bereits durch die Menge und
wenn wir uns nicht beeilten, verloren wir ihn zwischen all den
Leuten.
Ich stieß Rudi an. Wir folgten ihm also. Wie man jemandem auf
der Spur bleibt und trotzdem einen Abstand hält, der groß genug
ist, damit die Verfolgung nicht sofort auffällt, hatten Rudi und
ich in unseren Jahren im Außendienst schließlich bis zur Perfektion
gelernt.
Ein Hinterausgang führte in einen schmalen Flur, an dem sich
die Sanitäranlagen des Clubs befanden.
Betrunkene kamen uns entgegen.
Schließlich folgten wir dem Mann mit der dicken Brille bis zum
Hinterausgang des Çlubs. Der führte in einen Hinterhof. Auch hier
parkten jede Menge Fahrzeuge. Vor allem Motorräder, auch Trikes und
ein paar Lieferwagen. Inzwischen hatte die Dämmerung
eingesetzt.
Der Mann, dem wir gefolgt waren, saß auf einer Harley. Er sah
zu uns herüber. Ich nahm das als Signal, auf ihn zuzugehen. Außer
uns und dem Mann mit der dicken Brille war im Moment niemand zu
sehen.
„Ich denke, das reichte jetzt als Übung im Verstecken
Spielen”, sagte ich. „Ich bin Kriminalinspektor Harry Kubinke und
dies ist mein Kollege Kriminalinspektor Meier. Aber das wissen Sie
ja wohl längst.”
„Tun Sie so, als würden Sie meine Maschine bewundern”, sagte
er. „Für den Fall, dass man uns beobachtet.”
„Dann tun Sie bitte auch so, als wäre das wirklich Ihre
Maschine und als wären Sie darauf auch schonmal gefahren!”, sagte
ich.
„Hören Sie, das ist kein Spaß. Ich bin in höchster Gefahr. Und
Sie haben keine Ahnung von den Dimension, die CASH FLOW wirklich
hat.”
„Wer sind sie und wieso denken Sie, können Sie uns darüber
etwas sagen, was wir noch nicht wissen?”
„Wer ich bin, spielt im Moment keine Rolle. Haben Sie schonmal
den Namen Terra Nostra gehört?”
„Erzählen Sie mir, was Sie Darüber wissen.”
„Terra Nostra - wie Cosa Nostra, nur dass der Name darauf
anspielt, dass es nicht um die paar Mafia-Familien in Hamburg geht,
sondern um ein weltweites kriminelles Netzwerk. Die stecken hinter
CASH FLOW.”
„CASH FLOW ist Geschichte”, sagte ich.
„Nein, ist es nicht. Es wird weiter betrieben, auch wenn Ihre
Leute das vielleicht nicht einmal mitbekommen. Und das Terra
Nostra-Netzwerk wird dafür sorgen, dass es in Betrieb bleibt. Und
glauben Sie mir, es hat die Mittel dazu.”
„Hören Sie, wenn wir mit Ihren Informationen etwas anfangen
sollen, dann…”
„Ich werde Sie regelmäßig über Neuigkeiten informieren. Und
ich werde Ihnen Hinweise geben, denen Sie umgehend nachgehen
müssen. Falls Sie das nicht tun, wird das Menschenleben kosten,
denken Sie daran. Ich hoffe, dass das in Ihren beschränkten
Beamtenschädel hineingeht.”
„Wir arbeiten immer auch gerne mit Informanten zusammen, die
freundlich sind”, mischte sich Rudi ein.
„Sie haben noch nicht begriffen, welche Dimensionen das alles
hat!”, fuhr der Mann mit der dicken Brille unterdessen unbeirrt
fort. „Versuchen Sie nicht herauszufinden, wer ich bin. Das würde
mein Leben gefährden und vielleicht auch das Ihre!”
„Herr Unbekannt, so läuft das nicht”, sagte ich. „Sie geben
uns ein paar vage Andeutungen zu einem kriminellen Netzwerk…”
„...von dem Sie durch bislang nur einen kleinen Fisch namens
Marvin Manteufel mit ein paar Fetzen zu fassen bekommen haben. Sie
denken, dass das ein großer Fischzug war, den Sie da veranstaltet
haben. Aber in Wahrheit haben Sie nichts. Gar nichts.”
„Geben Sie uns etwas Konkretes. Bis jetzt haben wir nichts als
Andeutungen. Wir brauchen Beweise.”
„Beweise kann ich Ihnen nicht liefern. Zumindest nicht im
Augenblick. Aber ich kann Ihnen sagen, von wem Sie sie bekommen
könnten.”
„Von wem?”
„Zum Beispiel von Marvin Manteufel.”
„Was meinen Sie damit?”
„CASH FLOW wird weiterbetrieben, das sagte ich Ihnen bereits.
