Der Blausee-Skandal - Peter Beutler - E-Book

Der Blausee-Skandal E-Book

Peter Beutler

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Beschreibung

Ein erschütternd wahrer Kriminalroman. Im Steinbruch Blausee-Mitholz wird ein schwer verletzter Umweltaktivist entdeckt, doch bevor Hilfe eintrifft, stirbt der Mann. Nikolaus Stucki, Fahnder der Kantonspolizeistation Frutigen, glaubt nicht an einen Unfall und lässt den Toten in die Berner Rechtsmedizin überführen. Am Folgetag wird Stucki suspendiert, der Obduktionsbericht bleibt unter Verschluss. Kurz darauf schwimmen Tausende tote Fische im Blausee. Stucki gräbt tiefer und stösst auf ein altes Bauprojekt, das bis heute seine dunklen Schatten wirft.

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Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg, einem kleinen Dorf am Fusse der Berner Alpen, aufgewachsen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer an einem Gymnasium in Luzern. Heute lebt er mit seiner Frau auf dem Beatenberg, hoch über dem Thunersee.

Dieses Buch ist ein Roman. Dennoch sind einige Personen nicht frei erfunden, sondern existieren wirklich. Ihre Handlungen basieren auf einem realen Hintergrund. Im Anhang befinden sich ein Rezept, ein Personenverzeichnis und ein Glossar.

© 2023 Emons Verlag GmbH

© 2023 Peter Beutler

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: stock.adobe.com/schame87

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Karte: «Reportagen», #67 November 2022

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-104-1

Originalausgabe

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Führte deponierter Altschotter zu Fischsterben im Blausee?

Umgeschriebene Transportscheine, betrogene Auftraggeber: Recherchen zeigen, wie eine Berner Transportfirma verschmutzte Abfälle oberhalb des Blausees entsorgte. Statt den Altschotter sachgemäss zu entsorgen, brachte man diesen zum viel günstigeren Steinbruch Mitholz und behauptete dort, dass der Abfall sauber sei. Das blieb unbemerkt – bis es im Blausee zu einem Forellensterben kam und die Besitzer der Fischzucht Nachforschungen anstellten.

Zürichsee-Zeitung, 18.01.2022

1

Am Montagmorgen, 4. Mai 2020, wanderte das Ehepaar Hadorn zum Steinbruch Blausee-Mitholz im Kandertal. Dort trafen die beiden auf einen schwer verletzten, stöhnenden alten Mann. Er war noch ansprechbar und wiederholte immer wieder die Worte: «Sie wollten mich umbringen.»

Eva Hadorn tippte die Notfallnummer in ihr Handy ein. Eine Viertelstunde später hörten sie die Sirene einer Ambulanz. Der alte Mann war inzwischen verstummt und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Das Rettungsfahrzeug konnte bis fünfzig Meter heranfahren. Zwei Sanitäter rannten zum Verletzten. Sie untersuchten ihn oberflächlich.

Einer der beiden schüttelte den Kopf. «Zu spät, der Mann ist tot.»

Der andere stapfte zu den Hadorns, die verdattert das Geschehen beobachteten. Er nahm ihre Personalien auf und sagte: «Wir konnten leider nichts mehr für den Verletzten tun. Sie werden in den nächsten Stunden einen Anruf der Polizei bekommen. Ihr Notruf wurde automatisch auch an sie weitergeleitet.»

Am frühen Nachmittag meldeten sich die Hadorns beim Polizeiposten Frutigen. Ein etwas in die Jahre gekommener Uniformierter empfing sie freundlich, stellte sich ihnen als Kriminalpolizist Niklaus Stucki vor und bat sie in einen Raum, den er Vernehmungszimmer nannte.

Dort wartete bereits ein zweiter, an einem Computer sitzender Polizist. Stucki erklärte, es sei der Protokollführer.

Alois Hadorn runzelte leicht die Stirn. «Dürfen wir im Nachhinein noch Änderungen anbringen?»

«Klar doch. Ist etwas vergessen gegangen oder fällt Ihnen etwas Zusätzliches ein, sind wir froh, wenn Sie das melden. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie genau das zu Protokoll geben, was Sie wirklich gesehen oder gehört haben. Sie sind zur Wahrheit verpflichtet. Diese Vernehmung ist eine Amtshandlung.»

Alois Hadorn nickte.

Stucki stellte Fragen und nahm die Antworten geduldig entgegen. Bisweilen fragte er nach. Etwa als Eva Hadorn schilderte, welche Verletzungen das Opfer aufgewiesen habe. Er habe blutende Wunden am Kopf gehabt.

«Wo waren diese Verletzungen?»

«Überall, am ganzen Schädel», erwiderte Alois Hadorn.

«Zwei grosse Wunden, eine am Scheitel, die andere am Hinterkopf», präzisierte Eva Hadorn.

«Sind Ihnen blutige Steine neben der Leiche aufgefallen?»

«Ja, ein spitzer Stein war besonders blutig. Ich gehe davon aus, dass der oder die Täter damit auf den Kopf des Opfers eingeschlagen haben.»

«Genau», sagte Stucki. Er zog aus dem Papierstoss, der neben ihm lag, ein Couvert hervor, öffnete es und entnahm ihm ein Foto. «Ist es dieser Stein?»

Eva Hadorn sah Stucki erstaunt an. «Ja, das ist er, gar keine Frage. Sie haben also selbst bereits den Tatort aufgesucht?»

«Ja, das tat ich als Erstes, als mir dieser Vorfall gemeldet wurde. Eine Frage hätte ich noch. Kannten Sie das Opfer? Sie wohnen in dieser Gegend, in der Gemeinde Kandergrund, oder?»

«Ich kannte das Opfer vom Sehen her. Der alte Mann lebte im Bäuert Innerkandergrund wie wir auch. Er hiess Gerhard Zurbuchen. Er ist vor etwa zwanzig Jahren in unser Dorf gezogen und war einige Jahre Lehrer an der Mittelstufe der Primarschule. Dann liess er sich frühpensionieren.»

«Warum denn?», erkundigte sich Stucki.

«Zurbuchen kam mit den Behörden nicht zurecht. Er war ein feingliedriger, sensibler Mensch, doch ging es um eine Herzensangelegenheit von ihm, konnte er hartnäckig sein. Das passte nicht zu einem konservativen Dorf, wie es Kandergrund noch heute ist. Aber offenbar hatte er genügend Vermögen, um sich einen vorzeitigen Ruhestand leisten zu können. Er lebte die ganze Zeit mit seiner Frau zusammen, die mindestens zehn Jahre jünger ist als er. Ob sie Kinder haben, weiss ich nicht.»

«Was hat Zurbuchen in seiner reich bemessenen freien Zeit unternommen?»

Eva Hadorn lachte. «Er war ein sogenannter Umweltaktivist. Das kam in unserer Gemeinde bei einer grossen Mehrheit nicht gut an. Uns hat das aber nicht gestört. Er war eine nette Person und überhaupt nicht aggressiv.»

«Beschreiben Sie bitte seine Aktivitäten.»

«Er schrieb hin und wieder Leserbriefe in den Lokalzeitungen. Sein Thema war die Verschmutzung des Steinbruchs durch die Abbauprodukte, die während des Baus des Lötschbergbahn-Basistunnels und der Sanierung des Scheitelbahntunnels anfielen.»

«Waren es nur Leserbriefe?»

«Nein. Er entnahm beim Steinbruch auch Proben. Er bohrte Löcher bis ins Grundwasser, schickte einige Milliliter davon einem Labor. Er sammelte auch festes Aushubmaterial und liess es an fachkundiger Stelle untersuchen. Die Resultate publizierte er in seinen Leserbriefen.»

«Wie reagierten die Leute auf seine Veröffentlichungen?»

«Tja, wenn ich ehrlich bin … man lachte darüber. Niemand schien Zurbuchen ernst zu nehmen.»

Nachdem Stucki alles gefragt hatte, was er von den Hadorns wissen wollte, machte er sich auf den Weg zum Staatsanwalt des Regionalgerichts in Thun.

Man liess ihn dort eine gute Stunde warten. Dann zitierte ihn ein mürrischer Mittfünfziger in sein nobles Büro. «Freiburghaus Ottmar, Anwalt des Staates Bern im Oberland, zuständig für das Kandertal», sagte er, während er sich setzte.

