Krise der Aufklärung - Michael Hampe - E-Book

Krise der Aufklärung E-Book

Michael Hampe

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Beschreibung

Die Aufklärung ist in Gefahr. Die Vermarktung von Information und Kommunikation hat Fehlinformationen profitabel gemacht, die Öffentlichkeit ist zu einem Raum der Täuschung und Aufwiegelung geworden. Eine zunehmende und ungehemmte Ausbreitung von Grausamkeit und Gewalt scheint die Folge zu sein. Michael Hampe überlegt in diesem Buch, ob ein neues Verständnis von »Selbst« und »Freiheit« auch zu einer Erneuerung der Aufklärung beitragen kann. Und ob Erziehung Menschen so zu verändern vermag, dass sie der Erosion der aufgeklärten Kultur etwas entgegensetzen und aufgeklärte Lebensformen begründen.

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Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

3Michael Hampe

Krise der Aufklärung

Über die Fortsetzbarkeit einer Lebensform

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2481.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag: nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-78404-4

www.suhrkamp.de

Widmung

6In Erinnerung an Peter Michelsen

Motto

7»Und da stehen wir, staunend. Und mit der Zeit fangen wir an einzusehen, dass wir nicht nur am Rand des Universums leben, sondern dass dies ein Universum von lauter Rändern ist, dass es da kein Zentrum gibt […] und dass vielleicht all unser Verstehen […] letztlich ein Eindreschen auf dieses Ego der Menschheit bedeutet mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung, bis dieses Ego ein zertrümmertes Artefakt ist, das Licht hindurchlässt.«

– Samantha Harvey, Orbital, London 2023, S. 28 (meine Übersetzung, M.H.).

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Inhalt

Vorwort

Einleitung

I

. Abschied von den großen Worten

1. Geschichte und Engagement

2. Skepsis

Philosophie und Öffentlichkeit

Beispiele und Prinzipien

Erziehung

Formen der Aufklärung

3. Wahrheit

Leiden an Unwahrheit

Das pragmatistische Wahrheitsverständnis

Descartes’ Architektonik und ihre Folgen

Postmoderne

Aufklärung und Postmoderne

Konsequenzen

4. Das freie Selbst

Freiheitsbegriffe

Metaphysik des Selbst

Empirische Evidenzen

II

. Die dritte Aufklärung

1. Vom Streben nach Autonomie zur Meinungsinflation in universaler Konkurrenz

Illusionslosigkeit

Ziele der Aufklärung

Autonomie und Abhängigkeit

Mündigkeit

Universale Konkurrenz

Die Inflation der Meinungen

2. Was ist Aufklärung?

Bewegungen der Aufklärung

Der argumentative Streit

Wehrhafte Aufklärung

3. Grausamkeit und die Suche nach intensiven Erfahrungen

Leid und Grausamkeit

Grausamkeit als Laster

Ästhetische Reaktionen

Die Realisierung von Möglichkeiten

Kriege und grausame Justizsysteme

Streben nach Intensität

Kriegsvermeidung und Bildung

4. Wissen, Wahrheit und Geschichte

Epochenwandel

Dialektik der Aufklärung

Die Geschichte ernst nehmen oder der gemischte Charakter der Wirklichkeit

III

. Selektionieren oder Erzählen: Über die Zukunft der Bildung

1. Erziehen als Regieren

2. Erziehen mit und ohne Anstalt

3. Erziehung des autonomen Subjekts unter dem Ideal der Selbstverwirklichung

4. Erziehung in Zeiten radikalen Wandels

5. Neue Autonomien

6. Erzählungen

Epilog

Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

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Vorwort

Kernstücke dieses Buches sind vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022, vor den neuen Kriegen im Nahen Osten und im Sudan und vor der Wiederwahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten entstanden. Auch die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenzen war, als ich 2016 an diesen Themen zu arbeiten begann, in der Öffentlichkeit noch nicht so präsent wie heute. Als ich die (bereits zuvor andernorts gedruckten) Texte in Vorbereitung dieses Bandes wieder las, erschienen sie mir deshalb fast zu harmlos. In der Sache halte ich sie jedoch weiterhin für angemessen. Die Kultur der Aufklärung ist nach wie vor unter starkem Druck, heute noch mehr als vor acht Jahren. Und doch ist sie in meinen Augen weiter zu verfolgen. Denn der Wunsch nach einem Leben ohne Grausamkeiten und Illusionen scheint mir unter Menschen nicht ausrottbar. Kooperation um der Wahrheit und des Friedens willen wird immer noch von einer Mehrheit gegenüber universaler Konkurrenz auf Kosten der Wahrheit und kriegerischem Machtstreben vorgezogen.

»Abschied von den großen Worten« ist in einer ersten Fassung 2019 in dem von Heiner Hastedt herausgegebenen Band Deutungsmacht von Zeitdiagnosen erschienen sowie im selben Jahr in der Information Philosophie. Einzelne Abschnitte sind ferner 2021 im Jahrbuch Aufklärung sowie erneut in der Information Philosophie abgedruckt worden. Schließlich hat der Mitteldeutsche Verlag 2023 fast den ganzen ersten Essay publiziert. Der zweite Essay, »Die dritte Aufklärung«, erschien in etwas anderer Form 2018 im Nicolai Verlag in Berlin. »Selektionieren oder Erzählen: Über die Zukunft der Bildung«, der dritte Text, wurde eigens für diesen Band verfasst. Die bereits gedruckten Stücke wurden für die Publikation in diesem Band gründlich durchgesehen und überarbeitet.[1] 

