Krisen bewältigen - Johanna Schechner - E-Book

Krisen bewältigen E-Book

Johanna Schechner

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Beschreibung

Mobbing, Krankheit, Geldsorgen, der Verlust eines geliebten Menschen: Warum zerbrechen manche Menschen an Schicksalsschlägen, während andere sie scheinbar mühelos überwinden? Korrigierte und überarbeitete zweite Auflage. Menschen meistern Krisen, wenn sie in ihrem Leben einen Sinn sehen, ist Viktor Frankls Antwort. In ihrem Buch Krisen bewältigen stellen die Expertinnen Johanna Schechner und Heidemarie Zürner die Lehre des österreichischen Neurologen, Psychiaters und Begründers der Logotherapie vor und zeigen, wie sie uns dabei hilft, mit den Herausforderungen des menschlichen Lebens umzugehen. Konkrete Beispiele führen vor, wie jede / r von uns mit Frankls 10 Thesen ihr / sein Leben gestaltend in die Hand nehmen und Probleme überwinden kann. Das praxisorientierte Buch macht die Grundzüge von Frankls Lehre verständlich und nachvollziehbar und bietet in Zeiten der Wirtschaftskrise und aufweichender sozialer Werte wertvolle und taugliche Lebenshilfe.

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Seitenzahl: 410

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Johanna Schechner / Heidemarie Zürner

Krisen bewältigen

Viktor E. Frankls zehn Thesen in der Praxis

Johanna Schechner / Heidemarie Zürner

Krisen bewältigen

Viktor E. Frankls zehn Thesen in der Praxis

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

2., korrigierte und überarbeitete Auflage 2013© 2011 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Covermontage aus „Das Grüne Leuchten“ (2010, Acryl auf Leinen) und„Spring in the Air“ (2011, Computergrafik), © by Michael Leon Saathen,WienAutorinnen-Fotos auf S. 344: © by Ulrike SteinerIdee und Zeichnungen: Elisabeth Schechner, BAGrafikidee zu den Zeichnungen auf den Seiten 252, 257 und 261–263:Mag. Alexandra GurISBN Printausgabe: 978-3-99100-110-2ISBN E-Book: 978-3-99100-111-9

Widmung

In Dankbarkeit unseren Eltern, Elisabeth und Mag. Adolf Wögerbauer, gewidmet – und unseren Enkelkindern, denen wir eine gute Zukunft in dieser Welt wünschen.

Inhalt

Vorwort Dr. habil. Elisabeth Lukas

Was ist der Mensch?

Worin besteht der Unterschied zwischen Mensch und Tier?

Die kopernikanische Wende

Antworten Viktor E. Frankls auf seine biografischen Lebensfragen

Auf einen Blick: Zehn logopädagogische Thesen und Frankls zehn Thesen über die Person

1. logopädagogische These:Der Mensch als Mitgestalter seiner Balance

Die drei Dimensionen des Menschen

Das logopädagogische Säulenmodell – der Mensch gestaltet seine Balance

Gefahren für die Balance des Menschen

Konsequenzen aus dem Menschenbild für die Pädagogik

Die erste logopädagogische These

2. logopädagogische These:Der Mensch gewinnt Kontur durch Sinnorientierung

Charakter – Persönlichkeit

Sinn – Zweck

Schicksal – Freiheit

Konsequenzen der Sinnorientierung für die Pädagogik

Die zweite logopädagogische These

3. logopädagogische These:Der Mensch verdient Wertschätzung

Anfälligkeit – Intaktheit

Qualitätswechsel durch die Trotzmacht des Geistes

Die autonome Stellungnahme des Menschen

Konsequenzen der Wertschätzung für die Pädagogik

Die dritte logopädagogische These

4. logopädagogische These:Der Mensch verlangt nach Orientierung

Das „Sinn-Organ“ Gewissen

Konsequenzen durch Sinn-Orientierung für die Pädagogik

Die vierte logopädagogische These

5. logopädagogische These:Der Mensch ist frei und verantwortlich

Die vier krisenträchtigen Haltungen der Gesellschaft

Vier krisenträchtige Fehlhaltungen des Individuums

Zur Entscheidungsfähigkeit und Willenskraft des Menschen

Konsequenzen durch Entscheidung und Verantwortlichkeit für die Pädagogik

Die fünfte logopädagogische These

6. logopädagogische These:Der Mensch wählt selbstbestimmt, wie er agiert

Von der Konfliktfähigkeit zur Friedensfähigkeit

Konsequenzen durch Pro-Agieren für die Pädagogik

Die sechste logopädagogische These

7. logopädagogische These:Der Mensch strebt nach Souveränität

Souveränität in der Liebe

Konsequenzen durch Souveränität für die Pädagogik

Die siebente logopädagogische These

8. logopädagogische These:Der Mensch ist dynamisch und weltoffen

Statt Klage über Werteverlust – Ausrichtung am Sinn

Die drei Hauptstraßen zum Sinn

Das Wertmaximum

Konsequenzen durch Weltoffenheit für die Pädagogik

Die achte logopädagogische These

9. logopädagogische These:Dem Menschen steht frei, wie er Lebenskrisen meistert

Ärztliche Seelsorge bei schweren körperlichen Krankheiten und Behinderungen

Wie kann menschliche Freiheit definiert werden?

Der tragische Optimismus

Die tragische Trias: Leid, Schuld, Tod

Der „Optimismus der Vergangenheit“

Konsequenzen durch Freiheit für die Pädagogik

Die neunte logopädagogische These

10. logopädagogische These:Der Mensch ist spirituell

Schuld und Wiedergutmachung

Spiritualität

Konsequenzen durch Spiritualität für die Pädagogik

Die zehnte logopädagogische These

Bibliografie

Dank

Vorwort Dr. habil. Elisabeth Lukas

Die wissenschaftliche Disziplin „Psychotherapie“ hat eine kurze Vergangenheit. Sie ist – im Vergleich zu wesentlich älteren Wissenschaftslehren – etwa 120 Jahre alt. Wie es derzeit aussieht, kann es leicht sein, dass die Psychotherapie aber auch nur eine kurze Zukunft hat. Denn die derzeit rasant fortschreitende Hirnforschung wird es alsbald ermöglichen, viele Irritationen der Gefühls- und Gedankenwelt des Menschen über gezielte Beeinflussungen des Zentralnervensystems zu eliminieren.

Was sich jedoch niemals eliminieren lassen wird, sind jene schicksalhaften Faktoren, mit denen jeder Mensch sein Leben lang konfrontiert wird, seien sie angenehm oder unangenehm, Chancen eröffnend oder Chancen vernichtend. Immer wieder muss Anpassung an neue Situationen geleistet werden, immer wieder gilt es, Herausforderungen anzunehmen und zu bestehen. Eliminieren lassen wird sich niemals die schillernde Freiheit des Menschen, die ihm seine Verantwortlichkeit aufbürdet, sowie die ihn ständig umlauernde Tragik von Leid, Schuld und Tod, die ihn mitunter zutiefst erschüttert. Eine Richtung der Psychotherapie, die auch in dieser Hinsicht noch konstruktiven Beistand leisten kann, wird Zukunft haben, ja sie wird in Zukunft vielleicht dringender benötigt werden denn je. Eine solche ist Viktor E. Frankls Logotherapie.

Da ich das Privileg gehabt habe, die Logotherapie bei Frankl persönlich lernen zu dürfen, empfand ich es als meine Verpflichtung, seine genialen Ideen an die nächste Generation weiterzugeben. Seit 27 Jahren erfülle ich nun diese Aufgabe mit Freude; Hunderte Schülerinnen und Schüler habe ich inzwischen ausgebildet. Zwei sind darunter, auf die ich unsagbar stolz bin: die Autorinnen des vorliegenden Buches. Sie haben die Logotherapie Frankls in deren ungemein beeindruckenden anthropologisch-philosophischen Perspektive verstanden wie nur wenige Kenner des Genres und haben sie über die praktische Anwendung in der Seelenheilkunde hinaus fruchtbar gemacht für den schulischen Alltag, der oft außerordentlich rau ist, ja in den bedauerlicherweise Gewalt, Langeweile und Frust eingezogen sind. Mit der von den Autorinnen eigenständig entwickelten und doch ganz im Frankl’schen Werk verwurzelten „Logopädagogik“ haben die beiden eine echte Alternative zu den herkömmlichen Hilfsangeboten geschaffen. Über das Ankurbeln der gegenseitigen Wertschätzung, über die bedingungslose Würdigung der Person und über die kontinuierliche Suche nach Sinn werden im gemeinsamen Miteinander Veränderungen zum Guten möglich, an die man fast nicht mehr glauben möchte. Die LeserInnen mögen sich bei der Durcharbeitung dieses Buches selbst davon überzeugen.

