Kristallhöhle - Peter Beutler - E-Book

Kristallhöhle E-Book

Peter Beutler

3,9

Beschreibung

St. Gallen, 1982: Unterhalb der Kristallhöhle, in einer zerklüfteten Gegend hoch über dem Rheintal, werden die Leichen zweier junger Frauen entdeckt. Der Täter wird nie gefunden, die Ermittlungen werden eingestellt. Als auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre später in der gleichen Gegend erneut ein Verbrechen verübt wird, erinnert man sich an den Kristallhöhlenmord. Doch erst weitere sechs Jahre später erhält die Kripo den entscheidenden Hinweis - auf eine Tat, die alles Vorstellbare übertrifft.

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Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg aufgewachsen, einem kleinen Dorf in den Berner Alpen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer am Gymnasium Musegg in Luzern. Seit 2007 lebt er mit seiner Frau am Thunersee. Im Emons Verlag erschienen von ihm bereits «Weissenau», «Hohle Gasse», «Kanderschlucht» und «Morgarten».

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/like.eis.in.the.sunshine Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-581-5 Originalausgabe

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Teil 1

1

Oberleutnant Alfons Gross, Chefermittler der Kriminalpolizei St.Gallen, war am 31.Juli 1982, einem Samstag, bereits um halb acht in seinem Büro. Seit der Trennung von Sandra vor zwei Monaten arbeitete er auch an den Wochenenden. Sandra hatte zwei Jahre lang mit ihm zusammengelebt. Eine grosse Liebe war es nicht, doch ganz praktisch: Sie kochte für ihn, machte seine Wäsche und gab ihm auch das, was ein Mann in seinem Alter von einer Frau erwartete. Die Trennung hätte Gross eigentlich problemlos verkraftet, wenn sie nicht auf Sandras Wunsch erfolgt wäre. Dass ausgerechnet ein ehemaliger Kollege aus der Polizeischule sie ihm ausgespannt hatte, kratzte an seinem Ehrgefühl. Dabei hatte es dieser nur zum Gefreiten gebracht. Man sprach im Klosterhof, dem Hauptsitz der Kripo, mit Häme und Schadenfreude darüber.

Gross war etwas überrascht, als es an seiner Tür klopfte. Es war Leutnant Bernasconi, sein Stellvertreter.

«Hei, hast du mir ein Aspirin? Mich plagen verdammte Kopfschmerzen.»

«Das ist der Föhn. Sensible Menschen wie du leiden darunter. Nicht gerade optimal für unser Metier. Dieses erfordert knallharte Burschen, die belastbar sind.» Gross zog eine Schublade heraus, griff hinein und warf Bernasconi einen Schlüssel zu. «Fass, er passt ins Türschloss des Büros meiner Sekretärin. Sie hat Aspirin oder so was Ähnliches in ihrem obersten Schreibtischfach. Weiber dürfen ja ab und zu Migräne haben … Doch sag mal, warum arbeitest du überhaupt an einem Samstagmorgen?»

«Deinetwegen. Bis Montagmorgen muss ich dir den Einsatzplan für die geplanten Razzien im Rotlichtmilieu abgeben.»

Gross sagte nichts darauf, stattdessen grinste er gemein.

Kaum hatte er sich wieder in seine Akten vertieft, schellte das Telefon. Der Anrufer war sein direkter Vorgesetzter, Walo Metzler, der Kommandant der Kriminalpolizei. «Arbeitest wieder einmal zu Unzeiten? Mir scheint, ich wüsste, weshalb. Mir soll’s recht sein. Warum rufe ich an? Meierhans, unser oberster Boss, sitzt mir im Nacken. An der nächsten Regierungssitzung soll die Kripo traktandiert werden. In letzter Zeit sei einiges bei uns nicht rundgelaufen. Er verlangt einen Tätigkeitsbericht der letzten drei Monate. Und du bist genau der richtige Mann für solches Geschreibsel. Bis Montagmittag liegt der Bericht auf meinem Schreibtisch. Hast du Fragen dazu?»

«Was gibt es da noch zu fragen?»

«Natürlich nichts. Hör nochmals zu … fast hätte ich es vergessen. Ich gratuliere dir zu deinem Dreissigsten. Vorgestern hattest du Geburtstag, nicht? Ich wünsche dir noch ein schönes und geruhsames Wochenende.»

Metzler legte auf, ohne die Antwort von Gross abzuwarten. Gross fluchte, dass die Wände zitterten.

* * *

Um die Mittagszeit am selben Samstag betrat ein jüngerer Mann die Wirtschaft «Taube» in Kobelwald. Es waren noch zwei Einheimische dort. Der Ankömmling – er sprach einen Dialekt, der einen an Rorschach oder Umgebung erinnerte – war den beiden nicht bekannt, setzte sich zu ihnen und begann gleich ein Gespräch. Kurz darauf gesellte sich der Wirt dazu. Die beiden und der Wirt sagten später auf dem Polizeiposten Oberriet aus, der Fremde habe blaue Turnschuhe getragen und einen sportlichen Eindruck gemacht. Sein Alter schätzten sie auf etwa zwanzig Jahre. Ihnen seien auch seine guten Ortskenntnisse aufgefallen. Etwas verblüfft habe sie eine sonderbare Frage von ihm: ob es möglich sei, vor der Kristallhöhle ein Zelt aufzuschlagen. Nach einem kurzen Imbiss habe er sich auf den Weg Richtung Kobelwies gemacht.

* * *

Der neunjährige Bruno Bänziger und sein um ein Jahr jüngerer Bruder Ulrich weilten bei ihren Grosseltern in Kobelwies. Sie waren mit der Umgebung vertraut, und so durften sie allein die Gegend erkunden und im Freien spielen. Bruno und Ulrich hatten im Wattwald ein kleines Versteck eingerichtet. Das erlaubte ihnen, alles zu beobachten, was sich an der Kreuzung der Kobelwies- und Wattstrasse abspielte, ohne selber gesehen zu werden. So konnten sie sich stundenlang die Zeit vertreiben.

Als die Kirchturmuhr halb vier geschlagen hatte, wollten sie sich auf den Heimweg machen. Zum Zvieri gab es bei der Grossmutter stets ein rechtes Stück frisches Brot und zwei Reihen Schokolade.

Doch gerade als die letzten Glockenklänge verklungen waren, vernahmen sie hohe Stimmen. Sie kamen von zwei schon fast erwachsenen Mädchen, die mit ihren Velos das steile Strässchen hinuntergefahren waren und an der Weggabelung haltmachten.

Das eine sagte: «Diese Typen haben Verspätung.»

Das andere: «Und wenn sie nicht kommen?»

Dann wieder das eine: «Die kommen ganz bestimmt. Der Oskar steht auf mich. Nur eben: Mir gefällt er gar nicht, er hat zu viele Pickel im Gesicht. Und übrigens, die wollen uns ja nur etwas zeigen. Sie werden sich hüten, uns zu betatschen.»

Ulrich fand das komisch und fragte Bruno, wie denn ein Mann auf eine Frau stehen würde. Bruno hielt ihm den Mund zu und flüsterte: «Sei still, die dürfen uns nicht hören.»

Kurze Zeit später kam ein grauer VW Käfer in forschem Tempo von Eichberg her angerauscht und riss vor der Kreuzung einen Stopp. Zwei jüngere Männer sprangen aus dem Fahrzeug. Die beiden Mädchen hoben freudig die Arme zur Begrüssung.

* * *

Ich kniete am Sterbebett meiner Mutter. Sie flüsterte mir ins Ohr: «Du wurdest am 31.Juli 1950 in der Kristallhöhle gezeugt. Der Erzeuger ist nicht der Mann, von dem du glaubst, er sei dein Vater.»

Das war ein harter Schlag für mich. Dann geschah ein Wunder. Die Mutter wurde wieder gesund. Sie durfte weiterleben, offenbar weil sie mir ihre Last abgegeben hatte.

Ich ging in die Höhle und suchte die Stelle auf, wo mein Leben vor genau zweiunddreissig Jahren begann, ich tat das immer am 31.Juli.

Als ich etwa zwanzig Meter tief drin war, hörte ich Schritte, die mir entgegenkamen. Ich zwängte mich in eine Nische, denn ich wollte nicht gesehen werden. Es konnte nur der Höhlenwart sein. Er durfte nicht wissen, dass ich heimlich einen Schlüssel nachgemacht hatte. Doch es war nicht der Höhlenwart, sondern meine beiden Lehrerkollegen. Ich rief ihnen sofort zu: «Hei, was für eine Überraschung!»

* * *

«Ihr habt euch verspätet. Wir haben uns Sorgen gemacht. Das darf nicht wieder passieren», schimpfte der Grossvater. Die Grossmutter nickte stumm und sah Bruno und Ulrich vorwurfsvoll an.

Bruno versuchte sich zu rechtfertigen, indem er berichtete, was sie an der Kreuzung beobachtet hatten.

