Kehrsatz - Peter Beutler - E-Book

Kehrsatz E-Book

Peter Beutler

4,0

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, macht das alte Ehepaar Matter eine furchtbare Entdeckung. Im Kellergeschoss eines kleinen Einfamilienhauses finden sie in der Tiefkühltruhe die Leiche ihrer Tochter Julia. Alle Indizien deuten darauf hin, dass deren Mann der Täter ist. Doch vor Gericht halten die Beweise nicht stand. Wachtmeister Willi Däpp ermittelt in einem Fall, der Geschichte schreiben wird...

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Seitenzahl: 478

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Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg aufgewachsen, einem kleinen Dorf am Fusse der Berner Alpen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer am Gymnasium Musegg in Luzern. Seit 2007 lebt er mit seiner Frau am Thunersee.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

© 2016 Emons Verlag GmbH ©2016 Peter Beutler Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Prisma Bildagentur AG/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-087-4 Originalausgabe

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In memoriam ChristineZ.,

1

Frühling 1970

Der zwölfjährige Micha ging mit Mutter und Vater jeden zweiten Sonntagnachmittag in den Gottesdienst. Fünfmal im Jahr in der eigenen Wohnstube, zwanzigmal in einer anderen im Gürbetal oder im Schwarzenburgerland.

Für die Leute im Dorf war Micha ein «Stündeler-Bub». Es gab in Chäsitz viele Stündeler-Kinder. Chäsitz, so nennen die Einheimischen ihr Dorf Kehrsatz. Am nordwestlichen Zipfel des Gemeindegebiets ergiesst sich die Gürbe in die Aare. Die Gürbe gibt dem Tal, in dem Kehrsatz liegt, den Namen.

Micha, der noch drei ältere Brüder hatte, war ein liebes Kind. Er grüsste immer freundlich und lobte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Gott. Obwohl er sich gar nicht vorstellen konnte, wer eigentlich Gott war. Er fragte seine Eltern immer wieder danach, auch den Lehrer. Die Antwort war stets dieselbe: Du darfst dir kein Bildnis von Gott machen, Gott ist heilig. Micha hätte gern gewusst, was «heilig» ist, doch er begriff, dass ihm das niemand hätte sagen können.

Eines Tages baumelte am Rosenbogen vor dem Haus der Witschis, so hiessen Michas Eltern, eine Katze, gleich einem Menschen an einem Galgen.

«BÜSIINKEHRSATZERHÄNGT» stand am nächsten Tag auf der Frontseite von «Heute!». Mit Bild.

Der Landjäger aus Belp klopfte am nächsten Morgen, kurz nachdem der Briefträger die Post gebracht hatte, an die Haustüre der Witschis. Es war ihm peinlich, denn die Witschis waren rechtschaffene Leute, die sich nie etwas hatten zuschulden kommen lassen. Die Mutter galt als sehr fromm, der Vater etwas weniger. Der Polizist fragte, wer den Kater erhängt habe.

Das wüssten sie nicht. Sie hätten das tote Tier sofort vom Rosenbogen weggenommen und zur Tierkadaverstelle gebracht.

Die Witschis wussten es tatsächlich nicht. Erst kurz vor Weihnachten erfuhren sie in einem Hausgottesdienst, wer diese Freveltat begangen hatte. Der Prediger bat die Gemeindemitglieder, ihre Sünden zu bekennen. Micha streckte auf und fragte, was «bekennen» bedeute. Der Prediger erklärte es. Micha verstand und bekannte. Er habe an jenem Sonntag im Mai den Kater erhängt. Er habe aber gedacht, er tue Gutes, denn zuvor habe er in der Predigt gehört, Katzen seien unreine Tiere.

Der Prediger ergriff den Hakenstock, den er als Gehhilfe immer neben die Bibel legte, und schlug damit auf Micha ein und sagte: «Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser bringt Böses hervor aus dem bösen.»

Micha verstand es nicht. Er fragte auch nicht nach.

2

Mittwoch, 1.August 1985

Die beiden Alten stierten in die Kühltruhe. Er wurde bleicher und bleicher, dicke Schweisstropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Ihr Gesicht nahm geradezu unheimliche Züge an, etwas zwischen Entsetzen, Trauer und Wut. Nach einigen Augenblicken fing sie zu schreien an, schrill und laut, sodass es einem durch Mark und Bein ging. Eine Frau aus der Nachbarschaft musste die Schreie gehört haben und rief den Polizeiposten in Belp an.

Belp war zu dieser Zeit der Hauptort des heute nicht mehr existierenden Amtsbezirks Seftigen und liegt einige Kilometer talaufwärts von Kehrsatz.

Kaum zwanzig Minuten später tauchte Wachtmeister Willi Däpp im Türrahmen des Kellergeschosses auf. Er sah Eva und Abraham Mettler. Wie zwei zu Salzsäulen erstarrte Figuren standen sie da.

«Ist etwas nicht gut?», fragte Däpp einfühlsam. Er wohnte ebenfalls in Kehrsatz und kannte die Mettlers schon von Jugend an.

Es kam keine Antwort.

Er trat zu den beiden und warf einen Blick in die Kühltruhe.

«Oh mein Gott!»

Däpp hielt die Hand vor den Mund, als ob er verhindern wollte, sich zu übergeben, dann legte er sie über Abraham Mettlers Schulter. «Das ist ja furchtbar.»

Ein junger Polizeioffizier trat in die Waschküche. Er stellte sich als Major Ernst Nydegger von der Kripo Bern-Stadt vor. Er sei via Sprechfunk informiert worden, an der Gurtenstrasse in Kehrsatz habe sich ein Vorfall ereignet, der unter Umständen interessant sein könnte.

Däpp führte ihn zur Tiefkühltruhe und schilderte in knappen Sätzen, was er über die Tote seit ihrer Vermisstenmeldung bis dahin wusste. Nydegger sagte dazu: «Wunderbar, dieser Fall ist sozusagen gelöst. Es liegt ja auf der Hand, wer der Täter ist.»

Däpp sah das nicht so. «Warten wir ab. Schon oft waren wir fast sicher, alles sei klar, und am Schluss der Untersuchung hatten wir nichts in Händen.»

Das verwundere ihn nicht. In den Reihen der Berner Polizei gebe es eben zu viele Weicheier. Sie würden die Kriminellen zu wenig hart anfassen. Ein spöttisches Lächeln huschte über Nydeggers Gesicht, er grüsste militärisch, drehte sich auf dem Absatz um, und weg war er. Ungläubig liessen die Mettlers diesen Auftritt über sich ergehen.

«Sie beide müssen weg von hier. Gehen wir zusammen die paar Schritte zu Ihrem Haus. Ich mache Ihnen dort einen Kaffee, und ich habe einige Fragen», sagte Däpp.

Alle drei sassen am Tisch in der Küche von Mettlers, eine Tasse des dampfenden Getränks vor sich. Nach langen Minuten des Schweigens begann Däpp zu reden. «Man sieht von der Leiche nur den nackten Po zwischen den vielen Plastiksäcken von Kühlgut. Um wen könnte es sich handeln?»

Abraham Mettler sagte nichts, seine Eva auch nicht. Stattdessen sahen sie den Polizisten nur verständnislos an.

«Am Samstag, den 27.Juli, hat Micha Witschi, Ihr Schwiegersohn, bei uns eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Seine Frau, Julia, sei nach einem Besuch in der Stadt Bern an diesem Vormittag nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Könnte es sich bei der toten Person um Ihre Tochter handeln?»

Eva Mettler begann leise zu schluchzen. «Ja, es kann nur Julia sein.»

Abraham Mettler sagte: «Micha hat sie umgebracht. Daran habe ich keine Zweifel.»

«Wo ist Micha Witschi jetzt?»

«Wahrscheinlich bei seiner Geliebten, Lotta Schneider, im noblen Muri.»

Däpps Miene sprach Bände. Das sei ja fast nicht zu glauben. Seine Frau werde vermisst, und er treibe es mit einer anderen. Ob daran wirklich etwas sei.

Leider ja. Micha sei ein Lump. Dass er Frauenbekanntschaften habe, sei in ganz Chäsitz bekannt. Julia habe darunter gelitten.

«Julia und Micha sind ja erst seit zwei Jahren verheiratet.» Es folgte eine längere Pause, dann fuhr Däpp weiter. «Wir werden Micha Witschi jetzt gleich aufgreifen und ihn auf dem Posten Belp vernehmen. Wo in Muri?»

«In der Villa Schneider an der Pourtalèsstrasse.» Die Hausnummer kenne er nicht.

Das werde man herausfinden, meinte Däpp.

* * *

Bei dem Haus des jungen Ehepaars Witschi ging es plötzlich hektisch zu. Mehrere Fahrzeuge, darunter ein Leichentransporter und ein Kleinbus der Kantonspolizei, standen davor. Die Strasse wurde einseitig gesperrt, was am Abend der Bundesfeier zu einem kleineren Verkehrsstau führte. Neben den ohrenbetäubenden «Schweizer Krachern» und den Explosionen berstender Raketen kam jetzt das wütende Hupen von Automobilisten dazu. Um das Chaos perfekt zu machen, fanden sich Gaffer am Ort des Geschehens ein. Immer mehr, an der anlaufenden Feier, auf der Wiese südlich des Bahnhofs, hatte sich bereits herumgesprochen, dass an der Gurtenstrasse Bemerkenswertes los sei.