Dr. habil. Elisabeth LukasAn meinem 68. Geburtstag

WAS IST DER MENSCH?

„Wollte man den Menschen definieren, dann müsste man ihn bestimmen als jenes Wesen, das sich je auch schon frei macht von dem, wodurch es bestimmt ist.“ (Frankl, 2005a, Seite 163)

Viktor Frankl las in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift über schwer kriminelle Jugendliche, die man fragte: „Warum tut ihr das? Warum macht ihr das?“ Die Antwort war: „Warum nicht?“(Frankl, DVD, 1995)

Mit ähnlicher Fragestellung gab es 1991 eine ARD-Fernsehsendung, die alarmierend von der zunehmenden Aggressivität an deutschen Schulen berichtete. Eine Diskussionsrunde mit namhaften Fachleuten aus Pädagogik, Politik und Soziologie debattierte über die aktuelle Schulsituation. Ein Journalist stellte im Vorfeld der Diskussion an einschlägig bekannte jugendliche Gewalttäter die Frage: „Sagt einmal, warum tretet ihr einem am Boden liegenden Menschen mit genagelten Schuhen ins Gesicht? Warum kifft und sauft ihr euch nieder? Warum tut ihr das?“ Die lapidare Antwort der Jugendlichen war: „Warum nicht?“ Auf diese Frage, die der Journalist der Diskussionsrunde stellte, gab es nur betroffenes Schweigen und keine einzige Antwort. (Nach Lukas, 2003b, Seite 211)

Als Logotherapeutin und als Pädagogin mit logotherapeutischer Ausbildung sind wir aufgrund unserer Tätigkeiten immer wieder mit der Not konfrontiert, die aus diesem ohnmächtigen Schweigen resultiert.

Im Menschenbild Viktor E. Frankls, Begründer der Logotherapie, finden wir Antworten auf die Frage „Was ist der Mensch?“. Er bündelte alte Menschheitsweisheiten zu einer psychotherapeutischen Schule, die als Ergänzung zum bisherigen Bildungs- und Wissensstand jedes Lesers und jeder Leserin beitragen kann.

Es ist uns wichtig, aus dieser „Sinn-Lehre“ auf die existenzielle und gleichzeitig bedrohende Frage „Warum nicht?“ Antworten zu geben, um heilende und hilfreiche Impulse für den Alltag aufzuzeigen.

Anhand von praxisnahen, anonymisierten Fallbeispielen veranschaulichen wir die Grundlagen des Menschenbildes. Jede Ähnlichkeit mit anderen Lebensgeschichten ist daher zufällig.

Während die Logotherapie ÄrztInnen, PsychologInnen und TherapeutInnen in Ausbildung und Ausübung vorbehalten ist, soll Logopädagogik im VIKTOR FRANKL ZENTRUM WIEN jedem Interessierten zugänglich sein. Die präventive Kraft dieser Lehre kann als Ergänzung zu jeder bisherigen Ausbildung, im je eigenen Berufsfeld und in der Familie genützt werden.

Im vorliegenden Buch beschreiben wir in zehn Kapiteln den Menschen als Gestalter seiner Person und der Welt in verschiedenen Lebenssituationen. Vielfach sind heute gesellschaftlichen Halt gebende Strukturen und Traditionen verloren gegangen und deshalb ist die Ausrichtung auf Sinn und Werte von hoher Aktualität.

Ausgehend von Frankls „Zehn Thesen über die Person“, in denen er die Geistbegabung des Menschen philosophisch darlegt, werden „Zehn logopädagogische Thesen“ zur Umsetzung in die pädagogische Praxis sowie im Lebensalltag vorgestellt. Sie machen die Gestaltungsfähigkeit jeder einzelnen Person in ihrem je einzigartigen Umfeld bewusst, erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eine Gegenüberstellung von Frankls „Zehn Thesen über die Person“ und den von uns formulierten „logopädagogischen Thesen“ finden Sie auf den Seiten 27–37.

Wie der Mensch als geistbegabtes Wesen auch in einer Zeit der Wirtschaftskrise und der Gesellschaftskrise sein Leben meistern kann, soll im Detail aufgezeigt werden.

„Warum nicht?“ wurde zu unserer Schlüsselfrage.

Warum sollen Kinder und Jugendliche bzw. Menschen generell, die von ihrem Potenzial her, von den finanziellen Ressourcen, von ihrer Kraft, von ihren Möglichkeiten in der Lage sind, destruktiv zu reagieren – warum sollen sie freiwillig darauf verzichten?

Haben wir ad hoc Antworten?

Warum nicht? Diese Frage, die eine bedrohliche Haltung der Jugendlichen zur Folge hat und schwerwiegende destruktive Konsequenzen für die Gesellschaft nach sich zieht, ließ uns nicht mehr los. Aus Betroffenheit und Sorge um eine gesunde Entwicklung junger Menschen, im Besonderen unserer eigenen Kinder und Enkelkinder, suchten wir nach konkreten Antworten, nach dem „Darum nicht!“.

Dieser Antwort können wir nur gerecht werden, wenn der Mensch in seiner Geistbegabung, Einmaligkeit, Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit erfasst wird. Darum stellen wir gleich zu Beginn die Frage: Was ist der Mensch?

Viktor E. Frankl stellt diese Frage vor den Hintergrund des deterministischen, unfreien Menschenbildes seiner Zeit. Der Mensch wurde noch Anfang des 20. Jahrhunderts als ein Wesen ähnlich dem Säugetier beschrieben, mit Trieben und Instinkten programmiert und abhängig von körperlichen und psychischen Gegebenheiten. Die Frage an die Jugendlichen „Warum tut ihr solche Sachen?“, ließe sich aus dieser Sicht so beantworten, dass zum Beispiel Aggressionen als notwendige Triebabfuhr entladen und abreagiert werden müssen.

Daher ist die Frage naheliegend:

Worin besteht der Unterschiedzwischen Mensch und Tier?

Es gibt höhere Tiere, die dem Menschen sehr nahekommen. – Kann man den Menschen als „nackten Affen“ sehen? (Frankl, 1998, Seite 35) Tiere sind genprogrammiert und abhängig. Sie sind von ihrem Instinkt geleitet und dadurch ist ihr Leben in sich stimmig und gut.

Soll man grundsätzlich zwischen Mensch und Tier unterscheiden oder sind die Unterschiede graduell? Ist der Mensch graduell intelligenter als der Elefant? Auch Elefanten und Schimpansen haben Intelligenz, sind sozial und gefühlvoll. Ist der Mensch ein etwas höher entwickeltes Säugetier?

In diesem Kontext fragt Frankl, ob es etwas gibt, das nur dem Menschen eigen ist, nur ihm zukommt. Etwas, das spezifisch human ist, das es bei Pflanzen und Tieren nicht gibt. Etwas, das Menschsein ausmacht, und zwar generell, unabhängig ob ungeborenes Baby oder alter Mensch.

Und wenn es etwas gibt, was ist es? Frankl benennt das unterscheidende, spezifisch menschliche Kriterium „Geist“ und er übersetzt es mit dem griechischen Wort NOUS. Er spricht von der geistigen, noetischen Dimension als der dritten Dimension, neben dem Körper als erster und der Psyche als zweiter Dimension. Diese bahnbrechende Ergänzung des Menschenbildes um die geistige Dimension ist DIE Grundlage unseres Buches und wird im ersten Kapitel entfaltet. Sie führt zu einer weiteren Fragestellung Frankls:

Was lässt den Menschen gesund bleiben? Was lässt ihn gesund werden und zwar trotz erlittener Traumata, trotz leidvoller Erfahrungen und herausfordernder Lebensumstände, trotz Schicksalsschlägen und Katastrophen?

Mitauslöser dieser für seine Zeit neuartigen Fragestellung war seine Erfahrung, die er als junger Arzt in Steinhof, der „Irrenanstalt“ von Wien, gemacht hatte. Er hatte bei Patientinnen die lebensgeschichtlichen Variablen untersucht, ihre Vorgeschichte, ihre Entwicklungsgeschichte. Er hatte viel gefunden, was als Ursache der Symptome dienen könnte: traumatische Erfahrungen, erschütternde Erlebnisse, schwere Kindheit, Entbehrungen, Missbrauch, Gewalt usw.