10Ich habe die meisten der hier versammelten Gedanken in Vorträgen präsentiert und mit meinen Kolleginnen und Kollegen diskutiert. Ich danke Fabienne Forster, Olivier Del Fabbro, Martin Münnich, Anna Morawietz, Nadia Mazouz, Arvi Särkelä, Roy Wagner, Lutz Wingert und allen anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungskolloquiums für Philosophie an der ETH Zürich für ihre Diskussionsbeiträge. Auch Magnus Schlette, Hans-Peter Schütt, Peter König und den weiteren Diskutanten des Kolloquiums der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg danke ich für die Anmerkungen zu meinen Überlegungen über Wahrheitspraktiken, die ich in Heidelberg während eines Freisemesters präsentieren konnte. Im von Heiner Hastedt geleiteten Kolloquium des Rostocker Graduiertenkollegs zum Thema »Deutungsmacht« erhielt ich kritische Hinweise zur Verbesserung meiner Gedanken zu Vernunft und Postmoderne, für die ich sehr dankbar bin. Ebenfalls zu großem Dank verpflichtet bin ich Élisabeth Décultot für die Einladung, die Halle Lecture 2021 am Interdisziplinären Zentrum zur Erforschung der Europäischen Aufklärung zu halten. Die Diskussionen in Halle an der Saale waren zentral für die Weiterentwicklung meines Verständnisses von Aufklärung in interkultureller Perspektive.

Im Herbst 2024 konnte ich ein Semester in Taiwan an der National Chengchi University/Taipeh verbringen. Auch wenn wir in unserem Projekt über Spinoza und den Hua-Yen-Buddhismus nicht direkt mit Fragen zur Aufklärung zu tun haben, waren die Gespräche, die ich mit meinem Freund Kai Marchal während dieser Zeit führen konnte, weil sie immer wieder um Probleme der Interkulturalität und die Möglichkeit globaler Bewusstseinsbildung kreisten, für mich bei der Überarbeitung der Texte für dieses Buch inspirierend. Ich danke der ETH Zürich für die Ermöglichung dieses Forschungsaufenthalts und Kai Marchal für die Einladung nach und seine Gastfreundschaft in Taipeh.

Frank Hermenau und Eva Gilmer danke ich, dass sie die Texte mit großer Sorgfalt durchgesehen, für den Druck eingerichtet und kommentiert haben. Vor allem einige sehr hilfreiche Kommentare zum Selbst als Realabstraktion und zur Erziehung von Frank Hermenau haben mir in den entsprechenden Kapiteln weitergeholfen. 11Martin Münnich danke ich dafür, die Fußnoten vervollständigt und letzte Korrekturen vorgenommen zu haben.

Eva Gilmer danke ich schließlich für ihre Geduld und dass sie trotz Verspätung den Texten einen Platz im Programm des Suhrkamp Verlages gegeben hat.

Diese Essays sind der Erinnerung an den Germanisten Peter Michelsen gewidmet, bei dem ich ab 1980 in Heidelberg neuere deutsche Literaturwissenschaft studieren konnte. Michelsen war ein aufgeklärter und skeptischer Kopf, der über Hegels Dialektik die Nase rümpfen konnte und dem Diderot näher war als Kant. Er war ein in der Weltliteratur Gebildeter, der uns Heine ebenso wie Laurence Sterne und Melville, Calderon oder Shakespeare nahezubringen vermochte. In ihm ist mir der genaueste und objektivste Leser begegnet, der jederzeit seine Deutung eines Textes zu revidieren bereit war, wenn jemand anders, auch eine junge Studierende, auf eine Stelle verweisen konnte, die mit ihr nicht vereinbar war. Für ihn war der Text die Autorität im Raum, nicht der Professor. Seine Veranstaltungen zu Lessing und Schiller und die Gespräche über den Spinoza der Goethezeit, für die er, damals nicht selbstverständlich, für mich als Studienanfänger zur Verfügung stand, haben mir ein klareres Verständnis für den Wert der Kultur der Aufklärung im Europa des 18. Jahrhunderts vermittelt als manches philosophische Kantseminar. Seine Art und Weise zu lesen und zu lehren war für meine eigene Tätigkeit als Hochschullehrer ein Vorbild, seine skeptische aufgeklärte Haltung eine Orientierung. Michelsen ist 2008 gestorben.

M.H., Zürich, im Mai 2025

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Einleitung

Ludwig Wittgenstein schrieb in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in seinen Vermischten Bemerkungen:

Die apokalyptische Ansicht der Welt ist eigentlich die, daß sich die Dinge nicht wiederholen. Es ist z.B. nicht unsinnig, zu glauben, daß das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; daß die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch die von der endlichen Erkenntnis der Wahrheit; daß an der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und daß die Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft. Es ist durchaus nicht klar, daß dies nicht so ist.[1] 

Der Philosoph Ben Ware hat in seinem Aufsatz »Wittgensteins apokalyptische Subjektivität« Wittgensteins Philosophieverständnis mit Bezug auf dieses Zitat so expliziert:

Philosophie wird [von Wittgenstein, M.H.] als eine Tätigkeit dargestellt, durch die man die Welt neu zu sehen lernt. Ihr Ziel ist es […], den Griff fester Sehgewohnheiten zu lockern, routinierte Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu destabilisieren und uns an einen Punkt zu bringen, von dem aus es möglich ist, das Alltägliche durch eine dialektische Optik zu betrachten.[2] 