Ein Raunen ging durch die immer grösser werdende Zuschauermenge vor dem Haus der Witschis, als statt eines Sarges eine grosse Tiefkühltruhe von vier Polizisten in den Leichenwagen geschoben wurde. Was hatte das zu bedeuten? Verschiedenste Theorien wurden herumgeboten. Am meisten Zuspruch fand jene, die von einem geplanten Anschlag gegen Witschi ausging. Eine Bombe in der Tiefkühltruhe? Witschi war vor Kurzem vom Gemeinderat zum Ortschef der Zivilschutzorganisation gewählt worden.

* * *

Im grossen Garten in der Villa Schneider an der Pourtalèsstrasse in Muri war die 1.-August-Party bereits seit einer Stunde in vollem Gang. Nach der ersten Runde am Buffet kam das Feuerwerk an die Reihe. Raketen stiegen in die Höhe und explodierten zu bunten Sternen am dunklen Himmel. Die Zuschauer, auch die ausserhalb der eingezäunten Liegenschaft, fanden das schön und spendeten Beifall. Die beiden Polizeigefreiten, die ausgeschickt worden waren, um Witschi zum Verhör abzuholen, mussten mehrmals an der Gartentorglocke läuten, bis ihnen ein Angestellter des Hauses Einlass gewährte, sie zum Buffet geleitete und ihnen anerbot, sich zu bedienen: Bratwürste, Käse, Brot, Bier oder Wein. Die Polizisten wollten weder essen noch trinken. Sie schauten sich um. Micha Witschi war gerade im Begriff, sich hinter einen der vielen grossen Büsche zu verziehen. Doch es war zu spät. Die Polizisten hatten ihn entdeckt.

Sie baten ihn diskret, ihnen zu folgen. Das tat er zunächst nicht, sondern verlangte stattdessen den Haftbefehl. Die beiden Gefreiten wiesen ihn darauf hin, dass die Polizei auch ohne Haftbefehl jemanden abführen und vernehmen dürfe. Dann zog der eine der Uniformierten Handschellen aus der Seitentasche seiner Hose. Witschi fügte sich und verliess mit den beiden Polizisten das Grundstück der Schneiders.

* * *

Im Verhörraum des Schlosses Belp sass Witschi an einem langen Metalltisch auf einer Holzbank. Der Raum war eine Art Kellergewölbe. Ohne Fenster, mit abbröckelndem Verputz an den Wänden, trotz der trockenen Hitze draussen feucht. Die Luft war zum Schneiden, moderig und sonderte den Muff von Jahrhunderten ab. In längst vergangenen Zeiten mochte es eine Folterkammer des alten Berns gewesen sein, in der aufmüpfige Untertanen des einst mächtigen Stadtstaates zur Räson gebracht wurden. Witschi gegenüber hatten Wachtmeister Däpp und ein junger Gefreiter Platz genommen. Vor Letzterem stand eine grosse, alte Schreibmaschine, die, als der Polizist in die Tasten griff, um das Protokoll vorzubereiten, einen Krach wie eine Maschinenpistole verbreitete.

Nun hockte Witschi genau an dem Ort, an dem er sonst seinen Untergebenen im Zivilschutz drohte, wenn sie sich seinen Anweisungen widersetzten.

«So, wir können anfangen, Herr Witschi», sagte Däpp mit einer Stimme, der trotz der Freundlichkeit etwas Einschüchterndes anhaftete.

Der Gefreite nahm Witschis Personalien auf, was diesen zur Bemerkung veranlasste, dass das unnötig sei. Der Polizei in Belp seien sein Geburtsdatum, Wohnort und Beruf längst bekannt. Däpp wies Witschi zurecht, er müsse sich nun damit abfinden, ein Gefangener zu sein. Gefangene hätten ohne Hinterfragen die Anweisungen der Polizei zu befolgen.

Däpp: Herr Witschi, wissen Sie, weshalb Sie festgenommen wurden?

Witschi: Keine Ahnung.

Däpp: Ihre Gattin wurde heute am frühen Abend im Keller Ihres Hauses erschlagen und gefesselt in der Tiefkühltruhe aufgefunden. Wir müssen davon ausgehen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.

Witschi (fährt zusammen, beginnt zu schluchzen): Das ist ja schrecklich.

Däpp: Es fällt mir schwer, Ihnen Ihre Trauer abzukaufen.

Witschi: Warum?

Däpp: Ihre Frau wird vermisst, und Sie feiern den 1.August mit einer Geliebten. Witschi, hören Sie bitte mit diesem Theater auf.

Witschi: Däpp, man kann wirklich mehr als eine Frau gleichzeitig lieben.

Däpp: Warum haben Sie mich angelogen, als ich bei Ihnen nachfragte, ob Sie eine Geliebte hätten? Am Morgen des 28.Juli auf dem Posten Belp war das, am letzten Sonntag.

Witschi: Ich war der Meinung, das sei Privatsache.

Däpp: Ist es auch, bis eben etwas geschieht, das den Einsatz der Polizei erforderlich macht. Haben Sie Julia Witschi umgebracht?

Witschi: Nein.

Däpp: Wer könnte es gewesen sein?

Witschi (zuckt mit den Achseln): Ich wüsste wirklich nicht, wer sich zu einer solchen Schandtat hätte hinreissen lassen.

Däpp: Die sterblichen Überreste Ihrer Frau befinden sich im Gerichtsmedizinischen Institut der Universität Bern. Dort soll festgestellt werden, wann und wie sie umgekommen ist. Wenn wir diese Informationen haben, werden wir nochmals mit Ihnen reden.

Witschi: Kann ich jetzt wieder nach Hause gehen?

Däpp: Das ist zurzeit nicht möglich.

Witschi: Ich möchte einen Anwalt.

Däpp: Das heisst im Kanton Bern Fürsprech. In der Anfangsphase der Untersuchungshaft ist das nicht vorgesehen.

Das Verhör dauerte kaum zehn Minuten, danach wurde Witschi aufgefordert, das Protokoll zu unterzeichnen, was er verweigerte. Däpp nahm diesen Ungehorsam mit grosser Gelassenheit entgegen und verlas das Schriftstück mit ruhiger, langsamer Stimme. Nun sei die Unterschrift nicht mehr nötig. Man wollte mit ihr nur sicherstellen, dass der Verhörte alles mitbekommen habe.

Däpp drückte einen Knopf unter dem Tisch. Kurz danach hörte man schwere Schritte, die näher kamen. Die Tür öffnete sich, und zwei ältere Männer in der Uniform von Gefangenenwärtern traten in den Raum. Einer trug eine Hose und eine Jacke über dem Unterarm, beides mit der Musterung eines Pyjamas. Der andere schleppte einen grossen Jutesack über den Fussboden.

«Sie werden jetzt neu eingekleidet. Hosen und Jacke sind etwas gewöhnungsbedürftig. Sie bestehen aus rauem, schwerem Stoff. Das gilt auch für die Unterwäsche. Die Toilettenartikel werden Ihnen morgen früh in die Zelle gebracht. Geduscht wird wöchentlich einmal. Für die tägliche Körperpflege ist das Lavabo in der Zelle vorgesehen. Es handelt sich um normales Leitungswasser. Temperatur acht bis sechzehn Grad, je nach Jahreszeit. Das Klo befindet sich auch in der Zelle. Halten Sie es bitte immer sauber. Klappen Sie stets den Deckel darüber, sonst stinkt es in Ihrem Verschlag grauenhaft. Merken Sie sich den Standort des Klos. Ab einundzwanzig Uhr ist im Gefängnistrakt Lichterlöschen. Im Bett werden Nachthemden aus Leinen getragen. Übrigens: Tagwache ist um halb sechs.»

Witschi wollte etwas darauf sagen. Däpp gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er nicht über die Haftbedingungen diskutieren wollte.

Die Uhr wurde Witschi abgenommen, sein Kugelschreiber auch. Den Bleistiftstummel und die braune Taschenbibel liess man ihm. Er las daraus und unterstrich folgende Stelle:

Und sie stürzten sie herab. Sie zerschmetterte am Boden, wobei die Wand und die Pferde mit ihrem Blut bespritzt wurden. Juhu zerstampfte die Leiche mit seinem Pferd. Danach ging Juhu essen. Nach dem Essen wollte er sie begraben, denn sie war immerhin eine Königstochter. Aber er fand nur noch ihre Füsse, ihre Hände und ihren Kopf. So hatte sich Gottes Befehl erfüllt: «Die Hunde sollen sie fressen, und ihr Aas soll wie Kot auf dem Felde verfaulen. Niemand soll sie mehr erkennen.»