«Es ist normal, dass sich Männer mit jungen Frauen treffen. Da hättet ihr euch nicht zu verstecken brauchen. Vor solchen Leuten braucht man sich nicht zu fürchten», klärte der Grossvater seine Enkel auf.

* * *

Um Viertel nach fünf betrat ein ziemlich durchnässter junger Wanderer mit auffallend dreckigen Schuhen das Gasthaus «Bad Kobelwies». Er war der einzige Gast dort. Der Wirt persönlich kam an seinen Tisch und erkundigte sich, was er konsumieren mochte. Es werde allerdings etwas dauern, die Serviertochter habe wegen Unwohlseins vor einer Stunde nach Hause gehen müssen.

Er wolle nur ein Bier trinken und, wenn’s möglich sei, ein Sandwich essen.

Die angespannten Gesichtszüge des Wirts hellten sich schlagartig auf. Kein Problem, er habe bereits einige zubereitet. Grosse Eingeklemmte mit Schinken, Essiggurken und Mayonnaise. Ob das passe.

«Genau das, was ich mir wünsche», stimmte der Wanderer zu.

«Darf ich mich zu Ihnen setzen und mit Ihnen zusammen essen?»

«Aber sicher, tun Sie sich keinen Zwang an.»

Einige Minuten später sassen der untersetzte grauhaarige Wirt und der eher kleine, feingliedrige jungenhafte Wandersmann bei zwei Flaschen Bier und vier Sandwiches am grossen runden Tisch der kleinen Wirtschaft.

Mit den Worten «Walter heisse ich, führe dieses Lokal nun schon seit zehn Jahren» hob der Gastgeber sein gefülltes Bierglas.

«Mein Name ist Paul. Es soll gelten. Prost.»

«Dem Dialekt nach kommst du vom Toggenburg.»

«Du hast ein feines Gehör. Na klar, ich bin ein Toggenburger.»

«Was um Himmels willen treibt dich in diese gottverlassene Gegend?»

«Ich wollte mir die Kristallhöhle ansehen, habe sie aber bis jetzt noch nicht gefunden.»

Der Wirt pfiff durch die Zähne. «Hätte dir auch nicht viel gebracht, denn sie ist nicht frei zugänglich. Das Betreten dieser Grotte ist nur mit einem Führer möglich. Aber ich könnte dir dabei behilflich sein. Ich bin nämlich der Höhlenwart. Das Dumme ist nur: Heute und morgen geht es nicht, ich muss mich voll meinem Restaurant widmen. Und mein Stellvertreter ist leider auch für einige Tage abwesend.»

«So dringend ist es jetzt auch wieder nicht. Ich melde mich in den nächsten Wochen noch einmal bei dir.»

«Danke für dein Verständnis.»

Der junge Mann erkundigte sich noch, wie er zum Bahnhof Oberriet komme, ob es ein Postauto gebe.

Von Kobelwies nach Oberriet fahre kein Bus. Er müsse zu Fuss gehen, es seien ungefähr zwei Kilometer. Er solle einfach den Wegweisern folgen.

* * *

Ein jüngerer Mann fuhr mit seinem grauen VW gegen Abend auf den Parkplatz der Wirtschaft «Taube» in Kobelwald. Unmittelbar nach ihm parkierte ein alter Opel Kadett auf dem Feld daneben.

«Hallo, Gustav, schön, dich wieder mal zu sehen.»

«Grüss dich, Gottfried, freut mich.»

«Geht’s dir nicht gut? Du siehst so blass aus. Bist fast so weiss wie dein Hemd.»

«Kann man wohl sagen, ich habe mir gestern eine üble Magenverstimmung eingefangen. Geht vorüber, ich fühle mich schon etwas besser.»

«Schade, jetzt hätte ich gerade Lust, ein Bier mit dir zusammen zu kippen. Aber du wirst in Anbetracht der Umstände wohl einen Kamillentee vorziehen.»

«Genau, Tee ist jetzt das, was ich brauche. Aber trink du nur dein Bier.»

Gottfried war Mitglied der Schulkommission in der Gemeinde Oberriet. Er hatte vor einigen Jahren Gustav angefragt, ob er nicht eine Stelle als Primarlehrer in Kobelwald antreten möchte. Das zerschlug sich, doch ein halbes Jahr später wurde Gustav als Hilfslehrer im Nachbarsdorf Montlingen engagiert.

Das Gespräch in der Gaststube entwickelte sich nur schleppend.

«Was treibt dich denn hierherauf? Von wo bist du gekommen?», fragte Gottfried.

«Ich habe immer noch eine Wohnung in Oberriet. Es gefällt mir hier. Ganz besonders sind mir Kobelwald und Kobelwies ans Herz gewachsen. Ich war heute Morgen in Herisau», antwortete Gustav. «Immer wieder zieht es mich dorthin. Ich hatte dort die RS, dann die UO absolviert. Das war eine schöne Zeit für mich.»

«Warst du in der Kaserne?»

«Ich stand davor, spähte in den Hof hinein, aber sah niemanden, den ich kannte. Dann kehrte ich ein, ich unternahm den Versuch, etwas zu essen. Aber nach einigen Bissen musste ich aufgeben.»

«Gibt es in diesem Kaff überhaupt eine gute Wirtschaft?»

«Na ja, ist immerhin hundertmal grösser als Kobelwald, halt eine Kasernenstadt. Aber man isst ganz ordentlich und preisgünstig. Ich war im ‹Adler›. Als ich Dienst tat, gab es dort eine rassige Serviertochter. Offenbar ist sie weitergezogen, heute Morgen sah ich sie jedenfalls nicht mehr. Ich erkundigte mich nach ihr, aber niemand konnte sich mehr an sie erinnern.»

«Wenn ich dir einen Rat geben kann, von Freund zu Freund: Vielleicht wäre es an der Zeit, dir eine Frau zuzulegen und eine Familie zu gründen. Bald bist du dreissig. Das hat keine Zukunft, in Gastwirtschaften Kellnerinnen aufzureissen.»

Gustav verzog resigniert das Gesicht, dann aber lächelte er schelmisch. «Ich glaub, ich hab etwas an der Angel.»

«Greif zu, mein Junge. Ich hätte dir auf nächstes Schuljahr möglichweise eine Stelle in unserem Schulkreis. Könnte ich sagen, der Mann ist frisch verheiratet, wären die Chancen sehr hoch, dass du sie kriegst. Unterrichtest du immer noch in Goldach?»

«Ja, aber einen Wechsel könnte ich gut vertragen. Einige Kollegen dort gehen mir grausam auf die Nerven.»

Die beiden Männer tauschten noch einige belanglose Worte aus. Danach stieg Gustav in seinen Wagen und fuhr weg.

* * *

Um halb sieben trafen sich Oskar, Gustav und Arthur in der Bar «Ybis» in Rorschach. Arthur Busch, mit einunddreissig Lebensjahren der Älteste von den dreien, war ein eher kleiner Mann, kaum über eins sechzig. Schlank bis hager, redegewandt und ausgesprochen intelligent. Er kam aus dem Toggenburg, seine Eltern waren nicht gerade auf Rosen gebettet. Arthur zog die Blicke der Frauen auf sich. Damit hatte der etwas jüngere Gustav Glanzmann, ein bisschen grösser, kräftiger gebaut, aber nicht sonderlich gut aussehend, sichtlich Mühe. Als Spross einer alteingesessenen Mittelstandsfamilie aus dem Rheintal hatten ihn, im Gegensatz zu Arthur, in seinem bisherigen Leben nie existenzielle Sorgen geplagt. Der gerade zwanzig gewordene, gross gewachsene, recht ansehnliche Oskar Moser war fasziniert von Arthur. Oskar wuchs in einem richtig guten Haus auf. Der Vater und sein lediger Onkel gehörten dem Geldadel der Ostschweiz an. Oskar imitierte Arthurs Gesten und erhoffte sich so, ebenfalls attraktiv auf das andere Geschlecht zu wirken.

Heute allerdings reagierte Arthur nicht auf die Blicke der Frauen. Er schaute zuerst Oskar, dann Gustav scharf an. «Kumpels, heute habt ihr echt Mist gebaut.»

Oskar wollte etwas darauf sagen, aber Arthur hob seine Rechte. Oskar verstand den Wink und schwieg augenblicklich.

«Ich meine das mit der Schlägerei in der Beiz in Wattwil», sagte Arthur augenzwinkernd.

«Hat Oskar etwa wieder einen verdroschen?», mischte sich die junge Frau, die auf dem Hocker neben Arthur Platz genommen hatte, in das Gespräch ein.

«Nein, diesmal hat Gustav Blödsinn gemacht», sagte er und strich ihr über die Schenkel.

Sie reagierte augenblicklich darauf und lehnte ihren Oberkörper an Arthurs Schultern.

