18,99 €
„Kritik“ ist hier nicht im Sinne von „Kritik üben“ gemeint, sondern im Sinne von Kants transzendentaler (= reflexiver) Wende: als erkenntnistheoretische Sichtung der Anfangsgründe oder Bauelemente einer Disziplin. Doch im Unterschied zur „reinen“ Vernunft darf der „integralen“ Vernunft nichts Menschliches fremd bleiben. Seit der notwendigen Emanzipation der empirischen Psychologie von der Philosophie vor einhundert Jahren kam es zu einer fortschreitenden Entfremdung zwischen diesen beiden Disziplinen. Inzwischen aber tut integrale, auf neue Ganzheit zielende, interdisziplinäre Zusammenarbeit not. Philosophische Psychologie ist Bewusstseinsforschung. Johannes Heinrichs beginnt mit einer überraschenden, in der Gegenwartsphilosophie verdrängten These zum Wesen des (Selbst-)Bewusstseins als Selbstbegleitung oder gelebter Reflexion (Selbstbezüglichkeit). Aus diesem einzigartigen „Radikalvermögen“ leitet er – in kritischer Rezeption von C. G. Jung – die Bewusstseinsfunktionen Wahrnehmung, Denken, Gefühl und Intuition ab. Mit seiner in mehreren Büchern schon bewährten reflexionstheoretischen Methode der dialektischen Subsumtion zeigt er jedoch konkreter die Durchdringung dieser großen Erkenntnisvermögen auf, um dann den Funktionskreis der Praxis (Werten, Wollen, Handeln) und schließlich seine Theorie der großen semiotischen Ebenen Handlung – Sprache – Kunst – Mystik schrittweise zu demonstrieren. "Es gibt Bücher, die einfach notwendig und längst fällig sind. Man wundert sich, dass und warum sie nicht längst geschrieben wurden. Diese philosophischen Anfangsgründe der Psychologie gehören dazu." (aus dem Vorwort von Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 527
Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhalt
Vorwort (zu den Bänden I und II)
EINLEITUNG UND BEREITS ERARBEITETE VORAUSSETZUNGEN
Die Frage nach dem Schlüssel zum Schlüssel
Das Desiderat einer ganzheitlichen Theorie der menschlichen Seelenvermögen
Das fallengelassene Programm der Reflexionsphilosophie (seit J. F. Fries und A. Schopenhauer)
Sinnelemente und Reflexionsstufen menschlicher Vollzüge
Seitenblicke auf Poppers „drei Welten“ und Frankls Logotherapie
Die zwei Arten von Selbstreflexion: Spontaneität und Nachdenken
Fragen an die Neuropsychologie
Philosophische und empirische Psychologie
Das Ich in ursprünglicher Relation zu Anderem
Die These vom Radikalvermögen
Integrales Bewusstsein/integrale Vernunft
Teil I: DER FUNKTIONSKREIS DER ERKENNTNISVERMÖGEN
Erkennen allgemein
Die Vierfachheit des Erkennens gemäß den Sinnelementen
Die subsumtionslogische „Durchdringung“ der vier Erkenntnisstämme
1. Wahrnehmung
1.1 Körperempfindungen
1.2 Denkendes Wahrnehmen
1.3 Fühlendes Wahrnehmen
1.4 Medial vermitteltes Wahrnehmen
2. Denken: subjektive Verbindung von Daten
2.1 Wahrnehmendes, objektempirisches Denken
2.2 Assoziatives Denken
2.3 Erlebnis- und gefühlsgebundenes Denken
2.4 Logisches Denken
3. Fühlen als Erkennen: Selbsterleben im Fremderleben
Eine terminologische Vorbemerkung
Das elementare Selbstgefühl und die allgemeine Beziehung von Denken und Gefühl
Ist Gefühl ein Erkenntnisvermögen? Die Hypothese einer Dreidimemsionalität der Gefühle
3.1 Trieberleben und Wahrnehmungsgefühle: Orientierungsgefühle und die Technik des Focusings
3.2 Denkfühlen/Gestaltungsfühlen
3.3 Interpersonales und interrelationales Fühlen: Liebe und ihre Verwandten
3.4 Mediales Fühlen und Hellfühligkeit.
Zu einer „Grammatik der Gefühle“
Die rationalistische Störung im Verhältnis Denken und Fühlen
Die emotionalistische Störung im Verhältnis Denken und Fühlen
4. Intuieren: Erfahrung mittels des Sinnmediums
4.1 Intuition anlässlich der Wahrnehmung
4.2 Intuition vermittels Denken (kreatives Denken)
4.3 Intuition im Fühlen (Hellfühlen)
4.4 Potenzierte oder explizit mediale Intuition/Hellsichtigkeit
C.G. Jungs These von der Gegensätzlichkeit der Funktionen
Die sekundären Erkenntnisleistungen: Gedächtnis und Phantasie
Rätsel des Gedächtnisses
Spielräume der Phantasie
Teil II: DER FUNKTIONSKREIS DER PRAXIS: ERKENNEN – WERTEN – WOLLEN – HANDELN
1. Erkennen auf Handlungspraxis hin (Vorblick)
2. Wertung
2.1 Theoretische Wertung (Wohlgefallen – Abneigung)
2.2 Emotionale Wertung (reflexive Festigung von Anziehung und Abneigung)
2.3 Wollende Wertung: Begehren – Wünschen – Wollen
2.4 Handlungsleitendes Werten: Vorentscheidungen
Die Bedürfnis- und Wertepyramide in Diskussion mit A. Maslow
Zur Seinsweise der Werte
Zu einer Ethik der Bewusstmachung von Wertungen (im Unterschied zu präskriptiver Ethik)
3. Wollen: Freiheit als Selbstverfügung und Wahl
Aufmerksamkeit und Übung als Reflexionsphänomene
Vorsatz – Absicht – Entschluss – Tat
4. Handeln
Handlungen als automatisierte Taten
Das periodische System der menschlichen Handlungsarten
Zur Motivationspsychologie des Handelns (im Unterschied zur intentionalen Handlungstypologie)
Teil III: DIE SEMIOTISCHEN EBENEN HANDLUNG – SPRACHE – KUNST – MYSTIK
Die Gesamthypothese (Vorblick)
1. Der Übergang vom Handeln zu Sprache als Meta-Handeln
2. Die semiotischen Dimensionen der Sprache
2.1 Die sigmatische oder Zeichendimension
2.2 Die semantische oder Bedeutungsdimension
2.3 Die Handlungsdimension oder Sprachpragmatik
2.4 Die Dimension der Verbindungsformen oder Syntax
3. Die Künste als Sprachen jenseits der Sprache
Stilistik als Übergang von Sprache zu Kunst
Zur reflexionslogischen Gliederung der Künste
Der integrale ästhetische Humanismus Kants und Schillers
Interesseloses Wohlgefallen
Allgemeinheit des ästhetischen Geschmacksurteils
Freies Spiel aller seelischen Kräfte (Ganzheit und Spiel)
Kunst als reflektierter Ausdruck primären Ausdrucks
Kritische Bemerkungen zum derzeitigen Kunstbetrieb
4. Mystik und spirituelle Bewusstseinsformen
Das große Missverständnis über Meditation und Reflexion
Ein struktureller Begriff von Mystik
Erscheinungsmedien oder Bereiche von Mystik
4.1 Naturmystik
4.2 Subjektmystik
4.3 Sozialmystik
4.4 Zeichenmystik und Fügungen (Synchronizitäten)
Teil IV: DAS SUPRAMENTALE BEWUSSTSEIN
Motive, über mystisches Bewusstsein hinauszugehen
Der Unterschied zwischen Mystiker und Esoteriker
Ontologische Deutung des anthropologischen Drei-Kreise-Modells
Von der Drei zur Sieben
Die drei „reinen“ Schnittflächen
Der Körperkreis in seinen Überschneidungsfeldern
Der Seelenkreis in seinen Überschneidungsfeldern
Die Stufung der sieben Felder (Zusammenfassung)
Besprechung von Kurt Leland, Das Chakra-System
Die „okkulten“ Bewusstseinsfunktionen
Feinstoffliche Wahrnehmung
Die astrale Ebene und ihre Fragwürdigkeit
Ausblick auf die höheren Ebenen des „Supramentalen“
Die spirituellen Evolutionsstufen oder Einweihungen
Erste Einweihung: die Integration des Begierdekörpers (geistige Geburt des Jüngers)