Ben Ware bezieht dieses Bemühen Wittgensteins um die Entwicklung der Fähigkeit, Dinge in einer neuen Perspektive, in einem anderen Licht als bisher zu sehen, vor allem auf die wissenschaftliche Erkenntnis und das moderne Fortschrittsdenken, man könnte auch sagen: auf unsere Einstellung zur modernen Aufklärung. Das, was wir als wissenschaftlichen Fortschritt und als einen Prozess der 14Befreiung von Illusionen, Aberglauben, von philosophischen und theologischen Dogmen sehen, könnte nach Wittgenstein auch die Bewegung hinein in »eine Falle« sein. Das, was mit der wissenschaftlich-technischen Zivilisation im 16. und 17. Jahrhundert begonnen hat, könnte auch als Anfang vom Ende der Menschheit gedeutet werden, oder: Man kann lernen, die Geschichte auch so zu sehen. Wir müssen die eigenen Erfahrungen nicht nur anhand der »Standarderzählungen« vom Fortschritt organisieren. Anders als mancher Apokalyptiker sagt Wittgenstein jedoch nicht, dass es so ist, also dass mit dem Prozess, der um 1600 in Europa in Gang gekommen ist, tatsächlich der Anfang vom Ende der Menschheit angebrochen ist. Aber man kann, so scheint er nahelegen zu wollen, diese Möglichkeit zu erwägen lernen.

Denn es ist nicht vollständig bestimmt, wie wir einen Entwicklungsprozess deuten und bewerten, zumal wenn unklar ist, wann er zu Ende sein wird. So galt bis zu den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert die Aufklärung als ein großartiges Projekt. Danach änderte sich die Einschätzung. Auch die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1944 ist als eine Einübung in eine andere Perspektive auf die Aufklärung vor dem Hintergrund der Weltkriegserfahrungen und des Holocausts deutbar.

Wir alle kennen Debatten, in denen darüber gestritten wird, wie die Entwicklung der Menschheit über die letzten 400Jahren zu bewerten sei. Nicht nur scheint es unmöglich, solche Streitigkeiten zu entscheiden, sofern es lediglich um die Feststellung von Tatsachen geht. Denn schon auf den Wahrheitsgehalt von Tatsachenfeststellungen kann man sich gegenwärtig in einer Öffentlichkeit kaum einigen, in der einer großen Anzahl von Menschen ein Bewusstsein für Überprüfungsverfahren von wissenschaftlichen Behauptungen fehlt, sehr viele jedoch gleichzeitig großes Interesse daran haben, Recht zu behalten. Es geht bei diesen Streitigkeiten nicht einfach um Tatsachenfeststellungen, sondern um Bewertungen von Tatsachen und die Organisation von historischen »Gestalten« in unseren Köpfen. Für die positive Bewertung dieser Prozesse – etwa als Fortschrittsbewegung –, scheinen Tatsachen zu sprechen wie Reduktion der Kindersterblichkeit, Alphabetisierung von Menschen durch öffentliche Schulen, Eindämmung von Infektionskrankheiten durch Antibiotika usw. Andere Tatsachen schlagen dagegen negativ zu 15Buche: die Völkermorde in den großen Vernichtungskriegen, den totalitären Systemen des Faschismus und des Stalinismus sowie durch den Kolonialismus, der Einsatz und die Existenz von Nuklearwaffen, die Erderwärmung und das Artensterben. Was man für die Zukunft erwartet, hängt davon ab, welche Tatsachen man als Indikatoren für die relevanten Entwicklungsaspekte der historischen Gestalt namens »Aufklärung« als »Figur« und welche man als »Hintergrund« darstellt. Der Streit geht also nicht so sehr um das, was der Fall ist. Vielmehr geht es um die Gewichtung von Tatsachen als Symptomen für die zu erwartende weitere Entwicklung. Zu diesem Zweck wird zeitliche Gestalt, die man als »Aufklärung« anspricht mit normativen Termini beschrieben. Was waren die letzten 400Jahre in Europa eigentlich: ein Prozess der Befreiung und Befriedung, der Anerkennung des Wertes eines jeden einzelnen Menschen oder der lange Anlauf in die digitale Unmündigkeit und ökologische Katastrophe?

Mit der aufklärerischen europäischen Moderne verhält es sich ähnlich wie bei Wittgensteins berühmtester Kippfigur, der Hasenente. Während man diese sowohl als einen Hasen als auch eine Ente sehen kann, lässt sich die Aufklärung als eine lange Katastrophe, aber auch als Befreiungsbewegung auslegen. Es gibt allerdings einen Unterschied: Anders als bei der Hasenente wird der Aspektwechsel bei der Bewertung der modernen Aufklärung von einer emotionalen Gestimmtheit begleitet: Es fühlt sich bitter an, die Geschichte der Moderne als eine Bewegung hinein in eine Falle zu sehen, aus der die Menschheit eventuell nicht mehr herauskommt. Denn »unsere« moderne Kultur ist auf Fortsetzbarkeit und Fortschritt im Streben nach Freiheit und Wohlergehen angelegt. Es ist schwer erträglich, sich vorzustellen, dass »uns« im gegenwärtigen politischen US-Amerika und in der globalen ökologischen Krise, »die Rechnung« für ein kollektives Fehlverhalten präsentiert wird, für eine Reihe von Fehlentscheidungen von Gemeinschaften, deren Mitglieder in ihrer Existenz weitgehend auf ein Konsumentendasein reduziert wurden und die durch eine allein nach Profitmaximierung strebende Unternehmerclique nach allen Regeln der digitalen Abrichtungskunst manipuliert werden. Dass all das, woran viele Menschen über Generationen hinweg mit großen Hoffnungen gearbeitet haben, aufhören und unterm Strich mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht haben wird, ist ein beunruhigender Ge16danke. In der anderen Perspektive gibt es dagegen weiterhin Anlass zur Hoffnung. Denn hier sind gegenwärtige Krisen nicht Vorboten des Untergangs, sondern Herausforderungen, deren Bewältigung zu neuen Erkenntnissen und Technologien führen wird, wie das bisher immer gewesen ist. Die Menschen werden in Zukunft nach der Überwindung dieser Krisen mit bisher nicht geahnten Fähigkeiten und Freiheiten ausgestattet sein. Auch wenn die gegenwärtigen Entwicklungen furchteinflößend und mit Leid verbunden sein mögen: Sie werden die Menschen zu neuen »Höhen« tragen.