3

1974 bis 1979

Die Eltern Witschi hatten sich im Herbst 1974 getrennt. Micha konnte das nicht verstehen, denn die Ehe galt in der evangelikalen Freikirche seiner Eltern als unzertrennlich.

Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.

Diese Stelle unterstrich Micha rot in seiner kleinen braunen Bibel. Der Sechzehnjährige entschied sich für den Vater, der wenige hundert Meter vom früheren Zuhause in eine bescheidene Wohnung einzog. Der Vater war viel ausser Haus. Micha, der das erste Lehrjahr als Bauzeichner begonnen hatte, vermisste seine Mutter sehr. Sie wohnte lediglich einige Häuser weiter oben in derselben Strasse. Er besuchte sie mehrmals wöchentlich.

Im unteren Stock lebte die Witwe Grau. Sie war einiges jünger als Michas Mutter, so zwischen dreissig und vierzig. Er durfte über die Mittagszeit bei ihr essen. Und manchmal, wenn der Vater als Lokomotivführer Nachtdienst hatte, auch in einem Zimmer ihrer Wohnung schlafen.

Frau Grau hatte grosse Brüste, und das erregte Micha zunehmend. Zumal sie beim Abendessen ihre Bluse öffnete und der knapp bemessene Büstenhalter die prallen Brüste nur notdürftig abdeckte. Irgendwie störte es sie nicht, dass Micha mit seinen Blicken ihren Busen verschlang.

Ob er ihr einmal die Titten anfassen dürfe, erkundigte sich Micha.

Frau Grau wiegte den Kopf hin und her, so als ob sie lange überlegen müsste.

«Also komm, Junge, und setz dich auf meinen Schoss.»

Micha tat das und schob seine zarten Finger zwischen ihren Büstenhalter und die Brust.

Frau Grau legte ihre Hand auf Michas Oberschenkel und schob sie sachte Richtung Hüfte, öffnete ihm die Hose, legte die Hand zwischen seine Beine und sagte: «Du, ich spüre etwas. Du wirst bald ein Mann sein.» Sie griff über ihren Rücken, und ihrBH fiel herab. «Küss meine Brüste.»

So verlor Micha seine Unschuld. Frau Grau war zufrieden und Micha auch. Der Anfang war gemacht. Und Micha wünschte sich bald jüngeres Fleisch, allerdings mochte er deswegen auf das ältere nicht verzichten.

Micha bandelte mit einem gleichaltrigen Mädchen an. Einem Mädchen, über das man in der Gemeinde munkelte, dass es sich mit Männern herumtrieb. Doch er blitzte ab. Das machte ihm schwer zu schaffen. Er suchte nach einem anderen Weg, an das Mädchen heranzukommen. Micha kaufte Klebetiketten, rosafarbene, und schrieb darauf mit violetter Tinte: «Ursula». Und unten ganz klein: «Ich liebe dich.» Er klebte die Etiketten etwa an fünfzig Laternenpfähle im Dorf.

Einige Tage später läutete es an der Wohnungstür. Es war der Landjäger aus Belp. Zum Glück war der Vater nicht zu Hause.

«Witschi Micha?»

«Ja.»

«Darf ich hereinkommen?» Der Landjäger schob seinen linken Schuh in den Türrahmen, ging durch den Korridor in die Küche, zog ein Stempelkissen und ein weisses Blatt Papier aus seiner Mappe und legte diese Sachen auf den Tisch.

«Ich möchte Fingerabdrücke von Ihnen.»

Der Landjäger befahl Micha, jeden Finger beider Hände zunächst auf das Stempelkissen, dann auf das Blatt zu drücken.

Micha tat es widerspruchslos.

Der Landjäger zog ein anderes Blatt aus der Mappe und legte es daneben. «Sehen Sie sich das genau an, was sagen Sie dazu?»

«Es sind die gleichen.»

«Wir wissen also genau, wovon wir reden. Warum haben Sie das getan?»

Witschi kratzte sich nervös in den Haaren. «Das Mädchen ist vielleicht wirklich eine Hure. Aber mir gefällt es trotzdem. Ich versuchte es ja nur auf den richtigen Weg zu bringen.»

«Ich weiss, dass es ein Flittchen ist. Aber so etwas dürfen Sie trotzdem nicht tun. Der Vater des Mädchens hat eine Anzeige gegen unbekannt eingereicht. Ich habe den Auftrag gefasst, denjenigen, der die Etiketten an die Pfosten geklebt hat, ausfindig zu machen. Das Mädchen hat ausgesagt, Sie, Micha Witschi, könnten es gewesen sein.»

Was nun geschehen würde, erkundigte sich Witschi.

«Sie bekommen eine Vorladung des Jugendanwalts. Und selbstverständlich werden Ihr Vater und Ihr Lehrmeister informiert werden.»

Witschi wurde ziemlich bleich.

«Junge, es wird nicht viel passieren. Aber wir haben Gesetze, und die gelten auch für leichte Mädchen. Du wirst eine Verwarnung bekommen. Beim Vater des Mädchens habe ich bereits deponiert, er sollte besser auf seine Tochter aufpassen.»

Witschi kam mit einem blauen Auge davon. Der Vater verabreichte ihm eine kräftige Ohrfeige. Der Lehrmeister schmunzelte und sagte nur, er sei ein dummer Bub. «Du hättest das Mädchen gescheiter gevögelt, statt sie vor dem ganzen Dorf blosszustellen.»

* * *

Im Sommer 1975 erlitt Michas Vater einen Herzanfall, den er nicht überlebte. Micha verwarf das Angebot seiner Mutter, wieder zu ihr zurückzukehren. Er bezog die einfache Dachwohnung im selben Haus, wo der Vater zur Miete gewesen war. Er war häufig bei Frau Grau, die ihm die Wäsche machte, ihn oft zum Essen einlud und Weiteres.

Am Abend des Neujahrestages 1976 wurde Micha Witschi mit Handschellen aus seiner Mansarde abgeführt und in den Verhörraum des Schlosses Belp überstellt. Dort traf er die fünf anderen Jungen, ebenfalls in Handschellen, und die vier Mädchen der Party der vergangenen Nacht an. Die Mädchen waren in Begleitung ihrer Väter.

Wachtmeister Däpp eröffnete die Sitzung und begann gleich mit dem, weswegen die jungen Burschen festgenommen worden waren. Sie hätten die Mädchen vergewaltigt. Er möchte ihre Antworten zu dieser schwerwiegenden Anschuldigung hören. Nur einer streckte auf. Micha Witschi.

Alle wären betrunken gewesen, besonders die Mädchen.

Einer der Väter rief dazwischen, das treffe nicht zu.

Däpp unterbrach ihn, bat ihn, den Angeschuldigten zuerst ausreden zu lassen, und fügte bei, ein Arzt habe den Mädchen eine Blutprobe entnommen. Sie hätten alle einen für ihr jugendliches Alter hohen Alkoholpegel gehabt. Das sei unbestritten, rechtfertige aber noch keineswegs eine Vergewaltigung.

«Kam es zum Geschlechtsverkehr zwischen Ihnen und einem der Mädchen?», fragte Däpp Micha Witschi.

Er hielt einen Moment inne. Seine Augen wurden feucht, und plötzlich liefen Tränen über seine Wangen. «Ja, mit zweien von ihnen.» Er zeigte auf zwei der Mädchen. «Es tut mir so leid. Aber es ergab sich halt so. Wir alle waren stockbesoffen.»

«Schon gut, Micha, wir wollten es ja auch», sagte eines der Mädchen, und das andere nickte.

Däpp war wie vom Donner gerührt. Er hatte das nicht erwartet.

Er ging auf Witschi zu, sah ihn scharf an, öffnete seine Handfesseln und sagte: «Verschwinden Sie von hier, bevor ich es mir anders überlege.»

Die ganze Versammlung der Jugendlichen beiderlei Geschlechts löste sich buchstäblich in Augenwasser auf. Alle jungen Männer durften unbehelligt nach Hause gehen.

Micha nahm seine kleine braune Bibel aus der Tasche und unterstrich folgenden Text:

Glücklicherweise war in Silo gerade ein Jahresfest Gottes. Aus den tanzenden Mädchen durfte sich jeder Benjamiter eines holen. Die aufgebrachten Männer von Silo trösteten sie mit den Worten: «Seid froh, dass ihr euch nicht schuldig gemacht habt, ihr habt sie ihnen ja nicht gegeben.»

Däpp begab sich ziemlich frustriert nach Hause. Er kam gerade rechtzeitig zum Abendessen, das Susi mit viel Bedacht und Liebe zubereitet hatte. Ihre beiden halbwüchsigen Kinder waren gerade bei Däpps Eltern auf Besuch, so durfte er Susi berichten, was sich bei der Vernehmung der mutmasslichen Vergewaltiger zugetragen hatte.

Susi fand das beunruhigend. Männer wie Witschi mochten eine Seltenheit sein, aber sie würden oft ungemeines Unheil anrichten. Susi riet Willi, den jungen Witschi im Auge zu behalten.

* * *

Der gerade einundzwanzig gewordene Micha Witschi sass mit etwa zehn gleichaltrigen Burschen am runden Tisch im «Rössli» von Kehrsatz.