Auch Stucki stellte sich vor. Er sei im Kandertal im kleinen Dorf Blausee-Mitholz aufgewachsen, habe eine Lehre als Automechaniker gemacht, danach die Aufnahmeprüfung in die Polizeischule bestanden. Nach vier Jahren als Polizeisoldat auf dem Posten Kandersteg, den es heute nicht mehr gebe, sei er für den anspruchsvollen Kripo-Lehrgang vorgeschlagen worden. Nach der erfolgreichen Ausbildung habe man ihn zum Wachtmeister befördert, und er sei im Kanton herumgekommen. «Dann trat ich eine Stelle als Leiter der Kriminalabteilung in der Polizeiwache Frutigen an. Zwei Jahre zuvor hatte ich in Kandersteg ein Haus gekauft. Es gefiel mir dort, so verspürte ich keine Lust, nach Frutigen umzusiedeln. Es ist auch keine lange Reise von Kandersteg nach Frutigen. Wenn möglich, benutze ich dazu den Zug.»

«Was haben Sie auf dem Herzen?», fragte Freiburghaus gönnerhaft mit ausgebreiteten Armen.

«Ich melde ein Verbrechen an Leib und Leben.»

«Ach, und damit platzt der Frutiger Dorfpolizist einfach so in mein Büro? Sie müssen sich bei der Kriminalpolizei Thun melden.»

«Das stimmt so nicht. Auch ein einfacher Polizist darf sich im Kanton Bern direkt beim Staatsanwalt melden. Und ich bin, wie erwähnt, selbst als Kriminalist ausgebildet.»

Freiburghaus lächelte gequält. «Ich weiss, wer Sie sind. Ich weiss, weshalb Sie kommen. Das ist eine üble Geschichte, die uns schon seit Wochen auf dem Magen liegt. Die Deponie Mitholz und dieser Spinner Gerhard Zurbuchen. Dieser impertinente Schnüffler, der illegal Ermittlungen dort anstellt. Nun ist er dort abgestürzt. So etwas passiert halt.»

Stucki verschlug es für einen Moment die Sprache. Augenblicke später sagte er mit deutlicher Stimme: «Herr Staatsanwalt, ich stelle fest. Erstens: Es handelt sich hier nicht um eine Deponie. Es ist ein Steinbruch in einem Gewässerschutzgebiet. Zweitens: Gerhard Zurbuchen ist nicht abgestürzt, er wurde ermordet.»

Freiburghaus lachte laut. «Sieh mal einer an. Da kommt ein kleiner Kripo-Fritz daher und redet von Mord. Niemand wurde im Steinbruch umgebracht. Das war ein Unfall.»

Freiburghaus wartete nicht auf die Entgegnung von Stucki. «Waren Sie bereits am Unfallort?»

«Ja.»

«So ein Mist. Ich will doch hoffen, Sie haben nichts am Tatort … ähm, am Ort, wo Zurbuchen aufgefunden worden ist, entwendet.»

«Ich bitte Sie, Herr Staatsanwalt. Ein Spurensucher entwendet nichts, er stellt am Ort des Verbrechens Hinweise sicher.»

«Bringen Sie alles, was Sie aus dem Steinbruch mitgenommen haben, unverzüglich in mein Büro.»

«Wie Sie meinen. Meinetwegen. Dann verabschiede ich mich. Übrigens habe ich die gesicherten Spuren fotografiert und die Bilder weitergegeben. Sie sind alle an sicheren Orten verwahrt.»

Stucki begab sich nach dem Besuch in Thun zum Wohnort des Opfers nach Kandergrund. Er fuhr viel zu schnell und tappte in die Radarfalle.

Als Stucki im Hause Zurbuchen ankam, traf er eine in Tränen aufgelöste Frau. Sie sei unendlich traurig, sagte Paula, die Gattin von Gerhard Zurbuchen, aber habe auch Angst, dass man sie ebenfalls umbringe. Weniger wegen ihr selbst, vielmehr gehe es um ihre behinderte Tochter Linda, die in einem Heim lebe. Sie besuche Linda mehrmals in der Woche, und ihr Mann habe jeweils auch etwas mit Linda unternommen. Kleine Ausflüge in den Wald oder an Blumenwiesen. Obwohl das immer viel Zeit brauche, sei ihr Mann nie ungeduldig geworden. «Jetzt muss ich mich umso mehr um Linda kümmern.»

Ob es denn Anzeichen gebe, dass sie bedroht werde. Davon sei sie überzeugt. Kurz nachdem die Polizei sie aufgesucht habe, um sie über den Tod ihres Mannes zu informieren, habe ihr Telefon mehrfach geläutet. Die Anrufer hätten, ohne etwas zu sagen, eine Weile gewartet und danach aufgelegt. Offenbar wollten sie herausfinden, ob jemand ausser ihr im Hause sei.

Kurz bevor er, Stucki, sie aufgesucht habe, sei an ihrer Haustüre geklingelt worden. Eine tiefe Stimme habe gerufen: «Polizei, öffnen Sie die Türe.» Sie habe durch den Türspion gespäht und festgestellt, dass es sich um zwei Männer in Zivil handelte, und nicht geöffnet.

Stucki ergänzte: «Als ich mit meinem Polizeifahrzeug vor Ihrem Haus parkierte, rannten zwei Männer von hier auf die andere Strassenseite, stiegen in den dort stehenden Alfa Romeo. Am Steuer sass eine Frau, die, als die beiden auf den Hintersitzen Platz genommen hatten, in hohem Tempo davonfuhr.»

Stucki hielt einige Augenblicke inne, sagte dann: «Sie müssen Ihre Wohnung sofort verlassen. Ich bringe Sie an einen sicheren Ort.»

«Würde ich ja gerne. Aber in diesem Haus liegen eine ganze Menge Unterlagen über den Steinbruch Blausee-Mitholz.»

«Davon gehe ich aus. Wir werden diese Unterlagen sicherstellen und sie an einem geheimen Ort deponieren.» Stucki zog das Handy aus der Tasche und rief mehrere Personen an. Zehn Minuten später hielt ein Polizeifahrzeug vor dem Hause. Ihm entstiegen drei Polizisten. Frau Zurbuchen zeigte auf den Schrank mit den Unterlagen und öffnete ihn. Die Polizisten brachten die Dokumente in Stuckis Fahrzeug. Dann fuhren sie weg.

Stucki brachte Paula Zurbuchen in eine leer stehende Wohnung in der zweiten Etage eines dreistöckigen Hauses in Frutigen. Dort sei sie sicher. Die beiden Familien im ersten und dritten Stock kenne er. Sie seien vertrauenswürdig. Die Unterlagen bringe er persönlich in den Keller dieses Hauses.

Als Stucki am späten Nachmittag sein Büro betrat, erwartete ihn Michael Grunder, der Chef der Wache in Frutigen. «Niklaus, wir haben ein Problem. Vom Kommandanten der Kantonspolizei habe ich eben die Anweisung erhalten, dich freizustellen. Doch zuerst möchte ich von dir persönlich erfahren, was du heute gemacht hast.»

Stucki erzählte.

«Wenn das so ist, und ich zweifle nicht daran, dass du die Wahrheit sagst, kann dir niemand einen Vorwurf machen. Ich hätte genauso gehandelt. Trotzdem muss ich der Anweisung meines Vorgesetzten nachkommen. Ich bitte dich, mir deine Dienstpistole auszuhändigen und nach Hause zu gehen. Du erhältst weiterhin den Lohn. Das Verfahren gegen dich dürfte mehrere Monate dauern.»

Stucki rang nach Worten. «Was geschieht jetzt mit Frau Zurbuchen?»

«Sie kann dort, wo du sie hingebracht hast, bleiben. Du darfst weiterhin mit ihr kommunizieren. Niemand von uns wird dich daran hindern, privat weiterzuermitteln. Du tust das aber in eigener Verantwortung. Und dir ist bewusst, dass das nicht legal ist.»

«Ganz herzlichen Dank.»

***

Stucki hatte die neue Situation abends noch mit seiner Frau Odette besprochen. Sie ermutigte ihn, weiterzuermitteln. Er hatte nichts anderes erwartet.

Einen Tag später machte er einen Besuch im Haus in Frutigen, wo Paula Zurbuchen untergebracht war. Stucki verriet ihr aber nicht, dass er nun als Privatperson hier sei, und hoffte, dass ihr seine Zivilkleidung nicht auffiel. Er fragte sie stattdessen, ob er Einsicht nehmen dürfe in die Unterlagen über den Steinbruch. Sie hatte nichts dagegen.

Stucki verbrachte den ganzen Vormittag im Keller. Er hatte einen Kopierer mitgebracht, um zur Sicherheit von den wichtigsten Dokumenten eine Kopie mit nach Hause zu nehmen. Er stiess auf Berichte über schier unglaubliche Geschehnisse, und Paula Zurbuchen erzählte ihm beim Kaffee von einem Ausflug.