Texte, die versuchen, »das Sehen« so zu schulen, dass es gelingt, die Verhältnisse in einem anderen bewertenden Licht zu sehen als bisher, sind Instrumente. In ihnen manifestiert sich nicht der Anspruch darauf, eine »endgültige Lehre«, eine »unumstößliche Gewissheit« oder »letzte Wahrheit« zu liefern, sondern mit ihnen lässt sich geistige Beweglichkeit trainieren, die vor Fanatismus schützen und Verständigungsprozesse fördern kann.

Die Cartesische Vorstellung, es könnte eine Lehre, eine Theorie, eine Wahrheit geben, die absolut gewiss ist und uns zu »Herren und Besitzern der Natur« macht,[3]  war ein Kennzeichen der frühen wissenschaftlichen Aufklärung Europas und ihres Fortschrittsglaubens. Im 19. Jahrhundert ist diese Vorstellung verschwunden, nachdem Charles Sanders Peirce den Fallibilismus etabliert hatte (auch wenn der Fortschrittsglauben zunächst noch erhalten blieb).[4]  Seitdem hangelt sich die Wissenschaft von einem Irrtum zum nächsten, lernt alte Irrtümer zu vermeiden, indem sie eine Weile neuen, noch nicht durchschauten, anhängt. Sie ist bescheidener geworden. Die Frage, ob sie sich dabei einer »letzten« Wahrheit annähert, die Peirce wohl noch bejaht hätte und die wissenschaftsphilosophisch umstritten ist, steht auch hinter der Kippfigur namens »moderne Aufklärung«. Was, wenn die wissenschaftliche Entwicklung keine Wahrheitsannäherung ist, sondern auf eine Irrfahrt durch einen unendlichen Dschungel von Irrtümern mit unbekannten Folgelasten hinausläuft? Was, wenn die technische Entwicklung keine stetige Annäherung an einen immer »besseren«, weil leidfreieren, mündigeren Zustand »der Menschheit« ist? Was, wenn die Vorteile, die eine 17Erkenntnis oder eine Technologie tatsächlich mit sich bringt, immer wieder durch die Nachteile der unbeabsichtigten Nebenfolgen aufgewogen oder gar übertroffen werden, die im Übrigen oft von denen getragen werden müssen, die gar nicht in den Genuss der Vorteile gekommen sind? Was, wenn die durch Wissenschaft und Technik angetriebene globale Entwicklung zu einem zivilisatorischen Zustand führt, in dem Erkenntnisgewinn und technische Innovationen verunmöglicht werden, so dass Techniken, die die unliebsamen Folgen einer alten Technologie zum Verschwinden bringen, nicht mehr hervorgebracht werden können? Vorstellbar ist beispielsweise, dass sich die Erderwärmung derart beschleunigt, dass die daraus resultierenden Naturkatastrophen und Migrationsbewegungen die Entwicklung und den Aufbau effizienter CO2-Absauganlagen und die Aufforstung neuer Wälder nicht mehr erlauben. Beides scheint jedoch dringend nötig zu sein, seit das 1,5-Grad-Ziel als Grenze der anthropogenen Erderwärmung nicht mehr haltbar ist. Auch ein atomarer Schlagabtausch könnte zivilisatorische Konsequenzen nach sich ziehen, die technisch nie mehr bewältigbar sind. Und schließlich waren digitale soziale Medien ursprünglich für eine leichtere Informationsgewinnung gedacht. Was, wenn der allgemeine Informationsstand der Öffentlichkeit und die epistemischen Kompetenzen ihrer Mitglieder, als eine Nebenfolge der breiten Nutzung dieser Medien, so sehr regredieren, dass die betreffenden Kollektive nicht mehr in der Lage und willens sind, auf demokratischem Wege eine kompetente Regierung zu bestimmen? Dann würden ehemals freiheitliche demokratische Gesellschaften vielleicht aufgrund von technischen Entwicklungen, die Desinformation und Verfeindung befördern, in den »Selbstmord« getrieben.

