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„Kritik“ ist hier nicht im Sinne von „Kritik üben“ gemeint, sondern im Sinne von Kants transzendentaler (= reflexiver) Wende: als erkenntnistheoretische Sichtung der „Anfangsgründe“ oder Bauelemente einer Disziplin. Doch im Unterschied zur „reinen Vernunft“ darf der „integralen Vernunft“ nichts Menschliches fremd bleiben. Seit der notwendigen Emanzipation der empirischen Psychologie von der Philosophie vor einhundert Jahren kam es zu einer fortschreitenden Entfremdung zwischen den beiden Disziplinen. Inzwischen aber tut integrale, auf neue Ganzheit zielende, interdisziplinäre Zusammenarbeit not. Philosophische Psychologie ist Bewusstseinsforschung. Der unverlierbare „Schatten“ des Bewusstseins aber ist das Unbewusste. Heinrichs' systematische Theorie des Unbewussten kann weder an Sigmund Freud noch an C. G. Jung noch an deren philosophische Vorgänger wie Eduard von Hartmann ohne weiteres anschließen, so sehr er auch deren jeweils einseitige Erkenntnisse kritisch einbezieht. Heinrichs Hauptthese in diesem II. Band: Es gibt gar nicht "das" Unbewusste, vielmehr drei grundverschiedene Quellen von Unbewusstheit: das physische Unterbewusste, das geistige Überbewusste sowie die ganz zentrale, doch bisher nicht thematisierte Unbewusstheit des impliziten Bewusstseins. Mit seiner zuerst in Öko-Logik (1997/2007) praktizierten Methode der Schnittflächen des anthropologischen Drei-Kreise-Modells breitet er more geometrico eine Landkarte des Unbewussten vor uns aus, wie sie es in dieser Differenzierung noch nie gegeben hat. Er wagt sich dabei weit in das Gebiet der psychischen Störungen vor und wird konkret. Seine Erkenntnisse haben jedoch nicht den Charakter dogmatischer Vorgaben für klinische PsychologInnen und PsychiaterInnen. Diese philosophischen „Anfangsgründe“ werfen vielmehr tausend Fragen auf und deuten behutsam neue Wege zu ihrer theoretischen und praktischen Lösung an. "Ich wüsste keine andere so umfassende, strukturierende Abhandlung über das Unbewusste zu nennen." (aus dem Vorwort von Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald, Schweisfurth-Stiftung)
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhalt
Aus dem Vorwort zu den Bänden I und II
Der Grundansatz in Rückblick und Vorblick
Anthropologische Grundlagen (Resümee aus Band I)
Der neue Grundansatz (Vorblick)
1. Das physische Unterbewusste
2. Das seelische Unbewusste als implizites Bewusstsein
3. Das geistige Überbewusste
Historische Situierung dieses Ansatzes
Beziehung zur antiken Lehre von den Elementen. Temperament und Charakter
1. Der Seelenkreis: Unbewusstes als implizites Bewusstsein
1.1 Das reine Selbstbewusstsein im Unterschied zum empirischen Selbstbild
1.1.1 Empirisches Selbstbild und transzendentales Ich (Ich und Selbst)
1.1.2 Selbstbewusstsein als „Kausalkörper“ mit reinkarnatorischer Geschichte
1.1.3 Vom ahnenden zum wahnhaften Bewusstsein (Störungen)
1.1.4 Die Abspaltung des begleitenden „Ich“ überhaupt
1.2 Der Lebenskörper
1.2.1 Der Nahrungstrieb und seine Störungen
1.2.2 Der Bewegungstrieb und seine Störungen
1.2.3 Der Sexualtrieb und die Neurosenbildung nach Freud
1.2.4 Der Orientierungstrieb und die Grundformen der Angst
1.2.5 Die unbewussten gesellschaftlichen Metamorphosen der Triebe
1.3 Der Gefühlskörper
Exkurs: Gestalten des Narzissmus als Störungen des Selbstbezugs-im-Fremdbezug
1.4 Das Geist-Seele-Feld der Intuitionen und Ahnungen
1.5 Synchronizitäten auf der Grenze von Seele und Geist
2. Der Geistkreis des Überbewussten
2.1 Überbewusste logische Gesetze (zum Mentalkörper)
2.2 Die Reflexionslogik des Gefühlskörpers und seine Archetypen (in Handlung, Sprache, Kunst)
2.2.1 Die überbewusste „Grammatik der Gefühle“
2.2.2 Überbewusste Gefühls-Aprioris im Handeln
2.2.3 Das kollektive Unbewusste und die semiotischen Ebenen als archetypische
2.2.4 Die Archetypen Künstler und Mystiker
2.3 Kosmisches Bewusstsein und die religiösen Archetypen
2.4 Logosbewusstsein (Samadhi)
2.5 Verschieden bedingte „Geistesstörungen“
3. Der Körperkreis des Unterbewussten
3.1 Der Mentalkörper. Drei Informationsarten. (Gedächtnis 1)
3.2 Der Erlebniskörper oder „endothyme Grund“ (Gedächtnis 2)
3.3 Der psychosomatische Lebenskörper oder „Lebensgrund“ (Gedächtnis 3)
3.4 Der physische Ausdruckskörper (K1)
3.5 Allgemeinere Somatisierungsverhältnisse
3.5.1 Störungen im physischen Ausdruckskörper: dissoziative Störungen/Konversionsstörungen/ Hysterie
3.5.2 Somatoforme Störungen des Lebenskörpers
3.5.3 Störungen im Ausdrucksverlangen des Gefühlskörpers: somatisiertes Zwangverhalten
3.5.4 Psychogene Demenzformen und Nervenkrankheiten
Syntheseversuche
Ein Traum
Die vier Bewusstseinszustände: Schlaf, Traum, Wachbewusstsein und Überbewusstheit
Ist der Mensch im Tiefschlaf dem Göttlichen am nächsten? (Swami Chinmayananda)
Exkurs zum Strukturalismus von Arnold Keyserling
Die vier Bewusstseinszustände als Reflexionsstufen und Schnittflächen des Drei-Kreise-Modells
Die siebenfache Mensch
1. Der physikalische Körper: unterbewusster Ausdruck
2. Der Lebenskörper: das Unterbewusste als Vorbewusstes
3. Der Erlebnis- oder Astralkörper: das Vorbewusste der Gefühls- und Traumwelt
4. Der Mentalkörper: die Spaltung in explizite Bewusstheit und Gedächtnis-Latenz
5. Das Selbstbewusstsein: die Vorbewusstheit des Impliziten und das „Herz“
6. Das kosmische Bewusstsein: das sprachfähige Überbewusstsein
7. Das reine Bewusstsein des Logos/Atman, G1: das sprachlose Überbewusste
Zusammenfassung im Vergleich mit C.G. Jung
„Das“ Unbewusste und “die Psyche“
Exkurs zu Kreativität und „innerer Stimme“
Fazit und Aufgaben
Das gesellschaftliche Unbewusste: kollektiv-psychologische Perspektiven der Reflexions-Systemtheorie
Die fundamentale Unbewusstheit der Systembildung
1. Unbewusstes im Subsystem Wirtschaft: von der totalitären zur dienenden Wirtschaft
2. Unbewusstes im Subsystem Politik: Entwurf einer viergliedrigen Wertstufendemokratie
3. Unbewusstes im Subsystem Kultur: die systemische „Familienaufstellung“ (Bemerkungen zur Integration von Migranten)
4. Unbewusstes im Subsystem der Grundwerte: das Sehnen nach meta-kommunikativer Gemeinschaft (Bemerkungen zur Sozialpsychologie des Holocaust)
Anfangsgründe einer reflexions-systemischen Sozialpsychologie
1. Adaption: kollektive Bedürfnisbefriedigung
2. Goal attainment: Formen der individuellen und kollektiven Zielverfolgung (Machtfragen)
3. Integration: der Kommunikationsprozess als Spiel der Erwartungen
4. Latent pattern: Metakommunikation als Letztnormenprozess
Soziale Haltungen und Rollen
Exkurs: Diskussion von Julian Jaynes‘ Der Ursprung des Bewusstseins
Abrundende Sentenzen
Es gibt Bücher, die einfach notwendig und längst fällig sind. Man wundert sich, dass und warum sie nicht längst geschrieben wurden. Diese „Philosophischen Anfangsgründe der Psychologie“ gehören dazu. Denn wo in aller Welt werden die Bewusstseinsfunktionen des Menschen, von denen wir alltäglich sprechen, wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Intuieren, aber auch so Grundlegendes wie der gewöhnliche Leerlauf der Gedanken, in ihrer inneren, systematischen Verzahnung behandelt? Wo geschieht dergleichen ferner mit den vielfachen Bedeutungen des „Unbewussten“? Es handelt sich um ganz notwendige Aufgaben der philosophischen Bewusstseinstheorie, die nicht einfach an empirisch-psychologische Einzeluntersuchungen abgetreten werden können.