Am Dienstag der letzten Aprilwoche 2020 hatten Gerhard und Paula Zurbuchen nach dem Einnachten den Steinbruch aufgesucht. Sie gingen über einen steilen Weg durch ein Wäldchen. Um nicht beobachtet zu werden, mieden sie die Fahrstrasse. Ein Nachbar hatte sie darauf hingewiesen, dass zur Nachtzeit immer wieder mit Schutt beladene Lastwagen dorthin fuhren. Das war nicht legal. In der Schweiz gilt für Lastwagen ein Nachtfahrverbot von zweiundzwanzig bis fünf Uhr in der Früh sowie ein Sonntagsfahrverbot.

Zunächst geschah nichts. Dann, kurz vor Mitternacht, blitzten Scheinwerfer auf. Paula und Gerhard Zurbuchen erschraken und duckten sich ins Gebüsch. Schwere Fahrzeuge der Berner Baufirma Marquardt trafen auf einem Umschlagplatz vor einem Loch, halb gefüllt mit schmutzigen Felsbrocken und anderem Unrat, ein. Sie kippten ihre Last in die Grube. Danach fuhren die Lastwagen wieder davon, das Tal hinauf. Das Prozedere wiederholte sich bis zur Morgendämmerung. Mindestens fünfzig Fahrzeuge entluden ihren Schotter.

Nach Tagesanbruch sammelten die Zurbuchens einige Kilogramm von diesem Schutt, um ihn genauer anzusehen und untersuchen zu lassen. Der Verdacht: Beim «entsorgten» Material dürfte es sich um den hochtoxischen Altschotter von der laufenden Sanierung des Lötschbergbahn-Scheiteltunnels handeln.

Stucki erinnerte sich an die Diskussionen um den Scheiteltunnel: Die Autoverbände verlangten nach der Fertigstellung des Lötschberg-Basistunnels für die Bahn, die Bergstrecke einzustellen und den ihrer Ansicht nach obsolet gewordenen Scheiteltunnel zu einem Autotunnel umzubauen. Diese Forderung wurde von den Parlamenten und Regierungen der betroffenen Kantone Bern und Wallis abgelehnt. Man entschied sich für die Sanierung des Tunnels, weil die Bergstrecke von Frutigen bis Brig nach der Eröffnung des Basistunnels entgegen allen Voraussagen immer noch rege benutzt wurde. Um den Betrieb weiterführen zu können, musste das mehr als hundertjährige Trasse aber den heutigen Anforderungen angepasst werden. Statt Schotter und Holzschwellen war dafür eine Unterlage mit Schwellen aus Beton vorgesehen.

Stucki zählte eins und eins zusammen und verstand Gerhard Zurbuchens Verdacht. Er wandte sich wieder der Erzählung von Paula Zurbuchen zu.

Den gesammelten steinigen Müll hatten die Zurbuchens zusammen mit Wasserproben von Tümpeln in der Grube zur Analyse dem Labor Bachema in Schlieren geschickt. Bereits am Freitag kam ein Telefonat des Laborleiters. «Gehen Sie unverzüglich zur Polizei, Herr Zurbuchen. Die Grenzwerte von Schwermetallen, giftigen Teerstoffen und Arsen sind massiv überschritten.»

Doch Zurbuchen widerstrebte es, zur Polizei zu gehen. Das hatte er schon öfter getan, auf die Posten Frutigen und Spiez. Danach geschah nie etwas. Er erinnerte sich an das AWA, das Amt für Wasser und Abfall, das zuständig war für die Untersuchungen solcher Übertretungen. Nicht mit einem guten Gefühl. Rund zwei Jahrzehnte zuvor hatte er schlechte Erfahrungen mit dem AWA gemacht. Doch diesmal, so war sein Eindruck, schien man ihn ernst zu nehmen. Er wurde mit einem Mann verbunden, der sich als Experte für Giftstoffe ausgab. Zurbuchen erkundigte sich nach dessen Namen, bekam aber zur Antwort, diesen brauche er nicht zu wissen, für die Mitarbeiter des AWA gelte Schweigepflicht.

Dieser Mann erkundigte sich detailliert über die Aktivitäten von Zurbuchen im Steinbruch. Zurbuchen gab alles preis, im Glauben, endlich würde etwas geschehen. Das Ehepaar war über diese Reaktion so erfreut, dass es beschloss, sich ein gutes Nachtessen in einem feinen Restaurant in Kandersteg zu gönnen.

Stucki legte ein Mäppchen zu den Unterlagen mit folgenden Vermerken von Zurbuchen, der sich bezüglich Umweltschutzes weitergebildet hatte, wie Paula Zurbuchen ihm erklärte.

Alter Gleisschotter ist problematisch. Er enthält Abrieb von Fahrwerk und Bremsen, Asbest und Schwermetalle, dazu toxische Rückstände aus Waggon-Leckagen und Teersubstanzen, PAK. Unter PAK versteht man polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe.

Wo immer organisches Material verbrannt wird, etwa beim Rauchen, beim Autofahren oder beim Grillieren von Würsten oder Koteletts, entstehen PAK. Aber auch beim Erdölraffinieren fallen PAK als unerwünschte Nebenprodukte an. Sie gelangen in die Umwelt. PAK sind krebserregend. Wie viele PAK bei grösseren Anlagen freigesetzt werden dürfen, wird durch verschiedene Gesetze vorgeschrieben.

Das grosse Hartschotterwerk in Blausee-Mitholz, betrieben von der Firma Villard, ist eine solche Anlage.

Die heute gängige Methode beim Tunnelbau ist das Heraussprengen von Felsmaterial. Die BLS Alptransit AG setzt zu diesem Zweck Flüssigsprengstoff ein. Dabei fallen äusserst giftige Restbestände und Verbrennungsprodukte an. Sie haben sich mit Altschotter vermischt und sind vom illegalen Ablagerungsort in das Grundwasser gelangt.

Wo fliesst dieses Grundwasser hin? Der grösste Teil direkt in die Kander. Ein Teil vielleicht in den Blausee, von dort früher oder später auch in die Kander.

Zusammengefasst: Der Verdacht ist naheliegend, dass gewaltige Mengen mit Sprengstoffrückständen kontaminierten Tunnelausbruchs zusammen mit hochgiftigen Schlämmen und Baustellenmaterial im Kandertal verscharrt wurden und immer noch werden. Somit liegen am Fusse von Eiger, Mönch und Jungfrau Millionen von Tonnen durch gefährliche Gifte verschmutztes Material.

Das ist ein krasser Fall von Umweltkriminalität. Hatten die Behörden nicht schon seit 2010 Kenntnis von diesen Machenschaften? Vielleicht schon früher.

In den Unterlagen fand Stucki einen Leserbrief von Zurbuchen, ausgeschnitten aus einer Lokalzeitung, wo ein diesbezüglicher Vorfall detailliert geschildert wurde.

Illegale Entsorgung?

Ein Berner Transportunternehmen hatte den Auftrag einer Baufirma, Pressschlamm und Altschotter aus dem Scheiteltunnel in der Sonderdeponie Attisholz auf dem Gemeindegebiet Flumenthal im Kanton Solothurn zu entsorgen. Unterwegs sind aber Ziel und Deklaration der Ladung geändert worden. Der Grund dafür soll Kostendruck gewesen sein. Eine Lkw-Ladung der genannten Stoffe in Attisholz zu entsorgen, hätte sechshundert Franken gekostet, während dieselbe Menge im Steinbruch Blausee-Mitholz abzuladen, nur mit dreihundert Franken zu Buche schlug. Und die Differenz? Angeblich habe sie das Transportunternehmen eingestrichen.

Hat die Firma Marquardt im Auftrag der Bahngesellschaft BLS Alptransit AG aus dem oberen Lötschbergtunnel seit circa 2010 belasteten Altschotter und teilweise auch Betonschlamm illegal nach Blausee-Mitholz transportieren lassen? Diese Materialien gehören auf vorgeschriebene Deponien des Typs «Betonschlamm» oder müssen zum Teil sogar auf einer «Reaktordeponie» gelagert werden. Eine Reaktordeponie ist eine Deponie für Abfälle, die aufgrund ihrer Zusammensetzung noch biologisch, chemisch oder physikalisch reagieren. Der Steinbruch Blausee-Mitholz ist keine Deponie, im Gegenteil, er liegt in einer Gewässerschutzzone, einem sensiblen Grundwassergebiet.

Für Stucki gab es keine Zweifel mehr. Es ging um gravierende Umweltverstösse. Doch Leserbriefe aus Zeitungsarchiven taugten nicht als Beweise. Er beschloss, dieser Sache nachzugehen.