Das sind alles gedankliche Möglichkeiten, die aufgrund gegenwärtig zu beobachtender Entwicklungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben, jedoch nicht gewiss sind. Mit Wittgenstein kann man sich bemühen, die Verhältnisse so zu betrachten, um sich nicht zu sehr »in Sicherheit« zu wiegen. Wittgenstein ist nicht der erste Philosoph gewesen, dessen Texte keine Theorie und keine praktischen Anweisungen verkünden, in denen sich also keine Lehre manifestiert. Seine Texte stellen Denkexerzitien für den Perspektivenwechsel dar. In ihnen werden Sichtweisen eingeübt und relativiert. Schon viele Jahrhunderte davor hat sich der Buddhismus auf diese Weise selbst gedeutet, etwa im Diamant-Sutra. Dort fragt Buddha Sha18kyamuni einen seiner Anhänger namens Subhuti, ob der Buddha, eine Lehre vertreten würde. Das sei nicht der Fall, sagt Subhuti. Alles, was der Buddha sage, sei ein Instrument, ein Fahrzeug, das einem helfen soll, das existentielle Ufer zu wechseln. Doch niemand, der mit einem Floß über einen Fluss fahre, trage am anderen Ufer noch das Floß mit sich herum. Man lasse es gehen.[5]  Ganz ähnlich macht Wittgenstein gegen Ende seines Tractatus logico-philosophicus deutlich, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und Tatsachenbehauptungen für die Frage nach dem Sinn des Lebens sowie danach, ob wir ein gutes Leben führen, getrost als irrelevant angesehen werden dürfen. Er ersetzt das Floß durch eine Leiter, wenn er schreibt:

Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)[6] 

Das Diamant-Sutra und der Tractatus stehen exemplarisch für Texte, die sich um Ent-dogmatisierung, um Ent-Täuschung,[7]  Desillusionierung bemühen, darum, Selbstdeutungen »der Aufklärung«, an die man sich gewöhnt hat und die angenehm sind, infrage zu stellen. Dies geschieht nicht, um die Aufklärung abzuschaffen, sich auf den Weg zurück in Aberglauben und Despotismus zu begeben oder eine Untergangsstimmung anzuheizen. Es geht vielmehr darum, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären. In einem Entwicklungsprozess kann es angenehme und weniger angenehme Phasen und einen ungewissen »Ausgang« geben. Angenehme Phasen als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten, die garantieren, dass »alles gut wird«, ist blauäugig. Aufklärungskritik in diesem Sinne ist dann ihrerseits ein Beitrag zur Aufklärung.

Entsprechend sind die in diesem Band versammelten Texte gemeint: als situativ motivierte Interventionen. Eventuell können sie helfen, die Suche nach »großen Worten«, nach einer »letzten« Lehre, bei der man »für immer« bleiben kann, nach der praktischen Lösung »aller Probleme« einschlafen zu lassen, um Fanatismen zu vermeiden, die immer wieder zu »Rückfällen« in die Barbarei führen, 19wie Horkheimer und Adorno das genannt haben.[8]  Denn zu solchen Regressionen kommt es, wenn sich zwei Lager gegenüberstehen, die jeweils davon überzeugt sind, in Besitz einer endgültigen Wahrheit, einer ultimativen Lösung zu sein und deshalb meinen, fest auf ihrem Standpunkt beharren zu müssen.

Wir erleben gegenwärtig aber nicht nur eine gesteigerte Polarisierung durch Fanatismen in vielen Gesellschaften, sondern auch Resignation und Verzweiflung: Verzweiflung bei den vielleicht eher realistisch Gestimmten wegen der durch den Klimawandel bedrohten zivilisierten Lebensform, Fanatismus bei den zur Selbst- und Fremdtäuschung Neigenden in ihrer Suche nach politischen Illusionen, die dafür sorgen, dass die Rede von drohenden Katastrophen sich als Täuschungsmanöver erweisen lässt, so dass unbequeme Gegenmaßnahmen sich als doch nicht notwendig herausstellen. Vielleicht ist diese Diagnose der Situation ihrerseits einem Zeitgeist geschuldet, der »optische Täuschungen« verursacht, eine Normalität verdeckt. Vielleicht haben Menschen – im Wissen um ihre individuelle Sterblichkeit – immer auch ihren kollektiven Untergang, den »der Menschheit«, befürchtet und nach Heilslehren gesucht, die ihn abwenden können. Vielleicht sind Menschen nicht nur gierige und intelligente Tiere. Denn sie sind nicht nur schon immer Jäger gewesen, sondern gelegentlich auch Gejagte, Beute. Vielleicht sind sie deshalb auch furchtsame Wesen, die dazu neigen, Gefahren überzubewerten. Gerne würde ich es so sehen. Doch ich fühle mich dazu außerstande. Immer mehr Bedrohungen »der Menschheit« schienen sich während meiner eigenen Lebenszeit aufzutürmen (seit 1961). Die bis in die 1980er Jahre herrschende Furcht vor einem atomaren Konflikt zwischen den damaligen Supermächten und ihren Verbündeten ist in der multipolaren Welt von heute wiedergekehrt. Doch neben sie ist die vor einem »Klimakollaps« und vor tödlichen Pandemien getreten. Pandemien haben in der Evolutionsgeschichte schon immer alle Spezies bedroht. Doch das »Überspringen« von Viren aus dem Tierreich auf Menschen ist ebenso wie das Wettrüsten und die Klimaveränderung Resultat einer bestimmten modernen humanen Lebensform: Menschen leben heute in Industrienationen in permanenten Konkurrenzsituationen untereinander und mit anderen Spezies. Märkte, Lebensräume 20und Kommunikationsnetze expandieren in großer Geschwindigkeit. Alles, was sich dieser Expansion entgegenstellt, scheint dem Untergang geweiht, ob es nun andere Arten sind oder das Leben strukturierende Gewohnheiten von Menschen. Auch sich als einzelner Mensch oder nichtmenschliches Wesen von dieser Expansionsbewegung zurückzuziehen, um in Ruhe gelassen zu werden, scheint immer schwerer.