Philosophie war stets Bewusstseinstheorie, und sie ist es in der von Heinrichs in vielen anderen Schriften nachgezeichneten Selbstentfaltung der methodischen Reflexion in der Neuzeit immer bewusster geworden. Doch nach der Emanzipation der empirischen Psychologie von ihrer Mutterwissenschaft, der Philosophie, vor nicht einmal hundert Jahren, wagte sich keiner mehr an eine ganzheitlich philosophische Betrachtung der Psychologie heran. Den Philosophen war sie zu empirisch-psychologisch, den psychologischen Empirikern war ein philosophischer Ansatz in der Psychologie zu „spekulativ“ oder zu spirituell geworden.
Es bedurfte der Ausbildung einer ausdrücklichen Disziplin des menschlichen Reflexionsvermögens, von Heinrichs Reflexionstheorie und Reflexions-Systemtheorie genannt, sowie eines Verfahrens der methodischen Rekonstruktion der Phänomene, präzise zwischen Induktion und Deduktion gelegen, um diesen systematischen Brückenschlag zu wagen.
Inhaltlich hätte eine Bescheidenheitsgeste darin gelegen, nur von „Anfangsgründen der Philosophischen Psychologie“ zu reden statt wie jetzt einfachhin von Philosophischer Psychologie. Der Autor wäre damit in Deckung gegangen vor der Übermacht der derzeitigen empirischen Psychologie und ihrer therapeutischen Anwendung. Diese Bescheidenheit schien dem Verlag mit Recht unangebracht. Denn ohne Klarheit ihrer ersten Begriffe können auch Empiriker kaum Wissenschaftlichkeit beanspruchen, ob sie es zugeben oder nicht.
Heinrichs überbrückt mit seiner rekonstruktiven Methode indessen nicht allein den Graben zwischen philosophischer Grundlagenbesinnung und empirischer Forschung, sondern mit dem Titel „integral“ auch den Graben zwischen Wissenschaft und Spiritualität, ohne aber die wissenschaftlichen Maßstäbe zu verlassen wie andere „integrale“ Denker. Wissenschaft geht nicht etwa in Mystik über, sowenig wie in Kunst. Gegen eine Vermischung dieser Bereiche stellt Heinrichs verschiedene semiotische Ebenen der gelebten Reflexion heraus, die in der Praxis nicht aufeinander rückführbar sind. Durch reflexionstheoretisch genaue Unterscheidung der verschiedenen Stufen der Selbst-reflexivität des menschlichen Bewusstseins setzt er das Programm der klassischen deutschen Philosophie in schöpferischer Weise fort, ohne die verunglückte Verhältnisbestimmung von Wissenschaft, Kunst, Religion, Philosophie und politischer Praxis bei Hegel oder umgekehrt bei Marx übernehmen zu müssen. (Für Hegel werden Kunst und Religion bekanntlich in der Philosophie aufgehoben und die politische Praxis scheint keinen eigenen reflexionstheoretischen Status zu haben.)
Das Bestreben, vom Philosophischen her die Strukturen spiritueller Erfahrungen und Ebenen rekonstruktiv zu verstehen, ist aber völlig verschieden von dem Anspruch, die gelebten Erfahrungen (z.B. in Kunst oder Spiritualität) inhaltlich philosophisch einholen oder gar ersetzen zu können. Diese Differenz zwischen strukturellem Verstehen und spirituellen (wie übrigens allen sonstigen) Erfahrungsinhalten wird bei Heinrichs gewahrt durch seine philosophische Semiotik, durch jene Lehre von semiotischen Reflexionsebenen (Handlung – Sprache – Kunst – Mystik). Auf den methodisch feinen, aber in der Sache gewaltigen Unterschied zwischen struktureller Erfassung des Spirituellen/Mystischen durch Philosophie einerseits und andererseits einem angeblichen Eintretenkönnen des einen für das andere, als ob mystische Erfahrungen die Verlängerung des philosophischen Denkens wären, kann sowohl die spirituelle wie die universitätsphilosophische Leserschaft schon vorweg nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden. An solchen Unterschieden zeigt sich, ob sauber gedacht wird oder eine neue Glaubensgemeinde unter dem Titel „integrales Denken“ bedient wird.
Wie man sieht, geht es in diesen „Anfangsgründen“ um Welt, Mensch und Geist bewegende Grundsatzpositionen und um eine längst anstehende, neue Synthese. Das Entsprechende lässt sich von der Behandlung des Unbewussten in Band II sagen, der ähnlich über Freud und C.G. Jung hinausgeht wie der Band I über die philosophischen Pioniere. Ich wüsste keine andere so umfassende, strukturierende Abhandlung über das Unbewusste zu nennen. Diese eröffnet ähnlich viel Raum und Anregung für die viel genannte „Macht des Unbewussten“, für die psychologische Diagnose von krankhaften Verdrängungsphänomenen, für den bewussteren Umgang mit dem gesunden Unbewussten, wie es der I. Band für gelebte Spiritualität tut.
Wir haben es bei dieser „Kritik“ im Sinne von kritischer Bestandsaufnahme der integralen Vernunft freilich nicht mit Ratgeber-Literatur zu tun, sondern mit philosophischer Grundlagenbesinnung, die den Ratgebern erst einmal selbst zur Orientierung in besagten Praxisfeldern mit ihren verbindenden Mustern verhelfen kann. Für das Zeitalter der Synthese, in das wir durch die sich aktuell zuspitzenden Krisen hindurch zu gelangen hoffen, werden solche Synthesen unerlässlich werden. Im Politikerjargon gesprochen: „unverzichtbar“.
Ich wünsche vielen Lesern auf dieser streng in logischen Spuren gehaltenen Bahn durch das gewaltige Gebirge der menschlichen Psyche viel freudiges Staunen und verwertbare Einsichten.
München, im November 2017 Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald
Vorstand der Schweisfurth-Stiftung
„Wir können das Unbewusste nicht direkt erforschen – eben weil es unbewusst ist und wir daher keinen Zugang zu ihm haben. Wir können uns nur mit den bewussten Gegebenheiten befassen, von denen wir annehmen, dass sie ihre Wurzeln in dem Bereich haben, den wir das Unbewusste nennen, dem Bereich der ‚dunklen Vorstellungen‘, die nach der Anthropologie des Philosophen Kant die halbe Welt ausmachen.“
(C.G. Jung, Über Grundlagen der analytischen Psychologie)
Henry F. Ellenberger bemerkt am Schluss seines an historischen Detailkenntnissen ungemein reichen Kompendiums Die Entdeckung des Unbewussten:
„Tatsächlich haben wir es mit zwei Auffassungen von der Realität zu tun, die einander gegenüberstehen, und es scheint, als könne man sich dem Bereich des Seelenlebens von zwei Seiten nähern, die beide ihre Berechtigung haben: entweder mit der genauen Technik des Messens, Quantifizierens und Experimentierens des Forschungsspezialisten oder mit dem unmittelbaren, nicht quantifizierbaren Vorgehen des Psychotherapeuten dynamischer Richtung.
