Weissenau - Peter Beutler - E-Book

Weissenau E-Book

Peter Beutler

4,6

Beschreibung

Auf der Polizeistation in Interlaken kämpft der junge Polizist Beat Lauber nicht nur allgemein gegen die Fremdenfeindlichkeit in der Region, sondern auch gegen seine rassistischen und korrupten Kollegen. Schlamperei, Gleichgültigkeit machen es ihm schwer, dem Orden der "Ritter Morgenstern" um den charimatischen Döfl Imobstgarten einen brutalen Überfall auf einen Obdachlosen nachzuweisen. Doch dann verschwindet ein Mitglied der Gruppe spurlos … Basierend auf einem wahren Fall erzählt Peter Beutler die tragische Geschichte junger Menschen, die sich in ihrem rassistischen Grössenwahn verlieren und dadurch ihr eigenes Leben verwirken. Realistisch, mutig, aufrüttelnd: ein ungeschminkt authentischer Politkrimi.

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Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg aufgewachsen, einem kleinen Dorf in den Berner Alpen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer am Gymnasium Musegg/Luzern. Seit 2007 lebt er mit seiner Frau in Leissigen am Thunersee.

Dieses Buch ist ein Roman, dessen Handlungen und Personen frei erfunden sind, wenngleich er zum Teil auf wahren Begebenheiten beruht. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Istockphoto.com/Aimin Tang Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-096-4 Originalausgabe

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Interlaken, Januar 2001

Der Nachmittag war schon weit vorgerückt, als am Freitag, dem 5. Januar 2001, zwei Personen den Polizeiposten Flurmühle in Interlaken betraten: eine Frau, um die vierzig Jahre alt, und ein etwa zehnjähriger Junge. An den unsicheren Blicken, mit denen sie sich umsahen, merkte Anna Rieder, dass sie sich in dieser Umgebung nicht besonders wohlfühlten. Die Sekretärin des Polizeipostens stöhnte innerlich auf. Eigentlich hatte sie gehofft, pünktlich ihren Feierabend antreten zu können. Den Dienstvorschriften gemäss setzte sie aber ein höfliches Lächeln auf.

«Kann ich Ihnen helfen?»

Die Frau lächelte dankbar zurück. «Wir möchten eine Beobachtung melden, die Johannes – mein Junge – gemacht hat», sagte sie dann zögernd. «Ich befürchte, etwas sehr Schlimmes ist geschehen.»

Anna Rieder musterte Johannes, ein blasses Kerlchen mit aschblondem Haar, für dessen Schnitt entweder ein schlimmer Stümper unter den Friseuren oder die Mutter selbst verantwortlich war. Ein rascher Blick auf die schon etwas abgeschabte Winterjacke von Frau Bellwald, deren Farbe und Muster vor fünf Jahren einmal modern gewesen waren, liess sie vermuten, dass die Mutter den Haaren ihres Sohnes wohl selbst mit der Schere zu Leibe gerückt war. Für sie waren die paar Franken für den Coiffeur wohl schon zu teuer.

Ob sie die Frau mit ihrem Buben, der vermutlich nur schlecht geträumt hatte, einfach abwimmeln sollte? Aber dann siegte doch ihr Mitgefühl.

«Ich bin hier nur die Sekretärin und kann Ihnen selbst nicht weiterhelfen», sagte sie. «Aber ich schaue einmal nach, wer gerade für Sie Zeit haben könnte.» Mit gerunzelter Stirn ging sie den Schichtplan durch, bis ihr Blick beim Namen Benjamin Luginbühl hängen blieb.

Luginbühl stand nur noch drei Wochen vor dem Eintritt in den Ruhestand. In den letzten Jahren war er häufiger krankgemeldet als anwesend gewesen, deshalb war er schon lange nicht mehr in die regulären Dienstpläne einbezogen, sondern erledigte vor allem Büroarbeiten, auf die andere keine Lust hatten. Er hatte also ausreichend Zeit. Und er war mehrfacher stolzer Grossvater. Bestimmt würde er sich die Sorgen des Jungen anhören, ohne ungeduldig zu werden oder ihn zu erschrecken. Befriedigt von dieser Lösung griff Anna Rieder zum Telefon und wählte Luginbühls Nummer.