«Aber denk nicht, ich würde dich heute flachlegen, wir haben nämlich noch etwas ganz Wichtiges vor.»

Die Dame verzog enttäuscht den Mund und starrte verlegen in das Glas Rotwein, das ihr der Kellner eben hingestellt hatte. Sie musterte Gustav. «Du siehst ja fürchterlich aus. Was ist denn das für eine Schramme, und wo hast du dir das Veilchen eingefangen?»

«Sag nichts darauf, du würdest dich nur lächerlich machen», entgegnete Arthur im Befehlston.

Er setzte eine gönnerhaft freundliche Miene auf. «Kellner, Whisky für die ganze Runde, auch dem Mädchen neben mir.» Er legte beide Hände auf ihre Brüste und küsste sie auf den Mund. Fast im Laufschritt leistete der Kellner den Bestellungen Folge, denn er hatte einen riesen Respekt vor Arthur. Dieser trank zwei, drei Schlucke davon und leerte den Rest in das Glas der jungen Frau, das dann überlief. Der Whisky floss über den Tischrand auf ihre Oberschenkel.

«Jungs, lasst euch nicht volllaufen. Um zehn Uhr starten wir.»

«Alles klar», sagte Oskar und bestellte eine Literflasche Coca und vier Sandwiches.

* * *

Abgemacht war, dass Lydia und Elena um etwa sieben Uhr abends bei den Brüllhardts eintreffen sollten.

Hedi Brüllhardt, die Tante von Elena, stand bereits seit fünf Uhr in der Küche, um den beiden Mädchen ein reichhaltiges Abendessen zuzubereiten. Die gebrannte Crème wartete im Kühlschrank, das Voressen köchelte schön vor sich hin. Albert, ihr Mann, hatte ihr beim Salatwaschen und Kartoffelschälen geholfen. Die Kartoffeln wollte sie erst passieren, wenn die Mädchen da waren, ganz frisch schmeckte der Stock einfach am besten. Nun war es halb acht. Hatten sich Elena und Lydia verfahren? Hatte eines der Mädchen eine Reifenpanne? Solche Fragen gingen den Brüllhardts durch den Kopf. Aber wirklich besorgt waren sie nicht, noch nicht.

Als der kleine Zeiger der Küchenuhr die Neun passierte, bekamen es die Brüllhardts mit der Angst zu tun. Herr Brüllhardt rief auf der Polizeistation in Goldach an. Dort zeigte man sich wenig beeindruckt, man versuchte, Herrn Brüllhardt zu beruhigen. Mädchen in diesem Alter würden ihren Ausgang gerne verlängern, ohne die Eltern zu verständigen.

«Die Eltern von Elena, also mein Bruder mit seiner Frau, und die Müllers, die Eltern von Lydia, sind gerade auf einer Segelreise im Atlantik. Einen Traum, den sie sich erfüllten, als ihre beiden Töchter die obligatorische Schule abgeschlossen hatten und mit einer Lehre begannen. Es dürfte schwierig werden, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Beide Elternpaare haben Elena und Lydia in unsere Obhut gegeben», seufzte Brüllhardt. «Die Mädchen sind bis jetzt noch nie durch Unpünktlichkeit aufgefallen. Sie haben die Abmachungen immer eingehalten.»

Um halb zehn schrillte das Telefon bei Brüllhardts. Es war Wachtmeister Herbert Manser vom Kapo-Posten Goldach. In Kobelwies seien einer Streife zwei Damenvelos aufgefallen. Seit dem späten Nachmittag stünden sie an derselben Stelle, auf den Gepäckträgern seien Rucksäcke festgeschnallt. Eine der beiden Kontrollnummern laute auf Elena Brüllhardt. Ob Elena zu Hause sei, erkundigte sich Manser.

Eine halbe Stunde später läutete Wachtmeister Manser an der Wohnungstür der Brüllhardts.

* * *

Einige Minuten vor zehn verliessen Arthur, Gustav und Oskar das «Ybis». Keiner von ihnen war nur im Entferntesten angetrunken, was eher selten vorkam.

Gustav realisierte nicht, dass er seine Jacke in der Bar hatte liegen lassen. Der Serviertochter fiel das erst auf, als die drei Männer sich anschickten, ins Auto zu steigen. Sie rannte aus dem Lokal auf den Parkplatz. Dann gewahrte sie etwas, das sie stutzig machte. Das Fahrzeug, das sich in Bewegung setzte, hatte sie vorher noch nie gesehen. Es war ein grüner VW-Bus mit niederländischen Nummernschildern. Sie war sich sicher, dass die drei Jungs in den VW-Bus gestiegen waren, und nahm sich vor, einen der drei beim nächsten Besuch darauf anzusprechen.

2

Am Mittag des 1.August wurde in den Nachrichten die Vermisstmeldung verlesen:

Die Kantonspolizei St.Gallen teilt mit: Seit gestern Abend werden zwei weibliche Personen vermisst. Es handelt sich um Lydia Müller, geboren 1966, sowie Elena Brüllhardt, geboren 1967. Beide wohnhaft in Goldach, Kanton St.Gallen. Die beiden Mädchen begaben sich am 29.Juli auf eine Velotour. Am Morgen des 31.Juli hatten sie zum letzten Mal telefonischen Kontakt mit Verwandten. Gegen Mittag wurden sie in einer Velowerkstatt in Appenzell gesehen. Sie gaben dort an, Richtung Osten ins Rheintal zu fahren. An einer Kreuzung unterhalb Kobelwies haben seit gestern am späten Nachmittag mehrere Vorbeifahrende zwei abgestellte Velos beobachtet. Heute Morgen stellte die Polizei die beiden Räder sicher. Aufgrund der Kontrollschilder steht fest, dass sie den beiden vermissten Personen gehören.

Die Kantonspolizei St.Gallen bittet, die Vermissten schonend anzuhalten und über deren Verbleib beim nächsten Polizeiposten Meldung zu machen.

* * *

Gross arbeitete an seinen Schreibtisch. Er sah auf die Uhr. Es war halb fünf. Heute musste er etwas früher weggehen, denn am Abend sollte er an der Bundesfeier in St.Margrethen, seinem Wohnort, als Posaunist in der Dorfmusik auftreten.

Das Telefon schrillte. Nach einigem Zögern hob er ab. Es war Meierhans, der Landammann. Meierhans leitete in der Kantonsregierung auch das Justiz- und Polizeidepartement. Er teilte Gross mit, es werde morgen Montag eine Regierungssitzung stattfinden wegen einer dringenden Finanzangelegenheit. Er möchte seine Kollegen aber danach über den Fall der beiden verschwundenen Mädchen bei der Kristallhöhle in Oberriet informieren. Es könnte sein, dass Stimmen aus der Öffentlichkeit laut würden, die auf einer energischen Untersuchung bestehen. Die Polizei würde schlecht dastehen, wenn sie untätig gewesen wäre.

Gross unterdrückte einen Fluch und gab dem Magistraten zu bedenken, dass er eigentlich nur an dritter Stelle in der Hierarchie der Kripo stehe. Der Kommandant sei nicht erreichbar, und dessen Stellvertreter liege mit einer Sommergrippe im Bett.

Das sei nicht sein Problem, wies ihn Meierhans zurecht. In der gesamten Verwaltung des Kantons herrsche das Stellvertreterprinzip. Wenn sein Chef und dessen Vorgesetzter ausgefallen seien, gehe das Kommando auf den Nächsttieferen in der Hierarchie über. Wenn er dazu nicht in der Lage sei, solle er gleich kündigen.

Gross bekam schweissnasse Hände, antwortete stotternd, er sei selbstverständlich bereit, diese Aufgabe zu übernehmen.

Meierhans murrte etwas Unverständliches und knallte den Hörer auf die Gabel. Gross rief Bernasconi an. Dieser war zu seiner Erleichterung zu Hause erreichbar.

Gross bat Bernasconi, unverzüglich Material über die Vermissten zu beschaffen und ihm dieses in sein Büro zu bringen.

* * *

Bernasconi wäre es nie eingefallen, dagegen zu protestieren, obwohl er eigentlich vorhatte, mit seinen Kindern an der Bundesfeier in Rorschach teilzunehmen. Das musste nun eben seine Frau tun. Er trommelte seinen Mitarbeiterstab zusammen. Von den sechs Polizisten konnte er immerhin drei erreichen. Alle machten sich gleich auf den Weg in den Klosterhof. Sie begannen wie besessen zu recherchieren. Um zehn Uhr klatschte Bernasconi einen daumendicken Stoss Unterlagen auf Gross’ Schreibtisch. Dann sah er sich noch ein bisschen in dessen Büro um. Er suchte nichts Besonderes, entdeckte aber plötzlich auf einem Post-it, das am Tischtelefon klebte, eine Notiz, die mit «BERNAS» überschrieben war, gefolgt von der Notiz:

Errungenschaft von Metzler: entscheidungsschwach, eingeschränkte Führungsqualitäten, kleinkariert, phantasielos, korrekt bis an den Bach hinunter, mässiger Intellekt …

Bernasconi wurde puterrot vor Zorn. Er grübelte einige Minuten darüber nach, wie er reagieren sollte. Griff nach dem roten Filzstift, den er immer in seiner Arbeitsweste hatte, nahm eines der unbeschriebenen A4-Blätter, von denen überall auf dem Schreibtisch welche herumlagen, und begann darauf eine Entgegnung auf dieses vernichtende Urteil zu schreiben. Nach einigen Sätzen hielt er inne, zerriss das Blatt in kleine Fetzen. Da hörte er im unteren Stockwerk Schritte. Das musste Gross sein. Offensichtlich war sein Auftritt an der 1.-August-Feier in St.Margrethen beendet.