Eine weitere Quelle der Furcht speist sich aus dem Wegfall absoluter Gewissheiten. Glaubensgewissheiten konfessioneller Religionen verschwinden und wissenschaftliche Gewissheiten können nicht an ihre Stelle treten. Dem institutionalisierten wissenschaftlichen Fallibilismus entspricht in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit die soziale und politische Kritik. Wenn alles kritisierbar ist, auch anders sein könnte, an was also soll man »sich festhalten«?

Manche versuchen in dieser Situation mit allen Mitteln auf ihrer privaten Meinung zu beharren und von ihr aus alles infrage zu stellen, was ihrer Meinung nicht entspricht. Doch Kritik muss plausibel gemacht werden, um berechtigt zu sein. Jedenfalls war das einmal so, als gewisse Spielregeln des »vernünftigen Streits« in Kraft waren. Aus der Einsicht, dass es kein unumstößliches Wissen gibt, folgt ja nicht, dass es überhaupt kein Wissen gibt und jede Meinung gleich viel wert ist. Aus der Tatsache, dass es kein Ein-für-alle-Mal-Fensterputzen gibt, weil jede geputzte Scheibe irgendwann wieder schmutzig sein wird, folgt ja auch nicht, dass Fensterputzen sinnlos ist. Ängstliche Anhänger von Illusionen in unserer Gegenwart stellen jedoch wissenschaftliche Erkenntnisse, vor denen sie sich fürchten müssen – dass es eine Pandemie gibt oder eine von Menschen gemachte Erderwärmung –, infrage, indem sie sich vormachen, sie seien nicht furchtsam, sondern besonders aufgeklärt und kritisch, eben auch gegenüber etablierten Wissenschaften. Ihre Skepsis dient jedoch nicht dazu, Denk- oder Messfehler aufzuspüren, vielmehr sollen mit ihrer Hilfe die derzeit am besten begründeten Einsichten vom Tisch gewischt werden, weil sie unbequem und furchteinflößend sind. Weniger Angst machende private Meinungen sollen unangefochten bleiben. Man will nicht mehr belehrt oder gar erzogen werden. Unbequeme Wahrheiten müssen ausgeblendet oder im physikalischen bzw. digitalen Raum niedergebrüllt werden. Unbequem sind die Wahrheiten, die implizit grundlegende Änderungen unserer Lebensweise nahelegen, um schlimme Konse21quenzen gegenwärtigen Handelns zu verhindern. Furchteinflößend sind sie, sofern unklar ist, ob das überhaupt noch gelingen kann. Das pseudokritische Verhalten diesen Botschaften gegenüber ähnelt dem Verhalten eines Kranken, der die ihm mitgeteilte bedrohliche Diagnose in Zweifel zieht, weil sie für ihn unerträglich ist. Es mag ja sein, dass er recht hat und die Ärzte sich geirrt haben. Er kann eine weitere fachliche Meinung einfordern. Doch zu glauben, dass alle Ärzte oder die gesamte Wissenschaft sich irren (was nie ganz ausgeschlossen werden kann), weil man einen solchen Generalirrtum besser ertragen kann als das, was höchstwahrscheinlich der Fall ist, ist kein guter Kritikgrund. Eine solche Kritik ist in Wirklichkeit keine, sondern die Manifestation von als Kritik getarntem Wunschdenken. Viele von denen, die in der Öffentlichkeit wütende Kritik an den Wissenschaften üben, sind vermutlich verängstigte Anhänger von Illusionen, die ihre Ängstlichkeit hinter einer kritischen oder gar aggressiven Maske verbergen. Manche Hunde sind Angstbeißer.

Wie kann man Illusionen verhindern, die sich als aufklärerische Kritik tarnen? Man sollte meinen: durch Bildung. Die Vorstellung dabei ist, dass diejenigen, die über die Funktion und die Geschichte des Zweifels und der Begründung, also über den Fallibilismus in den Wissenschaften, informiert sind, auch dagegen gefeit sind, Behauptungen mit ihrem Wunschdenken in Zweifel zu ziehen, die nach langer wissenschaftlicher Arbeit als Beschreibung des wahrscheinlichsten Gangs der Dinge angesehen werden. Warum hat unser Bildungssystem es nicht geschafft, diese Aufklärung zu leisten? Vielleicht, weil es Aufklärung selbst als eine starre, beliebig fortsetzbare, sich von selbst etablierende Haltung gedeutet hat, sie als einen »Selbstläufer« nur aus der Distanz geschildert hat? Vielleicht, weil manchmal einfach der Mut zur Kritik gelobt wurde, ohne zu fragen, wie gründlich eine Kritik erarbeitet worden ist? Man will gegenüber jungen kritischen Köpfen ja nicht autoritär erscheinen. Faule Aufmüpfigkeit ist jedoch keine aufgeklärte Kritik. Aufmüpfige bedienen sich nicht unbedingt ihres eigenen Verstandes, wie Kant es einst gefordert hat. Kritische Mündigkeit zeigt sich in einer flexiblen Erkenntniseinstellung, die in der Lage ist, situativ und klug und aus der eigenen reflektierten Lebenserfahrung heraus auf unterschiedliche Autoritäten zu reagieren, ohne diese zu verachten und pauschal unter Korruptionsverdacht zu stellen, aber auch ohne ihnen unterwürfig und blind zu folgen. Weil niemand allwissend 22ist, sind wir alle auf Autoritäten angewiesen, die irgendetwas besser wissen und besser können als wir selbst. Wissenschaftliche Autoritäten sind von der Not der Selbsterhaltung freigestellte Personen, die sich ganz der Erkenntnisgewinnung widmen dürfen; dafür wurden sie sorgfältig ausgewählt. Es wird geprüft, ob sie imstande sein könnten, neue Erkenntnisse zu bergen. Man kann die Einsichten dieser in der Regel tatsächlich begabten und fleißig ihr Leben in den Dienst des kollektiven Wissenserwerbs stellenden Menschen nicht einfach aufgrund von ein paar Mausklicks negieren. Am heimischen Computer lassen sich schnell »Gegenmeinungen« zum »etablierten Wissen« finden. Nur weil die auf einem Bildschirm in einem Video erscheinen, sind sie jedoch nicht wertvoller als das, was an der Theke in der Eckkneipe zu hören ist. Würde man das Urteil seines geschulten Arztes anzweifeln, weil am Stammtisch das Gegenteil gelallt wird?