Glauben Sie, die wären auf Ihren Angriff nicht vorbereitet gewesen?
Glauben Sie, die hätten nicht geahnt, dass so etwas eines Tages
passieren könnte?”
„Dann ist Manteufel nur zu dusselig gewesen, rechtzeitig
seinen Helikopter zu besteigen? Soll ich das etwa glauben?”
„Es gibt einen Bereich im Darknet, der nur über besondere
Codifizierungen zu erreichen ist - und deshalb läuft CASH FLOW ganz
normal weiter, als wäre nichts gewesen. Und Marvin Manteufel kennt
diese Codes. Er weiß davon. Mehr noch! Er hat dafür gesorgt, dass
es diese Notfallpläne überhaupt gibt, Kriminalinspektor, da sind
Milliarden im Umlauf. Milliarden, die gewaschen werden müssen.
Drogen-Euros, auf die jemand dringend wartet, weil er sie in ein
legales Geschäft investieren will. Auftragskiller und andere
Dienstleister, die bezahlt werden müssen, weil sie sonst ihrerseits
sehr unangenehm werden können. Wenn der Fluss einmal aufgehalten
wurde, dann kommt es zu schweren Nebenwirkungen, die das Geschäft
gefährden. Und zwar in seinem Kern. Also darf es dazu nie kommen
und dafür hat Manteufel gesorgt.”
„Woher wissen Sie davon?”
Er lächelte verhalten. „Ich sagte Ihnen doch: Versuchen Sie
nicht, herauszufinden, wer ich bin. Und schon gar nicht sollten Sie
das mit so billigen Tricks versuchen.”
„Und was ist Ihre Motivation, uns zu helfen?”
„Einen Deal hat Ihnen bisher ja wohl niemand angeboten”,
ergänzte Rudi. „Und das Zeugenschutzprogramm…”
„Ich brauche Ihr Zeugenschutzprogramm nicht”, unterbrach der
Brillenträger Rudi. Der Klang seiner Stimme erinnerte an klirrendes
Eis. „Das wäre mir ohnehin zu unsicher.”
„Sie vertrauen da lieber auf Ihre ganz persönlichen
Sicherheitsmaßnahmen”, schloss ich.
„Ich bin das Phantom, das niemand kriegt”, sagte er. „Der
Mann, den es nicht gibt. Und das ist für mich der beste
Schutz.”
„Ich vermute, dass das ein folgenschwerer Irrtum sein könnte”,
sagte ich.
Er hob die Augenbrauen. „Vielleicht können Sie mich ja eines
Tages vom Gegenteil überzeugen. Aber im Moment sollten Sie aus
Manteufel die Information herauspressen, von denen ich gesprochen
habe. Denn andernfalls wird diese Krake dadurch, dass Sie ihr ein
Tentakel abgeschlagen haben, nur noch wuchernder in ihrem wilden
Wachstum. Und jetzt muss ich mich verabschieden.”
„Warten Sie”, verlangte ich.
„Ich melde mich. Versuchen Sie nicht, mich zu erreichen, dass
ist unmöglich. Aber ich werde immer in Ihrer Nähe sein und wissen,
was Sie tun.”
„Klingt fast wie eine Drohung.”
„Verstehen Sie es, wie Sie wollen. Ach ja, Sie haben mich nach
meinem Motiv gefragt, Ihnen zu helfen.”
„Und das wäre?”
„Nächstenliebe”, sagte der dürre Mann allen Ernstes.
„Wie?”, fragte ich, weil ich im ersten Augenblick dachte, ich
hätte mich verhört. Aber das war offenbar nicht der Fall.
„Ja, man könnte es tatsächlich so nennen”, meinte er. „Ich
kann nicht mehr zusehen, was da geschieht. Es muss gestoppt werden.
Es sterben Menschen deswegen. Jeden Tag irgendwo. Überlassen Sie
die Welt nicht Terra Nostra.”
Er warf die Maschine an und fuhr los.
Mir war klar, dass es sinnlos war, ihn zurückhalten zu wollen.
Eine Handhabe, ihn festzuhalten, hatten wir ohnehin nicht. Die
Harley beschleunigte.
Dann blitzte irgendwo etwas auf. Irgendwo zwischen den alten
Industriegebäuden, von denen die meisten inzwischen einem anderen
Zweck zugeführt worden waren. Der Strahl eines Laserpointers zuckte
durch das Halbdunkel der Dämmerung und brach sich in einer Wolke
aus aufgewirbeltem Staub. Ein Ruck ging durch den Körper des
Mannes, der sich selbst als Phantom bezeichnet hatte. Mehrfach
zuckte er und wurde aus dem Sattel der Harley gerissen und blieb
auf dem Asphalt liegen. Die Harley fuhr noch ein Stück allein
weiter und schrammte dann in ein parkendes Fahrzeug hinein.