Damals hatte er sich gefragt, ob sogenannte „gesunde Menschen“ von solchen Traumata verschont geblieben sind. So wandte sich Frankl an seine ArztkollegInnen, Krankenschwestern, StudentInnen, FreundInnen usw., alle „Gesunden“, die mitten im Leben und in der Arbeit standen, und er befragte diese nicht depressiven, gesunden Menschen mit denselben Anamnesebögen wie seine depressiven Patienten im Pavillon 11 in Steinhof.

Und was entdeckte er? Unter den Lebensbedingungen der „Gesunden“ gab es genauso tragische Vorkommnisse, Menschen mit leidvollen Kindheitserfahrungen, lebensgeschichtlichen Traumata, Verletzungen und Schwerem im Leben.

Was also ist es, dass manche Menschen traumatische Erfahrungen machen und nicht krank werden? Was lässt sie trotz allem gesund bleiben? Der Sinn, griechisch LOGOS, ist der entscheidende Faktor. Die Sinnerfüllung im Leben, die jeder Mensch aus tiefster Seele ersehnt, fungiert wie ein Schutzdach in schwierigen Lebensphasen.

Frankl folgerte daraus: Die Vorgeschichten und die Erfahrungen eines Menschen sind nicht die entscheidenden Kriterien für sein ganzes Leben. Entscheidend ist die Selbstgestaltungsfähigkeit, die den Menschen kraft seiner geistigen Dimension auszeichnet.

Was ist spezifisch human?

Die Geistbegabung des Menschen, die geistige, noetische Dimension, seine Fähigkeit, zu körperlichen und psychischen Gegebenheiten Stellung nehmen zu können.

Was lässt den Menschen trotz aller äußeren Umstände und innerer Zustände stabil bleiben oder wieder stabil werden?

Der Sinn des Lebens und das Wissen, dass Leben unter allen Umständen Sinn behält und als persönlicher Sinnauftrag darauf wartet, verwirklicht zu werden.

„Warum nicht?“ ist vor dem sinnzentrierten Menschenbild der Logotherapie eine Aufforderung an jede Person, in Freiheit und Verantwortlichkeit sich selbst und das Leben unter allen Bedingungen zu gestalten.

Die kopernikanische Wende

Ein HTL-Professor hat nach der Weiterbildung zum Logopädagogen die Erfahrung, Gestalter durch seine geistige Fähigkeit zu sein, wie folgt formuliert: „Ich bin vom frustrierten Dompteur zu einem kreativen Jongleur geworden.“

Die „kopernikanische Wendung“, wie Frankl sie nannte, (Frankl, 2005a, Seite 107) zielt darauf ab, dass der Mensch „vorfindliche Gegebenheiten“ (Frankl) gestalten und dadurch seine Situation wenden kann. Die Betonung liegt auf der radikalen Umdrehung der bisher üblichen Sichtweise.

 

Abb. 1: Frustrierter Dompteur

Finden wir uns nicht oft in der Situation, wie sie hier dargestellt ist? SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern, PatientInnen, MitarbeiterInnen … stöhnen unter hohen Belastungen wie Gewalt, Situation am Arbeitsmarkt durch die Wirtschaftkrise, Mobbing am Arbeitsplatz, Bedrohung durch Suchtgefahr, scheinbar schlechte Erbmasse, Umweltzerstörung, Gruppendruck und Erziehungsdefiziten. Dies und vieles mehr lastet auf den Menschen und drückt sie zu Boden. Eltern, ErzieherInnen, BeraterInnen, ÄrztInnen stehen diesen Problemen hilflos gegenüber, können sie nicht „heben“ und wissen keine Lösungen.

Wie kommen sie aus dieser verzweifelten Haltung zum kreativen Jongleur, wie es der HTL-Professor formulierte? Schauen wir genau hin, ob wir nicht diesen Problemfeldern positive Seiten trotz Trends und Zeitgeists abringen können. „Alles Humane in der Welt ist dem Trend abgerungen.“ (Spaemann, 1993, Seite 342)

•Steht nicht hinter der Suchtgefahr, über die wir täglich via Medien informiert werden, die Sehnsucht nach Erlebniswerten, die kultiviert werden sollen?

•Wenden wir den Begriff Erbmasse, auf den wir uns oft negativ berufen, so entdecken wir dahinter den Wert der Familie und den Aufruf, unseren persönlichen Beitrag zu ihrem Gelingen zu leisten.

•Was steckt hinter Gewalt und Krieg? Allein die Klage darüber zeugt von der Friedensliebe, zu deren Verwirklichung jeder einzelne Mensch aufgerufen ist.

•Die Tatsache der Umweltzerstörung und ihre Auswirkungen belasten die Menschheit. Dahinter steht die Sorge um die Schöpfung, die uns zu verantwortlichem Umgang auffordert.

•Das Thema Gruppendruck mit all seinen Leidkonsequenzen kopernikanisch gewendet, öffnet den Blick auf unsere persönliche Gestaltungsmöglichkeit für Freundschaft und Loyalität.

•Generationen stöhnen unter den Erziehungsdefiziten der Jugend. Wie gut ist es, zu wissen, dass der Mensch über ein Selbstgestaltungspotenzial verfügt, das bis zum letzten Atemzug hoffnungsvolle kopernikanische Wendungen zulässt.

Frankl zitiert dazu den Dichter Friedrich Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ (Hölderlin, Patmos. Dem Landgrafen von Homburg [1803])

Die kopernikanische Wende lässt uns, ohne die Realität zu vernachlässigen, zum kreativen Jongleur werden. Wir wenden den Blick auf Werte, die auch da sind, fokussieren damit das Heile und drehen die Medaille der Realität um.

 

Abb. 2: Kreativer Jongleur

Was im ersten Bild nur als Schatten vorhanden ist, wird im zweiten Bild durch einen bewussten geistigen Akt in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Durch diese bewusste geistige Stellungnahme kann Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht in unserem Leben und im Leben der uns anvertrauten Menschen wachsen.

Die Schatten im zweiten Bild, die auch Realität sind, die wahr sind und bleiben, werden zu Herausforderungen und mahnen, mit den vorhandenen wertvollen Möglichkeiten sinnorientiert umzugehen. Wir verwandeln uns vom Opfer der Situation zum Gestalter, zum kreativen Jongleur.

Wenn wir die Grafiken genau betrachten, dann erkennen wir, dass die Probleme, die Bedingungen dieselben geblieben sind. Durch das Wissen um die geistige Stellungnahme hat sich unser Blickwinkel radikal verändert, unsere Schwerpunktsetzung, unsere Betrachtungsweise ist kopernikanisch gewendet. Der Mensch ist frei, mutig zu agieren.

Vom destruktiv fragenden „Warum nicht?“ findet der Mensch zum gestaltenden „Darum nicht!“, das ihn persönlich zu verantwortungsvollem Handeln auffordert.

Die revolutionären Erkenntnisse Frankls entstanden vor dem Zweiten Weltkrieg zunächst vorwiegend am Schreibtisch, um während vier Aufenthalten in verschiedenen Konzentrationslagern eindrucksvoll ihre Bestätigung zu finden.

Antworten Viktor E. Frankls auf seinebiografischen Lebensfragen

Welche persönlichen Antworten gibt Frankl auf die Herausforderungen seines Lebens?

Viktor E. Frankl wurde am 26. März 1905 in Wien geboren und durchlebte mit seiner Familie die Wirrnisse und Entbehrungen des Ersten Weltkrieges. Schon als Vierjähriger stellte er sich in Anbetracht eines Todesfalles die Sinnfrage: Wozu lebt man, wenn man sterben muss? Seine Kinderfrau nannte ihn den kleinen Denker. Er selbst bezeichnete sich in späteren Jahren als einen „konsequenten Zu-Ende-Denker“ (Frankl, 1995, Seite 12) und beschreibt den „Tod als Motor“ zu sinnvoller Lebensgestaltung.