Bernasconi eilte wie auf Samtpfoten zu seinem Arbeitszimmer, das demjenigen von Gross gegenüberlag. Er schaffte es gerade, die Tür hinter sich zuzuziehen, als Gross im Korridor auftauchte.

* * *

Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Gross die Unterlagen gesichtet hatte. Er konnte sich danach einigermassen ein Bild vom Umfeld der vermissten Elena und Lydia machen. Die beiden Mädchen waren in guten Verhältnissen aufgewachsen. Sie waren beide nie negativ aufgefallen. Gross kämpfte mit sich, ob er am nächsten Morgen die Brüllhartds besuchen oder Bernasconi mit dieser Aufgabe betrauen sollte.

Bernasconis bisheriger Rapport ergab wenig Neues. Warum die beiden Teenager einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein sollten, war für Gross nicht nachvollziehbar. Lydia war ein schönes, sorgloses Mädchen, die um ein Jahr jüngere Elena ebenfalls hübsch, aber eher schüchtern. Nähere Bekanntschaften mit Jungen wurden beiden nicht nachgesagt.

Obwohl es Gross zutiefst zuwider war, sich in Spekulationen zu ergehen, musste er dem Regierungsrat ein denkbares Mordmotiv und einen möglichen Tathergang aufzeigen. Am besten kam wohl an, wenn er ihm einen sexuellen Triebtäter, der seine Opfer nicht kannte, schmackhaft machte. Dabei wusste er genau, dass die Mehrzahl von Gewaltverbrechen sich innerhalb der Familie oder im Bekanntenkreis abspielten.

Bevor sich Gross nach Hause begab, es war gegen Mitternacht, wählte er Bernasconis Nummer. Er liess es etwa zehnmal klingeln, hängte auf und wählte erneut.

Dann läutete es nur dreimal bei Bernasconis.

Grusslos erteilte Gross seinem Leutnant eine Reihe von Befehlen, die er am kommenden Morgen umgehend auszuführen habe. Für Bernasconi war klar, dass er gleich jetzt damit beginnen musste. Er riss per Telefon an die dreissig Polizisten aus dem Schlaf und teilte ihnen mit, sich um sieben Uhr früh für eine umfangreiche Suchaktion bereitzuhalten.

* * *

Bereits am frühen Abend waren in der «Taube» in Kobelwald viele Gäste versammelt. Das war üblich am Tag der Bundesfeier. Man sprach über die Vermisstmeldung in den Mittagsnachrichten. Auch der Grossvater von Bruno und Ulrich sass dort am Stammtisch. Er berichtete, was er von seinen Enkeln erfahren hatte. Noch andere hatten die bepackten Velos gesehen und sich gefragt, wie es möglich sei, diese über Stunden stehen zu lassen. Das sei halt die heutige Jugend, meinte ein weisshaariger Alter, man trage keine Sorge zu den Sachen, der Vater ersetze es ja, wenn es abhandengekommen sei. Einer wollte gesehen haben, dass am Abend eine Streife der Kapo vorbeigefahren war und die Räder und die Rucksäcke untersucht hatte.

Ein anderer Gast war auch dabei, Gustav. Käsebleich und sichtlich nervös. Er hörte aufmerksam zu, sagte aber kein Wort.

* * *

Besser könnte es nicht laufen. Es war eine gute Idee, die beiden Leichen zwischenzulagern. Eine schwere Last ist von mir abgefallen. Ich fühle mich frei und glücklich wie noch nie. Ich bin ja gespannt, was jetzt die Polizei unternimmt. Ich wette, sie wird das Gelände um die Kristallhöhle absuchen. Die Spuren haben wir, soweit es ging, beseitigt. Ein winziges Risiko ist nicht auszuschliessen. Der eine oder andere getrocknete Blutstropfen könnte noch am Höhlenboden haften. Aber auch dieses Problem werden wir bewältigen.

Ich bin sehr erregt. Es geht nicht anders, ich werde mein Mädchen wieder mal windelweich prügeln. Sie wird entsetzlich schreien. Doch ich weiss, dass sie das aufgeilt. Dann werde ich sie so richtig durchficken.

* * *

Gustav traf sich mit Marlis Buschor um zwanzig Uhr im Café an der Bahnhofstrasse in Oberriet. Sie wohnte bei ihren Eltern im benachbarten Rüthi. Marlis war einige Minuten früher im Lokal, strahlte, als sie den Hereinkommenden erblickte. Fünf Tage zuvor hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Und sie hatte zur Verwunderung von Gustav gleich Ja gesagt. Marlis war hübsch, zierlich, blond und Gustav als Volkschullehrer eine gute Partie.

Gustav lächelte, aber das Lächeln stand in einem seltsamen Gegensatz zu seiner Miene. Sein Blick drückte mehr eine Mischung aus Trauer und Scham als eine freudige Erwartung aus.

Marlis sah Gustav verunsichert an. «Was ist dir denn über die Leber gekrochen, mein Schatz?»

«Ich weiss selber nicht so recht. Vielleicht ist es die Bratwurst, die ich vorgestern gegessen habe. Seitdem ist es mir nicht gut. Eine Magenverstimmung, nehme ich mal an. Aber das geht vorüber.»

«Wirklich? Ich fand sie ausgezeichnet. Mir ist sie gut bekommen.»

Marlis war viel temperamentvoller als Gustav. Sie riss wie gewohnt das Gespräch an sich. Es ging um die Verlobungsfeier, die für den kommenden November im Gasthof «Adler» in Oberriet geplant war. Marlis stellte sich ein grosses Fest vor, Gustav hätte es lieber im familiären Rahmen gesehen. Marlis setzte sich durch, nicht nur weil Gustav an diesem Tag überhaupt kein Durchsetzungsvermögen zeigte. Er fügte sich schon von Beginn der Beziehung an ihren Wünschen.

«Kommst du noch zu mir nach Hause? Meine Eltern sind für ein paar Tage verreist.»

«Ja», antwortete Gustav.

Sie legte ihren Arm um ihn. «Ja … mehr fällt dir nicht ein, du Pflock? Wenn ich nicht wüsste, dass du heute ein bisschen grantig bist, hätte ich dir ins Ohr gebissen und gesagt, lass es doch bleiben.»

Gustav verbrachte die Nacht mit Marlis. Er war in der Lage, ihr das zu bieten, was sie von ihm erwartete.

* * *

Rosemarie sah es an seinen Augen. Arthur war betrunken, als er in der gemeinsamen Wohnung in Rorschach ankam. Aber nicht nur das. Irgendetwas musste ihn erregt haben.

Er ging schwankend auf seine Lebenspartnerin zu, machte sich daran, ihre Bluse aufzuknöpfen, was ihm misslang. Schliesslich riss er ihr das Oberteil vom Leib. Rosemarie brüllte: «Hör sofort auf, Michael schaut uns zu.»

«Komm mit mir ins Bett, du geile Schlampe.»

Rosemarie schossen die Tränen in die Augen. Sie versuchte, Michael ins Kinderzimmer zu schieben, wollte ihm nachgehen, aber Arthur krallte seine Rechte in ihren Oberarm und hielt sie zurück. Michael blieb im Türrahmen stehen. Seine Gesichtszüge erstarrten vor Schreck.

«Nimm Vernunft an, Arthur. Ich habe etwas Feines zubereitet: Rösti und Bratwürste. Das magst du doch so sehr. Lass uns zuerst essen, dann bringe ich Michael ins Bett.»

«Komm mit mir ins Bett, jetzt gleich. Das ist ein Befehl.»

Arthur torkelte in sein Zimmer und kam mit der Peitsche zurück.

«Kannst du nicht noch eine Stunde warten? Bitte, bitte.»

Michael schrie laut auf, rannte zur Wohnungstür, drehte sich um und rief tränenerstickt: «Mami, Mami, Mami, ich habe dich so lieb.» Er öffnete die Tür und rannte hinaus.

Er läutete bei der Nachbarin einen Stock tiefer. Die alte Frau öffnete und nahm Michael in die Arme. Sie führte ihn ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa, hob ihn auf den Schoss. «Du darfst heute Nacht im Kinderzimmer schlafen.»