***

In der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch schlich er selbst zum Steinbruch. Genau wie Paula Zurbuchen ihren Ausflug beschrieben hatte, beobachtete Stucki gegen Mitternacht Dutzende von Lastwagen, die Altschotter in einer Kiesgrube des Steinbruchs Blausee-Mitholz entsorgten. Er fand auch heraus, welche Transportfirma aktiv war. Er erkannte in der Führerkabine eines dieser Fahrzeuge den Chauffeur: Manfred Gertsch, der in Frutigen wohnte und aus seinem Bekanntenkreis stammte.

Am Mittwochmorgen läutete Stucki bei Gertsch. Es dauerte eine Weile, bis er öffnete. Schlaftrunken und nicht gut aufgelegt musterte er Stucki. «Was machst du hier? Willst du mich etwa verhaften?» Bitter lachend fügte er an: «Könnte sein, dass du das tatsächlich tun musst. Du sprichst wohl meine Transporte von gestern an. Wer verdammt hat mich verpfiffen?»

«Es ist so, Manfred. Ich war letzte Nacht im Steinbruch. Was ich beobachtet habe, ist ungeheuerlich.»

«Du weisst aber, dass ich einem Auftrag meines Arbeitgebers, der Transporte Estermann Kandersteg AG, nachgekommen bin.»

«Daran zweifle ich nicht. Du bist das Werkzeug von kriminellen Unternehmen. Ist dir das bewusst?»

«Ja, sehr wohl. Und nach allem, was ich so höre, mache ich mir keine Illusionen, dass ein Teil der Justiz und der Polizei, aber auch Regierungsmitglieder unseres Kantons mit den betrügerischen Unternehmen gemeinsame Sache machen. Ich habe meine Konsequenzen gezogen. Ich habe gekündigt und bereits eine neue Arbeitsstelle. Mitte Mai beginne ich bei der Bus AG Steffisburg-Thun-Interlaken. Ich habe mich schon lange darauf vorbereitet. Vor drei Monaten habe ich die Carprüfung erfolgreich bestanden. Ich bin der Meinung, dass es sich bei der ‹STI› um eine seriöse Firma der öffentlichen Hand handelt.»

«Das will ich doch hoffen. Ich denke nicht daran, dir Schwierigkeiten zu machen. Ich erwarte allerdings von dir, dass du ab sofort mit mir zusammenarbeitest.»

Stucki unterrichtete Gertsch über seine Freistellung. Und Gertsch stellte sich sofort auf die Seite von Stucki.

«Das mit der Freistellung habe ich dir nicht verraten, wenn du danach gefragt wirst.»

«Klar doch. Für mich bist du immer noch der Polizist, solange das mit der Freistellung nicht öffentlich kommuniziert wird.» Gertsch runzelte leicht die Stirn. «Was verstehst du unter Zusammenarbeit?»

«Vorweg: Du darfst natürlich zu meinen Vorschlägen Nein sagen. Ich würde gerne heute Abend, falls du wieder solche Transporte ausführst, heimlich mit dir fahren. Denkst du, das wäre möglich?»

«Du hast Glück, ich bin heute Abend auch dabei. Ich habe da eine Idee. Du legst dich einfach auf die Bank hinter dem Fahrersitz. Dort sieht man dich nicht von aussen. Andererseits kriegst du von dort aus das meiste von dem, was um das Fahrzeug geschieht, mit. Du steigst aber besser nicht am Startort unmittelbar vor dem Tunnel ein. Nach der Durchfahrt von Kandersteg gibt es eine Stelle, wo du ungesehen einsteigen kannst. Der nächste Lastwagen wird zehn Minuten nach meinem abfahren. Kolonnen von schweren Fahrzeugen würden auffallen, was von den Auftraggebern nicht erwünscht ist. Du darfst mit deinem Handy alles aufnehmen. Tue das auch. Vorzugsweise die Gespräche mit dem Sicherheitsmann, der uns anderthalb Kilometer vor der Verzweigung zum Steinbruch aufhalten wird. Er wird mir neue Frachtpapiere aushändigen, die alten zerreissen und in einen Abfallcontainer werfen.»

«Ich glaub’s nicht. Dann könnte ich sie im Morgengrauen, wenn die gesamte Aktion vorüber ist, dort wieder herausfischen?»

«Natürlich. Das erwarte ich von dir.»

Kurz vor Mitternacht wartete Stucki am vereinbarten Standort. Er stieg in den Lastwagen zu Gertsch ein und legte sich bäuchlings auf die Hinterbank. Nach einer Fahrt von zehn Minuten bog der Lastwagen in eine Ausbuchtung der Strasse. Ein Mann in einer Uniform öffnete die Tür, drückte Gertsch wortlos ein Papier in die Hand und sagte: «Geben Sie mir den alten Transportschein.»

Stucki sah, wie der Mann ihn mehrmals faltete, entzweiriss, um ihn, wie Gertsch vorausgesagt hatte, in den Abfall zu werfen.

«Danke. Ist alles in Ordnung? Noch Fragen?»

«Kein Problem. Alles läuft wie am Schnürchen», antwortete Gertsch.

Der Sicherheitsmann machte eine Handbewegung, die als Aufforderung wirkte, nun zügig weiterzufahren. Der ganze Unterbruch hatte kaum eine Minute gedauert.

Gertsch entsorgte den Altschotter im Steinbruch, fuhr wieder zurück nach Kandersteg. Vor dem Dorf verliess Stucki diskret das Fahrzeug, um eine halbe Stunde später wieder in den talabwärts fahrenden Lastwagen einzusteigen. Stucki wurde so Zeuge von vier illegalen Transporten und konnte das auch belegen. Er hatte ausreichend Bilder und sogar Videos davon aufgenommen. Und er hatte weitere Informationen von Gertsch erhalten. Beteiligt waren mehrere kleinere Transportfirmen, deren Fahrten alle von der Transporte Estermann Kandersteg AG kontrolliert wurden.

Dass die Baufirma Marquardt hinter dem Umschreiben der «Frachtbriefe» stand, dafür gab es allerdings keine Belege. Das konnte Stucki lediglich vermuten. Die Transporteure wären kaum in der Lage gewesen, derartige Mengen toxischen Tunnelaushubs innert nützlicher Frist in den Kanton Solothurn zu transportieren. So aber strichen sie für dieses kriminelle Bravourstück satte Gewinne ein, und der hauptverantwortliche Bauriese war den Giftmüll in kurzer Zeit los.

Dass während des Fahrverbots in der Nacht Dutzende von schweren Lastwagen durch einen Touristenort fuhren, und das während vieler Monate, hätte mindestens der Polizei auffallen müssen. Sicher hatten sich Anwohnerinnen und Anwohner beschwert. Doch die Fahrzeuge wurden nicht aufgehalten.

Nach Stuckis Informationen ging die Polizei davon aus, dass es sich um legale Sondertransporte handelte, die aus logistischen Gründen in der Nacht durchgeführt werden mussten. Der Tunnelaushub musste rechtzeitig weggeschafft werden. Aber was wusste man «weiter oben»? Was wusste das Kommando der Kantonspolizei, die Justiz, die politische Führung?

Stucki hatte lange einfach seinen Job gemacht. Jetzt begann er das alles zu hinterfragen. Warum dauerte es so lange, bis diese sträflichen Machenschaften ans Tageslicht kamen? Ans Tageslicht? Man wusste auch jetzt noch längst nicht alles.

***

Nach dieser durchwachten Nacht war Stucki zum Umfallen müde. Bevor er sich in seinem Haus in Kandersteg hinlegte, warf er einen Blick in die Lokalzeitung.

Da stach ihm auf der dritten Seite ein Artikel ins Auge, der ihn aufschreckte.

Familiendrama in Mitholz, Kandergrund

Gestern Vormittag kaufte Frau F. mit vier ihrer minderjährigen Kinder in Frutigen ein. Im Coop brach sie plötzlich zusammen. Das Personal reagierte rasch. Während die Ambulanz mit Frau F. mit Martinshorn und Blaulicht Richtung Spital raste, kümmerten sich die Verkäuferinnen um die Kinder.

Unser Lokaljournalist A. M. war zufällig im Coop und hatte den Vorfall beobachtet. Er begab sich ins Spital und fragte nach, wie es der Frau gehe. Man verweigerte ihm zunächst eine Auskunft, bis er durch ein Hintertürchen erfuhr, dass die Frau lebensgefährlich erkrankt sei. Nein, einen Herzanfall habe sie nicht. Es sei eine gefährliche Krankheit, an der sie wohl schon seit ein, zwei Jahren leide. Ob sie denn in ärztlicher Behandlung sei? Nein, sie sei deswegen nicht in ärztlicher Behandlung gewesen.