Als dreizehnjähriger Gymnasiast suchte Frankl Antwort auf folgende Frage: Hat das Leben einen Sinn? „Ich kann mich noch gut an meinen Naturgeschichtsprofessor erinnern, der in seiner Mittelschulklasse auf und ab ging und dozierte: ‚Das Leben ist letzten Endes nichts anderes als ein Verbrennungsprozess – ein Oxidationsvorgang.‘ Woraufhin ich aufsprang und ihm leidenschaftlich die Frage ins Gesicht schleuderte: ‚Ja, was für einen Sinn hat denn dann das ganze Leben?‘“ (Frankl, 1997c, Seite 51)

Frankl hielt seinen ersten Vortrag über den Sinn des Lebens an der Volkshochschule in Wien. Er erkannte einen „existenziellen Zusammenhang zwischen Weltanschauung und Lebensgestaltung“. Damals entwickelte er zwei Grundthesen:

„Dass wir nach dem Sinn des Lebens eigentlich nicht fragen dürften, da wir selbst es sind, die da befragt werden: Wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt. Und diese Lebensfragen können wir nur beantworten, indem wir unser Dasein selbst verantworten. “(Frankl, 2002, Seite 36) Die Frage darf nicht lauten: Warum sind meine Lebensbedingungen so schwierig, ungerecht und bedrohlich? Sondern: Wozu fordert mich diese Lebenssituation heraus? Wie will und soll ich darauf antworten, wie agieren?

Der andere Grundgedanke besagt, „dass der letzte Sinn über unser Fassungsvermögen hinausgeht, hinausgehen muss, mit einem Wort, dass es sich um einen Über-Sinn handelt, wie ich ihn nannte, aber nicht etwa im Sinne von etwas Übersinnlichem“ (Frankl, 1995, Seite 36 f.). Das Leben behält durch diese Betrachtungsweise unter allen Umständen Sinn, auch wenn es unser Fassungsvermögen immer wieder übersteigen wird: So, wie eine Biene z. B. nicht wissen und erfassen kann, wie es einem Fisch im Wasser geht, wie eine Katze nicht wissen kann, warum sie in einem Zimmer eingeschlossen werden muss, wenn ein Hund zu Besuch kommt, der die Katze totbeißen könnte, so kann der Mensch den Über-Sinn nicht erfassen.

In der Zeit der Wirtschaftkrise nach dem Ersten Weltkrieg, als viele junge Menschen arbeitslos waren, stand Frankl als junger Medizinstudent vor der Lebensfrage: Wozu fordert mich die seelische Not der Jugend heraus, die verzweifelt nach Perspektiven sucht? Seine Antwort war die Gründung von Jugendberatungsstellen in Wien, in denen Jugendliche in seelischer Not unentgeltlich beraten wurden. Arbeitslosen Jugendlichen übertrug er ehrenamtliche, also unbezahlte Tätigkeiten, sodass ihr Sinnlosigkeitsgefühl und damit auch die Zahl der Selbstmorde zurückging. Er stellte bei diesen Jugendlichen das Phänomen einer inneren Leere fest, das er als „existenzielles Vakuum“ beschrieb. Suizidgefährdeten jungen Menschen begegnete Frankl mit seiner Sinnlehre, indem er ihnen den persönlichen Appell- und Aufforderungscharakter ihres Lebens bewusst machte.

Dieselbe Erfahrung machen wir mit unserer heutigen Jugend bei Diskussionen und Vorträgen. „Das Leben stellt die Fragen“ ist ein Hebel, der heraushilft aus lebensverhindernder Demotivation, hinein in lebensfördernde Motivation – trotz schwieriger Lebensfragen.

Was hält den Menschen gesund?

Auch diese Antwort formulierte Frankl 1932–1936 aufgrund seiner Erfahrungen als junger Arzt im psychiatrischen Krankenhaus Steinhof. Es ist

•die persönliche Haltung und Einstellung dem Leben gegenüber und

•das immerwährende Sinnangebot,

das dem Menschen Mut zum Leben und zur aktiven Gestaltung seiner persönlichen Herausforderungen macht.

Wofür will ich leben?

Das ist die nächste Lebensfrage, die Frankl noch vor dem Zweiten Weltkrieg, 1937, in seinem Buchmanuskript „Ärztliche Seelsorge“ beantwortete. Das Leben gewährte ihm nur kurz die Erfüllung seiner privaten Wünsche: eine eigene Praxis zu führen und ein gemeinsames Leben mit seiner Ehefrau Tilly Grosser. Als Jude musste er seine Privatpraxis schließen und für seine Ehe waren ihm nur neun Monate bis zur Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt gewährt. So stellte das Leben V. Frankl vor schwierige Lebensfragen und er kämpfte um sinnvolle Antworten.

Er erhielt 1939 ein Ausreisevisum in die USA, entschied sich aber nach schwerem persönlichem Ringen, für seine alten Eltern als Arzt Deportationsschutz zu gewährleisten und in Wien zu bleiben.

Wozu das Leid aushalten?

Kurz vor der Befreiung aus dem vierten Konzentrationslager versuchte Frankl, auf 36kg abgemagert, an Fleckfieber schwer erkrankt, einen Herz-Kreislauf-Kollaps zu verhindern. Angesichts 5% Überlebenschance nützte er seinen letzten Freiraum und rekonstruierte sein in Auschwitz verbranntes Manuskript „Ärztliche Seelsorge“ auf heute noch erhaltenen Papierfetzen.

Er kam nach Wien zurück und erfuhr, dass seine ganze Familie, außer seiner Schwester Stella, in verschiedenen Konzentrationslagern umgekommen war. Und das Leben fragte weiter:

Trotzdem – Ja zum Leben sagen?

Trotz dieser tragischen Lebensumstände diktierte Frankl in neun Tagen seinen Bestseller: „Trotzdem ja zum Leben sagen“ und konnte die Welt damit von der geistigen Dimension des Menschen und der Trotzmacht des Geistes überzeugen. Frankl entschied sich dafür, nicht „den Strick“ zu wählen, sondern, sich der neuen Lebenschance würdig zu erweisen.

Unter extremen Lebensbedingungen erprobte er sein Gedankengebäude der Logotherapie und bestätigte seine theoretischen Thesen eindrucksvoll:

• dass das Leben unter allen Lebensbedingungen Sinn behält, auch wenn dieser Sinn im Augenblick nicht oder überhaupt nie zu erfassen ist,

• dass der Mensch zu seinem Schicksal Stellung beziehen kann, indem er entscheidet, wie er damit umgeht,

• dass der Mensch die innere Freiheit behält, auch wenn die äußeren Bedingungen diese Freiheit nicht mehr vermuten lassen.

„Und ich bat diese armen Teufel, die mir hier in der stockfinsteren Baracke aufmerksam zuhörten, den Dingen und dem Ernst unserer Lage ins Gesicht zu sehen und trotzdem nicht zu verzagen, sondern im Bewusstsein, dass auch die Aussichtslosigkeit unseres Kampfes seinem Sinn und seiner Würde nichts anhaben könne, den Mut zu bewahren.“ (Frankl, 2000a, Seite 133)

Die Ausrichtung auf den Sinn als lebensrettendes Element im Konzentrationslager ist in diesem Originaltext festgehalten:

 

Abb. 3: Handschriftliches Zitat von Viktor E. Frankl

„Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigte, äußere Schwierigkeiten oder innere Beschwerden zu überwinden, als: das Bewusstsein, eine Aufgabe im Leben zu haben.“

Was soll noch von mir gelebt werden?

Im Leben wartete noch jemand bzw. etwas auf Frankl: seine zweite Ehefrau, Eleonore Schwindt, und die gemeinsame Tochter, Gabriele. Er unternahm Vortragsreisen in die ganze Welt, lehrte an 209 Universitäten auf allen fünf Kontinenten. Er erhielt 29 Ehrendoktorate und seine 30 Bücher wurden in 34 Sprachen übersetzt.

Frankl hatte durch äußere Umstände schwerste Lebensfragen zu bewältigen. Aber so wie jeder Mensch musste er sich auch seinen inneren Zuständen stellen. Er hatte Höhenangst und entschied sich, entsprechend seiner Lehre, eine sinnvolle Antwort auf diese psychische Schwäche zu geben:

Muss ich mir von mir selbst alles gefallen lassen?