Eine Frau betrat die Gaststube, setzte sich an einen Tisch, der ihr Sichtkontakt mit den jungen Männern erlaubte. Die Frau war zwischen fünfundzwanzig und dreissig und trug eng anliegende Kleider, die ihre Figur zur Geltung brachten. Ihre Postur, die grossen Brüste und das imposante Hinterteil, zogen die Blicke der Männer im Raum auf sich.

Am runden Tisch ging ein Getuschel los. «Sexbombe», «Knackarsch», «scharfes Ding» waren Worte, obwohl nur geflüstert, die gut vernehmbar durch die Wirtsstube schwirrten. Die Dame mit einem Alltagsgesicht schien das nicht im Mindesten zu stören. Sie zog aus einer pinkfarbenen Mappe einen Block Papier und begann mit einem Bleistift darauf zu schreiben.

Die Spitze brach ab, und die Frau sah hilfesuchend in die Runde. «Hat einer von euch einen Spitzer? Wäre sehr lieb, wenn ich den gerade benutzen dürfte.»

Die jungen Männer stierten einander fragend an. Am raschesten reagierte Witschi. «Ich wohne nicht weit von hier. Ich hole gleich einen von zu Hause. In fünf Minuten bin ich zurück.»

Als Micha Witschi der jungen Frau den Spitzer überreichte, bekam er einen Kuss auf die Wange. Triumphierend sah er zu seinen Altersgenossen hinüber. Als er sich wieder zu ihnen setzte, empfingen sie ihn anerkennend. Hatte die junge Frau jeweils einige Zeilen geschrieben, lächelte sie zu Witschi hinüber. Seine Kumpel hänselten ihn deswegen ein wenig, aber irgendwie wertschätzend. «Setz dich doch neben sie. Hast du genügend Geld? Wir können dir aushelfen.» Jeder steckte ihm diskret einen Fünfliber in die Jackentasche.

Witschi stand auf und schritt leicht unsicher zum Tisch der jungen Dame. «Darf ich?»

Sie lächelte und fragte: «Was?»

«Mich zu Ihnen setzen?»

Die Frau musterte Witschi und sagte dann beinahe feierlich: «Ja, du darfst. Géraldine heisse ich. Géraldine Boser.»

Die junge Frau stellte sich weiter vor. Sie arbeite derzeit als Journalistin für das «Tagblatt». Nur so nebenbei. Sie sei gerade an der Abschlussarbeit ihres Psychologiestudiums. «Du bist einige Jahre jünger als ich. Das stört mich aber nicht. Bin ich etwa zu alt für dich?»

Witschi errötete und verneinte. Er sei kein Studierter, nur Bauzeichner. Géraldine schob die Knie an seine, sah ihm in die Augen. «Bei einem Mann frage ich nicht nach dem Beruf, sondern sehe ihn an.» Sie beugte sich zu ihm hinüber, so nah, dass sich die Nasenspitzen beider fast berührten, und fuhr flüsternd fort: «Du hast ein echtes Engelsgesicht und einen sexy Body. Machst du einen Spaziergang mit mir? Es ist ein milder Maiabend.»

Micha Witschi sagte nicht Nein.

«Gehen wir gleich?» Sie warf einen Zweifränkler neben ihr halb ausgetrunkenes Colaglas.

Danach sah man die beiden Hand in Hand die Gurtenstrasse hinaufspazieren.

Für Micha Witschi war die Freundschaft eine ganz neue Art von Beziehung. Ganz sicher nicht eine, die er angestrebt hatte. Géraldine schien nicht gerade zu ihm zu passen. Bildungsmässig und ganz zu schweigen von der Lebenserfahrung. Er konnte da nicht mithalten, was er aber zunächst gar nicht realisierte.

«Komm übers Wochenende mit in dieWG», eröffnete sie ihm, bevor sie sich von ihm verabschiedete, beinahe im Befehlston.

Was eineWG sei, erkundigte sich Witschi.

«Menschenskind, dass es so was heute noch gibt. Bist du naiv. Aber ich finde das herzig.»

Die WG «Femina» war eine Wohngemeinschaft, die von Studentinnen betrieben wurde. Ein Gegenstück zu den viel zahlreicheren männlich dominierten; in denen gab es auch Frauen, die sich allerdings nützlich machten: Sie kochten, machten die Wäsche und putzten. Die männlichen Bewohner halfen eher weniger mit.

In der WG «Femina» herrschten da ganz andere Sitten. Die jungen Männer waren als Gäste willkommen. Das erste Mal durften sie sich an den Tisch setzen. Dann aber wurden sie angehalten, das Geschirr wegzuräumen und nach kurzer Anleitung abzuwaschen. Kaum einer davon war Handwerker, ein Zeichner wie er, es waren Studenten. Als Studentin sich einen echten Arbeiter zu angeln, galt bei den Frauen derWG als ehrenwert. Sie, die sich der Achtundsechzigerbewegung verpflichtet fühlten, strebten eine klassenlose Gesellschaft an. Doch mit etwas hatten sie nicht gerechnet: Die Angehimmelten aus der Unterschicht waren, geprägt vom Umfeld, dem sie entstammten, meist ziemlich rückständig. Ihre Mütter standen am Herd, machten den Haushalt, so nebenbei auch Putzarbeiten für die oberen Mittelständler. Diese jungen Männer waren es sich nicht gewohnt, im Haushalt Hand anzulegen. Und von Marx und Mao hatten sie nur Schlechtes gehört.

Als nach dem Abwasch ein Politologiestudent Witschi Marxens «Kapital» in die Hand drückte, bedankte sich dieser sehr, setzte sich auf die Couch und begann zu lesen. Nach ein paar Zeilen sagte Witschi: «Interessant», legte das dicke Buch beiseite und versuchte mit dem Studenten ins Gespräch zu kommen. «Ich will Berufsoffizier werden», war der zweite Satz, der Witschi über die Lippen kam. Der Student verstand die Welt nicht mehr und murmelte nur noch: «Was hat diese Géraldine wieder für einen aufgegabelt», erhob sich und verliess den Raum.

Trotz dieser widrigen Umstände verbrachte Witschi in den kommenden Monaten immer wieder Wochenenden in der «Femina». Géraldine liess es nicht an Versuchen fehlen, ihren neuen Freund «umzuerziehen». Oberflächlich schien dieses Unterfangen auch einigen Erfolg zu haben.

Micha Witschi andererseits versuchte Géraldine immer wieder seine Weltanschauung näherzubringen, was diese jeweils mit einem überlegenen Lächeln quittierte. Er verstand da offensichtlich etwas nicht ganz richtig und machte ihr einen Heiratsantrag. Sie sagte weder Nein noch Ja, aber wurde von einem mehrminütigen Lachanfall erfasst. Das war eine herbe Abkühlung der Freundschaft, aber nicht deren Ende. Géraldine wollte das nicht. Sie machte Micha aber klar, sie hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn er zwischendurch auch mit einer anderen Frau unter die Bettdecke schlüpfen würde. Sie würde sich ja das gleiche Recht herausnehmen.

Das verstand Witschi noch weniger. Es lief seinem anerzogenen Frauenbild zuwider. Dass ein Mann einer Frau untreu sein könnte, sei nach christlichen Grundsätzen eine Sünde. Mache eine Frau dasselbe, sei sie eine Hure.

Er zog die kleine braune Bibel aus der Tasche und unterstrich folgende Sätze:

4

Samstag, 27.Juli 1985

Es war wieder ein heisser Tag. In der Nacht war die Temperatur nie unter zwanzig Grad gefallen, bereits um sieben Uhr überschritt sie wieder die Fünfundzwanziger-Marke.

Abraham Mettler hielt es an solchen Tagen nicht lange im Bett. Er stand meist schon vor sechs auf, machte einen Spaziergang durch das Gehölz am Gurtenhang. Gegen acht Uhr kehrte er wieder zurück, um das Frühstück für seine Frau und sich zuzubereiten. Im Vorbeigehen warf er immer einen Blick auf das Heim der Witschis. Er sah, wie sein Schwiegersohn in seinen VWGolf stieg und die Gurtenstrasse hinunterfuhr.

Beim ausgedehnten Frühstück kam die Sprache auf die Ehe von Julia und Micha. Er könne nicht mehr lange untätig zusehen, klagte Abraham Mettler seiner Frau Eva. Micha sei auf dem besten Weg, Julia richtiggehend kaputt zu machen. Er habe von einem Freund erfahren, dass Micha ein neues teures Auto kaufen möchte. «Julia weiss nichts davon, sonst hätte sie es mir gesagt.»

«Da bist du nicht ganz unschuldig, Abraham», gab Eva zu bedenken. «Es ist kaum ein halbes Jahr her, seit du Micha wieder mal unter die Arme gegriffen hast, als er Schulden machte.»

Diesmal werde er hart bleiben, versprach Abraham. Julia und Micha würden ja morgen Sonntag am Mittag zum Geburtstagsessen kommen. Da werde er Micha darauf ansprechen und ihm reinen Wein einschenken. Zuerst müsse er das Geld zurückzahlen, bevor er nur daran denken dürfe, einen neuen Wagen anzuschaffen.