Da unser Mitarbeiter aus Mitholz stammt, wusste er nach den vagen Angaben bald, um wen es sich bei Frau F. handelte.

Sie ist die Mutter einer neunköpfigen Kleinbauernfamilie. A. M. fuhr nach Mitholz zu ihrem kleinen Gehöft. Er informierte dort Herrn F., ihren Mann. Dieser begann zu schluchzen. A. M. war klar, der Mann brauchte Hilfe. A. M. bot ihm an, ihn zu seiner Frau ins Bezirksspital Frutigen zu fahren. Herr F. stimmte zu, meinte aber, zuerst müsse er sich um seine Kinder kümmern. Die drei grösseren machten einen ausgemergelten Eindruck, sie waren käsebleich.

Die Menschen von Mitholz halten zusammen, das weiss unser Mitarbeiter. Nach einer halben Stunde waren die Kinder in der Obhut einer Nachbarsfamilie.

Auf der Fahrt nach Frutigen erkundigte sich A. M. bei Herrn F., ob er über den Zusammenbruch seiner Frau und den Besuch bei ihm in der Zeitung berichten dürfe.

Das dürfe er, sagte Herr F., er sei froh, wenn die Leute im Dorf und in der Umgebung über diese Gesundheitsprobleme informiert würden. Sie seien nicht die Einzigen …

Stucki war besorgt. Das Heimetli der Familie F. lag zwischen dem Steinbruch und der Siedlung Blausee-Mitholz. Es bezog das Wasser von einer Quelle aus dem Steinbruch. War die Ursache der Krankheit, die die Familie heimgesucht hatte, das kontaminierte Wasser? Und vor allem: Gab es noch andere Menschen, die ihr Wasser aus Quellen beim Steinbruch bezogen?

Zwei Stunden Schlaf musste sich Stucki nun aber gönnen. Dann rief er den Lokaljournalisten Anton Muff an und vereinbarte ein Treffen mit ihm.

Als Stucki um elf Uhr von seiner Frau geweckt wurde, hatte er einiges vor. Er brachte Wasserproben, die er in der Nacht dem Steinbruch an mehreren Stellen entnommen hatte, in ein Labor in Thun. Mit dessen Leiter, Dr. Brügger, einem Chemiker, war er bestens bekannt. Er informierte ihn darüber, was ihm im Steinbruch widerfahren war. Brügger war an der Sache sehr interessiert und bot Stucki an, eine Schnellanalyse zu machen. Nach einer Stunde habe er die Ergebnisse.

Die Resultate der Untersuchungen waren eindeutig. Asbest und Schwermetalle, dazu toxische Rückstände aus Abriebschlamm von Tunnelwänden und PAK, also hochgefährliche polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe.

«Dieses Wasser ist giftig für Menschen, Tiere und alle anderen Lebewesen. Es darf nicht in die Kander gelangen und auf gar keinen Fall in einen unterirdischen See», kommentierte Brügger.

«Was schlägst du vor?»

«Gar keine Frage. Der Giftmüll muss aus dem Steinbruch verschwinden, besser heute als morgen. Und … man müsste das Trinkwasser in den Gemeinden unterhalb von Mitholz untersuchen, das in Frutigen und Ringgenberg. Nicht bloss mit einer zufällig abgezweigten Probe, sondern über einen längeren Zeitraum.»

Stucki lachte. «Du glaubst doch nicht, dass die Behörden das anordnen. Es käme einem Schuldgeständnis gleich. Viele würden sich fragen: Weshalb habt ihr diese Massnahme nicht schon längst ergriffen? Es gibt genügend Hinweise, die belegen, dass die Umweltbehörden in Bern sehr wohl informiert waren, dass toxischer Tunnelaushub auf illegale Weise in Blausee-Mitholz entsorgt wurde. Ich verweise nur auf meine Recherchen, die ich dir mitgebracht habe.»

«Ich werde die Unterlagen durchlesen. Ich denke, du hast mit deiner Annahme recht. Eine dreiste Umweltkriminalität unter Mithilfe der zuständigen Fachpersonen in den Ämtern. Von oben bis unten. Aber man muss jetzt etwas dagegen tun. Man muss über die Medien die Bevölkerung davor warnen, solches Trinkwasser zu verwenden.»

«Das sehe ich so wie du. In zwei Stunden habe ich eine Besprechung mit einem Journalisten. Im ‹Kandertaler› findest du heute einen Artikel von ihm. Dir werden die Haare zu Berge stehen.»

Stucki fuhr von Thun aus direkt zum Journalisten Anton Muff in die Redaktion des «Kandertalers». Als Erstes überreichte er Muff die schriftlich festgehaltenen Ergebnisse des Labors Thun. Im vorgängigen Telefonat hatte er ihm das Wesentliche über die «Recherchen» im Steinbruch erzählt, auch über die Unterlagen des zu Tode gekommenen Gerhard Zurbuchen informierte Stucki Muff. Er verschwieg nicht, dass er im Polizeiposten Frutigen freigestellt worden war, und bat Muff, deswegen seinen Namen nicht zu erwähnen, sehr wohl aber die Informationen.

Mit Genugtuung nahm Stucki zur Kenntnis, dass Muff ihn bestärkte, so weiterzufahren. Er sei empört, sagte Muff, dass im Steinbruch dermassen kriminelle Sauereien abgingen und es den Anschein mache, dass es so weiterlaufe.

Das tragische Schicksal der Familie F. sehe er nach diesen Mitteilungen mit anderen Augen. Die Familie sei wohl Opfer dieser Verbrechen, doch er befürchte, dass noch weit mehr Menschen, aber auch Tiere, Pflanzen und Gewässer in Mitholz und im unteren Kandertal davon betroffen seien.

«Ich kann einen Artikel darüber schreiben, aber das allein genügt nicht», sagte Muff mit einem Seufzer. «Was könnten wir noch tun?»

Stucki hatte eine Idee. «Wir sollten zum Heimetli der Familie F. fahren und dort Proben des Brunnenwassers entnehmen. Damit fahren wir wiederum nach Thun ins Labor und lassen sie untersuchen. Auch Dr. Brügger ist es ein Anliegen, die kriminellen Handlungen in Blausee-Mitholz sofort zu stoppen.»

«Ob das der Familie F. noch etwas bringt? Im Vertrauen informiere ich Sie jetzt, an welcher Krankheit Frau F. leidet. Sie hat einen Tumor in der Speiseröhre mit Metastasen im Unterkörper. Sie dürfte diesen Krebs schwerlich überleben. Diesen Bescheid erhielt ich nicht etwa von ihren Ärzten, sondern von ihr selbst. Sie vertraute mir auch an, dass ihr Mann jetzt ebenfalls untersucht wurde. Der Befund: Man hat toxische Stoffe in seinem Blut gefunden. Doch selbstverständlich unterstütze ich Ihren Vorschlag, im Heimetli der Familie F. Wasserproben zu nehmen und diese untersuchen zu lassen.»

«Danke, Herr Muff, fahren wir gleich los. Die Fahrt zum Steinbruch dauert circa zwanzig Minuten, für die Probeentnahme müssen wir zehn Minuten rechnen. Eine Probe am Brunnen vor dem Haus, die andere im Haus. Aber wir haben keinen Schlüssel …»

«Den brauchen wir nicht. Wir haben ein offenes Haus. Alle können anklopfen und eintreten.»

Als Muff und Stucki Wasser vom Brunnen in eine Flasche abfüllten, fielen ihnen eine Trübung und ein eigenartiger Geruch auf. Vom Hahn in der Küche schien das Wasser etwas sauberer zu sein, doch als sie durch die Flasche schauten, war ebenfalls eine leichte Trübung bemerkbar. Es roch ähnlich wie am Brunnen, aber weniger penetrant.

In Thun empfing sie Dr. Brügger am Eingang des Labors. Ihn beschäftige die Wasserqualität unterhalb des Steinbruchs Blausee-Mitholz sehr. Hätte er diese Proben nicht selbst untersucht, würde er die Messresultate anzweifeln. Er sei nun gespannt, wie die Analysen des Wassers aus dem Heimetli in Mitholz ausfielen.

Dr. Brügger sah sich die Flaschen mit den Proben an, dann öffnete er sie und roch daran. «Machen Sie sich auf etwas gefasst. Mir schwant nichts Gutes», bemerkte er mit leiser Stimme.

Nach einer halben Stunde druckte das Analysegerät die Ergebnisse aus.