Dieser hat es also mit dem zu tun, was Jung psychische Existenzen oder psychische Realität nennt. Aber was genau ist denn psychische Realität?
…
Die Koexistenz von zwei unvereinbaren Methoden zur Erkenntnis der menschlichen Seele wirkt schockierend auf das Bedürfnis des Wissenschaftlers nach Einheit.
…
Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnte eine gemeinsame Anstrengung von Psychologen und Philosophen zuwege bringen.
…
Andererseits möchte man wünschen, die Philosophen würden ihre Überlegungen auf den Begriff der psychischen Realität ausdehnen und ihre Struktur definieren (…). Wir könnten dann hoffen, eine höhere Synthese zu erreichen und ein Begriffssystem zu errichten, das den strengen Forderungen der Experimentalpsychologie und der von den Erforschern des Unbewussten erlebten psychischen Realität gerecht werden könnte.“1
Was die Forderungen des Experimentalpsychologie angeht, so respektiere ich sie voll und ganz, unter der Voraussetzung jedoch, dass sie aufs Ganze des Bewusstseins und seines Schattens, des Unbewussten, ausgehen und sich den damit gegebenen begrifflichen Anforderungen stellen. Vorerst können wir hier nur den in Band I beschrittenen Weg weiter gehen: rekonstruktive Begriffsarbeit an der uns allen introspektiv zugänglichen Erfahrung. Dies wird den Begriff des Unbewussten viel stärker strukturieren, als es den von Ellenberger referierten Therapie-Pionieren (in letzter Generation: Pierre Janet, Sigmund Freud, Alfred Adler und C.G. Jung) möglich war. Es ist bedeutsam, dass ein Kenner der Geschichte des Unbewussten wie Ellenberger am Schluss die Philosophie herausfordert, „eine höhere Synthese“ zu erreichen, aber auch merkwürdig, dass er die Philosophie auffordert, „ihre Überlegungen auf den Begriff der psychischen Realität ausdehnen“. Wovon geht denn die neuzeitliche Philosophie überhaupt aus? Allerdings muss, wie in der Einleitung zu Band I kritisch zu G.G. Jung bemerkt wurde, die empirisch objektivierte Realität des Psychischen von der grundlegenderen „transzendentalen“ Realität des Ichvollzugs methodisch unterschieden werden.
Figur 1: Die 4 Sinnelemente in Bezug zu den 3 vertikalen anthropologischen Ebenen
Die innere Raute skizziert die handlungstheoretische Herangehensweise von der allgemeinen Bewusstseins- und Handlungssituation des Menschen her. Sie ist durch die vier Sinnelemente Ich, Es, Du, Sinn-Medium gekennzeichnet.
Diese handlungstheoretische Sicht ist zwar für eine erkenntniskritische, reflexionstheoretische Methode die primäre. Sie eröffnet jedoch zugleich, wie die obige Figur 1 ohne weiteres optisch verdeutlicht, den Bezug zu der seinsmäßigen (ontologischen) Dreiheit: zu den vertikalen Ebenen Körper, Seele und Geist.
Gleichzeitig werden die Bezüge zur experimentellen, personal-humanistischen und transpersonalen Psychologie auf der rechten Seite ebenfalls angedeutet.
Der oben vertikal erscheinenden Dreiheit von Körper – Seele – Geist wird nun in folgendem Drei-Kreise-Modell unter dem ontologischen Gesichtspunkt der sich durchdringenden Wesensbestandteile (Konstituentien) des Menschen Rechnung getragen:
Figur 2: Die anthropologischen Komponenten als gleichwertige in der geometrischen Darstellung dreier sich überschneidender Kreise, bei denen die Schnittpunkte zweier Kreise jeweils der Mittelpunkt des dritten ist. Die mit Körper, Seele, Geist beschrifteten Felder werden im Folgenden auch als K1, S1, G1 gekennzeichnet.
In Band I sind diese sieben Felder bereits folgendermaßen inhaltlich interpretiert worden:
Figur 3: Die 7 Schnittflächen in inhaltlicher Interpretation (übereinstimmend mit der theosophischen Überlieferung)
Aus diesem kurzen, formalen Rückblick auf die in Band I dargelegten Voraussetzungen lässt sich folgender Vorblick auf das jetzige Vorhaben verstehen. Er sei zunächst ähnlich umrisshaft und thesenartig wie der Rückblick skizziert.
Der Begriff des Unbewussten ist keineswegs einheitlich, noch weniger als der bisher aufgegliederte Begriff des Bewusstseins. Dieser unreduzierbaren Vielfalt nicht grundlegend Rechnung getragen zu haben, ist der Mangel aller Theorien des Unbewussten bis heute und selbst der kenntnisreichsten ihrer geschichtlichen Darstellungen. Von der aus dieser Vielfalt, nämlich aus der ersten fundamentalen Dreiheit von Körper, Seele, Geist resultierenden Kombinatorik, wie sie in den Bewusstseinsfeldern in obiger Figur 3 analog bereits vorgesehen ist, werde ich im ersten Anlauf noch absehen und zunächst lediglich die drei aufeinander nicht rückführbaren Grundformen des Unbewussten charakterisieren. →Unbewusstesim weiten Sinne ist dabei der gemeinsame Titel für
das physische Unterbewusste
das seelische Unbewusste als implizites Bewusstsein
das geistige Überbewusste
Es gibt ein Unbewusstes, das sich aus der körperlichen Verfasstheit des Menschen ergibt: das physische Unterbewusste, wie wir es an unseren eigenen organischen Vorgängen beobachten können. Denn das Physische als solches ist per se unterbewusst. Erst aufgrund seiner Durchdringung durch das Psychische kann überhaupt von seiner Un-bewusstheit sinnvoll die Rede sein. In der Logik spricht man nicht nur von einem konträren Gegensatz (zwei Extreme auf einer gemeinsamen Skala wie z.B. hell und dunkel2), sondern von einem privativen Gegensatz: Die Silbe „un“ bezeichnet das Fehlen von etwas. Manche der an sich unbewussten Vorgänge können wir zwar bewusst und willentlich regulieren wie z.B. die Atmung, diesem Inbegriff von Belebtheit. Dennoch vollzieht sie sich unterbewusst, wie die meisten Vorgänge des organischen Stoffwechsels, von der statischen physischen Konstitution zu schweigen. Die meisten sind jedoch unserer bewussten und willentlichen Regulierung unzugänglich. Und doch verbindet sich dieses körperliche Unbewusste vielfach mit dem Bewusstsein, nicht nur bei der Atemregulierung, sondern auch im Aufmerken auf Körperempfindungen und im Regulieren von Stoffwechsel und Trieben.