Die betagte Frau hatte vor vielen Jahren ihren einzigen Sohn durch einen tragischen Verkehrsunfall verloren. Ihr Junge war damals gerade fünf Jahre alt gewesen. Seitdem schliefen immer wieder kleine Kinder in diesem Zimmer.

Michael hörte Schreie, die Schreie seiner Mutter. Er drückte seinen Kopf an die Brust der alten Frau. Sie streichelte sein Haar und sagte: «Morgen wird wieder alles gut.»

* * *

Bei der Familie Moser war es Pflicht, an der Bundesfeier teilzunehmen. Oskar hätte sich nie getraut, nicht mitzugehen, obwohl er seit seinem Eintritt ins Lehrerseminar immer mehr am Sinn patriotischer Veranstaltungen zweifelte. Der Grund war sein Geschichtslehrer, der vieles in Frage stellte, was Oskar noch in der Sekundarschule erfahren hatte. Bei seinen Eltern kam das nicht gut an. Oskars Vater Theo sah sich als katholisch-konservativ, obwohl seine Partei seit vielen Jahren nicht mehr so hiess. Diesmal wollte die Familie nicht in der Heimatgemeinde Goldach feiern, sondern in Altstätten, wo Theos Bruder Pius die Festansprache halten durfte. Pius Moser war Multimillionär und Fabrikbesitzer im benachbarten Rorschach, Hauptmann der Panzertruppen und ledig. Er hatte mit seinem Neffen Oskar Grosses vor. Im Herzen war Pius Moser immer noch ein politischer Denker des 19.Jahrhunderts. Er wünschte sich, dass diese Tradition mit Oskar ihre Fortsetzung finden würde.

Nach der Rede Pius Mosers unterzogen sich die Festteilnehmer noch verschiedenen Darbietungen wie flotten Blechmusikmärschen, einem Jodlerchörli, dem Tanz des örtlichen Trachtenvereins, drei Alphornbläsern und dem ohrenbetäubenden Feuerwerk. Erst dann wurde vom Stadtrat zum Bankett in die noblen «Drei Könige» geladen. Links neben dem Festredner sass der Stadtpräsident, rechts Oskar. Hätte Pius Moser eine Frau gehabt, hätte sie diesen Platz eingenommen.

Beim Essen blieb der Teller von Oskars Onkel lange unberührt. Offensichtlich hatte er in seiner langen Ansprache noch vieles nicht loswerden können. Oskar ass zögernd, nicht weil ihn die Worte Pius Mosers gefesselt hätten, sondern weil ihm der Appetit fehlte.

3

Im Morgengrauen des 2.August fuhren mehrere Polizeiwagen beim «Bad Kobelwies» vor. Etwa dreissig Polizisten und vier Hunde entstiegen den Fahrzeugen. Das Kommando führte Leutnant Bernasconi. Er teilte jedem der vier Korporale eine Landkarte, ein Funkgerät, Kletterseile, Steigeisen und Grubenlampen zu. Dazu kam je ein Hundeführer mit seinem Tier. Die vier Gruppen setzten sich in Richtung Kristallhöhle in Marsch.

Der Milchmann beobachtete das Spektakel. Er erkundigte sich bei einem Polizisten, was denn los sei. Dieser zuckte mit den Schultern. Er wisse das auch nicht so recht, wahrscheinlich eine Übung.

Die Polizisten durchkämmten das felsige Gebiet rund um die Kristallhöhle den ganzen Tag, ohne dass die Bevölkerung von Kobelwies und dem benachbarten Kobelwald davon Notiz nahm.

Am Abend erstattete Bernasconi Gross Bericht. Er zeigte ihm eine Karte, darauf war ein Gebiet von etwa siebenhundert mal siebenhundert Meter abgesteckt, das durchsucht worden war. Von den verschwundenen Mädchen keine Spur. Doch etwas sei sonderbar: Das eiserne Eingangstor zur Kristallhöhle sei aufgebrochen gewesen.

Gross war nicht zufrieden. «Und? Was war in der Höhle?»

«Wenn eine Leiche dort gelegen hätte, hätten unsere Hunde sie aufgespürt.»

«Was ist mit Spuren, Blutresten?»

Bernasconi seufzte: «Das ist es ja. Die Höhle ist überall tropfnass. Da kann auch der beste Schweisshund nichts finden.»

Gross stützte den Kopf auf beide Hände und dachte nach. Das konnte gut und gerne eine Weile dauern, was Bernasconi jeweils nervte.

Nach fünf Minuten schaute Gross auf, zeigte mit dem Finger auf Bernasconi. «Was soll ich jetzt Meierhans sagen? Was? Sag mir verdammt noch mal, wie ich das diesem Kerl beibringen muss.»

«Wir brauchen mehr Mannen.»

«Mehr Mannen? Hast du nicht alle Tassen im Schrank? Es gibt noch andere Aufgaben der Polizei. In den laufenden zwei Fällen sind wir bis jetzt keinen Millimeter weitergekommen. Ich kann doch aus den beiden Mordkommissionen nicht wegen zwei ausgebüxten Gören Leute abziehen.»

«Du glaubst nicht an ein Verbrechen?»

Gross schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch. «Nein, glaub ich nicht. Für mich gibt es da zwei Möglichkeiten. Die beiden Mädchen sind über einen Felsen gestürzt –»

«Das kannst du vergessen. Dann hätten unsere Hunde sie gefunden. Ganz sicher.»

«So bleibt noch die zweite: Die beiden haben sich bei ihrer Wanderung im Alpstein verirrt und in einer leer stehenden Sennhütte vor einem heraufziehenden Gewitter Zuflucht gesucht. Nun warten sie ab, bis sie dort jemand findet.»

«Das glaube ich nicht», maulte Bernasconi.

Gross sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

«Ich habe da eine Idee. Wenn Meierhans auf eine intensivere Suche besteht, soll er mir Polizisten aus Innerrhoden herschaffen. Die Grenze liegt nicht weit von der Kristallhöhle. Falls tatsächlich ein Verbrechen stattgefunden hätte, könnte das ebenso gut dort geschehen sein.»

Bernasconi nickte. «Unter welchem Kommando?»

«Unter meinem natürlich, du wirst mein Unterhund sein.»

Eine leichte Röte überzog Bernasconis Gesicht, aber er sagte nichts darauf.

* * *

Am Dienstag suchte der Grossvater von Bruno und Ulrich den Polizeiposten von Oberriet auf. Dienst hatte Polizeikorporal Furgler, ein gross gewachsener, korpulenter Mittfünfziger mit einer Vollglatze. Von Weitem hätte man in ihm einen brutalen Boxer gesehen. Stand man ihm gegenüber, strahlten einen warme, gütige Augen an. Sie waren blau, ein bisschen wässrig. Obwohl er eine übergrosse Knollennase hatte, wirkte sein Gesicht nicht grob. Der Grossvater erzählte dem Polizisten, was seine Enkel am vergangenen Samstagabend beobachtet hatten.

Furgler fand das interessant und fragte nach, warum er erst jetzt auf den Posten komme. Der Grossvater wusste keine Antwort.

Furgler bat den Grossvater, mit den Enkeln wiederzukommen. Dieser machte einen schiefen Mund und fragte, ob denn das nötig sei. Ein klein wenig von oben herab, war er doch ein pensionierter Beamter der Kantonalbank, der sich weit über einem einfachen Dorfpolizisten wähnte.

Furgler erwiderte freundlich, aber bestimmt: «Ja.»

Es entstand eine kurze Pause. Der Grossvater ging davon aus, der Polizist werde seine Antwort entschuldigend begründen. Stattdessen sagte dieser: «Danke, ich erwarte Sie und Ihre Enkel …», er sah auf die Uhr, «… in etwa einer Dreiviertelstunde.» Mürrisch brummte der Grossvater etwas, das Furgler als Zustimmung interpretierte.

Anderthalb Stunden später hatte Furgler einen Bericht im Umfang einer A4-Seite auf seiner kleinen Hermes getippt. Auf diese Weise Texte zu verfassen machte ihm sichtlich Mühe, denn er hatte massige Finger, die einen an Bratwürste erinnerten. Er erwischte oft nicht den richtigen Buchstaben. Aber zum Glück gab es Tipp-Ex und bequeme Vervielfältigungsmaschinen. Zudem hatte die Kapo im letzten Jahr Fernkopierer eingeführt. Wenig später spuckte das Empfangsgerät im Klosterhof den Text auf Thermopapier aus.

Als Gross die Nachricht gelesen hatte, erhob er sich und ging raschen Schrittes in Bernasconis Büro. Das geschah selten, denn normalerweise liess er seinen Leutnant antraben. Dieser musste dann noch einige Minuten warten, bis er seinen Blick von den Akten löste und gelangweilt zum vor ihm stehenden Bernasconi aufschaute. Diesmal stand aber Gross, und Bernasconi sass.