Der ältere Polizeibeamte, der Eva Bellwald und ihren Sohn Johannes kurz darauf in sein Büro hineinbat und ihnen fürsorglich die Stühle zurechtrückte, war ihr sofort sympathisch. Trotz seiner Uniform strahlte er eine vertrauenswürdige Gemütlichkeit aus. Als er sich auf seinem Stuhl niederliess, wurde ihr klar, woher diese Ausstrahlung kam: Er sah fast so aus wie der legendäre Schauspieler Schaggi Streuli aus den alten Schwarz-Weiss-Filmen «Polizist Wäckerli».

«Du hast also etwas beobachtet, das die Polizei wissen muss?», fragte er Johannes freundlich. «Es ist sehr lobenswert, dass du uns das melden willst. Was war das denn? Ein Diebstahl?»

Johannes schüttelte den Kopf. «Ein Mord», sagte er fest.

Luginbühl nickte bedächtig, während er im Geiste alle Möglichkeiten erwog, mit einer solchen Behauptung aus dem Mund eines Kindes umzugehen. Sein Bauchgefühl täuschte ihn selten: Der Junge erlaubte sich keinen schlechten Scherz mit ihm. Er meinte ernst, was er sagte; er war wirklich sicher, einen Mord gesehen zu haben.

Möglicherweise war es auch so gewesen. Kinder waren tatsächlich manchmal Zeugen von Straftaten; er hätte Dutzende solcher Fälle aufzählen können. Deshalb wäre es fahrlässig gewesen, eine solche Aussage nicht ernst zu nehmen.

«Ein Mord ist ein sehr schlimmes Verbrechen», sagte er und sah Johannes in die Augen. «Erzähl mir bitte in allen Einzelheiten, was du gesehen hast. Darf ich das Gespräch aufnehmen? Ich lösche das Band wieder, sobald ich das Protokoll geschrieben habe. Denn jetzt möchte ich nicht so gerne mitschreiben, sondern dir lieber ganz genau zuhören.»

Der Junge gab mit einem Nicken sein Einverständnis. Luginbühl schaltete das Band an, und Johannes begann zu erzählen:

«Ich war gestern Abend auf der Burgruine Weissenau. Dort habe ich den Mord gesehen.»

«Um wie viel Uhr war das?», fragte Luginbühl.

Johannes dachte nach.

«Zwischen halb neun und neun Uhr abends», sagte er schliesslich.

«Was hast du denn so spät dort gemacht?»

Eva Bellwald schaltete sich ein. «Wir wohnen nicht so weit von der Burgruine entfernt. Johannes ist fasziniert von Rittergeschichten, also auch von der Burg. Er geht oft dorthin.»

«Auch nach Einbruch der Dunkelheit?», fragte Luginbühl. «Mit oder ohne Erlaubnis?»

«Mit meiner Erlaubnis», betonte die Mutter. «Jedenfalls tagsüber. Dass er auch in der Dunkelheit dorthin geht, davon hatte ich keine Ahnung. Vermutlich hätte ich ihn gebeten, es nicht zu tun – jedenfalls nicht alleine. Wie leicht kann man in der Dunkelheit stürzen und liegt dann vielleicht bis zum Morgen hilflos da, bis man gefunden wird.» Sie seufzte. «Aber Kinder sind nun einmal abenteuerlustig, nicht wahr? Als wir in Johannes’ Alter waren, haben unsere Eltern auch nicht alles erfahren, was wir gemacht haben.»

Luginbühl schmunzelte. Eva Bellwald hatte ins Schwarze getroffen. «Mein Vater hätte mir sicher jeden Tag den Hosenboden versohlt, wenn er geahnt hätte, was ich alles für Unfug getrieben habe», gab er zu. Dann wandte er sich wieder an den Jungen. «War deine Mutter zu Hause, als du losgegangen bist? Oder dein Vater?»

«Ich bin geschieden», antwortete Eva Bellwald an Johannes’ Stelle. «Donnerstags muss ich bis neun Uhr abends arbeiten.»

Luginbühl nickte dem Jungen aufmunternd zu. «Dann erzähl mal, Johannes, was du gestern Abend bei der Burgruine erlebt hast.»

* * *

Johannes bog in den Fussweg ein, der von der Forststrasse zur Burgruine abzweigte, und knipste seine Taschenlampe an, um nicht über einen der grossen Steine zu stolpern, die verstreut auf dem Pfad lagen. Es war der Abend des 4. Januar 2001 und schon stockfinster. Nebel war aufgezogen, die Temperatur lag um den Gefrierpunkt. Erste Schneeflocken mischten sich in den Nieselregen.