Zweite Einweihung: die Integration von Emotionalkörper und Mentalkörper (geistige Taufe)
Dritte Einweihung: die Integration der „Persönlichkeit“ in die Seele („Verklärung“)
Vierte Einweihung: die „Aufhebung“ des Kausalkörpers in die Überseele (Monade) und die Meisterschaft
Exkurs: Attraktion und Trug von „Spiral Dynamics“
Basisinformation nach Wikipedia
Kritik eines angemaßten „integralen“ Bewertungsschemas
1. Fehlen einer systematischen Herleitung
2. Die Folge der Farben
3. Habituelle Bewusstseinsstufen und wechselnde Bewusstseinszustände
4. Kombination von mystischen Zuständen und Kulturstufen bei Wilber/Combs
5. Kollektive und individuelle Entwicklungszustände
6. Jean Gebsers Bewusstseinssstufen
7. Das „Sein“ bestimmt das Bewusstsein
RÜCKBLICK: DIE „GRENZEN“ DER VERNUNFT
„Reine“ und integrale Vernunft: Beziehung zu Sri Aurobindos integraler Methode
Vernunft als struktureller Aspekt unbegrenzten Vernehmens
Es gibt Bücher, die einfach notwendig und längst fällig sind. Man wundert sich, dass und warum sie nicht längst geschrieben wurden. Diese „Philosophischen Anfangsgründe der Psychologie“ gehören dazu. Denn wo in aller Welt werden die Bewusstseinsfunktionen des Menschen, von denen wir alltäglich sprechen, wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Intuieren, aber auch so Grundlegendes wie der gewöhnliche Leerlauf der Gedanken, in ihrer inneren, systematischen Verzahnung behandelt? Wo geschieht dergleichen ferner mit den vielfachen Bedeutungen des „Unbewussten“? Es handelt sich um ganz notwendige Aufgaben der philosophischen Bewusstseinstheorie, die nicht einfach an empirisch-psychologische Einzeluntersuchungen abgetreten werden können.
Philosophie war stets Bewusstseinstheorie, und sie ist es in der von Heinrichs in vielen anderen Schriften nachgezeichneten Selbstentfaltung der methodischen Reflexion in der Neuzeit immer bewusster geworden. Doch nach der Emanzipation der empirischen Psychologie von ihrer Mutterwissenschaft, der Philosophie, vor nicht einmal hundert Jahren, wagte sich keiner mehr an eine ganzheitlich philosophische Betrachtung der Psychologie heran. Den Philosophen war sie zu empirisch-psychologisch, den psychologischen Empirikern war ein philosophischer Ansatz in der Psychologie zu „spekulativ“ oder zu spirituell geworden.
Es bedurfte der Ausbildung einer ausdrücklichen Disziplin des menschlichen Reflexionsvermögens, von Heinrichs Reflexionstheorie und Reflexions-Systemtheorie genannt, sowie eines Verfahrens der methodischen Rekonstruktion der Phänomene, präzise zwischen Induktion und Deduktion gelegen, um diesen systematischen Brückenschlag zu wagen.
Nach dem anspruchsvollen, ja mutigen Haupttitel Kritik der integralen Vernunft wollte Heinrichs, wie ich weiß, bescheidener Weise den Untertitel Philosophische Anfangsgründe der Psychologie verwenden. Dies wäre ein weiterer Anklang an Kant gewesen, nämlich an seine Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786).
Diese doppelte Anknüpfung an Kant im Titel schien dem Verlag vermutlich zu viel des Guten. Denn bei aller positiven Anknüpfung an den Königsberger Vollender der Aufklärung kann Heinrichs kein Kantianer genannt werden. Manche möchten ihn, mit mehr Recht, als Hegelianer sehen. Doch dergleichen sind historische Einordnungen, die seiner Originalität als eines reflexionstheoretischen Systematikers auf den Schultern jener Großen nicht gerecht werden. Schon Hegel selbst als Reflexions-Systemtheoretiker zu lesen und ihn wie sein eigenes Denken unter dem Gesichtspunkt Selbstreflexion in einer großen, aufsteigenden Linie mit Kant und den deutschen Idealisten zu sehen, stellt eine originelle Leistung dar, für die Heinrichs dem philosophischen Logiker Gotthard Günther (1900–1984) mit seinen Vorschlägen zu mehrwertiger Reflexionslogik entscheidende Anregungen verdankt, ebenso wie für die Rede von Reflexionstheorie überhaupt.
Inhaltlich hätte eine Bescheidenheitsgeste darin gelegen, nur von „Anfangsgründen“ zu reden statt wie jetzt einfachhin von Philosophischer Psychologie. Der Autor wäre damit in Deckung gegangen vor der Übermacht der derzeitigen empirischen Psychologie und ihrer therapeutischen Anwendung. Auch diese Bescheidenheit schien dem Verlag mit Recht unangebracht. Denn ohne Klarheit ihrer ersten Begriffe können auch Empiriker kaum Wissenschaftlichkeit beanspruchen, ob sie es zugeben oder nicht.
Den für Heinrichs‘ Denken zentralen Begriff des „Sinnmediums“ habe ich 1975 ganz frisch in seinen ersten Frankfurter sozialphilosophischen Vorlesungen zur Sozialphilosophie kennengelernt. Er stellt eine Verbindung des Buberschen „Zwischen“, Apels „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“, Luhmanns Sinn-Begriff sowie dessen Rede von „sozialen Medien“ dar. Dass Heinrichs ihn in ein Gesamt von vier Sinnelementen stellte und mit den von ihm gleichzeitig entdeckten Reflexionsstufen der Interpersonalität verband, wurde mir damals schon mit Faszination klar. Wie entscheidend die Rolle dieses umfassendsten „Mediums“ aber für das Vermögen der Intuition, als eines „medialen“ Vermögens, im Gesamt der reflexiv gestuften Bewusstseinsfunktionen ist, konnte ich erst diesem Werk entnehmen, obwohl dies alles in der von der Schweisfurth-Stiftung geförderten Öko-Logik (1988/2007) schon anklang. Wie manches in diesem neuen Buch. Denn eigentliches Thema der Öko-Logik war bereits der Mensch als Schlüssel zum Naturverständnis. Hier geht es nun um die Natur des Menschen selbst, in einer ganz erstaunlichen, kontinuierlichen Weiterentwicklung des Denkens durch über 40 Jahre! In einer Zeit, in der wir die Folgen einer falschen Anthropozentrik – der Mensch als Raubtier und die globalen Folgen des Raubbaus an der Natur – drastisch zu spüren bekommen, stellt die Besinnung auf das eigentliche Wesen des Menschen keinen Luxus dar. Genauso wenig wie die Besinnung auf die Gesellschaft, dem die sozialphilosophischen, demokratietheoretischen Schriften dieses Autors gewidmet sind. Alle Bemühungen um die Natur geraten zum „Ökologismus“ – eine Wortbildung in Analogie zu „Ökonomismus“, nämlich der fatalen Sichtweise, dass die Ökonomie es schon richten werde, klassisch liberal oder alternativ – wenn nicht die sozialen Bedingungen eines Einklangs zwischen dem gesellschaftlichen Menschen und seiner Natur ganz neu in den Blick genommen werden: die politischen Steuerungsinstrumente. Diese aber gründen in der Natur des Menschen, in seinem Bewusstsein und Unbewusstsein! An ihnen entscheidet sich, ob der Mensch Raubbautier bleibt oder zum bewussten Hüter bzw. kultivierenden Pfleger in Ko-Evolution mit der Natur wird. Allzu viele Ökologen vergessen den Blick auf jene Steuerungsinstrumente zur Umsetzung ihrer Erkenntnisse.