Brügger schüttelte den Kopf. «Das darf doch nicht wahr sein. Trinkt eine Person dieses Wasser, wird sie krank. Unter Umständen sofort oder nach Tagen. Das geht zunächst vorüber. Kostet sie danach wieder sauberes Wasser, erholt sie sich in wenigen Tagen. Das ist die kurzfristige Wirkung. Beim Trinken über einen längeren Zeitraum könnte es später, vielleicht Jahre später, zu gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen. In diesem Wasser sind mehrere karzinogene, also krebserregende Stoffe.»

Muff fragte nach: «Es wird also immer zu gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen?»

«Das ist es eben. Nicht alle, die in Kontakt mit karzinogenen Substanzen kommen, erkranken daran. Auch wenn Frau F. an Krebs erkrankt ist, ist es nicht bewiesen, dass das karzinogene Wasser die Ursache ist. Was genau bei einer Person dazu führt, dass sie an Krebs erkrankt, lässt sich selten ganz sicher bestimmen. Aber wenn unterhalb des Steinbruchs und Hartschotterwerks Blausee-Mitholz, dem SHB, immer mehr Leute an gewissen Krebsarten erkranken, müssten doch sämtliche Alarmglocken schrillen und die Giftquellen sofort abgestellt werden. Wer riskiert, dass krebserregende Stoffe in das Grundwasser gelangen, gefährdet Menschen und handelt kriminell. Das ist in diesem Steinbruch geschehen.»

Muff stellte in Aussicht, einen Artikel darüber zu schreiben. Es gelte, die Bevölkerung aufzuklären, wofür ein Zeitungsbeitrag geeignet sei.

«Von wie vielen wird er gelesen?», wollte Dr. Brügger wissen.

Das Schulterzucken von Muff war eine Geste der Verlegenheit, vielleicht empfand er es gar als Beleidigung.

Stucki war um Vermittlung bemüht. «Es geht weniger darum, wie viele diesen Artikel lesen, es geht mehr darum, wer ihn liest. Es wird kein einfacher Artikel werden, keiner zur Unterhaltung beim zweiten Kaffee. Der Inhalt kaum mehrheitsfähig. Die Frage stellt sich auch nicht, ob das Missachten von Gesetzen mehrheitsfähig ist. Wer gegen Gesetze verstösst, macht sich schuldig. Richte den Text an die Entscheidungsträger. Sie sollen ihre Schlüsse daraus ziehen. Ich finde es richtig und wichtig, dass du diesen Artikel schreibst.»

***

Muff ging nach Hause und schrieb den Artikel. Eine Zusammenfassung dessen, was über die Jahre im Steinbruch Blausee-Mitholz geschehen war. Dass es Gesetze gebe, die es verbieten würden, Giftmüll in einem Steinbruch wie diesem zu lagern. Man könne nicht mehr ausschliessen, dass diese Gesetze missachtet würden. Im Raum stehe auch, dass die Behörden davon wüssten und zögerten, etwas dagegen zu unternehmen.

Der Artikel wurde im Kandertal gelesen. Nicht nur von Behördenmitgliedern, auch von vielen Bürgerinnen und Bürgern. Und von den Entscheidungsträgern in Bern, den Regierungsräten, den Parlamentariern und den Managern der Firmen, die an der Sanierung des Scheiteltunnels mitgewirkt hatten und das immer noch taten.

2

Stucki wollte mehr über Gerhard Zurbuchen wissen. Die Unterlagen, die Zurbuchen hinterlassen hatte, waren seine erste Informationsquelle. Zur Aufklärung des Verbrechens an ihm half auch ein längeres Gespräch mit seiner Ehefrau Paula.

Im Juli 2001 hatte Gerhard Zurbuchen gerade das fünfzigste Lebensjahr hinter sich und war seit einem halben Jahr Lehrer an der Mittelstufe der Primarschule Kandergrund. Seine bisherige Stelle im Berner Quartier Bümpliz hatte er aufgegeben. Das Unterrichten dort war schwieriger geworden. Er hatte Ideale, verabscheute Gewalt, doch die Jungen in seiner Klasse waren grob, sie lachten über ihn, den kleinen, dürren Mann. Streit war ihm ein Gräuel. Es widerstrebte ihm, durchzugreifen, und das machten sie ihm zum Vorwurf, die Eltern und auch die Kolleginnen und Kollegen.

Als ihn der Schulleiter an einer Konferenz mit der Bemerkung begrüsste: «Da kommt unser Weichei und auch noch zu spät», platzte Zurbuchen der Kragen, und er erwiderte: «Das lasse ich mir nicht bieten.»

Der Schulleiter lachte und demütigte ihn weiter: «Da bleibt dir wohl nichts anderes übrig.»

Zurbuchen schluckte diese Beleidigung. Als er nach Hause kam, nahm ihn seine Ehefrau in die Arme. «Gerhard, was hat man dir wieder angetan?» Er erzählte ihr unter Tränen, wie er bei der Lehrerkonferenz blossgestellt worden war.

«Reich die Kündigung ein und suche dir eine andere Stelle. Das dürfte kein Problem sein, es herrscht Lehrermangel.»

In Kandergrund war sein Neuanfang geglückt. Die Knaben waren auch im Kandertal ein Problem, aber wenigstens mischten sich die Eltern nicht in den Unterricht ein. So blieb Zurbuchen auch Zeit für anderes, für Wanderungen in der einzigartigen Natur der Gebirgslandschaft des Berner Oberlandes. Die Kander faszinierte ihn. Er folgte ihrem Lauf von Nord nach Süd, vom Thunersee bis zur Quelle am Berghang der Blüemlisalp.

Einige Kilometer oberhalb seines Wohnortes lagen der Weiler Mitholz und der Blausee. Mit seiner leuchtend tiefblauen Oberfläche hatte er weit über die Kantons- und Landesgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt. Wenige hundert Meter höher war ein Steinbruch. Er lag über einem Grundwassersee, der nicht nur das Bijou speiste, sondern auch die Häuser und Gehöfte von Mitholz mit Trinkwasser versorgte.

Dieser Steinbruch beschäftigte Zurbuchen, nicht dass er ihn bewundernswert fand, im Gegenteil. Die Steinwüste stank bestialisch. Und das durfte doch nicht sein. Immerhin befand er sich seit Jahrzehnten über einem Gewässerschutzgebiet.

Zurbuchen überlegte sich, wem er diesen Missstand melden sollte.

Der Gemeinde? Die Schulkommission von Kandergrund stellte die Lehrer ein. Das könnte Probleme geben. Das wollte er vermeiden.

Der Polizei? Das war für ihn die letzte Möglichkeit. Meldete er diesen Verstoss, kam er um eine Anzeige nicht herum. Anklagen widerstrebten ihm, er wollte die Verantwortlichen lediglich darauf aufmerksam machen, dass in der Schweiz Gesetze gälten, die eingehalten werden sollten.

Zurbuchen erinnerte sich an die Stelle im Kanton Bern, die für die Einhaltung der Gesetze im Bereich Wasser verantwortlich ist. Das AWA, das Amt für Wasser und Abfall, das bei der Bau- und Verkehrsdirektion angesiedelt ist.

Paula Zurbuchen schüttelte, als sie sich daran erinnerte, den Kopf. «Das AWA war ein richtiger Reinfall. Gerhard las mir das Schreiben vor, das er von dem erhielt. Ich kann mich an den genauen Wortlaut nicht erinnern, aber so ungefähr lautete er: ‹Wir nehmen Kenntnis von Ihrem Schreiben. Nach unseren Informationen läuft im Hartschotterwerk alles rechtens. Die Betreiberin, die Villard SA, steht in engem Kontakt mit uns. Sie deponiert dort nur unbedenkliches Material. Im Übrigen sendet sie uns wöchentlich Substanzproben des abgelagerten Aushubs. Zudem möchten wir Sie darauf aufmerksam machen, dass es Ihnen nicht erlaubt ist, das Areal des Steinbruchs zu betreten. Er ist Eigentum der Bahngesellschaft BLS, und die Villard SA betreibt die Anlage.›»

Stucki entgegnete: «Dieses Areal wurde damals und wird auch heute von zahlreichen Personen besucht. Man ist gar nicht in der Lage, diese Leute zu kontrollieren. Dass es bereits vor zwanzig Jahren dort stank, fiel auch den Angestellten der Betreiberfirma und den Chauffeuren, die den Müll dorthin transportierten, auf.» Das hatte ihm Manfred Gertsch auch schon gesagt.

Auf die Frage von Stucki, wie Gerhard Zurbuchen auf die Antwort des AWA reagierte, sagte Paula: «Wie er eben war. Die Leute dort stünden unter Druck der Kantonsregierung und der beiden Konzerne Marquardt und Villard. Er nehme an, dass ihre Probennahmen dort stattgefunden hätten, wo der Tunnelaushub nicht kontaminiert war. Er werde die Situation weiterverfolgen.»