Dass man am Sonntag ausreichend Zeit habe, um dieses Thema zu bereden, bezweifle sie, meinte Eva. Das junge Ehepaar werde im Laufe des Nachmittags an den Murtensee fahren, um dort zwei Wochen Segelferien zu machen. «Dabei hasst Julia Segeln. Sie ist keine Wasserrate. Wenn es windig ist und Wellen das Boot zum Schaukeln bringen, hat sie Angst.»

Einige Minuten nach neun, die Mettlers sassen immer noch am Tisch, hörten sie, wie ein Mofa auf der Gurtenstrasse, das Gefälle ausnutzend, anfuhr. Mehrmals blockte der Motor ab. Das konnte nur Julia sein. «Zeit, dass ich die Kerze an ihrem Gefährt auswechsle», seufzte Abraham. «Micha ist offenbar zu faul für diese Dienstleistung.»

«Aber etwas ist komisch, ich gehe mal schauen», sagte Eva.

Nach einigen Momenten kam sie zurück. «Das war ja Micha. Fast schien es, als habe er das Mofa nur zum Laufen gebracht. Er kehrte gleich wieder zurück und stellte den Motor nicht ab.»

«Dann ist dieser Kerl schon wieder zurückgekehrt, ich habe ihn heute Morgen um acht abfahren sehen mit demVW.»

Die beiden hörten plötzlich, dass das Mofa erneut die Strasse hinunterfuhr. Eva öffnete das Fenster und sah Julia von hinten. Sie glaubte jedenfalls, es sei Julia. Nur etwas machte sie stutzig. «Warum trägt Julia ihren grünen Jupe? Sonst fährt sie eigentlich nur mit Jeans auf dem Mofa.»

Abraham Mettler zuckte nur mit den Schultern.

Bis gegen elf arbeitete Mettler noch im Garten, dann wurde es ihm zu heiss. Als er die Haustüre öffnete, hörte er, wie sein Schwiegersohn mit seinem VWGolf zurückkehrte und ihn in die Garage fuhr.

Eva Mettler bekam die Ankunft Michas auch mit. Sie gehe davon aus, Julia sei mit ihm nach Hause gefahren, sagte sie zu ihrem Mann. Sie nehme sich vor, Julia in etwa einer Viertelstunde zu besuchen und ihr zum Geburtstag zu gratulieren.

Sie dürfe dabei aber Micha nicht vergessen. Auch er sei heute um ein Jahr älter geworden. Siebenundzwanzig.

Es gehe ihr nicht nur um die Geburtstage. Sie wolle sich erkundigen, ob ihre Tochter noch Hilfe für die Vorbereitungen der bevorstehenden Ferien brauche.

Als Eva Mettler im Begriff war, sich nach oben aufzumachen, hörte sie, dass ein Auto beim Haus der Witschis vorfuhr. Sie wartete hinter einem Busch, um herauszukriegen, wer der Besucher oder die Besucherin sei.

Es war Hanspeter Dietrich, der Besitzer des Segelbootes, das Micha für die Ferien mieten wollte. Witschi bat Dietrich, sich an den Gartentisch auf dem Vorplatz zu setzen. Er werde gleich zwei Flaschen Bier holen. Der Gast hatte offenbar etwas falsch verstanden und rannte dem vorauseilenden Witschi nach. Er schlug ihm heftig die Tür vor der Nase zu. Als Witschi mit dem Bier und den Gläsern wieder den Vorplatz betrat, entschuldigte er sich für sein unfreundliches Benehmen. Im Haus sei gerade ein Chaos, er habe sich eben geschämt, jemand Aussenstehendem Einlass zu gewähren.

Bevor er mit ihm die Formalitäten betreffend Bootsmiete aushandle, wolle er ihn über ein privates Problem informieren. Julia, seine Frau, die am frühen Morgen das Haus auf dem Mofa verlassen habe, sei später nicht zu einem vereinbarten Treffen in der Berner Altstadt erschienen, seitdem vermisse er sie.

Dietrich sah auf die Uhr und verzog sein Gesicht. Es sei ja noch nicht einmal Mittag. Seine Angetraute werde bestimmt wieder heimfinden.

Witschi seufzte. In seiner Ehe laufe längst nicht mehr alles rund. Er habe die Absicht gehabt, ihr eine vorübergehende Trennung vorzuschlagen.

«Herr Witschi, behelligen Sie mich bitte nicht mit Ihren privaten Angelegenheiten. Diese interessieren mich schlichtweg nicht.»

Witschi schluckte leer. Das Zerwürfnis mit Julia bedrücke ihn wirklich. Doch er verstehe, dass er von ihm keine Hilfe zu erwarten habe. Dennoch könnte es für ihn eine Erleichterung sein, wenn er sich darüber mit jemandem aussprechen könne.

«Also gut, schiessen Sie los, wenn’s nicht anders geht.»

«Herr Dietrich, ich weiss, dass Sie bereits zum zweiten Mal verheiratet sind. Wie lange dauert es nach einer Scheidung, bis man wieder heiraten darf?»

«Ein, zwei Jahre», genau wisse er das nicht.

«Und wenn die Frau durch einen Unfall umgekommen ist?»

«Witschi, Sie sind ein verdammter Idiot. Ich schlage vor: Wechseln wir das Thema.»

Dietrich legte den Mietvertrag auf den Tisch. Witschi überflog und unterzeichnete ihn. Auf den Hinweis seines Gegenübers, vielleicht wäre es angezeigt, einen solchen Vertrag aufmerksam zu studieren, bevor man ihn unterschreibe, winkte Witschi lässig ab. Das sei Vertrauenssache, es sei ja nicht das erste Mal, dass er dieses Boot miete. Zudem müsse er gleich wieder gehen, um Julia zu suchen.

Witschi öffnete die Flaschen. Die beiden Männer prosteten sich zu, und es wurde eine Weile still. Dann verabschiedete Dietrich sich geschwind.

Eva Mettler, die das Gespräch mitgehört hatte, rannte zu ihrem Haus hinunter und berichtete Abraham darüber. Man kam überein, das Geschehen oben aufmerksam zu beobachten. Mit einem Feldstecher bewaffnet stieg Abraham Mettler in den Dachstock und öffnete das Fernster mit Sicht auf das Anwesen der Witschis. Alles konnte er allerdings nicht sehen. Ein Teil der strassenseitigen Terrasse mit dem Eingang zur Garage und der Haustür blieben ihm verborgen.

Für Eva Mettler stand fest: Ihrem Mann durfte nichts von dem entgehen, was bei ihrem Schwiegersohn passierte. Sie brachte Abraham das Mittagsessen in den Estrich. Für ihn eine Qual, denn es war drückend heiss unter den Dachziegeln. Gleichwohl hielt er durch bis zum Abend. Er notierte seine Beobachtungen in ein Wachstuchheft.

11:20: Micha schleppt einen grossen schwarzen Kehrichtsack über den Vorplatz. Wo er ihn geholt hat, sah ich nicht. Er kam aus Richtung der Garage. Der Sack muss schwer sein, Micha kann ihn nur mit grosser Kraftanstrengung bewegen. Micha verschwindet mit dem Sack aus dem Sichtfeld. Möglicherweise geht er damit ins Haus. Was macht das für einen Sinn?

11:50: Micha schreitet mit zwei hellgrauen, etwas kleineren Kehrichtsäcken auf den Vorplatz. Er begibt sich zur Hecke, die unsere Liegenschaft von der von Julia und Micha trennt. Er nimmt eine Heckenschere aus einem der Säcke und beginnt Zweige vom Hag wegzuschneiden und sie in die beiden Säcke zu verstauen. Die gefüllten Säcke stellt er auf die Terrasse. Das wiederholt er so lange, bis sechs Säcke gefüllt sind.

13:10: David Bircher, Student der Rechte, kommt zu Fuss zum Haus von Julia und Micha. Wo er sich mit Micha unterhält, kann ich nicht sehen. Am Tisch auf der Terrasse? Im Innern des Hauses?

13:20: Bircher verlässt das Anwesen wieder.

15:00: Micha fährt mit seinem Golf weg, die Gurtenstrasse hinunter.

15:40: Micha kommt zurück. Die Garagentür höre ich nicht. Er lässt den Wagen offenbar auf dem Vorplatz stehen.

16:45: Micha mäht den Rasen und schneidet das Gras und die Sträucher rund ums Haus.

17:10: Micha versorgt den Rasenmäher in der Garage. Das Öffnen und Schliessen des Garagentores ist gut hörbar.

Mehrmals während des Nachmittags begab sich Eva Mettler zur Hecke, um festzustellen, was Micha trieb. Sie bekam so das Gespräch zwischen dem jungen David Bircher und Micha mit. David war gekommen, fand sie heraus, weil ihn Micha zuvor angerufen hatte. Er brauche seinen Rat.

Sie schrieb, was gesprochen wurde, in ein Carnet de notes.