„Aber wie oft sag ich nicht meinen Patienten, wenn sie mit ihren Angstneurosen zu mir kommen: ‚Sagen Sie einmal, muss man sich denn wirklich alles von sich gefallen lassen? Kann man nicht stärker sein als die Angst?‘ Hat nicht Nestroy in ‚Judith und Holofernes‘ den Letzteren schon die Frage stellen lassen: ‚Jetzt bin ich neugierig, wer ist stärker? Ich oder ich?‘ Und genau in dem Sinne habe ich mich seinerzeit gefragt: Ich bin neugierig, wer ist stärker? Ich oder der Schweinehund in mir? Es gibt ja eine Möglichkeit, diesem Schweinehund zu trotzen. Es gibt das, was ich einmal bezeichnet habe als die Trotzmacht des Geistes, nämlich gegenüber den Schwächen und Ängsten der Seele. Und das muss und kann mobilisiert werden.“ (Frankl, DVD, 1987)

Trotz seiner psychischen Schwäche der Höhenangst unternahm er bis ins hohe Alter spannende Klettertouren und erwarb noch mit 67 Jahren ein „Soloflightcertificate“ in Amerika.

Gegen Ende seines Lebens wurde der fast erblindete, 87 Jahre alte Mann von einer Journalistin gefragt: „Was würden sie als den Sinn ihres Lebens bezeichnen?“ Und er antwortete: „Ich habe den Sinn meines Lebens darin gesehen, anderen zu helfen, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen.“ (Frankl, DVD, 1991)

Am 2. September 1997 starb Viktor E. Frankl in Wien nach einer Bypass-Operation. Seine letzten Worte auf dem Weg in den OP-Saal wurden von einem der anwesenden Ärzte in einem Brief an Frau Dr. Eleonore Frankl folgendermaßen festgehalten: „Die Situation entbehrt jeder Tragik!“

Beeindruckend war und ist Frankls unerschütterlicher Glaube an den unbedingten Sinn des Lebens. Durch sein Trotzdem-Ja-zum-Leben-Sagen bestätigte er eindrucksvoll die von ihm beschriebene geistige Dimension des Menschen, die es ihm ermöglicht, sein Leben unter allen Umständen zu gestalten.

AUF EINEN BLICK:ZEHN LOGOPÄDAGOGISCHETHESEN UNDFRANKLS ZEHN THESENÜBER DIE PERSON

Nun kennt jeder Mensch Zeiten im Leben, in denen das „Gestaltersein“ fast unmöglich erscheint. Diese scheinbaren Ohnmachtgefühle wollen wir den zehn philosophischen Thesen über die Person in Bild und Wort voranstellen, um einen Überblick über die zehn Kapitel dieses Buches zu geben.

Zur ersten logopädagogischen These

 

Kennen Sie auch das Gefühl, „neben den Schuhen zu stehen“, „aus dem Häuschen“, aus dem Gleichgewicht zu sein?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Diese Situation kann ich nicht mehr aushalten. Früher war alles gut, jetzt ist alles schlecht.“

•„Was die von mir verlangen, kann ich nicht mehr bringen. Ich dreh durch.“

•„Jetzt geht es mit mir bergab, mir kann niemand mehr helfen, ich bin verloren.“

 

Logopädagogik stärkt alle drei logopädagogischen Säulen gleichermaßen, um Balance für das Individuum zu ermöglichen.

Frankls erste These über die Person: „Die Person, ein Individuum.“ (Frankl 1997a, Seite 108)

Frankl beschreibt das Individuum als eine Ganzheit von Körper, Psyche und Geist, mit der Möglichkeit zur sinnvollen Lebensgestaltung.

Mehr darüber ab Seite 38.

Zur zweiten logopädagogischen These

 

Kennen Sie auch das Gefühl, ausschließlich von eigenen Wünschen und Vorstellungen abhängig zu sein und sich damit in eine gefährliche Erwartungshaltung zu bringen?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Ich mache alles, um Erfolg, Reichtum Sicherheit und Glück zu haben. Selbstverständlich erwarte ich mir dafür Lob, Anerkennung, Dankbarkeit und Sicherheit.“

•„Wenn ich nicht bekomme, was ich erwarte, bin ich enttäuscht und klage über das ungerechte Schicksal.“

 

Logopädagogik schafft Raum, indem Menschen durch individuellen Sinn ihre einzigartige Kontur finden können.

Frankls zweite These über die Person: „Die Person ist nicht nur in-dividuum, sondern auch in-summabile.“ (Frankl, 1997a, Seite 108)

Mit insummabile meint Frankl: Der Mensch in seiner Ganzheit muss sich nicht abhängig machen von eigenen und fremden Erwartungen, sondern er kann seinem personalen Sinnanruf folgen.

Mehr darüber ab Seite 73.

Zur dritten logopädagogischen These

 

Haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht, nicht in Ihrer möglichen vollen Gestalt wahrgenommen zu werden, nicht ernst genommen zu werden? Wie fühlt sich das an, nur als „Raupe“ gesehen zu werden?

Das könnte sich etwa so anhören: „

•Ich fühle mich übergangen, nicht wahrgenommen, in meinem Wert nicht erkannt.“

•„Alle unterschätzen mich, niemand traut mir etwas zu, das kränkt und verletzt mich.“

 

Logopädagogik sieht in jedem Menschen den unzerstörbaren, heilen Personenkern und aktiviert dadurch das manchmal verborgene positive Potenzial.

Frankls dritte These über die Person: „Jede einzelne Person ist ein absolutes Novum.“ (Frankl, 1997a, Seite 109)

Frankl verwendet den Ausdruck „absolutes Novum“, da jeder Mensch einmalig in seinem Dasein und einzigartig in seinem Sosein ist. Jede Person ist ein Original: unersetzbar und unaustauschbar und hat deshalb unverlierbare Würde.

Mehr darüber ab Seite 107.

Zur vierten logopädagogischen These

 

Kennen Sie das Gefühl, einmal unbeweglich, starr und ein andermal oberflächlich, abgehoben zu reagieren bzw. durch diese Wankelmütigkeit verunsichert zu sein?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Das sind meine Prinzipien, die ich geerbt habe und denen bleib ich treu, komme was wolle.“

•„Nix ist fix. Man muss mit der Zeit gehen, alles ist offen, jeder soll tun was und wie er will.“

 

Logopädagogik trägt der „Erdwurzel“ im Menschen Rechnung, gibt Orientierung, zeigt Grenzen auf und hilft auch „Flügel“ zu entfalten.

Frankls vierte These über die Person: „Die Person ist geistig“ (Frankl 1997a, Seite 109)

Frankl beschreibt den Menschen als geistbegabtes Wesen, welches mithilfe des „Sinn-Organs“ Gewissen sein Leben in persönlicher Verantwortung gestalten kann.

Mehr darüber ab Seite 129.

Zur fünften logopädagogischen These

 

Kennen Sie das auch, wenn Sie aus Angst oder Bequemlichkeit keine Entscheidungen treffen und sich ärgern, wenn andere für Sie entscheiden?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Ich kann nichts dafür, die anderen sind schuld.“

•„Gott sei Dank habe ich es nicht entschieden, also trifft mich keine Schuld.“

•„Diesen Unsinn hast du für mich entschieden. Ich bin zornig, weil ich die Sache jetzt auslöffeln muss.“

 

Logopädagogik mutet altersadäquat Freiheit zu und konfrontiert mit der daraus resultierenden Verantwortlichkeit.

Frankls fünfte These über die Person: „Die Person ist existentiell“ (Frankl 1997a, Seite 113)

Mit dem Wort „existentiell“ beschreibt Frankl die Entscheidungsmächtigkeit des Menschen innerhalb seines Freiraumes und die damit verbundene (Übernahme der) Verantwortung.

Mehr darüber ab Seite 155.

Zur sechsten logopädagogischen These

 

Kennen Sie auch den Zorn, der hochkommt, wenn Sie angegriffen werden, und das befreiende Gefühl, einen Sündenbock gefunden zu haben?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Wenn mich der Hund beißt, würge ich die Katze, ich muss mich ja abreagieren?“

•„Wenn zwei streiten, greife ich natürlich nicht ein – das geht mich doch nichts an.“

•„Wenn der Frust zu groß ist, muss ich zum Alkohol greifen, damit es mir wieder besser geht.“

 

Logopädagogik zeigt in Aggressionssituationen hoffnungsvermehrende Möglichkeiten der „Energietransformation“ auf.

Frankls sechste These über die Person: „Die Person ist „ich-haft“, nicht „es-haft.“ (Frankl 1997a, Seite 114)

Damit meint Frankl, dass der „es-hafte“ Mensch sich triebhaft abreagiert, während der „ich-hafte“ Mensch bewusst zu seinen Aggressionen Stellung nimmt und sinnorientiert handelt.

Mehr darüber ab Seite 195.