Die Behauptung allerdings, dass die physische Unterbewusstheit grundlegend für alle Unbewusstheit im psychologischen Sinne sei, ist eine der typischen Verkürzungen in der Analyse des Unbewussten. Cord Friebe sieht dies in seiner Theorie des Unbewussten als eine Gefahr auch bei Freud:
„Primär bedeutet ‚Unbewusstes‘ folglich ‚Physisches‘, von dem es mental kein ‚Unbewusstsein‘ gibt. Das hier einleitend zu betonen, ist deshalb wichtig, weil es Freud doch gerade darum geht, Unbewusstes als Mentales aufzuweisen. ‚Unbewusst‘ im Sinne von ‚nicht bewusst‘ als bloße Negation des ‚Bewussten‘ aufzufassen, führt aber (…) zunächst unvermeidbar ins Somatische. Das ist eine Gefahr, der Freud von Beginn an ausgesetzt ist.“3
Das physische Unterbewusste ist der konträre Gegensatz zum Bewussten. Wenn wir jedoch von Unbewusstem sprechen, meinen wir meist – „unbewusst“ – einen privativen Gegensatz: Es fehlt da an Bewusstsein, wo man es vermuten oder fordern sollte, wo man es jedenfalls vermisst: unter anderem in dem Psychischen, das an der Grenze zum Physischen liegt, in Körperwahrnehmungen und Trieben. Mit diesen logischen und onto-logischen Verhältnissen sind die Gründungsväter der Tiefenpsychologie durchaus nicht ins Reine gekommen. Es handelt sich selbstverständlich nicht hauptsächlich um eine logische Aufgabe, sondern um eine psycho-logische, bei der die logischen Verhältnisse nebenbei an der „Sache“ geklärt werden müssen, nämlich an der Hauptsache, der Psyche.
Der soeben zitierte C. Friebe, den ich vorhin als seltenes jüngeres Beispiel einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unbewussten (wenngleich begrenzt auf Freud) heranzog, hat Recht damit, dass „das Freudsche Unbewusste nur im Rahmen einer überzeugenden Bewusstseinstheorie verständlich werden kann“.4 Allerdings werden sich über solcher Bewusstseinstheorie nun unsere Auffassungen trennen.
Das seelische Unbewusstebesteht nämlich in einem impliziten Bewusstsein, nach dem Muster unseres Selbstbewusstseins: Wir sind uns unseres begleitenden Selbstbewusstseins normalerweise „nicht bewusst“, genauer: nicht gegenständlich bewusst, obwohl gerade dieses „Unbewusste“ – paradoxerweise - die Quelle alles spezifisch menschlichen Bewusstseins ist. (Wenn hier von Bewusstsein die Rede ist, wird stets das im Selbstbewusstsein gründende oder von diesem begleitete menschliche Bewusstsein verstanden, nicht das tierische Bewusstsein, dem das entscheidende Selbstbewusstsein fehlt.5) Das menschliche Selbstbewusstsein aber, in den beiden vorausgehenden Figuren durch das Feld S1 gekennzeichnet, muss wesentlich als „unbewusste“ oder implizite Selbstbegleitung verstanden werden, im Bild gesprochen: als zweischienig. Bewusstsein ist nicht primär gegenständliche Vorstellung, sondern unthematisches Beisichsein, Selbstbegleitung.
Darum wusste sogar die mittelalterliche und scholastische Philosophie, ohne dies systembildend auszuwerten; darum wusste folglich auch Descartes zumindest implizit, als er bei diesem Selbstbewusstsein systematisch neu ansetzte, ebenso wie Kant, obwohl er dieses „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können“,6 zwar in seiner Bedeutung als „höchsten Punkt“ erkannte, jedoch nicht zureichend thematisierte, und zwar deshalb, weil er (trotz seines transzendentalen, d.h. reflexiven Neuansatzes) in einer gegenständlichen Auffassung von Erkenntnis als Vorstellung befangen blieb.
In seiner Anthropologie hat Kant kluge Bemerkungen über „nicht bewusste“ oder „dunkle“ Vorstellungen gemacht. Doch eben dadurch, dass das rationalistische Vorstellungsmodell von Erkenntnis leitend bleibt, verbaut er sich eine tiefere Einsicht in die wahre Natur des Feldes dunkler Vorstellungen, welches er immerhin als „das größte [Feld] im Menschen“7 würdigt. Es ist erstaunlich, mit welcher Schärfe er bereits den paradoxen Gedanken unbewusster bzw. vorbewusster Vorstellungen fasst – um doch an deren Natur als implizitem Bewusstsein vorbei zu argumentieren:
„Vorstellungen zu haben und ihrer doch nicht bewußt zu sein, darinscheint ein Widerspruch zu liegen; denn wir können wir wissen, dass wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind? Diesen Einwand machte schon Locke, der darum auch das Dasein solcher Art Vorstellungen verwarf. – Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. – Dergleichen Vorstellungen heißen dann dunkel; die übrigen sind klar (…). Wenn ich weitvon mir auf einer Wiese einen Menschen zu sehen mir bewußt bin, so schließe ich eigentlich nur, daß dies Ding ein Mensch sei (…) Daß das Feld unserer Sinneswahrnehmungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, daß wir sie haben (…), unermeßlich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewußsein offen liegen; daß gleichsam auf der großen Karte unseres Gemüts nur wenig Stellen illuminiert sind, kann uns Bewunderung über unser eigenes Wesen einflößen.“8
An dieser Stelle geht es mir um den Gedanken des impliziten Bewusstseins, der das objektivistische Vorstellungsmodell von Erkenntnis der Einseitigkeit überführt und der in der Tat „Bewunderung für unser eigenes Wesen“ verdient. Die „dunklen“ Vorstellungen sind für Kant also solche, die von den klaren her erschließbar sind. Dabei vermischt er allerdings solche, die implizit sind, mit solchen, die physisch unterschwellig sind (vgl. unten 3.2).
Wie in Band I schon erörtert: Bei Fichte und Schelling wurde das Selbstbewusstsein als Selbstbegleitung unter dem Titel „intellektuelle Anschauung“ thematisiert. In weitergehender Weise, als „immanentes Leben der Dinge“, wurde es von dem Reflexionstheoretiker Hegel reflektiert, wenngleich dieser, aus Gründen der Absetzung von Reflexion als einer angeblich bloß subjektiven und nachträglichen bei Fichte, paradoxerweise selbst gewissermaßen bloß impliziter Reflexionstheoretiker blieb.9 Dass Selbstbewusstsein auf impliziter Reflexion beruht und nur deshalb auch explizit reflektiert werden kann, ist ein Punkt von äußerster Wichtigkeit, Schwierigkeit und Tragweite für die Theorie des Bewusstseins – wie des Unbewussten. An dieser Stelle geht es mir nicht allein um den Gesichtspunkt implizite Reflexion als Bedingung der Möglichkeit der expliziten, sondern vor allem darum: dass gerade der Kern des menschlichen Bewusstseins, das Wissen um sich selbst, vom „Schatten“ der Implizitheit geprägt ist.
Auf die Kontroversen und unlösbaren Aporien, die sich daraus ergeben, dass dieser Sachverhalt von der Natur des (Selbst)Bewusstseins als implizite Selbstbegleitung in der Philosophie nach Hegel bis heute übersehen oder ausdrücklich geleugnet wird, wurde in Band I eigentlich bereits hinreichend eingegangen. Wegen der zentralen Bedeutung dieses Punktes besonders für die Rede vom Unbewussten sei nochmals kurz bei ihm verweilt. Die Gegenwartsphilosophie kommt in ihren Hauptströmungen nicht besser mit dem scheinbaren Paradox eines unbewussten Bewusstseins zurecht als der Volksmund. Meist wird von „unbewussten“ Handlungen und Bewusstseinsvollzügen gesprochen, im Vergleich zur nachträglichen, objektivierenden Reflexion. Da wird beispielsweise ganz „unbewusst“ eine bedeutsame Melodie gesummt. Da wird „unbewusst“ an der Ampel gehalten, „unbewusst“ jemand gegrüßt, „unbewusst“ an einen Traum gedacht, ganz „unbewusst“ ein Stück Musik erstmals perfekt oder mit wunderbarem Ausdruck ausgeführt. Da entwickelt sich „unbewusst“ ein Gefühl für jemanden, überhaupt sind so viele „unbewusste“ Gefühle am Werke. Es ist offensichtlich, dass all diese Leistungen des Unbewussten Bewusstseinsleistungen sind, nur eben nicht solche des ausdrücklich reflektierenden und objektivierenden Bewusstseins.