Das Gemäuer der mittelalterlichen Festung ragte im Dunkeln fast bedrohlich empor. Gerade hatte Johannes den Torbogen des Eingangs erreicht, als er ein unerwartetes Geräusch hörte: den Motor eines heranbrausenden Autos. Er drehte sich um und sah einen Wagen genau dort anhalten, wo der Fussweg zur Burg einmündete. Das war eigenartig, denn nur der Forstdienst, die Feuerwehr oder die Polizei durfte diese Strasse mit ihren Fahrzeugen benutzen.

Fünf Gestalten stiegen aus. Johannes sah mehrere Lichter tanzen, wahrscheinlich von Handlampen.

Was wollten sie hier um diese Zeit?

Johannes war schon mehrmals bei Dunkelheit bei der Burgruine gewesen, und er war stolz darauf, dass er nie Angst gehabt hatte. Aber nun bekam er eine Gänsehaut. Noch bei keinem seiner nächtlichen Streifzüge zur Burg war er auch nur einer Menschenseele begegnet. Auf keinen Fall, entschied er, wollte er von diesen Leuten gesehen werden.

Während er sich vom Eingang entfernte, schirmte er den dünnen Lichtstrahl seiner Taschenlampe mit der Hand ab. Als er die Nische in der Burgmauer gefunden hatte, knipste er sie aus, noch bevor er richtig in sein Versteck hineingeschlüpft und in die Hocke gegangen war. Eigentlich wusste er, dass er hier nicht gesehen werden konnte. Trotzdem hätte er vor Schreck beinahe aufgeschrien, als ein Lichtkegel auf einmal ganz in seiner Nähe vorbeihuschte.

Dass eine der fünf Personen sich anders bewegte als die anderen, hatte er bis dahin nicht wahrgenommen. Doch jetzt fiel der Lichtstrahl voll auf diese Gestalt, und er sah einen Mann, dem die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Die Kapuze war ihm übers Gesicht gezogen und ein Seil um die Hüften geschlungen worden, an dem er vom Vorausgehenden den Weg entlanggezerrt wurde. Derjenige, der hinter ihm ging, stiess ihm immer wieder die Faust in den Rücken oder gab ihm einen Fusstritt. Das Ganze geschah lautlos, und es war das Unheimlichste, was Johannes in seinem Leben je gesehen hatte. Als die Gestalten in der Burg verschwanden, wäre er am liebsten weggelaufen, aber er hatte zu grosse Angst, entdeckt zu werden.

Dann vernahm er leise Stimmen, die von der Plattform hoch oben auf dem Turm zu kommen schienen.

«Ich kann nicht mehr … Hört bitte auf», glaubte er zu verstehen. «Ich bin doch auf eurer Seite … Ich bin kein Verräter …»

Es folgte unverständliches Gemurmel. Dann liessen ein klatschendes Geräusch und ein Schmerzensschrei ihn vor Schreck erstarren. «Hört auf!», flehte die Stimme immer wieder. Dann hörte er nur noch Gewimmer, und schliesslich verstummte die Stimme ganz.

«Werft den Dreckskerl runter», sagte auf einmal eine Männerstimme so laut und deutlich, dass er zusammenfuhr.

Einige Sekunden lang geschah nichts, dann gab es kaum mehr als einen Meter von seiner Nische entfernt einen dumpfen Aufprall auf dem grasbewachsenen Boden. In kurzen Abständen fielen weitere schwere Gegenstände herunter, Brecheisen, nahm er an, als einer davon ein paar Meter neben seinem Kopf scheppernd an die Mauer schlug. Der Scheinwerfer einer starken Spotlampe strich über den Boden, blieb an dem ersten heruntergeworfenen Gegenstand hängen, tastete seine Konturen von unten bis oben ab – und Johannes blickte plötzlich in das Gesicht eines Toten. Grosse, leere Augen starrten in den finsteren Himmel. Diesmal war er nicht imstande, einen Entsetzensschrei zu unterdrücken.

«Verdammt, da unten ist jemand!», hörte er von oben, und einen Moment lang fühlte er sich wie gelähmt. Gleich würden die Mörder kommen und auch ihn umbringen! Erst als er Schritte auf der Wendeltreppe im Turminneren hörte, löste sich seine Erstarrung. Johannes sprang auf und begann zu laufen, wie er noch nie in seinem Leben gelaufen war. Keuchend blickte er sich um, als er die Strasse erreicht hatte, und sah das Licht der Taschenlampen, mit denen sie die Gegend nach ihm absuchten.

«Dort drüben ist er!», hörte er eine Stimme.