Blindes Vertrauen in die lange Geschulten ist allerdings auch nicht angebracht. Dass wir auf Menschen angewiesen sind, die »für uns« forschen und Wissen sammeln, sollte nicht dazu führen, dass die Lebenserfahrung von »Laien« nicht zählt. Bei aller Wertschätzung für die Arbeit von Forscherinnen und Forschern muss klar sein, dass sie sich auch irren können, dass man mit Ungewissheit zurechtkommen, ja sogar hier und da mutig widersprechen muss. Es kann den von Kant geforderten Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, immer noch geben. Er manifestiert sich im freundlichen und respektvollen Umgang innerhalb des kritischen Austauschs.[9]  Es sollte im Zeitalter des Fallibilismus jedoch auch die Tapferkeit geben, nicht an der Tatsache zu verzweifeln, dass endgültige Gewissheiten nun einmal nicht zu haben sind.

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I. Abschied von den großen Worten

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1. Geschichte und Engagement

In diesem Text geht es um Wahrheit, Vernunft, den Fortschritt, das Selbst und seine Freiheit. Das sind in der Philosophie große Worte. Sie haben in der Aufklärung eine wichtige Rolle gespielt. Dabei wurde ihre Bedeutung gegenüber dem umgangssprachlichen Gebrauch erweitert. Dies war nicht immer ein für die Ziele der Aufklärungsbewegungen günstiger Prozess. Deshalb wird es im Folgenden auch darum gehen, »Überdehnungen« in den Bedeutungen dieser Termini zurückzunehmen, gerade um eine Fortsetzbarkeit von Aufklärungsbewegungen zu begünstigen.

Die Aufklärung hat gegenwärtig keinen guten Ruf. So wie einst radikale Aufklärer pauschal die Religion als ein Unterdrückungsinstrument, mit dem Menschen einfach nur beherrscht werden sollten, unter Generalverdacht stellten,[1]  ist die Aufklärung unter einen Generalverdacht geraten. Von einigen wird sie vor allem als Teil eines kolonialistischen Prozesses gesehen, der von Europa aus Leid über fast alle anderen Menschen auf der Erde gebracht hat. Ideen eines »Subjektes« oder »Selbst«, das sich verwirklichen will, sowie der Demokratie, der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit wurden als »humanistisch«-universales »Programm von europäischen Kolonialherren den kolonisierten Menschen sowohl gepredigt […] als auch gleichzeitig in der Praxis verneint«, schrieb Dipesh Chakrabarty vor mehr als 20Jahren.[2]  Er stimmt dabei Hichem Djaït zu, dem zufolge das imperialistische Europa zwar die Ideale der Aufklärung ständig im Munde führte, aber in seinem Handeln die diesen Idealen entsprechende Auffassung vom Menschen sofort wieder verraten habe.[3]  Es waren nicht dieselben Personen, die diese Ideale entwickelt und die den Kolonialisierungsprozess vorangetrieben haben: Kant, Locke, Lessing und Rousseau waren keine Kolonialherren. Doch für die Entwicklung ihrer Auf26fassungen vom Menschen gilt, dass sie »über Generationen hinweg […] Theorien produziert haben, die für die gesamte Menschheit gelten« sollten, jedoch diesem Geschäft in »relativer und manchmal absoluter Unwissenheit über den Großteil der Menschheit« nachgingen.[4]  Aufklärerische Ideale des Pluralismus und der Toleranz wurden durch Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse in Technologien (oft mit Verweis auf »die Vernunft«) konterkariert, indem wirtschaftlich Verwertbares nicht zum Wohle der Menschheit, sondern als Mittel der Profitmaximierung global verbreitet wurde. Der Prozess dieser Technologieausbreitung hat zur Vernichtung kultureller Vielfalt auf der Welt beigetragen (um sich eines Ausdrucks von Paul Feyerabend zu bedienen).[5]  Fast überall fahren Menschen nun in Autos herum und vernetzen sich untereinander mit ihren Smartphones, gehen in Einkaufszentren »shoppen« und schauen bei Streamingdiensten Serien. Die Lebensgewohnheiten der Menschen im globalen Süden haben sich seit dem Kontakt mit »Europa« und den USA geändert und der »modernen« Lebensform der Industrienationen angenähert. Kaum jemand hat die normativen Konsequenzen dieses Kontaktes antizipieren können: Es hat sich eine in vielen Bereichen homogenisierte globale Lebensform entwickelt. Diese Homogenisierung des Lebens ist nicht das Resultat einer kollektiven Beratschlagung, eines »deliberativen Prozesses«, sondern eine ungesteuerte Nebenfolge der Technologieausbreitung. War dieser Prozess vernünftig? Man kann das, angesichts der ökologischen Kollateralschäden, bezweifeln. War diese Entwicklung eine gerechte? Kaum, denn das Geld, das Menschen für die Aufrechterhaltung dieser Lebensform bezahlen müssen, landet häufig in Kalifornien.[6]  Handelt es sich bei der der Aufklärung folgenden globalen Wirtschaft also um eine Förderung von Pluralismus und Toleranz? Eher nein.