Stucki lachte. «‹Dass die Probennahmen dort stattgefunden hätten, wo der Tunnelaushub nicht kontaminiert war.› Villard SA wusste genau, an welchen Stellen der Giftmüll deponiert wurde. Sie haben dem AWA angegeben, wo es zu messen hatte …»

In den Jahren um 2000 sei noch nicht von einem Forellensterben die Rede gewesen. «Damit werden sich die Leute vom AWA herausreden», meinte Paula. Doch wer das behaupte, verkenne die Geografie des Steinbruchs. Der Neat-Hügel, der nach Baubeginn des Basistunnels aufgeschichtet worden sei, liege am Abhang zur Kander. Bei Niederschlägen auf die Giftmülldeponie werde alles in die Kander geschwemmt.

«Neat-Hügel?», fragte Stucki nach. Er habe zwar diesen Ausdruck schon gehört, aber sich weiter nichts gedacht.

Paula Zurbuchen lachte. So ergehe es den meisten, die von dieser Bezeichnung hörten. Die Mengen an Aushub des Basistunnels seien gigantisch. So gross, dass sie im Steinbruch zu grossen Hügeln aufgeschichtet wurden.

«Und das Forellensterben?»

«Ach ja», seufzte Paula Zurbuchen. «Das hört man immer wieder. In den Fischzuchten beim Blausee starben während des Basistunnelbaus zwischendurch Forellen, das ebbte nach 2007, als der Tunnel fertiggestellt war, wieder ab, aber wurde mit der Sanierung des Scheiteltunnels um das Jahr 2018 erneut beobachtet.»

«Weshalb gingen die Fische ein?»

«Das ist es ja. Statt den Ursachen nachzugehen, wurden Behauptungen aufgestellt: Die Betreiber der Zuchten hätten die Tiere nicht sachgemäss gehalten, sie hätten die Hygienevorschriften missachtet. Solche Anschuldigungen liessen sich nie beweisen.»

Vermutungen machten die Runde. Man stritt sich.

Stucki erinnerte sich, einiges darüber in Zeitungen gelesen, am Radio gehört oder in den Nachrichten gesehen zu haben. «Gab es denn keine wissenschaftlichen Untersuchungen darüber?»

«Natürlich gab es die, doch die Verantwortlichen für die Missstände nahmen die Ergebnisse der Studien von Fachpersonen nicht zur Kenntnis.»

Das interessierte Stucki, und er bat Paula Zurbuchen, ihn gründlicher zu informieren.

«Nach Niederschlägen quoll die Giftschwemme vom Steinbruch abwärts, also vom Neat-Hügel in die Kander. Im Jahr 2000 wurden im Thunersee zum ersten Mal Felchen gefangen, deren Keimdrüsen Missbildungen aufwiesen.»

Stucki bemerkte, immer wieder habe es geheissen, die Ursache dafür sei seit Jahren ein Geheimnis, es gäbe keine plausible Erklärung für dieses Phänomen. Viele hätten als Grund die grossen Mengen Munition und Sprengstoff, die von der Armee nach dem Zweiten Weltkrieg dort versenkt worden waren, gesehen.

«Warten Sie einen Moment, Herr Stucki», sagte Paula Zurbuchen. «Mir fällt etwas ein. Mein Mann und ich haben seinerzeit darüber diskutiert. Es ging um eine These, die um 2010 publiziert wurde. Irgendwo in meinen Unterlagen werde ich das Papier finden.»

Sie bereitete einen Kaffee zu und servierte ihn mit Süssigkeiten Stucki. Er trank und ass genüsslich. Eine Viertelstunde später kam sie mit einer Klarsichtmappe zurück. Stucki las, was darin stand. Es war eine Zusammenfassung von Gerhard Zurbuchen, die als Leserbrief im «Kandertaler» erschienen war.

Aber wie kommt das Gift ins Plankton?

Zwei Biologen befassten sich mit dem «Rätsel vom Thunersee», so die Studie. Sie hatten seit 2000 zusammen mit Berufsfischern und Behörden daran gearbeitet. Das Ergebnis: Das Zooplankton spiele bei der Entstehung der Missbildungen die entscheidende Rolle.

Zooplankton, das sind winzige tierische Lebewesen, die im Wasser schweben und den Felchen als Nahrung dienen. Sie fressen noch kleinere pflanzliche Organismen, das Phytoplankton. Dieses Phytoplankton ernährt sich von allerlei Schwebstoffen im Wasser.

Die Studie wurde in der Berner Zeitung von 2010 publiziert. Was darin aber nicht steht: Wie kam das Gift ins Phytoplankton? Darüber unterhielt ich mich mit einem Biologen. Er sagte mir, er habe diese Studie gelesen. Es sei eine fundierte wissenschaftliche Arbeit, für Fachleute nachvollziehbar. Doch sie erkläre nicht, wie das Gift in das Phytoplankton gelangen konnte. Ich fragte ihn, ob es nicht denkbar wäre, dass der toxische Tunnelaushub dafür verantwortlich sei. «Durchaus möglich», war seine Antwort. Man hätte auch das Phytoplankton auf diese Gifte untersuchen müssen. Hätte man von Behördenseite diese Studie ernst genommen, wäre eine weitere Forschungsgruppe beauftragt worden, auch das Phytoplankton zu untersuchen.

Die Giftschwemme vom Neat-Hügel wird auf ihrem Weg zum Thunersee sehr stark verdünnt. Das Phytoplankton im See nimmt immer wieder allerlei Schwebstoffe auf, verwertet, was verdaubar ist, und reichert Gifte im Körper an, so wie wir im Körperfett.

Die zuständigen Berner Behörden waren gar nicht an dieser nachfolgenden Forschungsarbeit interessiert. Die Naturwissenschaftler des AWA wussten über den illegalen Neat-Hügel Bescheid und konnten sich an den Fingern abzählen, was eine Untersuchung des Phytoplanktons ergeben würde.

Für mich stand damit fest: Da war Korruption im Spiel.

Gerhard Zurbuchen, 10. September 2010.

Im Mäppchen war ein Artikel des «Blicks» vom 19. Januar 2016 beigelegt.

Rätsel um Zwitter-Fische im Thunersee

Ist die Neat-Baustelle schuld an den Missbildungen? Seit 2000 schwimmen im Thunersee Felchen mit deformierten Geschlechtsteilen. Fachleute streiten sich über den Ursprung der Missbildungen. Ein aktueller Bericht erhärtet nun einen hartnäckigen Verdacht …

Handschriftliche Randbemerkung von Gerhard Zurbuchen:

Also doch. Wir, meine Frau und ich, waren offenbar nicht die Einzigen, die diesen Verdacht hatten. Warum hat man nicht schon 2010 nach Erscheinen der Abhandlung «Das Rätsel vom Thunersee» diesen Verdacht abgeklärt? Um spätere Vergiftungen von Wasser abzuwenden, wäre es unabdingbar, endlich dieser Befürchtung nachzugehen.

Dann geschah etwas, das Gerhard Zurbuchen offensichtlich nicht ernst nahm. Das folgerte Stucki, als Paula ihm weitererzählte.

«Mit der Post kam ein neutrales Couvert, darin ein handgeschriebener Text auf WC-Papier: ‹Hören Sie endlich auf mit Ihren Unterstellungen. Diesen Brief können Sie spurlos entsorgen. Auch wir überlegen uns, unangenehme Sachen spurlos zu entsorgen, zum Beispiel Kreaturen wie Sie.› – Am nächsten Tag machte Gerhard, ausgerüstet mit einem Fotoapparat, wieder einen Ausflug in den Steinbruch. In der Nähe war ein Trax mit laufendem Motor. Er hörte einen Schuss, dann noch einen. Er warf sich instinktiv zu Boden, fiel in einen tiefen Teich. Das war seine Rettung. Er tauchte ganz unter, neben ihm zischte eine Kugel durchs Wasser. Nach einigen Augenblicken tauchte er wieder auf, nur kurz, um Luft zu holen. Er hörte wieder einen Schuss. Der Trax verstummte. Der Fahrer schrie: ‹Verdammt, was ist da los? Hören Sie sofort auf zu schiessen. Ich habe Sie gesehen und werde Sie bei der Polizei melden.› Er tauchte auf und ging ans Trockene. Der Radlader-Führer kam zu ihm gerannt. ‹Sind Sie verletzt? Ah, ich kenne dich ja, du bist der Gerhard. Du musst dich in Acht nehmen. Ich glaube, diese Halunken trachten dir nach dem Leben. Dabei hast du recht, was du schreibst. Ich weiss, dass ich hier einen Scheissjob mache, aber ich kann nicht anders, ich muss Moneten haben, um mein Heimetli über die Runden zu bringen. Ich habe eine Frau und fünf Kinder.›»

Stucki sah Paula Zurbuchen erstaunt an. «Was ist danach geschehen?»