Wir sind hier nahe an dem tiefenökologischen Bewusstsein1, das schon in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als „Ökologie des Geistes“ angesprochen wurde, wie auch eine bekannte Artikelsammlung von Gregory Bateson lautet, deutsch: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (Frankfurt am Main 1981). Die häufige deutsche Übersetzung des englischen „mind“ durch „Geist“ zeigt jedoch eine interkulturelle wie auch gedankliche Verwirrung: Heinrichs legt großen Wert darauf, „Geist“ als überindividuellen Logos vom menschlichen „mind“, einer Fakultät der individuellen „Seele“, zu unterscheiden. Die Übersetzung von „mind“ durch „Geist“ ignoriert diese wesentliche Unterscheidung! Gerade die Dreiheit von Körper, Seele und Geist, die im Abendland nach Platon, wohl seit dessen Schüler Aristoteles, verloren ging, ist Ausgangspunkt für Heinrichs‘ Analysen. Er holt diese Dreiheit aus der Esoterik wieder in die „zünftige“ moderne Philosophie zurück. Sie erfordert ein logisch nicht bloß zweiwertiges Denken. Dadurch werden die frühen „großspurigen“, leider wenig folgenreich gebliebenen Postulate Batesons und anderer für eine „Ecology of Mind“ in einer Weise weitergeführt, die man demgegenüber „schmalspurig“ nennen könnte, die jedoch viel bestimmter sind.
Es gehört zum wissenschaftlichen Credo von Heinrichs, dass nur durch Zusammenführen genauer, zunächst bereichsspezifischer Analysen eine „Ökologie des Denkens“ zustande kommt, die uns weiterhilft, indem sie die Naturökologie mit der Psychologie und der Sozialtheorie verbindet, indem sie die verbindenden Muster und Analogien sichtbar macht. Im Hinblick darauf war schon in der Öko-Logik von harmonikalem Denken die Rede. In dieser zugleich logischen wie ästhetischen Aufmerksamkeit für das Verbindende trifft Heinrichs sich jedoch wieder mit Bateson: „Ästhetik ist die Aufmerksamkeit für das Muster, das verbindet“ (aus: Wo Engel zögern, Frankfurt 1993). Nach seiner Auffassung müssen diese verbindenden logischen Muster jedoch bereichsspezifisch, jeweils „schmalspurig“ konkret ausgearbeitet werden, also z.B. als Handlungstheorie, als Sprachphilosophie, als Sozialtheorie und nun als Psychologie (Ecology of Mind im genauen Sinne), um die von Heinrichs am stärksten bearbeiteten Bereiche zu nennen.
Heinrichs überbrückt mit seiner rekonstruktiven Methode indessen nicht allein den Graben zwischen philosophischer Grundlagenbesinnung und empirischer Forschung, sondern mit dem Titel „integral“ auch den Graben zwischen Wissenschaft und Spiritualität, ohne aber die wissenschaftlichen Maßstäbe zu verlassen wie andere „integrale“ Denker. Wissenschaft geht nicht etwa in Mystik über, sowenig wie in Kunst. Gegen eine Vermischung dieser Bereiche stellt Heinrichs verschiedene semiotische Ebenen der gelebten Reflexion heraus, die in der Praxis nicht aufeinander rückführbar sind. Durch reflexionstheoretisch genaue Unterscheidung der verschiedenen Stufen der Selbstreflexivität des menschlichen Bewusstseins setzt er das Programm der klassischen deutschen Philosophie in schöpferischer Weise fort, ohne die verunglückte Verhältnisbestimmung von Wissenschaft, Kunst, Religion, Philosophie und politischer Praxis bei Hegel oder umgekehrt bei Marx übernehmen zu müssen. (Für Hegel werden Kunst und Religion bekanntlich in der Philosophie aufgehoben und die politische Praxis scheint keinen eigenen reflexionstheoretischen Status zu haben.)
Das Bestreben, vom Philosophischen her die Strukturen spiritueller Erfahrungen und Ebenen rekonstruktiv zu verstehen, ist aber völlig verschieden von dem Anspruch, die gelebten Erfahrungen (z.B. in Kunst oder Spiritualität) inhaltlich philosophisch einholen oder gar ersetzen zu können. Diese Differenz zwischen strukturellem Verstehen und spirituellen (wie übrigens allen sonstigen) Erfahrungsinhalten wird bei Heinrichs gewahrt durch seine philosophische Semiotik, durch jene Lehre von semiotischen Reflexionsebenen (Handlung – Sprache – Kunst – Mystik). Auf den methodisch feinen, aber in der Sache gewaltigen Unterschied zwischen struktureller Erfassung des Spirituellen/Mystischen durch Philosophie einerseits und andererseits einem angeblichen Eintretenkönnen des einen für das andere, als ob mystische Erfahrungen die Verlängerung des philosophischen Denkens wären, kann sowohl die spirituelle wie die universitätsphilosophische Leserschaft schon vorweg nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden. An solchen Unterschieden zeigt sich, ob sauber gedacht wird oder eine neue Glaubensgemeinde unter dem Titel „integrales Denken“ bedient wird.
Wie man sieht, geht es in diesen „Anfangsgründen“ um Welt, Mensch und Geist bewegende Grundsatzpositionen und um eine längst anstehende, neue Synthese. Das Entsprechende ließe sich von der Behandlung des Unbewussten in Band II aufzeigen, der ähnlich über Freud und C.G. Jung hinausgeht wie der Band I über die philosophischen Pioniere. Ich wüsste keine andere so umfassende, strukturierende Abhandlung über das Unbewusste zu nennen. Diese eröffnet ähnlich viel Raum und Anregung für die viel genannte „Macht des Unbewussten“, für die psychologische Diagnose von krankhaften Verdrängungsphänomenen, für den bewussteren Umgang mit dem gesunden Unbewussten, wie es der I. Band für gelebte Spiritualität tut.