Zur siebenten logopädagogischen These

 

Kennen Sie das Gefühl sich ungeliebt zu fühlen, sich selbst abzuwerten und dadurch depressiv, ohne Perspektiven und Visionen zu sein?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Niemand liebt mich, ich bin allen Menschen egal.“

•„Dafür bin ich viel zu ungeschickt, zu dumm, das schaffe ich nie.“

•„Auf mich kommt es sowieso nicht an, ob ich da bin oder nicht ist für niemanden wichtig.“

 

Logopädagogik unterstreicht den Aufgabencharakter des Lebens und leitet an, sich souverän liebend den Lebensfragen zu stellen.

Frankls siebente These über die Person: „Die Person stiftet die leiblich-seelisch-geistige Einheit und Ganzheit.“ (Frankl 1997a, Seite 115)

Frankl versteht darunter, dass die Person nicht nur Einheit und Ganzheit ist, sondern auch innerhalb dieser Ganzheit zu körperlichen und psychischen Zuständen sowie zu sozialen Umständen Stellung nehmen kann.

Mehr darüber ab Seite 219.

Zur achten logopädagogischen These

 

Kennen Sie auch das Gefühl, wenn Sie nur noch um sich selbst und um Ihre eigene Befindlichkeit kreisen und dabei den Blick für Ihr Umfeld verlieren?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Hauptsache mir geht es gut, die anderen sollen für sich selbst sorgen.“

•„Ich bemühe mich und gebe alles und niemand kümmert sich um mich.“

•„Solange ich ungestört mein Leben einrichten kann, wie ich es will, interessieren mich weder Regenwälder noch ökologische Fußabdrücke.“

 

Logopädagogik öffnet den Blick hinaus in die Welt, damit persönliche Aufgaben wahrgenommen werden können.

Frankls achte These über die Person: „Die Person ist dynamisch.“ (Frankl 1997a, Seite 116)

Frankl betont, dass es dem Menschen nicht guttut, statisch auf sich selbst fixiert zu sein, sondern dass er gelingend lebt, wenn er dynamisch und weltoffen seine, ihm vom Leben gestellten Aufgaben erfüllt.

Mehr darüber ab Seite 247.

Zur neunten logopädagogischen These

 

Kennen Sie auch das Gefühl, an Ihrem Schicksal zu tragen ohne Aussicht auf Veränderung – in Anbetracht von Leid und Tod?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Dieses Leid habe ich wirklich nicht verdient, warum trifft es immer nur mich?“

•„Immer sterben die liebsten Menschen. Ich will ohne meinen Partner, mein Kind, meine Freundin … nicht mehr weiterleben. Mein Leben ist (jetzt) sinnlos geworden.“

 

Logopädagogik schärft die Wahrnehmung für den persönlichen Freiraum in allen Lebenslagen, zeigt Wahlmöglichkeiten auf und leitet zu sinnvoller Entscheidung an.

Frankls neunte These über die Person: „Das Tier ist schon deshalb keine Person, weil es sich nicht über sich selbst stellen, sich gegenüber zu stellen imstande ist.“ (Frankl 1997a, Seite 116).

Im Unterschied zum Tier kann der Mensch laut Frankl auch noch in Anbetracht von Leid und Tod – die zu jedem Leben gehören – sinnvolle Haltungen für sich und sein Umfeld abringen.

Mehr darüber ab Seite 277.

Zur zehnten logopädagogischen These

 

Kennen Sie auch das Gefühl, mit Pinsel und Farbe Ihr Leben selbst kreieren zu wollen, anstatt auf den Sinn des Augenblicks zu hören?

Das könnte sich etwa so anhören:

•„Ich habe Lust auf diese Party, die Kinder sollen ruhig alleine bleiben.“

•„Ich habe Schuld auf mich geladen, damit muss ich halt leben, da kann mir niemand mehr helfen.“

 

Logopädagogik weiß um das Personsein des Menschen, ermöglicht Rückbindung an den Logos und konfrontiert mit Visionen und Werten.

Frankls zehnte These über die Person: „Die Person begreift sich selbst nicht anders denn von der Transzendenz her.“ (Frankl 1997a, Seite 117).

Nur der Mensch ist nach Frankl fähig über sein Gewissen mit dem Übersinn, mit der Transzendenz in Verbindung zu treten. Es steht ihm frei sich für oder gegen einen alles übergreifenden Sinnzusammenhang zu entscheiden.

Mehr darüber ab Seite 313.

DER MENSCH ALS MITGESTALTER SEINER BALANCE

Frankls erste These über die Person lautet: „Die Person, ein Individuum.“ (Frankl, 1997a, Seite 108)

„Individuum“ bedeutet das Unteilbare: Der Mensch wird als eine unteilbare Einheit verstanden, die nicht weiter unterteilt oder aufgespaltet werden kann. Und doch sieht Frankl den Menschen als dreidimensionales Wesen und definiert menschliches Personsein in drei Dimensionen: Körper, Seele (Psyche) und Geist.

Der Person als „Leib-Seele-Geist-Einheit“ (Frankl) entsprechen im Lebensvollzug die Leistungs-, Liebes- und Leidensfähigkeit. Werden diese Fähigkeiten in der Erziehung und im ganzen Leben nicht gleichwertig geschult und beachtet, gerät der Mensch aus der Balance. Die notwendige Stimmigkeit, in der sich der Mensch als Individuum entfalten kann, wird verhindert.

In diesem Kapitel wird auf die Mitgestaltung des Individuums auf seine Balance eingegangen.

Sigmund Freud verwendete den Seelenbegriff für seine Entdeckung der Psyche und verlor den damals nach theologischem Verständnis unsterblichen Anteil im Menschen. Frankl brachte diesen „verloren gegangenen“ Aspekt in sein Lehrgebäude als geistige Dimension in seinem dreidimensionalen Menschenbild wieder zum Ausdruck. Erst die Dreidimensionalität macht den ganzen Menschen aus und ist in allen heilenden und erzieherischen Prozessen zu berücksichtigen.

Selbst der Gesetzgeber trägt inzwischen dieser Sicht auf den Mensch im 65. Bundesverfassungsgesetz vom 9. Juni 2005, BGBl.I Nr. 31 / 2005, 1. Nach Art. 14 Abs. 5 Abs. 5 a Rechnung, aus dem wir folgende Zeilen zitieren: „[…] Im partnerschaftlichen Zusammenwirken von Schülern, Eltern und Lehrern ist Kindern und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung zu ermöglichen, damit sie zu gesunden, selbstbewussten, glücklichen, leistungsorientierten, pflichttreuen, musischen und kreativen Menschen werden, die befähigt sind, an den sozialen, religiösen und moralischen Werten orientiert Verantwortung für sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und nachfolgende Generationen zu übernehmen. […]“

Die Forderung des Gesetzgebers, der dreidimensionalen Seinsweise des zu erziehenden Menschen zu entsprechen, hat Viktor E. Frankl in seinem Menschenbild bereits vor 80 Jahren niedergeschrieben.

Die drei Dimensionen des Menschen

Die erste, körperliche Dimension teilen wir mit Pflanzen und Tieren. Gemeint sind alle mess- und wägbaren körperlichen Phänomene, wie

•das organische Zellgeschehen,

•die biologisch-physiologischen Körperfunktionen und

•die chemisch-pysikalischen Prozesse.

Die zweite, psychische Dimension meint die Emotionen und Kognitionen.

Emotionen sind echt und wahr, werden vom Menschen empfunden und sind durch ihn nicht wähl- oder entscheidbar. Gemeint sind:

•Stimmungslagen und Grundstimmungen durch charakterbedingte Anlagen wie Introvertiertheit, Extravertiertheit,

•(Trieb-)Gefühle: Verliebtheit, Euphorie, Aggression, Nervosität, Gereiztheit,

•Begierden: Alkohol, Schokolade, Handy, Computerspiele, Anerkennung, Lob, Erfolg,

•Instinkte: biologisch bedingte Handlungsmuster,

•Affekte: spontane emotionale Reaktionen.

Der zweiten, der psychischen, Dimension ordnet Frankl auch die Kognition zu. Sie ist einerseits von Geburt an als Teil der Vererbung festgelegt, andererseits als Einfluss der Welt und dem Milieu. Sie ist nicht bewusst wählbar, aber trainierbar. Zur Kognition zählen:

•die intellektuellen Begabungen: Auffassungsgabe, logisches Denken, Sprachbegabung, musikalische Begabung,

•alle übernommenen und erworbenen Verhaltensmuster: durch Vorbild, durch Erfahrung (Versuch – Irrtum),

•die sozialen Prägungen und Konditionierungen: milieu- und kulturbedingte Vorgaben, die unreflektiert übernommen werden.