Gross schlug mit dem noch warmen Papier seinem verblüfften Untergebenen rechts und links auf die Backe. «Diese verdammten Rheintaler. Warum erfahren wir das erst jetzt? Lies das durch und schick eine Streife nach Kobelwies und Kobelwald. Die sollen dort an jeder Haustür läuten, die Bewohner auf Herz und Nieren prüfen und ausquetschen. Ich will wissen, was dieses Gesindel beobachtet und uns verschwiegen hat.» Bernasconi sah drein, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte, er war nämlich selber Rheintaler.

Bernasconi unterliess es, Gross darauf hinzuweisen, dass er ihm ein solches Vorgehen bereits am Vortag vorgeschlagen hatte, allerdings nicht mit derart despektierlichen Worten.

* * *

Am Mittwochmorgen um sieben parkierte gleichzeitig ein Streifenwagen vor dem Schulhaus Kobelwald und vor dem «Bad Kobelwies». Je vier uniformierte Kantonspolizisten schwärmten aus und klopften sämtliche Häuser und Wohnungen der beiden Siedlungen ab. Gegen Mittag hatten sie umfangreiches Datenmaterial beisammen.

Diesmal verlangte Gross nicht einen detaillierten Bericht, sondern gab sich mit einem handgeschriebenen Aufnahmeprotokoll zufrieden. Von einem der Kripoleute forderte er allerdings eine mit Schreibmaschine verfasste Abschrift, da für ihn das Original nicht entzifferbar war.

Es war sehr heiss. Gross liess deshalb die Bürotür einen Spalt weit offen. Seine Flüche wurden im ganzen Gebäude wahrgenommen. Die Zeugenaussagen waren entweder widersprüchlich oder entbehrten häufig jeglicher Logik, waren Meinungsäusserungen statt Beobachtungen, kurzum: Allesamt waren sie wertlos.

Gross hätte das ja noch geschluckt, wenn ihm am späten Nachmittag nicht die Medien auf die Pelle gerückt wären. Die Umfrage in den beiden Weilern unterhalb der Kristallhöhle hatte offenbar einige Bewohner veranlasst, Zeitungen und Radiostationen darauf aufmerksam zu machen. Da sonst nicht allzu viel los war, konnte er sich ausmalen, wie das Verschwinden der beiden Mädchen für den Donnerstag die Schlagzeilen lieferte.

Um nicht weiter belästigt zu werden, entschloss er sich, seinen Arbeitsplatz frühzeitig zu verlassen. Das kam in letzter Zeit immer häufiger vor. Er ging aber nicht nach Hause, sondern besuchte zwielichtige Bars in der Altstadt. Nach zwei, drei Stunden löste sich seine Zunge, und er sprach mit Gästen, die er zufällig dort antraf, über das, was ihm als Kadermann der Kripo Verdruss bereitete. Diese Leute, es waren häufig Frauen aus dem Milieu, hingen ihm buchstäblich an den Lippen. Besonders schlecht kam dabei jeweils der Untersuchungsrichter weg. Unfähig sei der, ein Aufschneider, ein dämlicher Achtundsechziger, der glaube, jeden Gesetzesbrecher mit Glacéhandschuhen anfassen zu müssen.

Gross hatte schon einige Gläser intus. Er sprach über die beiden vermissten Mädchen. Nach den neuesten Erkenntnissen stehe für ihn fest, dass es sich da um ein Sexualverbrechen handle.

* * *

Untersuchungsrichter Urs Nabholz betrat am Donnerstagmorgen wie üblich um halb acht sein Büro. Auf dem Schreibtisch lag eine Tonbandkassette, daran klebte ein Zettel mit der handschriftlichen Notiz:

Hören Sie sich das einmal an.

Solche Sendungen waren für Nabholz nicht aussergewöhnlich. Der interne Postbote suchte jeweils am frühen Morgen die Arbeitsräume der Richter auf.

Nabholz spielte das Band ab, schmunzelte, legte es in seinen Tresor, zu dem nur er Zugang hatte.

* * *

Zwei Stunden später öffnete Gross die Tür zu seinem Büro. Er war in keinem guten Zustand, heftige Kopfschmerzen plagten ihn. Das war schon so, als er seine Wohnung verlassen hatte. Statt seinem Magen ein Morgenessen zu gönnen, musste er sich bereits nach dem Aufstehen mehrmals übergeben.

Was am Abend zuvor geschehen war, daran konnte er sich nur schlecht erinnern. Seinen Dienstwagen fand er auch nicht am gewohnten Platz in der Tiefgarage unter seiner Wohnung, er fand ihn überhaupt nicht. Wahrscheinlich hatte er ihn irgendwo in der Stadt stehen gelassen und sich mit einem Taxi nach Hause chauffieren lassen. Gross machte sich deswegen keine Gedanken.

Man kannte ja seine Gewohnheiten in den Spunten der Stadt. Spätestens wenn er von seinem Barhocker kippte, stellte eine wohlmeinende Barmaid seine Autoschlüssel sicher. Man war überhaupt nicht daran interessiert, ihn als Gast zu verlieren. Das wäre mit Sicherheit geschehen, hätte er voll verladen einen Unfall gebaut.

Missmutig warf Gross einen Blick auf seinen unaufgeräumten Schreibtisch. Er war noch unordentlicher, als er ihn am Vortag verlassen hatte. In der Zwischenzeit hatte der interne Postbote noch eine Reihe von Briefen und einen Stoss Zeitungen über die ausgestreuten Unterlagen geworfen. Dass ihm jemand Zeitungen brachte, das kam selten vor, nur dann, wenn darin etwas Besonderes über einen Fall stand, den er gerade bearbeitete. Gewöhnlich waren diese Presseberichte nicht gerade schmeichelhaft, heute ganz und gar nicht.

Schon vier Tage keine Spur von den verschwundenen Mädchen, und die Polizei tut nichts. Hilflose Kripo. Warum schaut die Polizei weg? Wann schlägt die Bestie erneut zu?

Diese Schlagzeilen waren in den Tageszeitungen der Region Ostschweiz zu lesen.

Das fand Gross überhaupt nicht lustig, im Gegensatz zu einigen seiner Untergebenen, die ihm die Medienschelte gönnten. Gross zermarterte sich sein Gehirn, wie er sich bei Meierhans herausreden könnte, falls dieser ihn in den nächsten Stunden mit einem Anruf beehrte, was er als möglich ansah. Seine Sumpftour vom Abend zuvor könnte vielleicht auch dem Landammann zu Ohren gekommen sein. Und was Gross ganz besonders beunruhigte: Der interne Postbote, der ihn ab und zu auf seinen Beizenkehren begleitete, sagte ihm etwas von einem Päckchen, das er Nabholz an diesem Morgen auf den Schreibtisch gelegt habe.

«Der Polizist, der es mir gegeben hatte, machte eine sonderbare Bemerkung. ‹Leg das auf die Postablage in Nabholz’ Büro. Es ist ein eindrückliches Dokument über Gross’ Auftritte von gestern Abend›.»

Gross verschüttete vor Schreck seinen Kaffee, den er eben vom Automaten geholt hatte.

Meierhans rief nicht an.

Dann war da noch Metzler, sein direkter Vorgesetzer, der seit Montag in den Ferien weilte. Dieser war erst seit drei Jahren bei der Kripo, Gross mehr als sieben. Die beiden hatten von Anfang an ein gespanntes Verhältnis zueinander. Der Einfluss des Kripochefs ging allerdings nicht so weit, dass er hätte bewirken können, Gross seines Postens zu entheben.

Gross hatte zwar Schwächen, aber auch Stärken. Seine Ausbildung an der Polizeischule hatte er als Klassenbester abgeschlossen. Er bildete sich zum Kriminalisten weiter, wurde bereits mit fünfundzwanzig Polizeioffizier. Es gelang ihm, die Täter mehrerer spektakulärer Verbrechen zu überführen. Er und sein Team brachten bereits ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt das Kunststück fertig, eine fünfköpfige Drogenbande aus Italien am Grenzübergang Oberriet dingfest zu machen. Dabei wurden fünfzig Kilogramm Heroin beschlagnahmt. Ein Jahr später klärte er einen in St.Gallen begangenen Doppelmord auf, der als Unfall getarnt worden war.

Diese Fahndungserfolge führten aber auch dazu, dass ihm viele im Polizeicorps mit Neid und Missgunst begegneten. Die Fehlschläge im Privatleben mochte man ihm von Herzen gönnen. Einige Kollegen hofften, seine Verfehlungen ausserhalb der Dienstzeit würden dazu führen, ihn in absehbarer Zeit zu entlassen.