Wir haben es bei dieser „Kritik“ im Sinne von kritischer Bestandsaufnahme der integralen Vernunft freilich nicht mit Ratgeber-Literatur zu tun, sondern mit philosophischer Grundlagenbesinnung, die den Ratgebern erst einmal selbst zur Orientierung in besagten Praxisfeldern mit ihren verbindenden Mustern verhelfen kann. Für das Zeitalter der Synthese, in das wir durch die sich aktuell zuspitzenden Krisen hindurch zu gelangen hoffen, werden solche Synthesen unerlässlich werden. Im Politikerjargon gesprochen: „unverzichtbar“.
Ich wünsche vielen Lesern auf dieser streng in logischen Spuren gehaltenen Bahn durch das gewaltige Gebirge der menschlichen Psyche viel freudiges Staunen und verwertbare Einsichten.
München, im November 2017 Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald
Vorstand der Schweisfurth-Stiftung
1 Vgl. zum Begriff „Tiefenökologie“ den vom Verfasser dieses Vorworts, gemeinsam mit Andrea Klepsch, herausgegebenen Reader Tiefenökologie. Wie wir in Zukunft leben wollen, München 1995.
„Selbsterkenntnis ist also die Forderung, Untersuchung der Vernunft, Kenntnis der inneren Natur des Geistes, Anthropologie! Vor dieser hat die Philosophie bisher oft eine gewisse Scheu bezeugt, einige, z.B. Kant, hielten sie für unmöglich, andere für gefährlich, noch andere wagten es wenigstens nicht, sie für sich als eigene Wissenschaft zu behandeln, sondern vermengten sie immer mit Physiologie des menschlichen Körpers.“
(J. F. Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, 1807).
Ein methodisch Denkender, der Selbstreflexion als eigenständige Quelle der Erkenntnis, gar als primären Zugang zur Wirklichkeit überhaupt anerkennt, kann Reflexionsphilosoph genannt werden.
Spätestens seit Kant ist Selbstreflexion der Königsweg zu aller philosophischen Erkenntnis, sogar der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, wie das Werk Kants von 1786 betitelt ist, das auf die grundlegende Kritik der reinen Vernunft folgte.Selbstreflexion ist der Sinn der „transzendentalen“ Wende, die von diesem Vollender der Aufklärungsepoche verkündet wurde, auch wenn die volle Bedeutung der Reflexion als Methode und Inhalt der philosophischen Erkenntnis von ihm noch nicht voll erkannt und ausgesprochen werden konnte. Reflexion als Methode und zugleich Inhalt – dies ist der volle, nicht so leicht zu erfassende Sinn von →Reflexionstheorie, wie ich diesen Theorietyp in Anschluss an den bedeutenden philosophischen Logiker Gotthard Günther (1900–1984)1 nenne.
Novalis, Schüler von J.G. Fichte und somit Enkelschüler des Königsbergers, sprach es auf seine poetische Weise staunend und eher ahnungsvoll aus:
Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft (Blüthenstaub, 1798).
Eine solche Grundhaltung der reflexiven Innerlichkeit steht in schroffem Gegensatz zur ausgesprochen objektivistischen Empirie unserer Zeit, ja der ganzen technologisch geprägten zwei Jahrhunderte seit Kant und Novalis. Dieses Buch ist nicht der Ort, wo dieser erkenntnistheoretische Gegensatz ausgetragen werden soll. Eine Philosophiegeschichte präzise unter diesem Gesichtspunkt steht noch aus.
Doch ein scheinbares Paradox soll vorweg benannt und dann in allem, was folgt, ausgetragen werden: Wenn der Mensch mit seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion der Schlüssel ist – was ist dann der Schlüssel zu diesem Schlüssel? Ein Schlüssel braucht normalerweise selbst keinen Schlüssel. Er dient zum Aufschließen von Räumen, nicht zu sich selbst. Der Schlüssel der Selbstreflexion muss jedoch seinerseits selbstreflexiv sein. Er muss doppelt entdeckt werden. Er ist seinerseits der Erschließung bedürftig.
Wenn menschliche Selbsterkenntnis den Schlüssel für die →kategoriale, d.h. die Anfangsgründe und Prinzipien betreffende Erkenntnis des Ganzen der Wirklichkeit darstellen sollte, kann dieser Schlüssel nicht zu irgendeinem Objekt trivialisiert werden – und sei es auch das „Ich denke, also bin ich“ des Descartes, das von ihm selbst erst halb verstanden wurde. Man könnte sagten, René Descartes hat den Schlüssel zur modernen Philosophie aufgefunden, in Form eines Codeschlosses, jedoch nicht den Schlüssel dazu, den Code. Ich vermeide es, von einem Zahlencode zu sprechen. Denn der Code besteht nicht aus Zahlen. Es geht um das Verstehen dieses von Kant und selbst seinen Nachfolgern erst traumwandlerisch verwendeten Codes. Er wird erst in einem neuen Verstehensschritt voll und sicher gefunden.
Erst in zweiter Linie geht es um die Grundstrukturen der menschlichen Leistungen, die sich aus dem menschlichen Selbstbewusstsein oder der Reflexionsfähigkeit als dem Radikalvermögen ergeben, das heißt sich rekonstruktiv von diesem herleiten lassen. →Rekonstruktion als philosophische Methode zwischen Deduktion und Induktion wurde bereits in Integrale Philosophie wie in Handlungen und Sprache praktiziert und thematisiert. Doch in erster Linie muss jener Code zur Erschließung des Schlüssels gefunden werden.
Zu jedem der menschlichen Seelenvermögen lassen sich eigene Bücher schreiben, und sie sind in Hülle und Fülle geschrieben worden. Es gibt eine Fülle von Literatur z.B. zu Wahrnehmung, Denken, Gefühl, Intuition usw. Die „Hülle“ dieser Bücher zu den seelischen Vermögen, ist jedoch meist schon vom ersten Anblick her rein empiristisch-einzelwissenschaftlich. „Du hast die Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band“, wie Goethe im Faust den Mephisto zynisch sagen lässt. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um dieses geistige Band zwischen den menschlichen Vermögen, zu denen unendlich viele Einzeluntersuchungen vorliegen. Das geistige Band, das verbindende Prinzip zwischen ihnen ist nur auf dem „geheimnisvollen Weg nach Innen“ in Form von Reflexionstheorie zu finden und festzuhalten.
Nicht mehr und nicht weniger. Keine sinnvollen empirischen Einzeluntersuchungen sollen ersetzt werden. Doch der Anspruch, das geistige Band gefunden zu haben, und dass dieses eigenen Erkenntniswert hat, nicht zuletzt für die alltägliche Verständigung, eben dieser Anspruch wird erhoben. Er zielt auf philosophische Anfangsgründe der Psychologie. Meinetwegen auch: auf metaphysische Anfangsgründe, die im Hinblick auf das unsägliche Gerede pro und contra „Metaphysik“ besser reflexionstheoretische genannt werden sollten.
Hilfreich sein mag noch die Abgrenzung zu dem, was Kant unter seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) verstand:
„Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefasst (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll. (…) So würde dies einen Teil der Anthropologie in pragmatischer Absicht ausmachen und das ist eben die, mit welcher wir uns hier beschäftigen (ebd. B II f).“
Tertium datur: Wir betrachten weder die physische Natur des Menschen noch seine freien, geschichtlichen Lebensäußerungen, sondern die zwar naturhaften, jedoch nicht physischen, sondern psychologischen Vermögen zu solchen Äußerungen. Diese Anfangsgründe einer philosophischen Psychologie konnte Kant nicht legen – aufgrund seiner anderen, historisch verständlicherweise noch zögernd-inkonsequenten Haltung – eben zum Reflexionsproblem. Wie es bei seinen Nachfolgern weiterging, kann im Folgenden historisch nur flüchtig, jedoch im Hinblick auf die wesentlichen systematischen Weichenstellungen erhellt werden.