Die erste, körperliche Dimension teilt der Mensch mit allen Lebewesen. Die zweite, psychische Dimension teilt er – bis zu einem gewissen Grad – mit dem Tier. Ungewöhnlich für uns ist, dass der Intellekt, den wir im herkömmlichen Sprachgebrauch mit „Geist“ bezeichnen, der zweiten Dimension zugeordnet ist. Die Kognition hat jedoch mit dem Gehirn und seiner biologischen Funktion zu tun. Damit ist sie körperlich und nicht „geistig“.

Die dritte, geistige, spezifisch humane Dimension ist nicht messbar, nicht sichtbar, nicht greifbar, nicht lokalisierbar. Sie ist der Ausweis menschlichen Seins, ein spezifisch menschliches Phänomen. Sie ist keine körperliche Bewegung oder eine Denkbewegung in räumlich-zeitlichem Sinn, sondern eine metaphysische „Bewegung“ im Sein, die den Menschen auszeichnet. Sie ist reine Dynamis und

•befähigt den Menschen, zu seinem Körper und seinen psychischen Befindlichkeiten Stellung zu nehmen.

•ermöglicht eigenständige Willensentscheidungen, eine freie Wahl zu treffen.

•drückt sich im Humor aus. Wir können über uns lachen und gewinnen damit Selbstdistanz.

•wirkt sich in sachlichem und künstlerischem Interesse durch schöpferisches Gestalten und Kreativität in Kunst, Kultur und Wissenschaft aus.

•lässt den Menschen aus der Meta-Ebene über sich und sein Dasein nachdenken.

•drückt sich in seiner intuitiven Sehnsucht nach Spiritualität aus.

•wird im ethischen Empfinden, das sich in unserem Gewissen meldet, wahrgenommen.

•zeigt sich im Erkennen von Werten, im Werteverständnis und in der Wertesensibilität.

•korrespondiert mit dem Sinn und ermöglicht Sinnausrichtung.

•findet ihren Ausdruck in der humanen Liebe, die auf einen Menschen, eine Idee oder ein Werk gerichtet sein kann.

Die geistige Dimension, die nicht mit Intelligenz oder Verstand verwechselt werden darf, zeichnet jeden Menschen aus, unabhängig von Alter, Herkunft, Intelligenzquotienten und Bildung. In ihr gründen zwei existenzielle Fähigkeiten, die Selbstdistanzierung und die Selbsttranszendenz, die den Menschen zur Mitgestaltung seiner Balance befähigen.

Die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung

Der Mensch als geistbegabtes Wesen kann bei Bedarf seinen körperlichen und psychischen Bedingungen gegenübertreten, aus der Distanz auf sie schauen und dazu Stellung nehmen, ja ihnen entgegentreten.

Dieses geistige Phänomen ist Voraussetzung für jeden heilenden und erzieherischen Einsatz. Nur aus der Distanz zu sich selbst, aus der Meta-Ebene, ist der Mensch in der Lage, seine Lebensherausforderungen bewusst zu beantworten. Die Selbstdistanz ermöglicht ihm, sich selbst und seine Situation aus einem anderen, neuen Blickwinkel zu betrachten. Damit wird er vom Opfer seiner Zu- und Umstände zum Gestalter seines Lebens.

Verblüffung auf der Unfallchirurgie

Eine 75-jährige Skifahrerin stürzt am Silvestertag schwer und wird mit dem Hubschrauber ins Spital eingeliefert. Die Familie erfährt erst am I. Jänner in den Sieben-Uhr-Nachrichten vom Sturz der Großmutter. Voll Sorge und Angst öffnen sie wenig später die Tür zum Krankenzimmer. Sie finden die Patientin, eingegipst und mit Gewichten gelagert, mit lustigen Augen und fröhlich erzählend vor: „Stellt euch vor, ich bin das erste Mal in meinem Leben mit einem Hubschrauber geflogen. Es war unvergesslich schön. Nie werde ich den Anblick meiner geliebten Berge vergessen.“

Die verunfallte Skifahrerin reißt mit ihrer Begeisterung nicht nur ihre betroffenen Familienmitglieder komplett aus deren sorgenvollen Gedanken, sondern sorgt mit dieser ungewöhnlichen Einstellung auch für Verblüffung im Chirurgen- und Pflegeteam.

Kraft ihrer geistigen Dimension konnte die Patientin zu ihren belastenden Bedingungen Stellung nehmen und mit Humor die Situation für sich selbst und ihr Umfeld entlasten.

In diesem Beispiel wird das geistige Abrücken von den körperlichen und psychischen Gegebenheiten als spezifisch humane Fähigkeit sichtbar. Es zeigt einprägsam die Mächtigkeit der Person.

Die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz

Sie ist nach Frankl jene Fähigkeit des Menschen, welche sein Menschsein, seine Humanität begründet. Sie besagt, „dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf mitmenschliches Sein, dem er da begegnet. [...] Mit anderen Worten: Ganz Mensch ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person.“ (Frankl, 2005a, Seite 213)

Die Metapher vom Flugzeug

„Viktor E. Frankl verwies auf das Flugzeug, das sich genauso wie andere Fahrzeuge auf den Straßen bewegen kann. Was unterscheidet es von Autos, Bussen, Kranwägen oder Sattelschleppern? Gewiss, seine Bauart divergiert ein wenig, aber schließlich besitzt es genauso einen Rumpf mit Fenstern, Sitzen, Rädern und Motoren.

Analog divergiert die menschliche Bauart von der tierischen und ist doch nach denselben biologischen Prinzipien konstruiert. Nein, was Flugzeuge von Nichtflugzeugen unterscheidet, ist nicht ihre äußere Form, sondern ihre Potenz, sich ‚in die Lüfte zu erheben‘. So ist auch der Mensch ein Wesen, das sich über seine ‚psychophysisch-organismische Faktizität‘, das heißt: über sich selbst, über seine jeweilige Verfassung, über seine Herkunft, über seine Geschichte etc., erheben kann. Er muss es nicht, und zum Glück braucht er es nicht ständig, aber er kann es: Er kann stärker sein als die stärkste Prägung oder der stärkste Instinkt in ihm selbst, er kann verändern, wo er scheinbar festgelegt ist. Die ‚Lüfte‘ über ihm sind jenes winzige Stückchen Freiheit, in die er sich aus seiner Erdenschwerkraft emporschwingen kann und darf, um wahres Menschentum zu bezeugen.“ (Lukas, 2005, Seite 24)

Die geistige Dimension ermöglicht den Brückenschlag von der vorfindlichen körperlichen und psychischen Gegebenheit zur sinnvollen Gestaltung.

Ein Beispiel:

Ein Mensch ist stark verkühlt. Seine Nase rinnt. Der Kopf tut weh.

Er hat schlecht geschlafen und ist gereizt.

Die erste, körperliche Dimension produziert einen Schnupfen.

Die zweite, psychische Dimension ist dadurch „angekratzt“.

Die dritte, geistige Dimension kann dazu Stellung nehmen, und die Person ist frei zu entscheiden, ihren Mitmenschen trotz allem liebenswürdig zu begegnen – oder nicht.

Die geistige Dimension ist die eigentliche Dimension des Menschen, aber nicht die einzige, wie Frankl betont. Das Modell des dreidimensionalen Menschenbildes der Logotherapie verlangt die Betrachtung des Menschen als Ganzes, als Einheit von Körper, Psyche und Geist. Die Person ist ein Individuum und als solches unteilbar.

Körper und Psyche sind wie gesagt messbare bzw. beobachtbare Grundvoraussetzungen für das Leben und sind in der Psychophysis eng miteinander vernetzt. Die geistige Dimension, der Personenkern, ist der zentrale Ansatzpunkt der Logotherapie und Logopädagogik, ein Ansatz „vom Geistigen her auf Geistiges hin“ (Frankl).

Die Begegnung zwischen Mensch und Mensch findet nicht nur in der körperlichen und psychischen Dimension statt, sondern zeichnet sich durch die Möglichkeit der Begegnung von geistiger Person zu geistiger Person aus.

Das logopädagogische Säulenmodell – der Mensch gestaltet seine Balance

 

Abb. 4: Säulenmodell

Ausgehend von Frankls Erkenntnissen ruht das logopädagogische Säulenmodell auf den beiden Fundamentsteinen „Freiheit des Willens“ und „Wille zum Sinn“.