Micha: Was wir jetzt bereden, ist streng vertraulich. Ich frage dich in deiner Eigenschaft als Student der Jurisprudenz. Eine verheiratete Frau wird vermisst und taucht vorläufig nicht auf. Wie lange muss der Ehemann warten, bis er sich wieder verheiraten kann?

David: Eine Wiederverheiratung ist erst möglich, wenn die Frau für tot erklärt wird. Eine Todeserklärung wird erst ausgestellt, wenn die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass die betroffene Person nicht mehr lebt.

Micha: Wie lange dauert das?

David: Das hängt davon ab, unter welchen Umständen die Person vermisst wird. Ist sie von einer Bergtour oder nach dem Schwimmen in einem See oder Fluss nicht mehr zurückgekehrt, darf sie schon nach einem Jahr für tot erklärt werden. Wenn sie aber von einem an sich harmlosen Ausflug wegbleibe, könnte es mehrere Jahre dauern.

Micha: Scheisse.

David: Warum Scheisse?

Micha: Ich vermisse Julia seit heute Vormittag.

David: Blödmann. Sag so was ja nie laut. Wenn Julia nach der Vermisstenmeldung längere Zeit fernbleibt, wird sich die Polizei einschalten. Sie wird in Erwägung ziehen, dass Julia einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Verdächtigt werden zuerst die Angehörigen. Du als Ehemann sowieso.

Micha: Wie lange dauert es, bis dem Ehemann die Lebensversicherung, die er für die Frau abgeschlossen hat, ausbezahlt wird?

David: Sag nicht, du hättest eine Lebensversicherung auf deine Frau abgeschlossen?

Micha: Natürlich, das habe ich.

David: Verdammt. Du wirst grosse Probleme bekommen. Wäre ich jetzt schon Anwalt, müsste ich es mir genau überlegen, ob ich dich verteidigte. Zu deiner Frage: Du erhältst die Lebensversicherung ausbezahlt, wenn deine Frau für tot erklärt wird und du nicht verurteilt worden bist, sie umgebracht zu haben. Bei den meisten Lebensversicherungen gibt es noch eine Klausel, nach der bei Selbstmord die Versicherungsleistung erlischt. Es gibt immer wieder Fälle, bei denen ein Unternehmer vor dem Konkurs steht, sich das Leben nimmt und mit der Versicherungssumme die Weiterexistenz seiner Angehörigen gewährleisten möchte.

Später stellte Eva Mettler fest, dass Micha zwischen halb zwei und circa drei Uhr im grossen Raum des Kellergeschosses, in dem sich eine Waschmaschine und eine Kühltruhe befanden, tätig war. Um sich ein genaueres Bild von seiner Betriebsamkeit zu machen, schlich Eva heimlich ans Fenster. Sie sah, dass ihr Schwiegersohn den Boden schrubbte sowie die Waschmaschine und die Kühltruhe mit einem Lappen heftig abrieb. Er trug bei diesen Verrichtungen Handschuhe.

Bis am Abend war Julia noch nicht heimgekehrt. Die Mettlers, am Boden zerstört über das, was sie während des Nachmittags erfahren hatten, diskutierten lange darüber, ob sie zur Polizei gehen sollten. Abraham Mettler war für Zuwarten. Man sollte zuerst mit Micha reden. Eva Mettler, die Micha am liebsten sofort aus dem oberen Haus weggejagt hätte, lenkte widerstrebend ein.

Gegen sieben läuteten die Mettlers an der Haustür von Julia und Micha. An einem Sandwich kauend öffnete Micha.

«Dass du in dieser Situation noch Appetit hast», zischte ihn seine Schwiegermutter an.

Micha mimte den Erstaunten. «Warum? Was ist denn los?»

«Wir wissen, dass Julia seit dem frühen Morgen nicht mehr nach Hause gekommen ist», schrie Eva Mettler Micha an.

Micha blickte schuldbewusst zu Boden. Das treffe leider zu. Er habe alles unternommen, Julia zu finden, leider erfolglos.

«Was denn?», fragte Eva.

Micha bat die beiden, hereinzukommen und sich an den Stubentisch zu setzen. Das sei eine längere Geschichte. Er wolle sie gern loswerden.

Er erzählte seine Version des Tagesverlaufs mit Tränen in den Augen.

«Julia hat das Haus mit dem Mofa heute Morgen bereits um Viertel vor acht verlassen. Er sei ungefähr um acht Uhr weggefahren.»

Mettlers sahen einander verblüfft an. Eva wollte etwas sagen, Abraham gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, vorerst zu schweigen.

Micha erzählte mit zerknirschter Miene weiter. Einiges stimmte mit den Beobachtungen von Mettlers überein, dass der Bootsbesitzer Dietrich ihn nach elf besucht, er den Rasen gemäht habe, circa um drei weggefahren und gegen vier wieder zurückgekehrt sei, Sträucher geschnitten und die dabei angefallenen Grünabfälle in Kehrichtsäcke gestopft habe. Den Besuch von David Bircher verschwieg er, ebenso die Putzaktion in der Waschküche.

Abraham hielt es kaum mehr auf dem Stuhl, als er Michas lückenhafte Schilderung über sich ergehen liess. «Ich glaube dir nicht, was du eben von dir gegeben hast. Deine Scheinheiligkeit ist nicht mehr zu überbieten. Krokodilstränen laufen dir über die Wangen, und im Innern kicherst du. Hör endlich auf mit dieser schmierigen Verstellung, und zwar bevor mir die Hand ausrutscht.»

Micha bat seinen Schwiegervater, sich zu beruhigen. Er beteuerte, die Wahrheit gesagt zu haben. Er habe tatsächlich um zehn Uhr mit Julia in einem Café in der Berner Altstadt ein Treffen vereinbart gehabt. Dafür gebe es Zeugen. Zum Beispiel die Inhaberin des Coiffeursalons an der Belpstrasse, von der sich Julia am Donnerstagmorgen die Haare habe schneiden lassen. Er habe bereits herausgefunden, wo Julias Töffli parkiert sei. Bei der Tram-Endschlaufe in Wabern. Zudem habe er sich heute Nachmittag bei allen Spitälern in der Region Bern erkundigt, ob eine verletzte Frau eingeliefert worden sei. Man habe ihm die beruhigende Auskunft gegeben, dass dies nicht der Fall sei.

«Verletzt? Durch was?», fragte Mettler nach.

«Sie könnte mit dem Mofa gestürzt sein.»

«Dann hat Julia es kilometerweit zur Tram-Haltestelle gestossen und es dort in den Zweiradunterstand gestellt. Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich?»

Das war offenbar ein Volltreffer. Witschi sackte richtiggehend zusammen. Blieb jedenfalls eine Antwort darauf schuldig.

«Wir erwarten von dir, dass du schleunigst auf den Polizeiposten in Belp gehst und dort eine Vermisstenanzeige aufgibst. Nimm alles an Papieren mit, die dafür notwendig sind. Ein oder besser mehrere Fotos von Julia, ihren Pass, das Familienbüchlein. Überlege dir, was für Kleider sie getragen hat. Und lüge bitte nicht. Etwas lass dir gesagt sein: Wir wollen unsere Tochter zurück.»

Witschi wiegte den Kopf zweifelnd hin und her. «Es könnte ja sein, dass Julia sich eine Auszeit genommen hat. Vielleicht ist sie zu einer Freundin gegangen, hat dort geklagt, in unserer Ehe laufe nicht mehr alles rund. Und wie die Weiber halt sind. Sie hat Julia empfohlen, ein paar Tage wegzubleiben, ich würde mich dann nachher mehr um sie kümmern. Ich denke, wir sollten noch einige Tage warten, bis wir die Polizei einschalten.»

Abraham Mettler schüttelte dezidiert den Kopf. «Du begibst dich jetzt gleich auf den Posten nach Belp. Ich kenne den Mann, der dort das Sagen hat: Wachtmeister Däpp. Ich werde mich in einer Stunde bei ihm erkundigen, ob du bei ihm gewesen bist. Wehe, du unterlässt das.– Komm, Eva, wir gehen jetzt. Ich kann es nicht mehr ertragen, wie uns Micha immer wieder anlügt.» Mettlers standen auf und gingen zu ihrem Haus hinunter.

* * *

Knapp eine halbe Stunde später meldete sich Witschi beim Polizeiposten Belp und gab die Vermisstenanzeige auf. Am Schalter stand ein junger Polizeimann. Er war freundlich und bemüht, Micha Witschi, der sich ausgesprochen bedrückt gab, Trost zu spenden. Er solle die Hoffnung nicht verlieren. Es komme mehr vor, als man denke, dass junge Ehefrauen Reissaus nähmen. Nicht selten kehrten sie reumütig zurück. Diese Geschöpfe würden einfach zu viel Zeit am Fernsehen verbringen. Er habe seiner auch schon für eine Woche den Flimmerkasten zum Schweigen gebracht. Das könne er nämlich. Vor der Polizeischule sei er in eine Lehre als Elektroapparatemonteur gegangen und habe diese erfolgreich abgeschlossen.