Johannes rannte weiter, doch dann musste er einsehen, dass er keine Chance hatte, seinen Verfolgern auf der Strasse zu entkommen. Mit dem Auto würden sie ihn in null Komma nichts eingeholt haben. Wenn überhaupt, dann war er im Unterholz des angrenzenden Walds vor ihnen sicher. Dort konnten ihn die Lichtstrahlen und ganz besonders das Auto nicht erreichen. Er war nicht weit von der Pforte des Naturreservates entfernt, und dort kannte er sich gut aus. Man musste sich in Acht nehmen wegen der Sümpfe, aber das schien ihm eher ein Vorteil zu sein, denn er wusste sicherlich besser als seine Verfolger, an welchen Stellen man besonders aufpassen musste.

Wie gerne hätte Johannes seine Taschenlampe angeschaltet, doch damit hätte er seinen Vorteil gegenüber den Verfolgern verschenkt. So erwies sich in der Dunkelheit auch für ihn jeder Schritt als tückisch. Stolpernd und zerkratzt schlug er sich durchs Unterholz, bis er am Rande des kleinen schilfumstandenen Weihers auf der nördlichen Seite angekommen war. Dort versteckte er sich, keuchend vor Anstrengung, hinter einem grossen Baumstrunk und spähte nach seinen Verfolgern aus.

Sie waren an der Weggabelung vor dem Eingang zum Reservat unschlüssig stehen geblieben und beratschlagten sich im Flüsterton. Schliesslich entfernte sich einer Richtung Golfplatz, zwei weitere suchten das Waldstück zum Schiffskanal hin ab. Der Vierte betrat den Pfad zum Naturpark, leuchtete mit seiner starken Lampe in die Sümpfe links und rechts des Weges.

Auf einmal traf Johannes der Lichtkegel. In panischer Angst sprang er auf und rannte los. Der Mann setzte ihm nach, doch dann verhedderte er sich offenbar im am Boden liegenden Geäst oder sank in den sumpfigen Boden ein, denn er folgte Johannes nicht sofort weiter.

«Kommt hierher!», hörte Johannes ihn rufen, während er um sein Leben lief und das alptraumhafte Gefühl hatte, viel zu langsam vorwärtszukommen. Immer wieder musste er den Sümpfen ausweichen. Die Männer aber, die ihn jetzt gemeinsam verfolgten, waren noch langsamer. Unablässig versuchten sie, zum Schilf vorzudringen, doch sie mussten sich stets nach wenigen Schritten wieder auf festen Boden zurückziehen. Von Zeit zu Zeit traf ihn der Lichtkegel der Handlampen durch das im Winter stark gelichtete Unterholz und Schilf, deshalb gelang es ihm nicht, seine Verfolger abzuschütteln. Dafür war er jetzt schon ganz in der Nähe des Gasthauses «Neuhaus» angelangt, dessen Fenster hell erleuchtet waren.

Plötzlich war von der Strasse her ein Motorengeräusch zu hören. «Bert, setz du dem Kerl allein weiter nach!», hörte Johannes. «Wir müssen sofort zum Auto zurück.»

Er schöpfte neue Hoffnung. Jetzt nur noch das Strandhotel «Neuhaus» erreichen. Noch hundert Meter über das offene Feld, und er war in Sicherheit! Als er aber zum Spurt ansetzte, fand er sich auf einmal im Strahl der Leuchte seines Verfolgers wieder. Im grellen Lichtschein stolperte er, fiel hin und rappelte sich wieder auf. Der Abstand zwischen Jäger und Gejagtem war nun auf wenige Meter zusammengeschmolzen.

Als Johannes sich dem Haus näherte, begann er laut um Hilfe zu rufen, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Aber im Haus rührte sich nichts. Hätte er doch alle seine Kraft lieber eingesetzt, um seinen Vorsprung vor seinem Verfolger nicht kleiner werden zu lassen! Denn als er die seeseitige Hausecke gerade erreicht hatte, spürte er, wie eine Hand seinen Ärmel packte. Johannes schrie vor Angst wie am Spiess.

Und da ging – endlich – doch noch die Tür auf, ein heller Lichtschein drang heraus, und Johannes sah eine Serviererin am Eingang zum erleuchteten Speisesaal stehen. Hinter sich hörte er einen Fluch, der Ärmel wurde losgelassen, und sein Verfolger suchte das Weite.

* * *

Es hatte geraume Zeit gedauert, bis es der Kellnerin gelungen war, dem zitternden und schluchzenden Jungen seinen Namen und seine Telefonnummer zu entlocken und seine Mutter zu verständigen.