Freiheit des Willens – erster Fundamentstein

„Die Freiheit des Menschen ist selbstverständlich nicht eine Freiheit von seinen Bedingungen, sei es biologischen, sei es psychologischen oder soziologischen; sie ist überhaupt nicht eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit zu etwas, nämlich die Freiheit zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen.“ (Frankl, 2007, Seite 18)

 

Abb. 5: Erster Fundamentstein: Freiheit des Willens

Zu allen Zeiten wurde der Frage nachgegangen, wie frei oder unfrei der Mensch wirklich ist. Nach Auffassung Frankls ist er zumindest potenziell, der Möglichkeit nach, willensfrei, indem er zwar nicht wählen kann, was seine Lebensbedingungen sind, aber wählen kann, wie er mit den Bedingungen des Lebens umgehen will.

Wird dem Menschen die Willensfreiheit abgesprochen, ist jedes pädagogische, therapeutische und juridische Handeln überflüssig. Der Mensch wird dann gesehen als vorherbestimmt, determiniert wie das Tier und damit auch nicht schuldfähig.

Durch Krankheit, Schmerzen, Unreife, Senilität, Sucht, Schlafentzug etc. kann der Einsatz der Freiheit des Willens eingeschränkt oder gar aufgehoben sein, was aber nichts an deren grundsätzlichem Vorhandensein ändert. Zu den krankheitsbedingten Einschränkungen schreibt der Internist und Psychiater Joachim Bauer: (Bauer, 2006, Seite 163)

„Ein freier Wille ist nur dort infrage zu stellen, wo eine oder mehrere der erwähnten Voraussetzungen nicht vorhanden sind, und dies ist vor allem unter den folgenden drei Umständen anzunehmen:

1.wenn Krankheit oder Verletzung die Funktion des Frontalhirns beeinträchtigt haben;

2.wenn eine schwere seelische Erkrankung (in der Regel eine Psychose) den neurobiologischen und psychischen Selbstorganisationsprozess, der für eine freie Entscheidung notwendig ist, nicht möglich macht; oder

3.wenn extrem atypische Lebensverhältnisse bei einem Menschen dazu geführt haben, dass ihm in einer gegebenen Situation die üblicherweise vorhandene Auswahl an Handlungsmöglichkeiten (Handlungsprogrammen) nicht zur Verfügung steht, sondern in massiver Weise eingeengt ist.“

Die Annahme von der Freiheit des Willens begründet die Würde des Menschen und ist Basis jeder menschlichen und zwischenmenschlichen Interaktion.

Wille zum Sinn – zweiter Fundamentstein

„Wovon der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn.“ (Frankl, 1998, Seite 9)

 

Abb. 6: Zweiter Fundamentstein: Wille zum Sinn

Daraus leitet Frankl das Motivationskonzept der Logotherapie ab, das besagt, dass jeder Mensch nach Sinnerfüllung strebt, weil er sich zutiefst und zuletzt danach sehnt. Darauf baut logopädagogisches Handeln auf sowie jede sinnorientierte Intervention im zwischenmenschlichen Bereich. Jeder Mensch, auch der ganz kleine, will in seinem Leben für etwas oder für jemanden gut sein.

Eine reife Leistung

Ein zweijähriges Mädchen wird von seiner Mutter stets mit einem Abendritual zu Bett gebracht. Eine Geschichte wird erzählt, dann der Tag besprochen. Mit einem Gute-Nacht-Kuss wird das Ritual beendet. Nach der Geburt der kleinen Schwester sitzt die Mutter wieder beim Abendritual am Bett ihrer großen Tochter. Da beginnt das Neugeborene im Wohnzimmer zu weinen und fordert lautstark seine Mahlzeit ein. Die Zweijährige spürt die Aufforderung der Situation: „Mama Baby Milch gebt.“ Mit diesen Worten schickt sie ihre Mutti freiwillig zur brüllenden kleineren Schwester zum Stillen und verzichtet auf ihr Recht: auf das gewohnte Ritual. Sie schläft trotzdem ruhig und zufrieden ein.

Die sinnorientierte Haltung des Kleinkindes steht exemplarisch für Studien, die empirisch nachweislich bestätigen, dass der Mensch, der sich als sinnvoll erlebt, der einen Sinnanruf in seinem Leben wahrnimmt und verwirklicht, auch unter schwierigen Bedingungen gelingend leben kann.

Der Wille zum Sinn kann ebenso wie die Freiheit des Willens durch Krankheit, Unreife, Senilität, Sucht etc. eingeschränkt sein. Dabei handelt es sich um eine Beeinträchtigung der personalen Wahrnehmung des Sinns und nicht um ein Wegfallen der in der Welt vorfindlichen Sinnangebote.

Die „Freiheit des Willens“ und der „Wille zum Sinn“ sind menschliche geistige Potenziale und bilden das Fundament des logopädagogischen Säulenmodells.

Sinn des Lebens – Querbalken

Die Säulen finden Halt und Stabilität von oben durch den Querbalken, der den bedingungslosen Glauben an den „Sinn des Lebens“ repräsentiert.

 

Abb. 7: Querbalken: Sinn des Lebens

Das Postulat vom Sinn des Lebens, der in der Welt vorfindlich da ist und unter keinen Umständen verloren gehen kann, stabilisiert menschliches Leben. „Das Schicksal, das ein Mensch erleidet, hat also erstens den Sinn, gestaltet zu werden – wo möglich –, und zweitens, getragen zu werden – wenn nötig.“ (Frankl, 2005a, Seite 162)

Die Annahme der Sinnhaftigkeit des Lebens bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass Leben einen bedingungslosen Sinn hat, den es unter keinen Umständen verliert, auch dann nicht, wenn es durch Leid, Schuld oder Tod überschattet ist.

Wenn der Mensch nicht an den bedingungslosen Sinn des Lebens glaubt, fehlt ihm das Motiv, sich für das Leben zu engagieren. Wozu soll er sich engagieren und einsetzen, wenn Leben a priori sinnlos ist, oder nur dann als sinnvoll gesehen wird, wenn alles so läuft, wie der Mensch es sich vorstellt und wünscht? Es kann allerdings sein, dass Sinn dem Leben erst abgerungen werden muss, weil er sich menschlichem Begreifen speziell in leidvollen Lebensherausforderungen zunächst entziehen kann.

Ein unerwarteter Auftrag

Eine Mutter verliert ihre einzige, schwerbehinderte neunzehnjährige Tochter durch einen tragischen Tod. Sie sucht in tiefer Trauer, erschöpft nach einer langen Sterbebegleitung Hilfe bei einer Logotherapeutin.

In gemeinsamen Gesprächen erfährt die Therapeutin, dass sich die verstorbene Tochter in den letzten Lebensmonaten in einen ebenfalls behinderten jungen Mann verliebt hatte, der seinerseits unter dem Verlust seiner Freundin schwer leidet. Hier bahnt sich eine Sinnperspektive an, die beleuchtet werden könnte. Die Mutter erkennt den Sinnanruf und begleitet als Expertin für behinderte Menschen liebevoll den Freund ihrer Tochter und kann ihm Familienanschluss schenken, den er sonst nie erfahren hätte.

Durch den Tod der Tochter schloss sich eine Tür im Leben der Mutter und eine andere Tür öffnete sich. Der aktuelle Sinnanruf war für sie nicht gleich ersichtlich und wurde durch die sinnorientierte Begleitung ins Blickfeld gehoben.

Drei tragfähige Säulen verbinden nun das Fundament des logopädagogischen Tempels mit dem Querbalken, dem bedingungslosen Sinn-Angebot des Lebens.

Leistungsfähigkeit – erste logopädagogische Säule

 

Abb. 8: Erste Säule: Leistungsfähigkeit

Säulensockel

Ein differenzierter Blick auf die unteilbare Einheit Mensch lässt im Menschheitswissen unterschiedliche gültige Sichtweisen zu: in der Medizin, Psychologie, Biologie, Philosophie, Religion etc.

Pars pro Toto nehmen wir aus der Medizin drei notwendige Voraussetzungen für eine vorgeburtliche optimale menschliche Entwicklung heraus: Rhythmus, Wärme und Konstanz, die in unserem Modell in das Leben nach der Geburt gespiegelt werden:

Der ersten pädagogischen Säule ist der Rhythmus