Er habe sich als Bauzeichner ausbilden lassen, nahm Micha Witschi dankbar das Gespräch auf. Nun arbeite er als Stellvertreter des Bauverwalters in Kehrsatz.

«Wunderbar, dann sind Sie der neue Ortschef der dortigen Zivilschutzorganisation. Eine tolle Aufgabe. Gratuliere.»

Der Polizist und Witschi sprachen noch lange miteinander. Plötzlich schrillte das Telefon. Es war Däpp, der sich erkundigte, ob die Vermisstenanzeige für Julia aufgegeben worden sei.

«Gut, ich werde es ihm mitteilen. Noch schönen Abend, Wachtmeister.» Zu Witschi gewandt sagte der Polizist: «Jemand wünscht Sie morgen zu sprechen. Sie sollen ihn noch vor halb acht anrufen.» Der Polizist schrieb auf einen Zettel eine Telefonnummer und reichte sie Witschi.

«Am Sonntag?», fragte Witschi verwundert.

5

Montag, 27.Juli 2015

Im nobel eingerichteten Besprechungszimmer des «Medienhauses» sassen am antiken runden Eichentisch drei Herren und eine Frau: Ida Santschi, CEO, Melchior Rohrer, der Leiter der Abteilung Finanzen, Isidor Ehrsam, der Chefreporter, und ein Gast, der behauptete, er heisse Micha Witschi.

Dass die drei wichtigsten Personen eines der grössten und mächtigsten Medienkonzerne der Schweiz einen Mann, von dem sie nicht einmal die Identität überprüft hatten, empfingen, war nicht alltäglich. Doch die Informationen, die Witschi vorgab, ihnen anbieten zu können, bewogen Ida Santschi und Melchior Rohrer, sofort zuzugreifen. Und Ehrsam verband eine gemeinsame Geschichte mit ihm. Als er ihn nun nach so langer Zeit wiedersah, kam er ihm völlig fremd vor.

Er, Micha Witschi, habe sich durchgerungen, zu einem Verbrechen, das vor dreissig Jahren verübt worden war und das ganze Land über Monate in Atem gehalten hatte, eine wichtige Aussage zu machen. Das werde er aber nicht unentgeltlich tun. Nachdem seine Aussage über die Medien verbreitet worden sei, müsse er sich eine neue Identität zulegen, einen neuen Wohnort in einem anderen Land suchen, und das koste ihn eine Stange Geld.

Wie viel er glaube, dass seine Informationen wert seien, wollte Rohrer wissen.

«Eine halbe Million Schweizer Franken wäre ein angemessener Preis, denn die Leute in unserem Land werden sich um die Ausgabe mit der Enthüllung des spektakulärsten Mordfalls in der jüngeren Schweizer Kriminalgeschichte reissen.»

Eine stolze Summe sei das, gab Rohrer zu bedenken. Bevor das «Medienhaus» einen solchen Betrag freigäbe, müssten umfangreiche Abklärungen vorgenommen werden.

Die Tür öffnete sich, und ein Mann in einem grünen Labormantel trat ein. Ida Santschi stellte ihn Micha Witschi als den Sicherheitsbeauftragten des Unternehmens vor. Er hielt ein Stempelkissen und zwei weisse A4-Blätter in Händen, das eine mit Fingerabdrücken, das andere leer.

«In unserem Archiv haben wir die Fingerabdrücke des Micha Witschi aus der Zeit der Untersuchungshaft im Jahre 1985 gefunden. Sollten Sie ein Falsifikat von ihm sein, teilen Sie uns das bitte jetzt mit. Dann dürfen Sie dieses Haus unbehelligt verlassen. Andernfalls werden wir Sie der Polizei überweisen», sagte Santschi und warf Witschi einen Blick zu, der an Entschlossenheit nichts zu wünschen übrig liess.

Witschi erhob sich und ging mit ausgestreckten Händen auf den Sicherheitsbeauftragten zu.

Die Fingerabdrücke stimmen genau mit denen von 1985 überein, sagte der Sicherheitschef, nachdem Witschi seine beiden Daumen in das Stempelkissen und danach auf das Blatt gedrückt hatte.

Der erste Test war also bestanden. Aber das genügte Santschi noch nicht. Sie wollte wissen, wie das Leben Witschis all die Jahre nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus verlaufen sei.

Witschi erzählte seine Version. Die ersten Jahre stimmten mit den Aufzeichnungen, die sie aus dem Archiv des «Medienhauses» geholt und gelesen hatte, abgesehen von kleineren Abweichungen, überein. Dann gebe es aber erhebliche Differenzen, sagte Santschi.

«Sagen Sie uns die ganze Wahrheit. Beschönigen Sie nichts. Wir wissen nicht alles, aber einiges mehr, als Sie glauben. Wir geben Ihnen Zeit, sich zu überlegen, was Sie uns anvertrauen wollen. Wir reservieren Ihnen ein Hotelzimmer für…», Ida Santschi sah den Leiter der Finanzabteilung an, «für ein, zwei Monate. Dann müssen wir mit Ihnen ins Reine gekommen sein. Ob die Summe, die wir Ihnen letztendlich aushändigen, den Betrag, den Sie erwarten, erreicht, hängt davon ab, wie Sie mit uns kooperieren. Wir treffen uns morgen um dieselbe Zeit wieder in diesem Büro.»

Wieder öffnete sich die Tür, und ein Mann, der wie ein Diener aussah, überreichte Witschi ein Couvert.

«Da ist genügend Geld drin, dass Sie sich die nächsten Monate über Wasser halten können», sagte Ida Santschi. Sie und der Finanzchef erhoben sich und verliessen den Raum, ohne Witschi die Hand zu schütteln.

Anders der Chefreporter Ehrsam. Er trat auf Witschi zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte: «Kennen Sie mich noch?»

«Wie könnte ich Sie vergessen. Sie haben mich mit Ihren Radiosendungen aus dem Knast befreit.»

«Sie haben mir auch geholfen, Micha Witschi. Diese Sendeserie hat mich berühmt gemacht. Ich war damals, 1985, erst dreissig Jahre alt. Ich ging seinerzeit davon aus, dass das, was ich über die Medien verbreitet hatte, der Wirklichkeit entsprach. Aber vielleicht stellt sich nun heraus, dass ich mich geirrt hatte. Kein Problem. In diesem Fall bekomme ich die Gelegenheit, ein Buch über den Tod von Julia Witschi zu schreiben. Die Chancen, dass es sich gut verkauft, dürften intakt sein.»

Ehrsam geleitete Witschi zum Ausgang und verabschiedete sich mit einem kräftigen Händedruck von ihm.

Nachdem Witschi sich einige Schritte vom Ausgang des «Medienhauses» entfernt hatte, griff er in seine Jackentasche, nahm seine kleine braune Bibel heraus, blätterte darin und unterstrich folgende Stelle:

6

1979 bis 1981

Ende September 1979 verunfallte Micha Witschi auf einer Bergtour. Er zog sich dabei eine komplizierte Beinfraktur zu und musste mehrere Wochen im Spital Interlaken verbringen. Im Januar hätte er in die Unteroffiziersschule einrücken sollen.

Da er immer noch eine Armeekarriere ins Auge fasste, erkundigte er sich beim Chefarzt der Unfallabteilung, ob er beim Militär ein Gesuch einreichen müsse, um die Ausbildung zum Unteroffizier ein Jahr zu verschieben. Worauf dieser ihm lächelnd mitteilte: «Junger Mann, Sie haben Glück. Ihre Verletzung wird bleibende Schäden hinterlassen. Sie werden keinen Tag mehr Militärdienst leisten müssen.»

Witschi packte das nackte Entsetzen. Der Arzt sah ihn verständnislos an. «Ich verstehe nicht, weshalb Sie plötzlich derart bedrückt dreinschauen. Ich weiss von kaum einem jungen Menschen, der den Militärdienst liebt. Die meisten nehmen ihn als notwendiges Übel auf sich, andere verweigern ihn sogar, mit schlimmen Folgen. Das mit den ‹bleibenden Schäden› ist für Ihr späteres Leben nicht gravierend. Aber Sie werden keine Gewaltmärsche mit Vollpackung bestreiten können. Von einem Soldaten der Schweizer Armee wird das erwartet. Auf die Beine komme es dort an, nicht auf den Kopf.»

Dem Arzt warf Witschi einen feindseligen Blick zu. Gehörte der Mann in Weiss etwa zur Gilde der Armeeabschaffer? Er glaubte nicht so recht daran, dass er wegen der Verletzung am Bein als dienstuntauglich abgestempelt würde.