Von den philosophischen Anfangsgründen der Theorie der psychologischen Vermögen oder Bewusstseinsfunktionen hängt auch eine philosophisch fundierte Theorie des Unbewussten ab, welcher der II. Band gewidmet ist. Seit Eduard von Hartmanns seinerzeit berühmtem Werk Philosophie des Unbewussten (1869), das– bei aller Genialität des noch jugendlichen Verfassers von 27 Jahren – unter metaphysischen Voraussetzungen im negativen, willkürlich-leichtsinnigen Verständnis litt, hat sich die Philosophie nicht mehr des Themas in seiner ganzen Breite angenommen, von unzähligen Überblicken und Spezialuntersuchungen zu Freud, Jung und anderen Psychologen also abgesehen. Auch beim Unbewussten aber dürfte es sich nach allem inzwischen Geschehenen und Geleisteten als lohnend erweisen, die philosophischen Anfangsgründe von einem kohärenten, auf mancherlei Gebieten bewährten, reflexionstheoretischen Ansatz her zu ergründen.
Für Leser, die mit Kants Werk wenig vertraut sind, sei betont, dass der Titel →Kritik bei ihm wie auch in diesem Buch nichts mit Kritisieren und Bewerten zu tun hat, sondern eine propädeutische Sichtung, eben Selbstreflexion des „Vernunftvermögens überhaupt“ darstellt. Kants Gebrauch des Wortes „Kritik“ stellt ein Kürzel für die erkenntnis- bzw. allgemeiner die vermögenstheoretische Reflexion dar, für welche Reflexion er auch den seltsamen Methodenbegriff →transzendental im Sinne von „durchgreifende Voraussetzung“ einführte. Transzendentales und kritisches Denken sind für ihn gleichbedeutend:
„Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt…“2
Es lag Kant noch fern, menschliche Vermögen jenseits des Vernunftvermögens bzw. ohne Bezug auf auf dieses (wie bei der sinnlichen Wahrnehmung) zu vermuten. Ob es menschliche Vermögen, etwa Triebe oder Unbewusstes, ohne Bezug auf das Vernunftvermögen gibt, steht nicht zuletzt mit zur Untersuchung an, wobei dem Thema Unbewusstes ein eigener Band auf der Grundlage des vorliegenden gewidmet werden muss.
→Vernunft kommt etymologisch von „Vernehmen“. Insofern hat das Wort eine theoretische, erkenntnismäßige Schlagseite. →Bewusstsein ist neben Erkenntnis offener, auch für Praxis, Ästhetik und Spiritualität. Daher scheint der Titel Kritik des integralen Bewusstseins zunächst korrekter. Da jedoch die theoretische Reflexion des Bewusstseins, auch der eventuell nicht vernünftigen Seiten des Bewusstseins, durch die philosophische Vernunft geleistet werden muss, sei die größere Nähe zu Kants Titel doch als gerechtfertigt angesehen und erlaubt: Kritik der integralen Vernunft.Ich werde auf den Vernunftbegriff rückblickend, am Ende dieses Bandes, näher eingehen.
Bewusstseinstheorie war immer schon philosophisch und wird dies stets bleiben, wenn es ums Ganze des Bewusstseins geht, selbst wenn dies heute oft in pseudophilosophischer Form geschieht. Philosophie ihrerseits bestand in Ost wie West immer schon zum großen Teil in Bewusstseinstheorie. Sie wurde es im Westen ganz ausdrücklich mit dem Anbruch der Neuzeit, mit ihrem methodischen Ansatz beim Selbstbewusstsein. Doch lassen wir die Philosophiegeschichte noch einen Moment beseite, zumal diese in diesem Buch stets nur als Hilfsdisziplin, nie als Hauptsache gelten soll. Stellen wir ein paar Fragen, die sich jedem mehr oder weniger bewusst stellen, ganz unbelastet von Philosophie- und Theoriegeschichte.
Was „macht“ unser menschliches Alltagsbewusstsein eigentlich, wenn es gar nichts Bestimmtes denkt oder fühlt oder sonstwie tut, aber doch keineswegs den Motor abgeschaltet hat, wie es im Schlaf geschehen mag, sondern diesen vielmehr in Bereitschaft, in einem Leerlauf hält? Wie ist dieser vielleicht häufigste Zustand der meisten Menschen zu charakterisieren und bewerten? Ist solch ein „unbewusster“ Leerlauf des Bewusstseins – welch ein Paradox! – gesund und notwendig oder vielmehr zu vermeiden? Gibt es Unterschiede dabei, kann dieser Lehrlauf oder Grundumsatz kultiviert werden?
Ferner, wie stehen Denken und Fühlen zueinander? Stehen sie in Konkurenz zueinander oder ergänzen sie sich? Ist Gefühl ein Erkenntnisvermögen oder hat es eher mit Wertungen zu tun, die etwas anderes sind als Erkenntnis, wenngleich sie diese voraussetzen? Was unterscheidet Gefühl und Intuition? Was ist Intuition? Was Einbildungskraft? Wie grenzen wir die Worte Wahrnehmung und Empfindung voneinander ab? Wie wird Wahrnehmung von anderen Funktionen beeinflusst? Von welchen? Was bedeuten all diese alltäglich gebrauchten Ausdrücke eigentlich? Wo werden sie definiert? Gibt es eine innere Systematik dieser Vermögen oder einen Vorrang (Primat) eines von ihnen, wie es populär – seit der Sturm-und-Drang-Zeit des jungen Goethe bis zur Populäresoterik unserer Tage – gern vom Gefühl behauptet wird? Gründen sie in einer Einheit, wie doch wohl anzunehmen ist, da sie alle menschliche →Vermögen oder →Bewusstseinsfunktionen sind? Aber in welcher Einheit?
Ferner, was heißt Werten und was heißt Wollen eigentlich? Wie führt Wollen zum Handeln? Was heißt Handeln, welche Arten davon gibt es? Wie steht es zu den genannten inneren Vollzügen wie Fühlen und Denken? Immanuel Kant spricht von „Handlungen des Verstandes“. Im Gegensatz zu den sichtbarsten „Hand“-lungen der Hand offenbar. Und dann die Sprache! Wie steht sie zum Denken? Wie transportiert sie Wertungen und Gefühle? Mit welchen Bewusstseinsfunktionen hat es die Kunst zu tun, einfach mit dem „Gefühl“, wie es meist heißt? Und weiter die besonderen Funktionen wie Ahnungen, mystische Erlebnisse, esoterische oder gar „okkulte“ Fähigkeiten. Gibt es sie?