Goethe formuliert feinsinnig am Schluss seines frühen Gedichtes „An den Mond“:
„Was dem Herzen nicht bewusst
Oder nicht bedacht
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.“
Weniger feinsinnig in der Schwebe haltend, wenngleich philosophisch korrekter, wäre zu formulieren: „Was dem Herzen nicht bewusst oder vielmehr nicht bedacht.“ Das nicht Bewusste ist, besonders in Herzensdingen immer, das nicht ausdrücklich Bedachte und zu Denkende, das Nicht-Objektivierte, das auch vor sich selbst Verschwiegene, das man nicht einmal dem Tagebuch anzuvertrauen vermag, ohne es zu banalisieren, es sei denn, man könnte es gelegentlich mit der dichterischen Meta-Sprache einfangen! Aber es ist eine Bewusstseinsleistung, dieses Nicht-Bewusste, und zwar oft gerade das Vorzüglichste, was das Bewusstsein zu bieten hat. Dieses Vorzüglichste, die Gefühle, Intuitionen, Ahnungen, zeichnen sich alle durch Implizitheit des Bewusstseins aus.
Sigmund Freud lehnte die Bezeichnung „Unterbewusstes“ für das von ihm angezielte Unbewusste ab10: Ihm war einigermaßen klar, dass die interessantesten Formen des Unbewussten eben vergessene, verdrängte oder implizit-unerlöste Bewusstseinsformen waren. Ist der Begriff des Unbewussten als eines impliziten Bewusstseins gefasst, kann es von dem in die Körperlichkeit getauchten Unterbewussten sowie von dem in die Geisteswelt reichenden Überbewussten deutlich unterschieden werden. Trotz dieser Dreiteilung wird der umfassende Ausdruck →Unbewusstesim weiteren Sinne nicht zu entbehren sein, eben wegen der Verschlingungen dieser drei Bereiche.
In welchem genaueren Sinne stellt die →Implizitheit eine Unbewusstheit dar? Erstens, genau im Sinne der nicht expliziten Objektivierung. Die ausdrückliche Objektivierung geschieht besonders durch die Sprache, genauer durch deren semantische Dimension oder Komponente.11
Zweitens ist die Implizitheit des Wissens im Vollzug ein charakteristisches Kennzeichen der menschlichen Endlichkeit und Unvollendetheit: Der Mensch weiß meistens nicht explizit und deutlich, was er tut oder innerlich vollzieht, selbst wenn er mit wachem Bewusstsein handelt. Die meisten unserer Handlungen und Bewusstseinsvollzüge haben diese Unbewusstheit an sich: sei es, dass sie bereits automatisiert-erlernt sind, so die im nicht-deklarativen Gedächtnis gespeicherten Fähigkeiten wie Schwimmen oder Radfahren oder Sprechen, seien es einfache Gewohnheiten des Sichbewegens und der Gestik, dass sie implizit-unbewusst Vorbildern oder Regeln folgen wie beim Sprechen. „Das habe ich nicht bewusst gesagt/getan“ ist der gängige Ausdruck für das implizite Bewusstsein, wenn es aus irgendeinem Anlass explizit wird.
Menschliches Bewusstsein ist, vom Ursprung aus dem Selbstbewusstsein her, grundsätzlich zweischienig oder, um ein in der Denk- und Dichtungstradition geläufigeres Bild zu nehmen: Es ist von seinem →Schatten begleitet. Das Bewusstsein des Menschen ist ohne den Schatten seines Unbewussten und speziell dieses nur impliziten Bewusstseins nicht möglich und bei näherem Hinsehen nicht einmal denkbar! Grundlegend dafür ist die Implizitheit des Wissens um sich selbst, wann immer das Bewusstsein intentional auf Anderes gerichtet ist.
Wir können ebenso gut das traditionell viel gebrauchte, doch selten philosophisch grundlegend verstandene Bild des Spiegels aufgreifen: Die Spiegelung der bewussten Individuen beginnt nicht erst im interpersonalen Verhältnis, wenngleich sie darin von fundamentaler Bedeutung für die Analyse der Reflexionsstufen und somit für die gesamte Sozialphilosophie ist.12 Doch keines dieser hilfreichen Bilder, ob Spiegel oder Schatten, kann uns die genaue gedankliche Analyse, die rekonstruktive Phänomenologie der allen zugänglichen Erfahrung, ersparen.
Die Implizitheit des Selbstbewusstseins ist ferner nicht anders als durch implizite oder gelebte Reflexion (Selbstbezüglichkeit) zu beschreiben. →Reflexion beinhaltet hier, dass es sich nicht um eine einfache, undifferenzierte Helle handeln kann, sondern um ein Zurückkommen auf sich selbst aus einer inneren Differenz13, aus einem inneren Anderssein heraus. Ohne diese innere Differenz und die sie überbrückende implizite Reflexion wäre keine explizite, objektivierende Reflexion erklärlich. Die implizite Reflexion ist „Bedingung der Möglichkeit“ aller →ausdrücklichen und →objektivierenden Reflexion.
Zwischen „ausdrücklich“ und „objektivierend“ besteht hierbei eine wichtige Bedeutungsnuance, die erst später ausführlich zum Thema werden muss: Die implizite Reflexion kann in existentiellen Entscheidungssituationen oder Erleuchtungserfahrungen ausdrücklich bewusst werden, auch ohne denkend und sprachlich objektiviert zu werden.
Die schon in Band I kritisierten Leugner der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins (Anfang des 20. Jahrhunderts Edmund Husserl und seine Gefolgschaft, nach dem 2. Weltkrieg Dieter Henrich und seine Schule) haben die Bewusstseinstheorie in Aporien und Sackgassen geführt, statt die unaufgelösten Fragen und verbliebenen Dunkelheiten der Linie Kant – Fichte – Hegel zur Klärung zu bringen. Vieles in der Philosophie des 20. Jahrhunderts sind daher unter dem Schein von ganz besonderem Problembewusstsein kultivierte Gedankenlosigkeiten, da diese fundamentale Natur des Selbstbewusstseins geleugnet wurde. Ein schon oft von mir besprochener Fehlschluss besteht darin, in der Reflexionstheorie einen schlechten Zirkelschluss erkennen zu wollen, weil dieselbe Reflexion vorausgesetzt werde, die man erklären will. Es sind jedoch die Kritiker der Reflexionstheorie selbst, welche den schlechten Zirkel konstruieren, indem sie die ausdrücklich-objektivierende, vorstellende Reflexion schon an die Stelle der impliziten setzen, also eine grobe Verwechslung begehen.14
Auch der oben zitierte C. Friebe ist der Henrich-Linie und ihrem fundamentalen Irrtum über das Selbstbewusstsein zuzuordnen. Während ein anderer Henrich-Nachfolger, Manfred Frank, immerhin die Unterscheidung von implizit und explizit trifft (wenngleich das implizite Selbstbewusstsein von Frank auch nicht als reflexiv verstanden wird), möchte Friebe mit der Unterscheidung von „benutzendem“ (für impliziten) und thematisierenden Bewusstsein einen „Artunterschied“ zwischen beiden konstatieren,15 wohl den von „unbewusst“ (benutzendem) und „bewusst“ (thematisierendem). Es muss jedoch der unlösliche Zusammenhang zwischen beiden „Arten“ erkannt werden, weshalb es auch nicht hilft, etwa ganz andere Bezeichnungen für beide Reflexionsarten zu wählen.