So rückte er im Januar 1980 humpelnd in die Militärschule ein. Damit fiel er bereits auf, als er das Areal betrat. Vom einweisenden Feldweibel wurde er gleich in die Krankenabteilung verwiesen. Dort stellte ihm der diensthabende Arzt, ein Hauptmann, einige Fragen. Dann sah er sich kurz das Bein an. Er machte kein Federlesen, drückte einen Stempel auf die hinterste Seite von Witschis Dienstbüchlein und hielt ihm den Eintrag unter die Nase. «Dienstuntauglich». In der Schweizer Armee habe es keinen Platz für Krüppel. Das war ein richtiger Schlag in Witschis Gesicht. Als er das Kasernenareal verliess, sah er sich nach einer Wirtschaft um. In der Nähe von Kasernen gab es damals und gibt es heute fast immer Gaststätten. Einige Minuten später sass er in einer Wirtsstube und begann sich zu betrinken. So sehr, dass er zwei Stunden später besinnungslos unter den Tisch fiel. Er erwachte am Nachmittag im Krankenzimmer der Kaserne, was zur Folge hatte, dass er, bevor er entlassen wurde, noch Tage in der Arrestzelle verbringen musste.

Als er niedergeschlagen zu seiner Kehrsatzer Mansarde, die den Namen Wohnung nicht verdiente, emporstieg, schlug er sich mit dem Gedanken herum, auszuwandern. Aber wohin? In die USA? Das wäre am naheliegendsten, doch seine Englischkenntnisse waren derart kläglich, dass er in Amerika wohl nur mit einer schlecht bezahlten Hilfsarbeiterstelle hätte anfangen müssen. Von einem bescheidenen Lebensstandard in die Armut abzudriften, kam für ihn nicht in Frage.

Er beschloss, seine sechzigjährige Mutter, die im nahen Belp in einfachen Verhältnissen lebte, zu besuchen. Weniger um mit ihr über seine Probleme zu sprechen, sondern schmutzige Wäsche gegen saubere auszutauschen. Bei dieser Gelegenheit bat er sie noch um etwas Bargeld, was sie ihm bereitwillig gab, denn sie sparte alles vom Mund ab, damit sie ihrem geliebten Sohn einen guten Start ins Leben ermöglichen konnte.

Vor Antritt der Unteroffiziersschule hatte er seine Stelle bei einer kleinen Baufirma im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber vorsorglich gekündigt. Er wisse ja nicht, ob er noch die Feldweibel- oder Offiziersschule machen wolle. In diesem Falle müsste er sich nach einem grösseren Unternehmen umsehen, das auch bereit und in der Lage sei, ihm ein freiwilliges Weitermachen im Militär zu finanzieren.

Da der Arbeitsmarkt, gerade im Baugewerbe, ziemlich ausgetrocknet war, fand Witschi nach seinem Rauswurf aus der Armee gleich wieder eine Stelle, diesmal bei einem grossen Unternehmen und zu noch besseren Bedingungen. Vom ersten Lohn, den er erhielt, beschaffte er sich die erste Rate eines Kredits für einen Sportwagen. Der Verkäufer war der Gebrauchtwarenhändler James Merz, eine schillernde Figur in der grossen Agglomerationsgemeinde Köniz. Merz wohnte dort im Einfamilienhausquartier Spiegel. Der Sitz seiner Firma war in einer etwas heruntergekommenen Zone im Ortsteil Wabern, zwischen mehrstöckigen Wohnsilos aus den dreissiger Jahren und zerfallenden Fabrikgebäuden.

Hinter vorgehaltener Hand sagte er zu Witschi, eine Karre, die ein James Merz verkaufe, sei stets mehr wert, als er für sie verlange. Er habe diese hier, er zeigte auf einen MG-Sportwagen mit Baujahr so um die 1970, aus einer Konkursmasse sehr günstig erstehen können. Der Konkursit, ein Bekannter von ihm, verbüsse derzeit eine Gefängnisstrafe in Witzwil. Es könnte sein, dass der Sportwagen Diebesgut sei. Aber das habe man zum Glück nicht nachweisen können, da die Motornummer weggefeilt worden sei. Er habe mit viel Geschick erreicht, dass das Auto im Strassenverkehrsamt durchgewinkt worden sei.

Micha Witschi stehe damit in seiner Schuld. «Wir sind ab sofort dicke Freunde.» Merz bot Witschi das Du an. Autohandel sei Vertrauenssache und dürfe nur unter Freunden abgewickelt werden. «Es könnte sein, dass ich einmal froh wäre, wenn ich deine Dienste beanspruchen dürfte.»

* * *

Micha Witschi fühlte sich plötzlich wieder stark genug, um neu mit Géraldine Boser anzubandeln. Dieses Weibsstück mit seinem rotenMG auszuführen, das wäre was.

Keinem anderen von Géraldines zahlreichen Verehrern, die mit Ausnahme Michas alle aus dem akademischen Milieu stammten, wäre das eingefallen. Sie hätte das auch vehement zurückgewiesen. Doch von Micha akzeptierte sie es. Natürlich veranstaltete sie, als er sie vor der «Femina» abholte, ein Zetermordio. «Was bist du für ein gottverdammtes Arschloch», schrie sie ihn augenzwinkernd an, zog dabei aber gleichzeitig ihren Minirock hoch, sodass ihr schwarzes Höschen sichtbar wurde. An diesem ausnehmend schönen, warmen Maitag kam Micha Witschi voll auf die Rechnung. An der romantischsten Stelle im Schwarzwassertal bog er in ein Strässchen mit einem etwas verdeckten Fahrverbotsschild ein und parkierte denMG hinter einem grossen Baum. Géraldine zog ihn ins Unterholz.

Zwei Monate später eröffnete sie ihm, schwanger zu sein. Sie habe aber überhaupt nicht die Absicht, das Kind auszutragen. Sie werde sich Ende Juli in eine Klinik nach Holland verziehen. Um das Finanzielle werde sie sich selbstverständlich kümmern. Für sie sei das kein Problem. Das Mindeste, was er noch machen könne, sei, sie dorthinzufahren. Er solle bei seinem Arbeitgeber eine Woche Ferien beantragen.

Als er ihr zu bedenken gab, das dürfte schwierig sein, diese Zeit falle gerade in eine besonders aktive Bautätigkeit, verpasste sie ihm mit flacher Hand eine Ohrfeige. Micha liess das ohne Gegenreaktion geschehen. Dass Géraldine ihn nicht in die Entscheidung einbezog, das werdende Kind abzutreiben, nagte an seinem Selbstbewusstsein. Zumindest war ihm jetzt klar, dass sie nie bereit sein würde, mit ihm zusammenzuleben. Doch in seinem Innersten hegte er den tiefen Wunsch nach einer dauernden Beziehung mit einer Frau. Das war das Leben, das er sich vorstellen konnte: Eine Frau am Herd, die seine Kinder betreute, während er seine Geschäfte machte.

Anfang August konnte Micha es einrichten, und er fuhr mit Géraldine nach Amsterdam. Seine Wartezeit verbrachte er in einer billigen Absteige. Für den Aufenthalt in Holland müsse er selbst aufkommen, hatte sie ihm klargemacht. Ein Stachel bohrte sich tief in seine Seele. Rachegedanken gegen sie stiegen in ihm auf. Aber was konnte er gegen eine Frau, die ihm in jeder Hinsicht überlegen war, ausrichten? Sie eifersüchtig machen? Das musste er vergessen. Es schien ihr sogar nichts auszumachen, wenn er mit einer anderen Frau eine Beziehung eingehen würde.

Micha Witschi nahm seine kleine braune Bibel aus dem Hosensack, blätterte darin und unterstrich mit Rotstift folgenden Satz:

Nach drei Monaten wurde Juda angesagt: Deine Tochter Tamar hat Hurerei getrieben; und siehe, sie ist davon schwanger geworden. Juda sprach: Führt sie heraus, dass sie verbrannt werde.

* * *

Als er wieder zurück in Kehrsatz war, fand Witschi ein Aufgebot des Amtes für Zivilschutz in seinem Briefkasten. Ende Februar 1981 sollte er im Ausbildungszentrum der Stadt Bern einen dreiwöchigen Einführungskurs absolvieren. Das Schreiben war sehr freundlich abgefasst. Beigelegt waren auch weiterführende Kurse für Kader des Zivilschutzes, mit einem Hinweis, dass die Organisation des Bevölkerungsschutzes für die Unabhängigkeit des Landes enorm wichtig sei. Eine unbewaffnete Formation, die eng mit der Schweizer Armee zusammenarbeite. Dem Zivilschutz würden, falls eine Invasion von Truppen des Warschauer Paktes stattfände, wichtige Ordnungsfunktionen zukommen.

Das Wasser lief Witschi im Mund zusammen. Ja, da musste er zugreifen. Sein Traum, Menschen herumzukommandieren, war also doch nicht ganz ausgeträumt. Und der Vorteil: All das war in seinem Dorf möglich. Er kannte die Menschen dort. Über Leute, von denen man viel weiss, lässt sich bequemer Macht ausüben. Diese Lektion hatte er längst begriffen.

Damit war sein Entschluss gefasst. Er wollte in Chäsitz endgültig Fuss fassen. Die Frau, die seine Gemahlin werden sollte, musste von da kommen. Aus, für diesen Ort wenigstens, gutem Haus. Zumindest tageslichttauglich sollte sie auch sein, gut lenkbar und offen für allfällige Seitensprünge, auf die er ganz sicher nicht verzichten würde. Das machten ja andere einflussreiche Männer ebenso.