«Ich bin dann gleich mit dem nächsten Bus hingefahren», erklärte Eva Bellwald. «Ich hatte mir schon grosse Sorgen gemacht, weil der Junge nicht daheim war. Sonst ist er immer so zuverlässig, deshalb wusste ich gleich, dass etwas passiert war.» Tränen traten ihr in die Augen. «Sie können sich gar nicht vorstellen, wie bittere Vorwürfe ich mir mache, dass ich meinen Jungen so oft sich selbst überlassen muss! Aber ich kann mir meine Arbeitszeiten nun mal nicht aussuchen.»

Luginbühl überlegte kurz, ob sich der Junge die Sache vielleicht doch nur ausgedacht hatte. Kinder taten die merkwürdigsten Dinge, um mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Das nicht selten auf Kosten der Wahrheit. Aber sein kriminalistischer Instinkt sagte ihm deutlich, dass etwas an der Sache dran war. Und so oder so: Ein Team musste in jedem Fall zur Burgruine geschickt werden, um zu überprüfen, ob es dort Spuren gab. Wenn dem so war, stellte sich die Frage, ob dort wirklich jemand ums Leben gekommen war oder ob sich vielleicht nur irgendwelche Jugendlichen einen makabren Scherz erlaubt hatten.

Es gab unter Interlakens jungen Leuten aber schon den einen oder anderen, dem Luginbühl einen Mord zugetraut hätte.

«Erkannt hast du aber niemanden, den du anderswo schon einmal gesehen hast, Johannes?», vergewisserte er sich, und als der Junge den Kopf schüttelte, fragte er weiter: «Kannst du die Männer denn beschreiben? – Es waren doch Männer? Oder kann auch eine Frau dabei gewesen sein?»

Johannes schüttelte wieder den Kopf. Nein, es seien alles Männer gewesen. Aber es sei viel zu dunkel gewesen, um sie genau zu erkennen.

«Waren sie alle gleich gross?», fragte Luginbühl weiter.

«Nein, einer war ein ganzes Stück grösser als die anderen …» Johannes zögerte kurz, dann fügte er hinzu: «Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, er hatte eine Glatze.»

Luginbühl hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr richtig Luft zu bekommen. Vor seinen Augen verschwamm es.

«Ist alles in Ordnung mit Ihnen?», hörte er Eva Bellwalds Stimme wie aus weiter Ferne. Das half ihm, sich zusammenzureissen. Tief einatmen!, wies er sich selbst an. Und dann ausatmen. Langsam wurde sein Blick wieder klar, und er lächelte, wenn auch noch etwas gequält.

«Keine Sorge, mir geht’s gut», sagte er, dann wandte er sich wieder Johannes zu. «Da hast du ein sehr gefährliches Erlebnis gehabt. Und trotzdem hast du sehr genau beobachtet, so wie ein guter Polizist das auch gemacht hätte. Vielleicht gehst du ja einmal zur Polizei, wenn du erwachsen bist? Solche gescheiten Jungen wie dich könnten wir hier schon gebrauchen.»

Johannes wirkte auf einmal mehr stolz als ängstlich.

«Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben. Wir von der Polizei werden uns um alles kümmern», fuhr Luginbühl fort. «Wenn wir diese Männer finden, dann kommen sie ins Gefängnis. Dürfen wir in den nächsten Tagen zu dir kommen und dir noch ein paar Fragen stellen, falls wir noch etwas von dir wissen möchten?»

Johannes warf seiner Mutter einen Blick zu; als sie ihr Einverständnis gab, nickte er.

Luginbühl begleitete die beiden hinaus, verabschiedete sich von ihnen, dann begab er sich zurück in sein Büro. Nach einem Blick auf die Uhr seufzte er und begann, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Fast eine Stunde zu spät würde er heute zum Nachtessen kommen. Auch wenn seine Frau ihm so etwas nicht übel nahm, er musste für heute unbedingt Schluss machen.

Eigentlich hätte er am liebsten auf der Stelle den Postenchef über diese Sache informiert, auch wenn er ihn damit nach seinem Feierabend stören musste. Aber nach einigem Nachdenken musste er einsehen, dass das nicht klug gewesen wäre. War Adolf Imobstgarten diesmal wirklich in einen Mord verwickelt, oder fing er vielleicht nur wieder an, sich in etwas hineinzusteigern? Sah er in dieser Geschichte Dinge, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden waren? In den letzten Jahren war ihm das schon mehr als einmal passiert.