4

Am Donnerstagabend trafen sich Arthur, Gustav und Oskar wieder im «Ybis» in Rorschach. Alle drei waren häufig dort. Sie wurden von den andern Gästen, dem Wirt und dem Servierpersonal auf eine sonderbare Weise bewundert. Besonders Arthur, der die aussergewöhnliche Gabe hatte, sich mit ganz einfachen wie mit hochgebildeten Menschen zu unterhalten. Auch Oskar und Gustav zogen respektvolle Blicke auf sich. Alle drei waren sie Absolventen des Lehrerseminars im Städtchen. An ihnen haftete aber auch ein zweifelhafter Ruf. Es war allgemein bekannt, dass sie Dinge drehten, die mit ihrem Beruf nicht zu vereinbaren waren.

An einer warmen Föhnnacht in diesem Juni zogen sie stockbetrunken grölend durch die Strassen Rorschachs. Eine Polizeipatrouille griff sie wegen Nachtruhestörung auf. Für den Rest der Nacht wurden alle drei in die Ausnüchterungszelle des örtlichen Polizeipostens gesperrt. Das hatte zu Folge, dass Arthur und Gustav am folgenden Morgen die ersten zwei Stunden ihres Unterrichts ausfallen lassen mussten. Oskar, der bei Arthur im Praktikumseinsatz war, schwänzte den ganzen Vormittag.

Ein Jahr zuvor hatten sie mit einer Schar junger Frauen in einer leer stehenden Wohnung in Goldach eine feuchtfröhliche Nacktparty gefeiert. Die Hausbewohner, belästigt durch den dabei verursachten Höllenlärm, avisierten die Polizei. Es kam zu einer Anzeige gegen Arthur, Gustav und Oskar. Beide Vorfälle gaben in Rorschach und Goldach zu reden. Nicht zuletzt deswegen, weil die drei, wo es nur ging, damit prahlten. Vielleicht war es gerade dieses Benehmen, das die Gäste vom «Ybis»– es waren häufig Menschen am Rande der Gesellschaft – faszinierte.

Arthur, Oskar und Gustav umgab eine geheimnisvolle Aura, die etwas Verschwörerisches an sich hatte, wenn sie zusammensassen und leise miteinander diskutierten. Das weckte natürlich die Neugier der andern. Sie versuchten, Gesprächsfetzen aufzuschnappen, um ein klein wenig zu erfahren, was wieder Aufregendes anstand. Niemandem im «Ybis» wäre es aber im Traum eingefallen, das Gehörte weiterzutragen, schon gar nicht bis auf den Polizeiposten. Die drei konnten sich in diesem Lokal sicher fühlen.

Gustav erkundigte sich bei Arthur, ob man die «Ware» wieder dorthin zurückbringen könne, wo man sie hergeholt habe. Er wolle die Angelegenheit endlich abschliessen, um wieder Ruhe zu finden.

«Du hast sie wohl nicht alle», wies ihn Arthur zurecht, «die werden noch einmal zurückkommen und die Gegend peinlich genau absuchen, mit noch viel mehr Leuten als beim ersten Mal. Wir lassen diese Sachen vorerst dort, wo wir sie zwischengelagert haben, im kühlen Nass.»

* * *

Ich erinnere mich noch immer an den Aufsatz, den ich über Gewissensbisse geschrieben hatte. Er schien meinen Deutschlehrer so richtig beeindruckt zu haben. Er hat mir dafür die Note «gut» gegeben. «Ausgezeichnet formuliert, spannend geschrieben, und doch mache ich mir jetzt noch mehr Sorgen über Ihre Eignung als angehender Pädagoge. In Ihrem Text steckt so viel Verachtung, so viel unterschwellige Brutalität, dass es mir heiss und kalt den Rücken hinunterläuft.» Er sagte mir das nicht vertraulich, sondern vor der ganzen Klasse. Ich nahm es ihm nicht übel. Im Gegenteil. Ich genoss die anerkennenden Blicke einiger Mitschüler und ganz besonders von zwei ausnehmend hübschen Mitschülerinnen.

* * *

Am selben Abend besuchte der Leiter der Polizeistation Goldach, Herbert Manser, die Tante und den Onkel von Elena Brüllhardt. Er habe leider immer noch keine Nachricht von ihrer Nichte und deren Freundin. Dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen seien, könne er nicht ausschliessen. Die Medien würden bereits schreiben, das sei sehr wahrscheinlich. Da habe er eine andere Meinung. Immer noch bestehe die Hoffnung, dass die beiden Mädchen plötzlich wieder auftauchten. Die Augen von Hedi Brüllhardt füllten sich mit Tränen. Ihr Mann blickte starr zu Boden. Manser erkundigte sich, ob er etwas für sie tun könne. Albert Brüllhardt schüttelte resigniert den Kopf. Seine Frau sah ihn nur fragend an.

Mit den Worten, er werde sofort von sich hören lassen, wenn er etwas Neues wisse, verliess Manser die Wohnung. Er wusste, dass Lydia Müller häufig im «Ybis» in Rorschach verkehrt hatte, wie viele Mädchen in ihrem Alter. Er beschloss, das Lokal aufzusuchen und sich bei den Gästen nach ihr zu erkundigen. Manser hatte häufig mit Leuten zu tun, die dort Gäste waren.

Als er das Lokal betrat, fielen ihm sofort drei junge Männer auf. Er schritt auf sie zu. Dabei bemerkte er, dass einer von ihnen blitzartig kreideweiss wurde. Manser fragte sich, ob der was zu verbergen hatte. «Wie heisst er denn, der junge Mann? Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor. Ich habe Sie schon in Goldach gesehen. Stimmt das?»

Der Angesprochene war Gustav. Er antwortete nicht, sondern zuckte lediglich mit den Augenlidern.

«Zeigen Sie mir bitte einen Ausweis. Führerausweis oder ID.»

Gustav nestelte fahrig in seiner Brieftasche und streckte ihm nach langem Suchen wortlos seinen Führerausweis entgegen.

Manser notierte seinen Namen und Vornamen. Er sah Gustav mit zusammengekniffenen Augen an und sagte: «Nervös, Herr Glanzmann? Warum, frage ich mich. Sie sind mir noch eine Antwort auf meine Frage schuldig. Was tun Sie in Goldach?»

«Ich unterrichte dort an der Oberstufe.»

Manser konnte seine Überraschung nicht verbergen. Dass er einen Lehrer vor sich hatte, hätte er nicht gedacht.

Er wandte sich von Gustav ab und bat Arthur um einen Ausweis. Arthur grinste ihm frech ins Gesicht. Das missfiel Manser. Ihm war klar, dass das kein Vergehen war, ebenso klar war ihm aber, dass er diesen Mann nicht mochte.

Arthur klaubte die Identitätskarte aus seinem Portemonnaie und streckte sie in die Luft. Er rief laut: «Leute, ein Bulle steht vor mir, ich muss mich ausweisen. All diejenigen von euch, die etwas auszufressen haben, sollten jetzt verduften.»

Etwa fünf Jungs verliessen fluchtartig das «Ybis».

Manser warf Arthur einen wütenden Blick zu.

«Warum sehen Sie mich so an, Herr Gefreiter? Habe ich etwa jetzt eine Straftat begangen?»

Dass Manser den Rang eines Wachtmeisters hatte, wusste Arthur genau. Als ehemaliger Armeeoffizier kannte er natürlich auch die Gradabzeichen bei der Polizei.

Als Manser die Angaben auf der ID notiert hatte, erkundigt er sich nach Arthurs Beschäftigung.

«Das geht Sie einen Dreck an.»

«Bürschen, passen Sie auf. Sie müssen mir zwar diese Frage nicht beantworten. Aber ich werde herausfinden, wo Sie angestellt sind.»

Manser ging zur Serviererin und fragte nach dem Wirt. Sie holte ihn aus der Küche.

«Grüss dich, Herbert, was führt dich denn in mein Lokal?»

Die beiden kannten sich schon von Jugend auf.

«Darf ich unter vier Augen mit dir reden?»

Manser, der erst seit Anfang Juli auf dem Posten in Goldach arbeitete, erfuhr vom Wirt einiges mehr, als ihm die jungen Kerle erzählt hatten. Dass die drei in letzter Zeit mehrmals durch unanständiges Benehmen aufgefallen waren. Dass auch Arthur Busch an der Schule Goldach unterrichtete, nahm er irritiert zur Kenntnis. Lehrer waren für Manser Respektspersonen. Die Männer, die er eben kontrollierte, waren das in seinen Augen aber eindeutig nicht.

Nach dem Gespräch mit dem Wirt ging Manser zu Arthur, Gustav und Oskar zurück.

Er sah alle drei der Reihe nach an. «Mich nähme wunder, an welcher Schule Sie Ihre Ausbildung als Lehrer absolviert haben.»

Arthur grinste Manser wieder unverschämt ins Gesicht und sagte: «Wir haben alle drei am Lehrerseminar Rorschach studiert.»