Fragen über Fragen. Es gibt tausend Bücher zu jeder einzelnen Funktion in jeder Universitätsbibliothek, hauptsächlich im Fach Psychologie, andere in Philosophie, zu der bis vor gut hundert Jahren die Psychologie noch gehörte. Doch Sie, lieber Leser, werden kein einziges neueres psychologisches Werk finden, das die Systematik dieser und anderer Seelenvermögen oder Bewusstseinsfunktionen, also ihren inneren Zusammenhang darlegte, wozu sie natürlich in Beziehung zueinander hinreichend genau definiert werden müssten.3 Der Mensch erkundet inzwischen die Oberflächen von Mond und Mars. Hingegen seine eigenen seelischen Vermögen sind wenig im Zusammenhang erkundet. Die hier gebrauchten Ausdrücke werden zwar im Alltag alle halbwegs verständlich gebraucht, mit den üblichen, unvermeidlichen Unschärfen der Alltagssprache. Doch sind sie auch nur für die alltägliche, geschweige denn für eine wissenschaftliche Verständigung befriedigend geklärt, befriedigend für ein so wissenschaftliches Zeitalter wie das unsere? Sprechen wir von „Empfindungen, Gefühlen, Intuitionen“ mit einer Genauigkeit, die der Rede über Computer-Funktionen wie etwa „Formatieren, Ausschneiden, Format übertragen, Kopieren, Suchen, Einfügen, Ersetzen, Markieren“, geschweige denn komplizierteren Unterscheidungen einigermaßen gleichkäme?
Die empirische Psychologie hat Riesenfortschritte gemacht im letzten Jahrhundert. Sie hat einzelne der obigen Fragen experimentell angepackt. Es gibt eine spezialistische Literatur auf Deutsch, auf Englisch, in allen Wissenschaftssprachen, die jedes dieser Vermögen bzw. deren Teilaspekte testen und besprechen. Doch kann das überhaupt befriedigen, ohne einen Gesamtzusammenhang dieser Vermögen oder Bewusstseinsfunktionen herzustellen? Was ist eigentlich →Bewusstsein? Ein markantes, philosophiegeschichtlich gelehrtes und umsichtiges Buch Bewusstseinstheorien beispielsweise, auf das ich bald näher eingehen werde, endet im Eingeständnis von Aporien (Weglosigkeiten) und Resignation, und zwar wegen Fehlen des besagten Codes, wie wir sehen werden. Ein anderes namens Bewusstseinsformen eröffnet eine Riesenkluft zwischen dem alltäglichen und wissenschaftlichen Bewusstsein einerseits und spirituellen Formen anderseits, die etwas ganz Apartes sein sollen, jeder →Intentionalität (Zielgerichtetheit) und „Reflexion“ fremd. Das Wort →Reflexion wird im besagten philosophischen Buch bezeichnenderweise nicht im geringsten geklärt. Es bedeutet da von vornherein soviel wie Nach-denken. Das tiefsinnige deutsche Wort „Nachdenken“ setzt offensichtlich eine spontane Form von Denken voraus. Doch gibt es irgendein spontanes Denken, gibt es überhaupt ein Bewusstsein, gar ein Selbstbewusstsein ohne Reflexivität? Und haben meditative Bewusstseinsformen gar nichts mit Selbstbewusstsein und Selbstreflexion zu tun?
Für Gesamtzusammenhang ist – seit jeher – die Philosophie zuständig. Ich könnte jedoch kein zeitgenössisches philosophisches Buch nennen, das die oben aufgeworfenen Fragen zusammenhängend zu beantworten unternähme, jedenfalls keines aus dem westlichen Kulturbereich. Man muss im deutschen Bereich bis auf Wilhelm Wundt an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, im englischen Bereich vor allem zu William James, den entsprechenden Pionier der empirischen, doch noch ganzheitlich-philosophischen Psychologie in Amerika zurückgehen, dann weiter zurück bis zu Kant, auch zu seinen weniger wirkmächtigen, unmittelbar empirisch arbeitenden Konkurrenten wie Johann Nicolas Tetens und Ernst Platner4 sowie vorwärts dann zu seinen unmittelbaren Nachfolgern wie Jacob Friedrich Fries, schließlich dann zu Hegel, zu seinen Ausführungen über den „subjektiven Geist“ in seiner Enzyklopädie de philosophischen Wissenschaften,.
Zwar sind Kant und Hegel, neben Johann Gottlieb Fichte, für mich persönlich die wichtigsten Lehrer, abgesehen von einer gründlichen Schulausbildung in „scholastischer“ Philosophie im Geiste des Thomas von Aquin, der immerhin schon wusste, dass das Wesen des Selbstbewusstsein in der „reditio completa ad seipsum“5, des vollständigen Selbstbezugs besteht, auch wenn er in den Grenzen seiner Epoche noch kein Reflexionstheoretiker werden konnte. Doch es ist hier nicht meine Absicht, das riesige Gebirge philosophiegeschichtlicher Studien zu vergrößern, worin unsere Zeit so stark ist, ohne dass der „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“6 dabei hinreichend klar wird. Auch würde es mich von meiner Absicht wegführen, erneut im Einzelnen zu begründen, warum – auf den Schultern jener Großen stehend – ein neuer „reflexionstheoretischer“ Ansatz gemacht werden muss.7
Um viel versprechende indische Literatur zum Bewusstsein könnte ich mich allenfalls gründlicher kümmern, nachdem ich diesen Versuch in abendländischer Manier vorgelegt habe. Indessen werden in der reichhaltigen indischen philosophischen Psychologie, soviel ist schon gewiss, tiefe „wissenschaftliche“ Einsichten über die Natur des Menschen und seine Seelenvermögen gewöhnlich zu schnell mit spirituellen Erkenntnissen oder Anmutungen vermischt.8 Es scheint, bei aller Tiefe der inhaltlichen Einsichten, an dem zu fehlen, was wir im Abendland wissenschaftliche, gar erkenntniskritische Methode nennen.
A propos „abendländische Manier“: Die primär objektzugewandten Methoden dominierten hier seit Aristoteles (und seiner Wiederentdeckung und Vermittlung an die mittelalterlichen Theologen-Philosophen durch die Araber). Platon stand den östlichen Weisheitsüberlieferungen noch näher. Es gab einen bedeutenden christlichen Neuplatonismus in der ausgehenden Antike. Doch die wissenschaftliche Philosophie hielt sich seit dem Mittelalter näher an den empirienahen Aristoteles, besonders mit fortschreitender Emanzipierung der Philosophie von der Theologie. Es gab die gewaltige Spaltung zwischen Empirismus und Rationalismus in der beginnenden Neuzeit, doch keine gemeinsame Methode für den „sicheren Gang einer Wissenschaft“9 in der Philosophie.
Diesen zu ermöglichen, war Kants ganzes Bestreben. Seine von ihm so genannte →Transzendentalphilosophie machte Epoche, nicht modischer, sondern methodischer Art: Es war die reflexive Hinwendung auf das Erkenntnisvermögen und die menschlichen Vermögen überhaupt, welche die Essenz von „transzendentalem Denken“ ausmachte. Es wurde Kant jedoch noch nicht voll bewusst, in welcher Weise die methodische Reflexion auf das menschliche Erkenntnisvermögen selbst den entscheidenden Durchbruch darstellte. Indem er dem Reflektierten, nämlich dem untersuchten Erkenntnisvermögen, keine eigene Erkenntnis, Selbsterkenntnis, somit implizite oder begleitende Selbstreflexion ausdrücklich zugestand, blieb er dem gemeinsamen Mangel der beiden entgegengesetzten Strömungen, die er zu überwinden trachtete, dem Rationalismus und Empirismus, noch tief verhaftet: Erkenntnis konnte für ihn nur objekthafte →Vorstellung, Fremd-Repräsentation, sein. Ihm fehlte der besagte Schlüssel-Code zum Schlüssel des Selbstbewusstseins: Der Gedanke einer impliziten Selbst-Repräsentation durch begleitende Selbstreflexion lag ihm fern, paradoxer Weise ferner als dem erwähnten, sechshundert Jahre älteren Thomas von Aquin, der von „conscientia implicita“ und „conscientia concomitans“10 geschrieben hatte. Es scheint wesentlich, diese vorkritische Einsicht (oder Weisheitstradition) in die moderne, erkenntniskritische Philosophie wie auch in die Gegenwart hinüber zu retten. In ihr liegt nämlich erstaunlicherweise der Code, der Schlüssel zum Schlüssel – auch wenn Thomas und seine Zeitgenossen den Schlüssel selbst, den systematischen und „kritischen“ Ansatz allein beim unbezweifelbaren Selbstbewusstsein, noch nicht als solchen erkannten und nutzten.