Er war lange in ärztlicher Behandlung gewesen, weil Imobstgarten für ihn zeitweise zu einer Art fixer Idee geworden war. Luginbühl wollte die letzten drei Wochen seines Arbeitslebens am Schreibtisch verbringen, nicht in ärztlicher Behandlung, also durfte er jetzt keinesfalls überstürzt vorgehen. Am besten, entschied er, gehe ich erst einmal selbst zur Weissenau und schaue mich dort um. Gleich morgen, sobald es hell geworden ist. Erst wenn ich sicher bin, dass es dort wirklich etwas zu untersuchen gibt, verständige ich den Chef.

Luginbühl verstaute das Bandgerät in der Schublade und schloss sie ab, so wie er es immer tat, nachdem er es benutzt hatte. Das Protokoll konnte warten, seine Frau nicht mehr.

Als Luginbühl mit seiner Frau am Esstisch sass, begann ihm auf einmal wieder alles vor den Augen zu verschwimmen.

«Beni, was hast du?», fragte seine Frau besorgt.

Er antwortete noch: «Ich weiss auch nicht … Alles dreht sich …», dann fiel er vom Taburettli.

Knapp zehn Minuten später raste die Ambulanz mit Benjamin Luginbühl in Richtung Bezirksspital; von dort wurde er mit dem Helikopter weitertransportiert. Er hatte eine Hirnblutung erlitten, die man nur in der «Insel», dem Berner Universitätsspital, stillen konnte.

Interlaken, April 1998

Bruno Tadic und Dölf Imobstgarten begegneten einander in einer Disco in Interlaken. Es war purer Zufall: Dölf, eigentlich Adolf, Imobstgarten hatte zuvor noch nie eine Disco besucht. Und er wäre auch diesmal nicht hingegangen, hätte ihn nicht ein Arbeitskollege dazu überredet. Seine Eltern hatten ihm immer erzählt, dass in Discos Drogen konsumiert würden und dort Schwule verkehrten. Aber alle seine Arbeitskollegen waren schon einmal in einer Disco gewesen, und Imobstgarten wollte nicht anders sein als die anderen. Also ging er eben hin.

Die Musik dort gefiel ihm nicht. Die Mädchen dagegen schon. Man konnte da einfach herumzucken, plötzlich stand man neben einem Mädchen, das lachte einen an und kam so nahe, dass es einen berührte. Man wurde von ihm berührt und musste es nicht selbst tun. Denn dazu hätte sich Imobstgarten niemals durchringen können. Auch dazu hatten seine Eltern eine sehr bestimmte Einstellung.

Imobstgartens Eltern waren gläubig und gehörten einer Freikirche an – keiner Sekte im engeren Sinne, sondern einer Glaubensgemeinschaft, die auch den Besuch der Landeskirche zuliess. Man war einfach noch eine Spur frömmer als die gewöhnlichen Mitglieder der offiziellen evangelisch-reformierten Kirche. Zu jeder Mahlzeit wurde ein Gebet gesprochen und mindestens einmal pro Woche in der Bibel gelesen. Man war überzeugt davon, dass die Erde nicht älter als sechstausend Jahre war und dass Gott sie in sechs Tagen erschaffen hatte.

Es gab viele Familien dieser Art auf dem Bödeli, wo man von Haus aus sehr konservativ war. Man schätzte Veränderungen nicht, war Neuerungen gegenüber misstrauisch, und zugezogene Nachbarn galten noch nach zwanzig oder dreissig Jahren als «fremde Fötzel».

Die Imobstgartens waren nicht arm, aber auch nicht reich. Der Vater, Abraham Imobstgarten, arbeitete auf dem Flugplatz, wo er für die Ordnung auf den Liegenschaften zuständig war. Der Flugplatz gehörte dem Militär, also der Eidgenossenschaft. Imobstgarten senior hatte damit eine sichere Stelle.

Sicherheit und Ordnung, das stand in der Familie Imobstgarten nach dem Glauben gleich an zweiter Stelle. Politik war kein grosses Thema. Man setzte sich für den Erhalt der Schweizer Armee ein und kämpfte gegen fremde Einflüsse, die als verderblich angesehen wurden. Abraham Imobstgarten wählte die Partei der Eidgenössischen Christen. Nur er. Die Mutter, Sarah, nicht. Politik blieb bei den Imobstgartens Männersache. Auch das war auf dem Bödeli nicht unüblich.

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