10
Ich nahm eine Bewegung wahr. Und das erneute Blitzen eines
Laserpointers. An den Hinterhof grenzte auch ein quaderförmiges
mehrstöckiges Gebäude, das wohl ursprünglich ebenfalls eine
Industriehalle gewesen war. Inzwischen hatte man es zu einem
Bürogebäude umfunktioniert und dazu verhältnismäßig große
Fensterfronten eingesetzt. Ein Großteil der Büros war noch nicht
vermietet worden. Darauf deuteten große Schilder hin, die die
Büroflächen anboten.
In den bereits vermieteten Büros war um die Zeit vermutlich
ohnehin kein Betrieb mehr.
Für einen Killer ein idealer Ort, um eine gute Position zu
finden, von wo aus er schießen konnte. Zumal dann, wenn er wusste,
dass das Phantom auf jeden Fall auftauchen würde. Vielleicht hatte
der Schütze die abgestellte Harleys des Phantoms gesehen.
Für einen Moment sah der mutmaßliche Killer in meine Richtung.
Von seinem Gesicht konnte ich nichts sehen. Aber der Umriss einer
Langwaffe war unübersehbar.
Und in diesem Fall war ich mir zumindest sicher, dass es ein
Mann war.
Schon allein der betont breitschultrige Körperbau ließ daran
nicht den Hauch eines Zweifels.
Einen Augenblick später war der Kerl verschwunden.
„Den hole ich mir!” sagte ich.
11
Ich spurtete los. Rudi rief derweil erstmal Verstärkung und
sah kurz nach dem ‘Phantom’. Aber dass der Mann mit der dicken
Brille nicht mehr lebte, lag auf der Hand. Eine der Kugeln war ihm
durch den Schädel gefahren. Die dadurch entstandene Verletzung war
furchtbar.
Der Eingang zum Bürogebäude lag auf der der Straße zugewandten
Seite. Ich musste es also umrunden, um den Killer zu erwischen,
vorausgesetzt er würde das Gebäude auch tatsächlich auf diesem Weg
verlassen und es gab dazu nicht noch irgendeine andere Möglichkeit,
von der ich nichts ahnte.
Ich rannte so schnell ich konnte.
Durch die schmale Ausfahrt des Hinterhofs gelangte ich zur
anderen Seite des Gebäudes. Dort befand sich eine breite Straße, an
der reger Verkehr herrschte.
Ein Mann mit Baseballkappe und Spiegelbrille kam aus dem
Bürogebäude. Er trug eine Tasche über der Schulter, die wohl
eigentlich für Golfschläger gedacht war.
„Stehen bleiben!”, rief ich mit der Dienstpistole in der Hand.
„BKA! Sie sind verhaftet! Leisten Sie keinen Widerstand!”
Der Kerl wirkte wie erstarrt. Unter seiner Jacke malte sich
eine Verdickung ab. Ich nahm an, dass es sich um ein
Pistolenholster handelte. „Die Tasche auf den Boden!”, wies ich ihn
an. Er gehorchte.
Ich näherte mich ihm.
In diesem Moment war ein Schussgeräusch zu hören. Ein Ruck
ging durch den Körper des mutmaßlichen Killers. Er klappte zusammen
wie ein Taschenmesser und blieb regungslos liegen. Gleichzeitig
brach aus einer Parklücke auf der anderen Straßenseite ein Wagen
hervor.
Es war ein SUV mit getönten Scheiben. Die Seitenscheibe
schloss sich gerade automatisch.
Der Fahrer trat das Gaspedal voll durch. Der Motor heulte auf,
während das Fahrzeug beschleunigte.
Ich feuerte auf die Hinterreifen, verfehlte sie aber.
Ein anderes Fahrzeug, das dem SUV entgegenkam und vor dessen
ungestümer Fahrweise ausweichen musste, versperrte mir dann die
Schussbahn. Mit quietschenden Reifen erreichte der SUV dann die
nächste Abzweigung.
Ich griff augenblicklich zum Handy, um Verstärkung zu rufen
und dafür zu sorgen, dass nach dem SUV gefahndet wurde.
Die Nummer hatte ich mir wenigstens merken können.
Ich kehrte zu dem am Boden liegenden Mann zurück. Die
Spiegelbrille lag auf dem Pflaster. Seine Augen waren starr, und es
konnte kein Zweifel daran bestehen, dass für ihn jede Hilfe zu spät
kommen würde.
12
„Morgen ist Ihr großer Tag, Herr Manteufel”, sagte Melanie
Paretti, während sie ihre Aktentasche auf den Boden stellte und
sich an den im Boden verschraubten Tisch des Besprechungszimmers
setzte.
Marvin Manteufel saß auf der anderen Seite des Tisches. Er
trug Handschellen.