Das ‚Begleiten-Können‘ bei Kant versteht Friebe als bloße Potentialität, die durch eine Art Anschalten hinzukommen kann, nicht als eine stets vorhandene Implizitheit.16 Diese seltsame Ausflucht widerspricht vor allem dem Phänomen, dass wir dieses implizite Begleiten immer explizit machen können – außer bei Bewusstseinsstörungen, auf die wir zu sprechen kommen werden. Kant selbst hat dieses implizite Wissen aufgrund einer zeitgebundenen, objektivistisch-repräsentationalen Auffassung von Erkennen in seiner Eigenart verkannt. Er selbst wie die ganze Richtung einer angeblich vorreflexiven (gar bloß „benutzenden“!) Subjektivität bleiben jede Erklärung schuldig, wie unreflektiert-unbewusstes Umsichwissen je reflektiert werden kann, wenn es nicht schon in sich unthematisch reflektiert ist!
Mangels Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins, die bei Kant – nach Henrichs eigenem Eingeständnis17 – durchaus implizit vorliegt, konnte es z.B. Friebe in seinem Freud-Buch nicht gelingen, Bewusstseinstheorie für die Theorie des Unbewussten hinreichend fruchtbar zu machen, wie er es sich vorgenommen hatte; dies jedenfalls nicht über eine immanente, transzendentalphilosophisch vertrackte Freud-Interpretation hinaus, die von bloß innerakademischem Interesse bleibt. Friebe hat immerhin das Verdienst, die scheinbaren Selbstverständlichkeiten, um nicht zu sagen Gedankenlosigkeiten, der gewöhnlichen wie auch wissenschaftlich-psychologischen Rede vom Unbewussten im Anschluss an Freud und Jung aus der Sicht philosophischer Bewusstseinstheorie etwas aufgedeckt zu haben.
Gemeint ist mit dem geltend gemachten erkenntnis-ontologischen →Schatten des menschlichen Bewusstseins nicht der wertmäßige Schatten zum Selbstbild eines Menschen, wie C.G. Jung ihn verstand: die negative Seite eines Menschen, „das, was ein Mensch nicht sein möchte“.18 Der hier gemeinte Schatten ist ontologisch und bewusstseinstheoretisch viel grundlegender: Schatten meint den fundamentalen Sachverhalt des Selbstbewusstseins als Selbstbegleitung und darüber hinaus gegebenenfalls die Bewusstwerdung dieses Sachverhaltes.19 Die Selbstgespräche Nietzsches in Der Wanderer und sein Schatten20 kommen dem hier Gemeinten am nächsten:
„Der Schatten: Da ich dich so lange nicht reden hörte, so möchte ich dir eine Gelegenheit geben.
Der Wanderer: Er redet – wo? Und wer? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch schwächerer Stimme als die meine ist.Der Schatten: (nach einer Weile): Freut es dich nicht, Gelegenheit zum Reden zu haben?
Der Wanderer: Bei Gott und allen Dingen, an die ich nicht glaube, mein Schatten redet; ich höre es, aber glaube es nicht.“21
Der Schatten scheint also auch im Modus des Nicht-Redens, schweigsam, zu existieren! Seiner ausdrücklichen Rede gegenüber, „mit noch schwächerer Stimme als die meine ist“, bleibt der Wanderer skeptisch. Das heißt, so dürfen wir folgern, das ausdrückliche Selbstgespräch versteht Nietzsche als eine abgeleitete, nicht unbedingt glaubwürdigere Form eines ungenannten, unausdrücklichen Selbstgesprächs, in welchem das ausdrückliche seine Bedingung der Möglichkeit findet. Das ist eine gar nicht so selbstverständliche Folgerung. Normalerweise bleibt der Schatten unerkannt im Stillen. Der stillschweigende innere Dialog sowie der nicht-objektivierte Schatten bilden aber die reflexionslogischen Voraussetzungen des ausdrücklichen Redens mit dem objektivierten Schatten.
Der verbalisierte, nach außen projizierte Schatten verhält sich zum wirklichen wie das empirische Selbstbild zum transzendentalen, seiner Natur nach unthematischen Ich. Das Unthematische, Unvordenkliche, gleichwohl Bewusstseinsartige und Bewusstseinsfähige, ist das seelische Unbewusste in seinem Kern. Es gleicht in keiner Weise dem physischen Unterbewussten – wiewohl es sich mit diesem vielfach verbinden wird.
Im Übergang zum geistig bedingten Unbewussten sei eine Dimension des seelisch impliziten Unbewussten wenigstens erwähnt, die diesem Seelenbewusstsein ein besonderes, je einmaliges Profil und Volumen verleiht: das reinkarnatorische Wissen der Kausalseele bzw. des Kausalkörpers. Um jedoch nicht in eine esoterisch-spirituelle Betrachtungsweise zu geraten, welche die Grenzen der wissenschaftlich-rationalen Reflexionstheorie sprengt, muss hier der generelle, aber umso nachdrücklichere Hinweis genügen, dass das transzendentale →Ich im Sinne der „reinen“, formalen Subjektivität Kants (wenngleich schon als um sich wissendes Vollzugsbewusstsein verstanden) der rationale Kern eines →Selbst ist, das seine je verschiedene Geschichte und Einbettung in kosmische, naturhafte und intersubjektive, ja spirituelle Zusammenhänge mit sich trägt. Zu diesen Zusammenhängen gehören auch geistige, also von Hause aus überindividuelle Gehalte und Energien.
Geistiges und Seelisches lassen sich im Resultat nicht mehr unterscheiden, weil geistige Gemeinsamkeiten und „Welten“ aus intersubjektivem Zusammenwirken hervorgehen. Doch an der Wurzel und Quelle müssen Geistig-Überindividuelles und Seelisch-Individuelles sehr wohl zunächst unterschieden werden, worauf unser ganzer anthropologischer Ansatz – im Gegensatz zum verbreiteten Körper-Geist/Seele-Dualismus – beruht. Deshalb wird nun zunächst wieder bei einem minimalen Begriff von Geist und seinen elementarsten Erscheinungsformen angesetzt, wohl wissend, dass auch und gerade das geistige Unbewusste, genauer Überbewusste, einen im wörtlichen Sinne unendlichen Reichtum umfasst.
Mit der vorher erwähnten Regelbefolgung beim Sprechen und Denken, also in den Formen von Grammatik und Logik, kommt die dritte Form und Dimension von Unbewusstheit in Spiel: die unbewusste Befolgung geistiger Regeln sowie die gewöhnliche Unbewusstheit über umfassende Sinnzusammenhänge. Grundlegend ist das Verhältnis des Menschen zu jenem „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ (K.-O. Apel), das wir wegen des mehr als gedanklichen Status →Sinnmedium nannten und das als Bedingung der Möglichkeit aller Komponenten von Unbedingtheit in menschlichen Sinnvollzügen auszumachen war, also in der Unbedingtheit von Liebe und Leidenschaft, von ethischem Sollen, von Wahrheitbehaupten und -suchen, von ausgreifendem Fragen nach dem Sinn.
„Bedingungen der Möglichkeit“, das sind implizite Gehalte in unseren Bewusstseinsvollzügen. Ihre Implizitheit ist jedoch zunächst von anderer Art als die der eben besprochenen Bewusstseinsinhalte des seelischen Unbewussten. Jene Implizitheit war eine unterschwellige, schattenhafte. Hier nun ist eine logische und „überschwellige“ gemeint: Wenn nicht B als logische Bedingung des phänomenalen Sinnvollzugs A in seiner logischen (gehalthaften) Eigenart, dann wäre auch nicht A. Wenn nicht der Gedanke des Unbedingten oder Unendlichen implizit vorhanden wäre, wären ein unbedingtes Behaupten, ein unbedingtes Sollen und Wollen, unbedingte Liebe und Leidenschaft, ein ins Unendliche ausgreifendes Fragen usw. nicht möglich. Nun gibt es A aber in vielen Formen. Folglich ist jener Gedanke des Unbedingten impliziert. In der logischen Tradition spricht man vom Modus tollens (vom Lateinischen tollere, aufheben): dem Versuch, ohne jene Implikation, unter „Aufhebung“ ihrer, auszukommen, bei dem sich die Unabkömmlichkeit jener Bedingung herausstellt.