«Ich begleitete meinen Mann zum Posten Frutigen. Er machte eine Anzeige gegen unbekannt. Tage später gingen wir noch mal vorbei, um dazu etwas in Erfahrung zu bringen. Der Polizist am Empfang sagte, er finde keine Anzeige. Ihm wäre eine solche aufgefallen, vielleicht sei sie weitergeleitet worden. Dann müsste aber eine Anweisung des Kripokommandos gekommen sein, man solle die Kopie der Anzeige hier vernichten.»

«Und was hat der Traxfahrer getan?», wollte Stucki wissen.

Das wisse sie nicht.

Stucki sagte verärgert: «Ein Mordanschlag und er wurde vertuscht von der Polizei, aber vielleicht auch von der Staatsanwaltschaft. Das heisst, wir können nichts dagegen tun, die Beweise fehlen.»

Ob es noch weitere Anschläge gegen ihren Mann gegeben habe, erkundigte sich Stucki bei Paula Zurbuchen. Ihres Wissens nicht, bis zu dem, der erfolgreich war. Sie strich sich mit dem Taschentuch die Tränen weg.

Paula Zurbuchen fiel noch etwas ein, das bislang nicht zur Sprache gekommen sei und vielleicht auch mit dem toxischen Abfall im Steinbruch zusammenhänge. Sie benötige dazu einige Tage, um die Unterlagen in ihrem Schreibtisch in Kandergrund zu suchen und zu holen. Es tue ihr leid, aber sie sei kein ordentlicher Mensch.

3

Paula Zurbuchen überreichte Niklaus Stucki einen Stoss Klarsichtmäppchen. «Im obersten finden Sie eine Mitteilung des Amtes für Information des Kantons Bern, die am Samstag, 24. Juli 2004, publiziert wurde.»

Mitholz – Der Lawinenschutztunnel Mitholz an der Kantonsstrasse Frutigen–Kandersteg BE ist aus Sicherheitsgründen gesperrt.

Vor einer Woche war bereits eine Spur gesperrt worden; am Freitagabend wurde der Tunnel nun gänzlich geschlossen.

Spezialisten hatten neue Risse entdeckt. Die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer kann nicht mehr gewährleistet werden. Deshalb hat der Kantonsoberingenieur entschieden, den Tunnel zu schliessen.

Der Verkehr wird grossräumig umgeleitet. Die Polizei empfiehlt, den Autoverlad am Lötschberg zu meiden. Die geplante provisorische Umfahrungsstrasse wird erst im Laufe der nächsten Woche fertiggestellt.

Darunter eine Notiz von Gerhard Zurbuchen.

1996: Die BLS Alptransit AG unterbreitet dem Grossen Rat und dem Regierungsrat von Bern ein Projekt für einen Lawinenschutzdamm aus Aushubmaterial vom Lötschbergbahn-Basistunnel.

Bemerkenswert: Dass Tunnelaushub mit gutem Grund grösstenteils in Sonderdeponien gehört, ging offenbar «vergessen».

Nach den Lawinenniedergängen im Winter 1998/1999 wird ein Lawinenschutzdamm als ungenügend erachtet. Dort, wo der Damm hätte gebaut werden sollen, hatten Lawinen mehrmals Strassenabschnitte verschüttet oder sogar weggerissen. Ein Lawinenschutztunnel wird vorgeschlagen. Wieder mit Material aus dem Bahntunnel. Das Projekt wird am 12. Dezember 1999 vom Grossen Rat gutgeheissen.

Am 1. März 2000 wird das neue Projekt durch die BLS Alptransit AG und das Departement Bau und Verkehr des Kantons Bern aufgelegt. Dass die BLS Alptransit AG dabei ist, liegt daran, dass die Strasse Frutigen–Kandersteg der einzige Zubringer von Autos zum Lötschbergbahn-Scheiteltunnel ist. Nur in Ausnahmefällen werden Personenwagen in Frutigen anstatt in Kandersteg auf die Bahn verladen. Am 16. Oktober 2000 wird dieses Projekt vom Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation genehmigt.

Im März 2001 beginnen die Bauarbeiten; im Oktober 2001 wird der Rohbau fertiggestellt.

Der achtzehn Millionen Franken teure Tunnel wird im Herbst 2002 eröffnet. Das circa sechshundertfünfzig Meter lange Bauwerk soll die Strassenzufahrt nach Kandersteg wintersicher machen. Es handelt sich allerdings nicht um einen aus dem Berg herausgesprengten Stollen, sondern um eine Galerie, einen geschlossenen Durchgang, mit einer künstlichen westlichen Seitenwand, einer natürlichen östlichen und einem Dach. Ich beobachte diesen Bau von Anfang an und stellte Folgendes fest:

Erstens: Der Neat-Hügel im Steinbruch wurde teilweise abgebaut. Ein Teil davon auf das Dach des Mitholztunnels geschichtet. Noch mehr Tunnelaushub wurde direkt vom nördlichen Eingang des Lötschberg-Basistunnels zur Lawinengalerie hinauftransportiert. Es handelt sich in beiden Fällen um Sondermüll.

Zweitens: Die Menge des Abfalls, die auf dem Tunneldach abgelagert wurde, scheint mir gewaltig zu sein. Kann das Dach diesen Druck überhaupt aushalten? Offenbar nicht, wie nun die Risse an der Decke zeigen. Ein Pfusch der Ingenieure, die verpflichtet wären, die Statik der Bauwerke unter Kontrolle zu halten.

Drittens: Es war nur eine Fussnote in den Verlautbarungen über den Bau des Basistunnels. Man sei auf asbesthaltiges Gestein gestossen. Ist etwa auch asbesthaltiges Gestein vom Neat-Hügel dort? Wäre das so, bedeutete das eine Gefahr für die Menschen, die an der Lawinengalerie gearbeitet haben. Auch, und das immer noch, für die Anwohner dieser Galerie.

Wie Paula Zurbuchen Stucki berichtete, hatte Gerhard Zurbuchen auch einen Leserbrief über asbesthaltiges Gestein beim Neat-Tunnelbau geschrieben. Zwei Lokalblätter hatten ihn abgedruckt. Stucki ging der Sache nach. In den Zeitungsarchiven fand er den Leserbrief nicht. Dass Printmedien unter Druck gesetzt werden, «gewisse» Artikel in ihrer Hinterlassenschaft zu entfernen, ist allerdings nicht unüblich, dachte Stucki.

Gerhard Zurbuchen musste mit seinem Beitrag über Asbest einer Person schmerzlich auf die Füsse getreten sein. Im Briefkasten hatte Paula ein kleines Paket gefunden, auffallend schwer und ohne Absender. Es war an Gerhard adressiert, was sie nicht gehindert hätte, das Paket zu öffnen. Aber die Sendung kam ihr verdächtig vor. Sie wollte damit zuwarten, bis Gerhard nach Hause kam.

Die beiden diskutierten, ob dieses Paket geöffnet werden sollte. Sollte man damit zur Polizei gehen? Sie entschieden sich dafür.

Am Empfang des Postens Frutigen wurden sie schräg angeschaut. Der Uniformierte am Schalter, mit einem Stern auf den Achselpatten, hob das Paket, drehte und wendete es. «Verdammt noch mal, was geschieht, wenn ich es öffne? Dem Gewicht nach könnte eine Bombe darin sein.»

Er warf Gerhard Zurbuchen einen Blick zu. «Haben Sie Feinde?»

«Ich weiss nicht, ob das wirklich Feinde sind, aber es gibt sicher Leute, die mich nicht mögen.»

«Warum mögen die Sie nicht?»

«Mitunter schreibe ich Leserbriefe oder Beschwerden.»

Der Polizist wandte seinen Blick von Zurbuchen ab und musterte ihn aus den Augenwinkeln. «Aha, so einer sind Sie. Über was schreiben Sie denn?»

«Über den Lawinenschutztunnel bei Mitholz.»

«Haben Sie Probleme damit?»

«Das kann man wohl sagen. Dieser Bau ist ein Pfusch. Ich denke, bald dürfte er zusammenkrachen. Stossend finde ich, dass das Tunneldach zu einer Abfallhalde umfunktioniert wurde.»

«Herrgottstärne, was Sie nicht sagen. Was sind Sie von Beruf?»

Zurbuchen sagte, dass er als Primarlehrer in Kandergrund unterrichte.