Erst René Descartes entdeckte den Schlüssel, den Ansatz beim selbstbewussten Ich, jedoch nicht den Code! Infolge besagter Grenze blieben bei diesem Pionier bis einschließlich hin zu Kants Kritik der reinen Vernunft sowie seinen beiden anschließenden Kritiken bei aller epochemachenden, solide gelehrsamen Genialität aus dem „Geist der Gründlichkeit“11 mit Aporien behaftet, die letztlich in dieser ungelösten →Reflexionsaporie gründen:
Muss das ausdrücklich denkend (als Objekt) reflektierte Bewusstsein nicht selbst schon in sich und implizit reflektiert sein, um überhaupt von sich selbst ausdrücklich reflektiert werden zu können?
Dies ist die entscheidende Ausgangsfrage, an der sich bis heute die Geister scheiden. Doch läuft die Akzeptanz dessen nicht entweder auf einen regressus in infinitum (Selbstreflexion setzt immer schon Selbstreflexion voraus) oder aber auf die von Kant so vehement abgelehnte →intellektuelle Anschauung hinaus? Diese ist, so meine grundlegende These, wenigstens als formales und implizites Vollzugsbewusstsein zu postulieren, wie es die scholastische „conscientia concomitans“ beinhaltete, im Unterschied zu gegenständlicher Vorstellung oder Schau von sich selbst, die Kant mit Recht ablehnte!
Wir müssen für eine →Bewusstseinstheorie oder philosophische Psychologie der menschlichen Bewusstseinsfunktionen auf diese entscheidende Grundfrage zurückgehen. Daher möge der Leser den Titel dieses Buches, die Anknüpfung an den großen Kant, nicht als Anmaßung, sondern als Reverenz, als Ehrenerweis an ihn verstehen. Jedoch zugleich als Infragestellung aller psychologischen Versuche, die ganzheitlich, gar integral, sein wollen, jedoch nicht auf diese Grundfrage nach der Natur von Selbst-Bewusstsein und Bewusstsein überhaupt zurückgehen bzw. durch einen Sprung in eine göttliche Selbst-losigkeit beantwortet halten, weil alle Individualität nur vorübergehender Schein sei.12
Das Prinzip des →deutschen Idealismus in Nachfolge Kants war im Grunde die methodische Selbsterfassung der menschlichen Reflexion, also des Menschen als eines der Selbstreflexion fähigen Wesens. Dieses Prinzip, das dunkel schon die ganze abendländische Philosophie durchzogen hatte, wurde damals in großen Schritten ausdrücklich erfasst. Immanuel Kants so genannte →transzendentalphilosophische Wende bedeutet, nochmals gesagt: Weg von der direkten Gegenstands-Betrachtung, hin zur Untersuchung der Subjekt-Objekt-Beziehungen und dersubjektiven Voraussetzungen für Erkennen, Wollen, Handeln usw.
Johann Gottlieb Fichte wollte in Kants Nachfolge die Welt aus dem klar erkannten Prinzip des Ich und seiner Selbst-Reflexion methodisch in ihren Grundzügen rekonstruieren. Georg Wilhelm Friedrich Hegel wandte sich nur deshalb gegen dessen bloß „subjektive“ Reflexion, weil er das Reflexionsprinzip in der Wirklichkeit, sowohl der Natur wie vor allem des (menschlichen) Geistes und seiner Geschichte, das „immanente Leben der Sache selbst“13 aufdecken wollte, also als ein nicht bloß subjektives, wie er es bei Fichte verstand bzw., was den späteren Fichte angeht, teils missverstand. Obwohl jedoch Hegel die immanente Reflexion als Prinzip von Subjektivität und nicht zuletzt von Gesellschaft erkannte und dies m.E. seine Größe ausmacht. Es ist mir bis heute ein Rätsel, warum Hegel diese seine tiefste methodische Einsicht nicht in einer anderen (nämlich handlungstheoretisch und dialogisch statt gegenstandstheoretisch geprägten) Art von Wissenschaft der Logik darzustellen vermochte.Er hätte das dialogische Denken seines Zeitgenossen Friedrich Heinrich Jacobi auf systematischem Niveau integrieren müssen.
Kein Geringerer als Hegel war es auch, der seit der Phänomenologie des Geistes heftig gegen den „Sack voll Vermögen“ in Kants Kritiken wie in der bloß „beobachtenden Psychologie“ polemisierte:
„Die beobachtende Psychologie (…) findet mancherlei Vermögen, Neigungen und Leidenschaften, und indem sich die Erinnerung an die Einheit des Selbstbewusstseins bei der Hererzählung dieser Kollektion nicht unterdrücken lässt, muss sie wenigstens bis zur Verwunderung fortgehen, dass in dem Geiste, wie in einem Sacke, so vielerlei und solche heterogene einander zufällige Dinge beisammen sein können, besonders auch da sie sich nicht als tote ruhende Dinge, sondern als unruhige Bewegungen zeigen.“14
Das Berechtigte an dieser Polemik war deren fehlende Ableitung aus einem einheitlichen Prinzip. Es könnte nur das der reflexiven Natur des Selbstbewusstseins sein. Warum es Hegel selbst nicht gelang, in seiner Theorie des subjektiven Geistes, Teil seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, dieses Prinzip so überzeugend zur Geltung zu bringen, dass man von einer befriedigenden dialektischen oder reflexionstheoretischen Vermögenstheorie sprechen könnte, wäre lohnendes Thema einer eigenen Untersuchung, worin die gesamte Hegelsche Methode auf der Grundlage seiner Wissenschaft der Logik zur Debatte stehen müsste. Mir geht es jedoch nicht um Philosophiegeschichte als solche.
Hegel polemisierte mit jenem Wort von einem „Sack voll Vermögen“ nicht zuletzt gegen den immerhin bemerkenswerten Versuch des Fichte-Schülers, kritischen Kantianers und seinen Jenaer Rivalen: Jakob Friedrich Fries. Dieser versuchte nämlich zur gleichen Zeit, Kants Kritiken in eine „psychische Anthropologie“ umzuschreiben, nämlich in seiner dreibändigen Neuen oder anthropologischen Kritik der Vernunft15, die im selben Jahr 1807 wie das genannte frühe Hauptwerk Hegels in Jena erschien.Darin heißt es einleitend:
„Kant aber machte den großen Fehler, daß er die transcendentale Erkenntniß für eine Art der Erkenntnis a priori und zwar der philosophischen hielt, und ihre emprische psychologische Natur verkannte. (…) Dieser Mißgriff ist Ursach, daß Kant das Wesen der Reflexion nie begriff, und Sinn[eserkenntnis] und Verstand nicht in einer Vernunft zu vereinigen vermochte. Er gab ihm dem Widerwillen gegen empirische Psychologie und innere Selbstbeobachtung, welcher bei einigen seiner Schüler, z.B. bey Fichte, noch heftiger wurde.“16
„Die erste [Anhropologie] betrachtet das Äußere des Menschen, seinen Körper, dessen natürliche Funktionen, und wird medicinische Anthropologie oder Physiologie genannt. Die zweyte beschäftigt sich mit dem Innern des Menschen, so wie er sich Gegenstand der innern Selbsterkenntnis wird, nach gewöhnlicher Behandlung heißt sie empirische Psychologie, wir wollen sie psychische Anthropologie nennen.“17
Was macht aber nach Fries den Unterschied zwischen gewöhnlicher empirischer Psychologie und seiner psychischen Anthropologie aus?