Im Maße der spirituellen Entwicklung eines Menschen wird dieses geistige Überbewusste stärker tonangebend – bis es in eigentlich mystischen Bewusstseinszuständen ins ausdrückliche Bewusstsein tritt, auch ohne sprachlich thematisiert und damit (seinem Wesen nach inadäquat) objektiviert zu werden.
Abgesehen von solchen gehalthaften Implikaten als Bedingungen der Möglichkeit von Vollzügen gibt es logische Gesetze wie, am elementarsten, das des Nicht-Widerspruchs, an die wir uns unwillkürlich-unbewusst halten, wenn wir richtig denken. Es geht an dieser Stelle nicht darum zu untersuchen, welche Gesetze das sind und wieweit sie reichen, auch nicht um den Streit über formale (mathematische) Logik und transzendentale Logik22, welche eine Vollzugs- und Reflexionslogik ist. Es geht im Moment lediglich um die Erkenntnis: Wir kommen nicht ohne vorbewusste geistige Implikationen des Bewusstseins aus, wenn es um grundlegende Logik geht. Wir erfinden sie nicht, sondern entdecken sie als „unbewusste“, besser: überbewusste und überindividuell-unausweichliche Voraussetzungen unseres Denkens.
Beim Erlernen der Sprache etwa ahmen Kinder gewiss die Erwachsenen nach. Doch ihre überaus erstaunliche Fähigkeit, die grammatische Logik in einer Sprache zu entdecken und die an relativ wenigen Beispielen erlernten Regeln in potentiell unendlich vielen Sätzen selbst anwenden zu können, geht auf das Erfassen der in den Sprache herrschenden Reflexionslogik zurück, die übrigens allen Muttersprachen gemeinsam ist.23 Man kann sagen: die kindliche Nachahmung bezieht sich zunächst auf diese bestimmte Muttersprache. Das darin geschehende Erfassen der logischen Strukturen aber bezieht sich darüber hinaus auf etwas Allgemeinlogisches, Universales. Diese sind dem Kind selbstverständlich noch weniger „bewusst“ als dem Erwachsenen, wenn er sich der sprachlichen Grammatik bedient, auch ohne sie jemals ausdrücklich erlernt zu haben.
All diese Implikationen des Bewusstseinsgebrauchs mag man in den großen Topf „Unbewusstes“ werfen. Da sie sich jedoch vom physischen Unterbewussten, den Funktionen des beseelten Körpers (1.) ebenso grundsätzlich unterscheiden wie von den unterschwelligen Implikaten oder Sedimenten des bewussten Seelenlebens, die wir das seelische Unbewusste nannten (2.), da sie ferner von derselben Natur zu sein scheinen wie jene Sinn-Bedingungen der Möglichkeit, die soeben am Unbedingtheitsgedanken demonstriert wurden, da sie also die sinnhaften Regeln des Bewusstseinsgebrauchs beinhalten, die beim Aufmerken auf sie einsichtig sind, doch „unbewusst“ angewendet wurden, da sie schließlich wegen dieser Einsichtigkeit nicht unter, sondern über der Bewusstseinsschwelle liegen, ziehe ich es vor, von →Überbewusstem zu sprechen.
Die überbewusst vorausgesetzten Einsichten sind normalerweise nicht von der Art, dass sie das Bewusstsein blenden, ja blind machen wie ein überstarkes Licht, sondern im Allgemeinen wie das Sonnenlicht im gut erträglichen irdischen Abstand oder wie alles mit seiner energetischen Hilfe hergestellte Licht. Meist bleibt ja auch das physische Licht unthematisch im Unterschied zu den Dingen, die wir in ihm, mit seiner Hilfe, wahrnehmen wollen. Doch sollten wir das Licht nicht hochtrabend als „Bedingung der Möglichkeit“, die Dinge zu sehen, bezeichnen. Dieser von Kant geprägte Ausdruck beinhaltet mehr als eine physische Bedingung, nämlich eine Sinnbedingung, ein Sinnimplikat in unseren objektgerichteten Sinnvollzügen. Solche Sinnimplikate sind vornehmlich das transzendentale Ich, das niemals ganz Objekt werden kann, sowie das Sinnmedium und all seine tausend Abwandlungen, die ebenfalls niemals adäquat objektiviert werden können.
Die Sprache leistet uns (in ihrer semantischen Dimension) den Dienst der Objektivierung. Doch vergessen wir leicht, dass weder „Sinn“ noch „Gesellschaft“, weder „Sprache“ noch „Krieg“ noch „Liebe“, noch „Eifersucht“, gar „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ (Kants transzendentale Ideen), deshalb zu Quasi-Objekten werden, weil wir sie sprachlich objektivieren. Das gilt für alle Geist- oder Sinnzusammenhänge, die sämtlich die Natur des Medialen (Sinnhaften, Gehalthaften) tragen, nicht die des Objekthaften. Diese medialen Sinnzusammenhänge finden sich freilich untrennbar vermischt zwischen der zwischenmenschlich-psychologischen Handlungswirklichkeit, deren Unbewusstheit die unter 2. gekennzeichnete seelische und unterschwellig implizite ist: In aller zwischenmenschlichen Begegnung sind wir zugleich Geistträger, und das vielfache Geschehen zwischen Ich und Du schließt ein, dass wir uns stets auch im Medialen, in geistigen Zusammenhängen, begegnen, letztlich im Unendlichen.
Schon die Tatsache, dass wir die sprachlichen Hilfsmittel vergessen und sie uns doch „irgendwie auch bewusst“ sind, dass wir gewissermaßen immer mit Sprache als Bewältigungs- und Ordnungswerkzeug umgehen, indem wir auch Zusammenhänge sprachlich objektivieren, gar zu „Dingwörtern“ machen, die bei etwas Besinnung evidentermaßen keine Dinge noch sonstigen Objekte sind, bildet ein Beispiel für die „Überbewusstheit“ unseres Bewusstseins. Von solchen überbewusst-unbewussten Strukturen sind alle Sprachen tiefgreifend geprägt, und die wesentlichsten dieser Strukturen sind universal, sprachenübergreifend.
Es geht indessen an dieser Stelle weder um Sprachphilosophie als solche noch um Ontologie (Seinslehre), sondern um Bewusstseinstheorie bzw. Unbewusstheitstheorie. Es wird zu zeigen sein, wie sich dieser dritte Typ von „Unbewusstem“, das sinnhaft vorgegebene Überbewusste mit den zwei anderen Formen des Unbewussten verschlingt oder durchdringt. Wenn der Grundansatz stimmt, dann muss das Studium der Durchdringung dieser drei Grundformen des Unbewussten fruchtbar sein – nicht allein für unsere private Selbsterkenntnis, sondern am Ende auch für die therapeutische Arbeit.