„Können Sie ihm die nicht abnehmen?”, wandte sich Melanie
Paretti an einen der Wachleute. „Bitte!” Es war ein sehr
energisches Bitte, das vom Tonfall her eher wie ein barscher Befehl
wirkte.
„Lassen Sie nur!”, wehrte Marvin Manteufel ab. „Unsere
Unterredung wird nicht lange genug dauern, als dass sich die ganze
Prozedur lohnen würde!”
Melanie Paretti runzelte die Stirn. „Wie ich gerade schon
angefangen hatte zu erläutern, ist morgen ein sehr wichtiger Tag
für Sie, Herr Manteufel. Und ich hatte eigentlich gedacht, dass es
auch in Ihrem Interesse ist, wenn wir uns intensiv darauf
vorbereiten.”
„Hören Sie…”
„Herr Manteufel, morgen wird darüber entscheiden, ob ein
Hauptverfahren eröffnet wird!”
„Ich bin mit diesen Dingen einigermaßen vertraut”, sagte
Manteufel kühl. „Vielleicht nicht so gut wie Sie, aber immer noch
gut genug. Ich habe volles Vertrauen in Ihre Fähigkeiten, sonst
hätte ich Sie und Ihre Kanzlei nicht engagiert.”
„Aber ich kann wenig für Sie tun, wenn Sie so wenig
kooperieren, Herr Manteufel!”
„Machen wir uns nichts vor: Der Termin morgen ist reine
Formsache. Es gibt nichts, was die Eröffnung eines Hauptverfahrens
gegen mich jetzt noch verhindern könnte. Oder sehen Sie das etwa
anders?”
„Ich muss zugeben, dass Sie mir eine… juristisch
anspruchsvolle Aufgabe gestellt haben.”
„Ziehen Sie morgen ruhig Ihre Show ab, Frau Paretti. Das mit
der Unzurechnungsfähigkeit und dem emotionalen Ausnahmezustand
haben Sie sehr überzeugend vorgetragen.”
„Sie sollten mit mir kooperieren. Ich bin Ihre Anwältin, nicht
Ihr Feind.”
„Ich werde mit niemandem kooperieren. Nicht mit der Justiz und
auch mit sonst niemandem. Ich habe das Recht zu schweigen, und von
diesem Recht werde ich Gebrauch machen. Sie werden von mir während
des gesamten Prozesses nicht ein einziges Wort hören. Sie haben
völlig freie Hand, in dem wie Sie vorgehen. Aber was auch immer
geschehen mag, ich bin überzeugt davon, schon bald wieder auf
freiem Fuß zu stehen.”
„Herr Manteufel, ich sage es Ihnen ungern, aber….”
Er hob die Augenbrauen. „Aber was?”, fragte er.
Melanie Paretti schluckte, bevor sie weitersprach. „Ich
glaube, dass Sie Ihre Situation entschieden zu optimistisch
einschätzen.”
Manteufel lächelte. „Nein, das glaube ich nicht.” Er hob seine
zusammengeketteten Hände und sein Lächeln wurde noch etwas breiter.
„Dies ist hier ist nur ein Augenblick. Mehr nicht. In Kürze werde
ich wieder frei sein. So oder so… was ist? Was sehen Sie mich so
an? Haben Sie denn gar kein Vertrauen in Ihre eigenen Fähigkeiten,
Frau Paretti?”
13
„Zwei Tote innerhalb kurzer Zeit”, meinte Rudi.
Inzwischen waren zahlreiche Einsatzkräfte eingetroffen.
Außerdem der Erkennungsdienst. Auf den Gerichtsmediziner warteten
wir noch. Die Tatorte waren gesichert worden und Kollegen hatten
damit begonnen, Zeugen zu befragen und Beweise zu sichern.
Mehrere Hubschrauber kreisten über dem Gebiet. Natürlich
hofften wir, den Fahrer des SUV noch finden zu können, der auf den
Killer geschossen hatte. Aber bislang war die Fahndung in dieser
Hinsicht erfolglos.
Wir hatten inzwischen auch die Autobahnpolizei um
Unterstützung gebeten. Das Kennzeichen war in die Fahndung gegeben
worden. Wie eine Halterabfrage ergeben hatte, gehörte der Wagen
einer Autovermietung aus Hamburg.
Das konnte eine interessante Spur sein. Wir hatten deswegen
Stefan Carnavaro, den BKA-Dienststellenleiter in Hamburg darum
gebeten, dieser Spur nachzugehen.
„Allzu viel Hoffnung mache ich mir nicht, was die Hamburger
Spur angeht”, meinte Rudi. „Am Ende haben wir die falsche Identität
von jemanden, der sich mit einen Wagen geliehen hat, um damit einen
Mord zu begehen.”
„Das war ein Profi-Killer, der unseren Informanten umgebracht
hat. In dem Punkt sind wir uns ja wohl einig, Rudi.”
„Absolut, Harry.”