Manser nickte nachdenklich, dann verliess er grusslos das Lokal.

Arthur sagte zu seinen zwei Kumpeln: «Wir gehen noch auf einen Sprung an den See. Ich glaube, wir müssen uns ernsthaft unterhalten – ohne Zaungäste.»

* * *

Sie setzten sich auf eine Parkbank am Ufer. Arthur in der Mitte. Er zog Gustav unsanft am Ohr. «Du machst uns echt Schwierigkeiten. Du bist einfach nicht belastbar. Nimm dich das nächste Mal mehr zusammen. Hast du nicht realisiert, wie auffällig du dich gegenüber dem Bullen verhalten hast? Dabei warst du es, der uns in die Scheisse geritten hat.»

«Das sehe ich nicht so …»

«Mist bauen und uns andere hineinziehen … Kein Wort mehr, Gustav.»

Arthur fuhr nach einem Augenblick des Nachdenkens fort. «Wenn wir kaltes Blut bewahren, wird uns nichts passieren. Kann sein, dass einer von euch eine Vorladung bekommt. Dann gilt ein eisernes Prinzip: Schweigen. Auf gar keinen Fall dürfen die Namen der beiden andern zwei genannt werden. Wer das missachtet, wird es schwer bereuen.»

Arthur zog sein Sackmesser aus dem Hosensack, zog eine Klinge heraus und berührte damit die Gurgel von Gustav. «Hab ich mich klar ausgedrückt?»

Mit kaum vernehmbarer Stimme hauchte Gustav ein «Ja».

«Wir treffen uns genau in einer Woche zur gleichen Zeit im ‹Ybis›. Dann beratschlagen wir, was als Nächstes zu tun ist. In der Zwischenzeit wollen wir jeglichen Kontakt untereinander vermeiden. Es sei denn, einer von euch bekommt Besuch von der Polizei. Dann lasst es mich wissen. Ein Telefonanruf an die Serviertochter im ‹Ybis› genügt.» Arthur sagte das mit ruhiger, freundlicher Stimme.

«Und wenn einer von uns festgenommen wird?», fragte Oskar.

«Kein Problem: Ich werde jeden zweiten Tag um elf Uhr ein Telefon an deine Eltern, Oskar, und deine Freundin, Gustav, machen und nach euch fragen. Seht zu, dass dann keiner von euch zu Hause ist.»

* * *

Es war Freitag, sechs Tage her, seit Lydia und Elena vermisst wurden. Schlecht gelaunt betrat Gross um sieben Uhr sein Büro. Er erwartete immer noch einen Anruf von Meierhans oder Nabholz. Wenn Meierhans einen Mitarbeiter seines Departements anrief, tat er dies häufig um kurz nach sieben. Nicht immer war der Gesuchte zu dieser frühen Stunde am Arbeitsplatz. In einem solchen Fall telefonierte er nach fünf, zehn Minuten erneut. Das so lange, bis er den Untergebenen am Draht hatte und ihn darauf aufmerksam machte, dass tüchtige Leute bereits vor sieben mit ihrer Arbeit begännen.

Gross machte sich keine Illusionen. In dieser Woche war einiges schiefgelaufen, und ihm war klar, dass er dafür geradestehen musste. Er konnte zwar versuchen, die Schuld auf seine Untergebenen abzuwälzen. Aber Meierhans würde auf diese altbewährte Methode nicht hereinfallen.

Nach dem Mittagessen beschloss Gross, den Fall der beiden vermissten Mädchen selbst in die Hand zu nehmen. Er bestellte Bernasconi in sein Büro, um ihm seinen Plan zu eröffnen. Und diesen Plan gedachte er später Meierhans vorzuführen.

Es sollte die grösste Suchaktion werden, die der Kanton St.Gallen und die angrenzenden Gebiete je erlebt hatten. Etwas unterschlug Gross Bernasconi allerdings. Dass es nicht seine Idee war. Im Laufe der Morgens hatte Gross nämlich einen Telefonanruf des Gemeindeschreibers von Goldach erhalten. Dieser riet ihm, auch die Feuerwehren von Goldach sowie Oberriet für eine gross angelegte Suchaktion einzuspannen und auf zivile Organisationen zurückzugreifen, auf Hundeführer aus der Umgebung und Männer des Schweizerischen Vereins für Katastrophenhunde. Gross telefonierte wie ein Irrer im ganzen Kanton herum.

Am Mittag hatte er hundertzehn Feuerwehrleute, zweiundzwanzig Polizisten und elf Hundeführer mit ihren gut ausgebildeten Tieren zusammen. Auch das Militär machte mit: Es stellte einen Armeehelikopter mit Pilot zur Verfügung. Die Suche sollte am kommenden Mittwoch im Morgengrauen beginnen. Die Beteiligten durften erst einen Tag vor der Aktion davon wissen.

Gross fragte sich, weshalb der Gemeindeschreiber sich mit dieser Idee nicht direkt an Meierhans gewandt hatte, und wusste gleich die Antwort darauf. Der Gemeindeschreiber gehörte nicht derselben Partei an wie Meierhans.

Nun musste Gross nur noch Meierhans davon überzeugen. Gross zweifelte allerdings kaum daran, dass dies gelingen würde. Die Bevölkerung der ganzen Ostschweiz nahm mittlerweile am Schicksal der vermissten Mädchen Anteil. Die Regierung hätte ihren Kredit verspielt, würde sie sich einem solchen Vorhaben widersetzen.

Kaum hatte Gross Bernasconi in den Plan eingeweiht, liess er sich zu Meierhans durchstellen und bat ihn um einen Besprechungstermin in Sachen Lydia Müller und Elena Brüllhardt.

«Können wir das nicht telefonisch erledigen?», erkundigte sich Meierhans.

«Können wir nicht», sagte Gross mit Nachdruck.

«Also gut, melden Sie sich am Montagmorgen um halb sieben in meinem Büro. Danke, Gross.»

Der Summton erklang. Meierhans hatte nicht einmal den Abschiedsgruss von Gross abgewartet.

Wütend knallte Gross den Hörer auf die Gabel und brüllte: «Verdammtes Soziarschloch!» Er hatte erwartet, dass ihn Meierhans sofort in seinem Büro, das kaum hundert Schritte von seinem entfernt war, empfangen würde. Nun stellte er sich auf ein schlimmes Wochenende ein. Er war fast sicher, dass Meierhans seinen Plan genehmigen würde, fast sicher, aber eben nicht ganz. Gross hasste solche Situationen. Das Warten in Ungewissheit war ihm ein Gräuel. Auch ein Beizenkehr, der ihm hätte helfen können, die Zeit bis Montag zu überbrücken, lag nach dem Debakel vom vergangenen Mittwoch nicht mehr drin.

* * *

Untersuchungsrichter Urs Nabholz kam nicht umhin, sich mit dem Verschwinden der beiden Goldacher Mädchen zu befassen. Eigentlich hätte er das gerne aufgeschoben, denn ihm war klar, zuerst musste die Polizei den Tatbestand abklären. Doch die Leserbriefspalten überquollen von Beiträgen zum «Sexualverbrechen» bei der Kristallhöhle. Dass ein ausgewiesener Jurist erst von einem Mord oder einer Tötung sprechen durfte, wenn eine Leiche gefunden war oder handfeste Indizien für eine solche Tat vorlagen, spielte da eine untergeordnete Rolle. Massgebend war die Stimme des Volkes. Das hatte ihm sein Parteifreund Meierhans bereits am frühen Morgen in Erinnerung gerufen.

Dazu kam noch, dass Meierhans ihm nahelegte, der Kripo genau auf die Finger zu schauen. Dort funktioniere ziemlich viel mehr schlecht als recht. Nicht zuletzt dieser Gross sei ein Problem. Im Moment könne man leider nicht auf ihn verzichten.

Den ganzen Nachmittag vertiefte sich Nabholz in die Akten des Falls Lydia und Elena. Kopien davon hatte er von Meierhans bekommen. Vollständig waren sie mit Sicherheit nicht, denn Gross belieferte den Justizdirektor entgegen dessen Weisungen nur unvollständig mit Unterlagen. Nabholz kam zu folgendem Schluss: Sollten die Leichen nicht gefunden werden oder die verschwundenen Mädchen nicht mehr auftauchen, sei die Chance verschwindend klein, den Vorfall aufzuklären.

Kurz vor Feierabend rief er Meierhans an und teilte ihm mit, die Suche nach den Mädchen solle energischer vorangetrieben werden. Darunter verstehe er allerdings nicht bloss das Absuchen der Umgebung der Kristallhöhle nach Spuren, sondern auch das systematische Befragen von Leuten aus Kobelwald, Kobelwies und andern Siedlungen auf dem Gemeindegebiet Oberriet. Auch in Goldach und den umliegenden Regionen sollte man sich umhören. Nach seinen Erkenntnissen sei das bis jetzt nur unvollständig geschehen.