Sich allein der Logik der Entlarvung überlassend, könnte man diagnostizieren, dass moderne Aufklärungsbewegungen für die meisten Menschen, vor allem für jene, die außerhalb Europas leben, ein Schwindel gewesen sind. Die Herrschenden in Europa hatten Machtinteressen, wollten sich bereichern. Und zu diesem Zweck 27haben sie Bevölkerungen auf dem ganzen Globus unterworfen. Um dieses Interesse vor sich selbst und den anderen zu kaschieren, haben sie eine vermeintlich universalistische Ideologie produziert, haben von den Rechten »des Individuums«, »der Menschheit«, von »universaler Gerechtigkeit und Freiheit« gesprochen. Aber eine Menschheit gibt es trotz der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 bisher nur als Fortpflanzungsgemeinschaft, nicht aber als ethische oder politische Gemeinschaft. Die Angleichung der Lebensverhältnisse über die Technik hat nicht zu einer Angleichung der Wertvorstellungen geführt. Außer als Ideale existieren Gerechtigkeit und Freiheit in der Wirklichkeit, wenn überhaupt irgendwo, nur lokal, nicht global. Global scheint sich dagegen das nach »westlichen Standards« gerade nicht gerechte »Recht des Stärkeren« immer mehr Geltung zu verschaffen. Auch das Konzept eines in Entscheidungsfreiheit nach Selbstverwirklichung strebenden Individuums ist kein universales, sondern ein lokales der europäischen Moderne, die es als verbindlich für alle Menschen auf dem Globus zu erklären versucht hat. Auf Kant und die mosaischen Monotheismen zurückgreifende Beschwörungen dieses Universalismus ändern nichts an der Provinzialität der mit ihm verbundenen Freiheits- und Selbstkonzepte, die durch keine wissenschaftliche Erkenntnis mehr gedeckt sind.[7]  Die Selbsterfahrungen, beispielsweise von Entscheidungsfreiheit, aufgrund dieser Konzepte können illusionär sein. Sie mögen als religiöse Orientierungen des persönlichen Lebens auch eine Funktion haben, können aber nicht als ethische oder gar politisch-relevante Evidenzen taugen. Deshalb muss dieses Konzept vor dem Hintergrund der Kenntnis anderer Menschenvorstellungen als der europäisch-christlichen, etwa derjenigen, die im Buddhismus oder im Daoismus wurzeln, und auch vor dem Hintergrund der in Europa und den USA entwickelten empirischen Wissenschaften vom Menschen, wie Psychologie, Soziologie und Neurobiologie, grundlegend infrage gestellt werden.[8] 

28Historikerinnen und Historiker glauben unabhängig von den normativen Idealen und Realitäten inzwischen nicht mehr an die Aufklärung, also an eine mit einem »Wesen« ausgestattete Epoche, die etwa 1650 begann und 1800 abgeschlossen war, der Durchsetzung von Vernunft und Freiheit im menschlichen Leben diente und von Europa ausgehend sich zum Wohle der Menschheit über den ganzen Globus ausgebreitet hat, so dass andere Weltgegenden »moderner« wurden, sofern sie sich »aufgeklärter« entwickelten. Eine eurozentrische »Verdinglichung« von Aufklärung mit einem essentialistischen Epochenverständnis kann die Vertreterinnen und Vertreter einer postkolonialen Geschichtswissenschaft, die den Eurozentrismus hinter sich gelassen hat und »Epochenabschwellung« betreibt, nicht mehr überzeugen.[9]  »Aufklärung« ist, so die gegenwärtige Diagnose, von ganz verschiedenen Sozialreformerinnen und -reformern als ein Wort für alles Mögliche verwendet worden: Für die einen bezeichnet der Begriff eine Verpflichtung zur »Vernunft«, zur »Verbesserung der Verhältnisse« und irgendeine Form der Emanzipation, wie auch immer sie definiert sein mag; von den anderen wurde er herangezogen, um Zölle abzuschaffen und Privateigentum zu rechtfertigen. Manche haben an sie appelliert, um die freie Liebe zu legitimieren und die Wiederverheiratung von Witwen zu erlauben; andere haben sie zitiert, um die Einführung von Kaufhäusern zu rechtfertigen, aber auch den Gebrauch von Unterwäsche, die Verbreitung der Taschenuhren, die Einführung der horizontalen Schrift und die Verwendung eines westlichen Ka29lenders zu propagieren.[10]  So bleibt im Großen und Ganzen nur eine negative Bilanz, sowohl was die Legitimität der Aufklärung als kultureller Bewegung angeht als auch die Erforschung ihres vermeintlich historischen Wesens.

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die (noch) in westlichen Demokratien leben, die die eben genannten historischen Erkenntnisse über den Zusammenhang von imperialistischen und aufklärerischen Bewegungen kennen und trotzdem die Aufklärungsbewegung wiederbeleben oder stärken wollen. Warum? Da ist zuerst die Erosion des Vertrauens in die wissenschaftlichen Institutionen, die bewährte Wahrheitspraktiken verwalten und erneuern. Sie wurde unter anderem verursacht durch Vertreter der Tabak- und Ölindustrie, die öffentlich Zweifel gegen gut belegte wissenschaftliche Erkenntnis säten, um ihr Geschäftsmodell noch eine Weile durchziehen zu können.[11]