Wenn C.G. Jung in Band I damit zitiert wurde, dass für ihn „das Psychische“, hauptsächlich „das Unbewusste“, das Primäre vor dem Bewusstsein sei, dann wird hier erneut deutlich, dass diese beiden Bezeichnungen zu unbestimmt sind, was bei ihm mehr auffällt als bei Freud, weil er sie mit größerer Emphase verwendet, als seien mit diesen plakativen Ausdrücken schon Erkenntnisse formuliert: Meint er eigentlich physisch Unbewusstes, was gar nicht erst zu Bewusstsein gelangt, nach Art des Organischen? Meint er implizit Bewusstes im individuellen Seelenleben oder meint er Überbewusstes, die gemeinsame, kollektive Sinnsphäre? Alles dies kann gemeint sein, doch der Begriff bedarf dringend der Differenzierung, und mit ihm der des Psychischen. Die Grundvorstellung eines geradezu tierartigen universalen Überorganismus namens Psychisches ist anschaulich und verführerisch für das Vorstellungsdenken, bleibt jedoch nicht nur undifferenziert, sondern höchst fragwürdig.
Im Hinblick auf die Sphäre von Sinngehalten, die hier von vornherein als gemeinsame, potentiell kollektive, eingeführt wurde, prägte C.G. Jung später den Begriff des kollektiven Unbewussten. Doch dieser bedarf nicht weniger der genaueren Strukturierung. Ebenso wird sich die Frage stellen, wieweit die bei Jung sehr unbestimmt bleibenden „Archetypen“ nicht nur dem Mythos, der Mythendichtung aller Kulturen, sondern auch dem überbewussten, überkulturellen Logos angehören. Für die Arbeitskraft eines einzelnen Forschers und Therapeuten war es verständlich, dass er zunächst einmal seinen Weg gehen und seine nicht geringen Beiträge zur historischen Symbol- und Mythenforschung leisten musste. Doch in geistesgeschichtlicher Hinsicht rächt sich seine in Band I bereits nachgewiesene Tendenz, ja, der unverblümt aufgestellte Anspruch, die Philosophie durch Psychologie, also die grundlegende Sinnbesinnung durch die Empirie einzelner psychischer Funktionen und Defekte, später zusätzlich durch Mythenforschung, zu ersetzen. C.G. Jung hat seinen empirisch-therapeutischen, aber ungenauen Ansatz durch das Studium zahlreicher Mythologien und esoterischer Inhalte zu untermauern versucht. Hier entsteht die Gefahr einer neuen Veräußerlichung: Das uns kulturell Fremde bleibt uns fremd, wenn wir es lediglich staunend zur Kenntnis nehmen und nicht aus Eigenem verstehen. Wir können diese Fremdheit sogar genießen, sollten dieses Bestaunen jedoch nicht mit Erkenntnis aus Gründen und dem ihr eigenen, tieferen Staunen verwechseln.
Meine Tendenz ist, von den philosophischen Sinnstrukturen her das Gemeinsame an den kulturellen Äußerungen hervorzuheben, ähnlich wie das Universalsprachliche in den Tausenden von Sprachen der Welt. In diesem Buch geht es konkreter um das Verständnis psychischer Leistungen und Defekte von den Arten des Unbewussten her. Vieles wird dem therapeutischen Praktiker nur als Hypothese angeboten werden können. Doch wenn die Philosophie dazu kommt, aus ihrer eigenen Logik heraus psychische Erfahrungen so konkret zu rekonstruieren oder wenigstens zu platzieren, dass daraus weiterführende Hypothesen für die therapeutische Praxis gewonnen werden können, würde sie ihren schlechten Ruf der willkürlich-unwissenschaftlichen Weltanschauungsproduktion oder der bloß philologischen Bearbeitung und Tradierung früherer philosophischer Werke oder der belang- und end- und folgenlosen „Sprachanalyse“, alles dies für einen „esoterischen“ Philologenzirkel, überwinden.
Soviel ich sehe, wurde diese Dreiheit von physischem Unterbewussten, psychischem Unbewusstem und geistigem Überbewussten noch niemals deutlich unterschieden, am wenigsten als Ausgangspunkt für eine methodische geleitete Analyse der Durchdringungsformen, der Schnittflächen dieser drei Grundtypen des Unbewussten, wie sie im Folgenden vorgesehen ist.
In ihrem kenntnisreichen Buch Unbewusstes, einer konzentrierten Zusammenfassung vieler ihrer Veröffentlichungen zu diesem Thema, unterscheiden die beiden Autoren Günter Gödde und Michael B. Buchholz, drei philosophische Traditionslinien des Unbewussten:
das kognitive Unbewusste (Leibniz, Kant, Herbart): unterschwellige Wahrnehmungen
das romantisch-vitale Unbewusste (Goethe, Schelling, Carus): das wie ein universaler Organismus aufgefasste Unbewusste
das triebhaft-irrationale Unbewusste (Schopenhauer, Nietzsche)24
An diese Traditionslinien anschließend behandeln sie das „psychisch Unbewusste“, das Freud von der Beobachtung der Verdrängung und der Fehlleistungen her thematisierte. Ellenberger spricht gar von einer „Entdeckung des Unbewussten“ als Leistung der ersten „dynamischen Psychiatrie“ seit Mesmer sowie der zweiten seit Pierre Janet und Freud – höchst kenntnisreich, aber doch mit zu engem Blickwinkel. Es ist offensichtlich, dass Sigmund Freud in der Linie des kognitiven Unbewussten steht, nicht zuletzt durch seine ausdrückliche Anknüpfung an den Herbertianer Gustav Fechner sowie den Philosophen Theodor Lipps, der von 1894 bis zu seinem Tod 1914 Systematische Philosophie in München lehrte. Freud hat zumindest Lipps` Buch Grundtathsachen des Seelenlebens (Bonn 1883) sowie dessen Vortrag Das Unbewusste in der Philosophie25gründlich studiert.Dieser Vortrag beginnt mit einem „kräftigen Worte“, wie Freud sagt:
„Die Frage, mit der es dieser Vortrag zu tun hat, ist weniger eine psychologische Frage als die Frage der Psychologie.“ (Hervorhebung von mir)
Theodor Lipps vertrat bereits klar die Auffassung, dass das „Psychische“ viel weiter sei als das Bewusstsein.
„Im Unterschied zur eher rationalistischen Bewusstseinspsychologie Brentanos war er zu einer dreifachen Stufung im psychischen Bereich gelangt: der Bewusstseinssphäre (…), dem psychischen Unbewussten und dem physiologischen Bereich.“26
Diese Dreiheit ist jedoch nicht mit der oben aufgeführten Dreiheit des Unbewussten gleichzusetzen. Zwar unterscheidet Lipps scharfsinnig das psychische Unbewusste vom physiologischen, doch kennt auch er kein geistiges Überbewusstes. Dieses wäre ihm als „metaphysisch“ erschienen, scheinbar seinem Erfahrungsprinzip entgegengesetzt. Wir werden wir noch genauer als bisher analysieren, dass auch der Begriff des geistigen Unbewussten sein Fundament in der Erfahrung hat.
Gegen die damals schon aktuellen Übergriffe von „physiologischer Mythologie“, heute Hirnmythologie, die ihrerseits auf metaphysischen, nämlich materialistischen, Vorurteilen beruhen, betont er gegen Schluss seines bedeutenden Vortrags:
„Das Heil der Psychologie und damit zugleich das Heil der Psychophysiologie wird davon abhängen, dass die Psychologie sich mehr und mehr auf ihre eigenen Füße stellt“ und spricht „die Überzeugung von der nothwendigen Führerschaft der reinen Psychologie in den Fragen der Psychophysiologie“ aus. 27
Diese Führerschaft der „reinen“, das hieß damals noch der philosophischen Psychologie, wird hier erneut beansprucht, wenn – vielleicht erstmals – behauptet wird, dass das Unbewusste besagte drei Hauptquellen habe. Wie diese Ströme einander queren oder durchdringen, diese Frage führt uns nun zu der konkreteren rekonstruktiven Phänomenologie des Unbewussten.