„Erfahrungsseelenlehre ist eine innere Experimentalphysik, die für sich selbst immer fragmentarisch bleibt, mit dieser wollen wir uns nicht begnügen, sondern wir wollen uns zu einer Theorie des inneren Lebens, zu innerer Naturlehre erheben, unsre Idee ist ein analogon dessen, für die innere Natur, was wir jetzt für die äußere Physik Naturphilosophie nennen. Diesen Theil der psychischen Anthropologie wollen wir philosophische Anthropologie nennen. (…) Dieser Theil der Wissenschaft ist bisher noch sehr mangelhaft geblieben; das Wichtige, was hier zu beobachten ist, wird vielmehr oft für unmöglich gehalten, und doch ist es eben diese innere Naturlehre, welche von dem wichtigsten Einfluß aus alle Philosophie sein muss. Sie ist die wahre Grunduntersuchung aller Philosophie; ihre Standpunkt ist der einzige Standpunkt der Evidenz für spekulative Dinge.“18
Fries kommt mit dieser Idee einer spezifisch philosophischen Anthropologie oder Psychologie (mit der er allen Ernstes Kants Vernunftkritiken ersetzen oder zumindest auf ihrer eigenen Ebene ergänzen will!) sehr nahe dem, was in diesem Buch vorgelegt werden soll. Deshalb ist es methodologisch wichtig, genau den besagten Standpunkt zu erfassen – und damit zugleich den folgenreichen Fehler, der diesem abgefallenen Fichte-Schüler im Ansatz unterläuft. Auf der einen Seite unterscheidet er nämlich wenigstens kurz das Gegenständliche der inneren Erfahrung von deren vollzugsmäßiger (in Kants Sinne: transzendentaler) Ermöglichung, auf der anderen Seite lässt er diese wesentliche Unterscheidung dann wieder fallen und geht für seine psychische und philosophische Anthropologie auf gegenständlich-empirische Erkenntnis:
„Es gibt also für jede Erkenntniß einen zweyfachen Standpunkt der Betrachtung, einmal kommt jeder Erkenntniß ein Gegenstand zu, welcher in ihr erkannt werden soll, und dann muß ich mir der Erkenntnis selbst erst wieder bewußt werden, wenn ich über sie soll urteilen können; ich kann jede Erkenntnis einmal subjektiv, wiefern sie Thätigkeit ist, und dann objektiv, in Rücksicht ihres Gegenstandes betrachten. (…) Hier ist nun augenscheinlich die innere Geschichte des Erkennens selbst, nach der zweyten Betrachtungsweise, ein Gegenstand der psychischen Anthropologie, die Erkennnis mag auch sein, von welcher Art sie wolle. (…) Ja diese anthropologische Ansicht der philosophischen Erkenntnis ist eben für Philosophie von entscheidender Wichtigkeit. (...) Die vollständige Aufgabe, welche Locke der Spekulation geben wollte, indem er sagt: sie solle zuerst den menschlichen Verstand untersuchen, um seine Kräfte kennen zu lernen, oder die Aufgabe, welche Kant nachher eine Kritik der Vernunft nannte, ist nichts anders, als unsre philosophische Anthropologie.
Wir müssen anfangs die gewöhnliche nur objektive Art, die Erkenntnisse zu betrachten, verlassen, und uns bloß auf die subjektive, anthropologische beschränken, die andere wird uns nachher von selbst zufallen. (…) Denn wenn ich meine Erkenntnisse sicher will kennen lernen, so muß ich nur subjektiv erst die Erkenntniß selbst beobachten, diese ist meine Thätigkeit, und kommt mir zu, welchen Gegenstand ich auch habe.“19
J.F. Fries beschreibt hier nur scheinbar eine reflexive und handlungstheoretische Haltung, wie sie Kants „transzendentalen Ansatz“ charakterisiert20 – in Wahrheit reduziert er diesen Ansatz, wie schon seine obige Parallelisierung Kants mit Locke fürchten ließ, auf eine vorgängige Untersuchung der Vermögen als Tätigkeiten, die dadurch zu Gegenständen höherer Art werden. Kants transzendentale Methode besteht jedoch gerade darin, die apriorischen Implikate als Bedingungen der Möglichkeit in den Vollzügen herauszuheben. Diese Implikate (wie z.B. die Kategorien) werden niemals bloß vorher gehende empirische Erkenntnisgegenstände höherer Ordnung, sie sind nur durch transzendentale Reflexion zu erschließen. Wegen dieses Missverständnisses, gar Unverständnisses, bleibt Fries‘ Verhältnis zu Kant sehr gespalten, wie das zu seinem einstigen Lehrer Fichte ablehnend:
„Für diesen unsern Zweck finden wir die gehaltreichsten Vorarbeiten in den Kantischen Kritiken der Vernunft, diesen ersten Philosophischen Meisterwerken. Ja es ließe sich wohl behaupten, daß Kant der erste war, welcher ohne Gespenster zu sehen, und doch auch ohne sich mit dem Materiellen zu bemengen, die Idee unserer Wissenschaft, in Rücksicht einer Übersicht des Ganzen fand, er war wohl der erste, der sich so über beschreibende Psychologie erhob, wenn gleich auch ihm die Idee dieser Erhebung nur dunkel vorschwebte. In vielen Theilen ist seine Untersuchung bis zur Vollendung gediehen, in andern müssen wir ihn verbessern, und in mehrern ihm die fehlende Vollendung zu geben versuchen. Dieser letzte Zweck aber nöthigt uns, seine Arbeit einer gänzlichen Umarbeitung zu unterwerfen, zuletzt einzig, weil der die Natur des innern Sinnes des Bewußtseyns und der Reflexion nicht richtig erkannt hat, wovon sich die Folgen bis ins Einzelnste über das Ganze verbreiten.“21
Die „Natur des innern Sinnes des Bewußtseyns und der Reflexion“ war von Fichte als „intellektuelle Anschauung“ im Sinne einer impliziten Reflexivität bestimmt worden. Beide können aber nie Erfahrungsgegenstände einer empirisch-objektivierenden Psychologie werden. Sie können nur durch Folgerung, durch ein Schlussverfahren der →transzendentalen Reflexion, d..h. durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des gegenständlichen, unmittelbar phänomenologischen Bewusstseins, erschlossen werden. Kant lehnte bekanntlich eine intellektuelle Anschauung ab. Für ihn kann sich das Selbstbewusstsein nur denkend, nicht anschauend, nicht erfahrend erfassen:
„Dagegen bin ich mir meiner selbst (…) bewusst, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen.“22
Hier wird die Aporie bei Kant greifbar, die schon oben konstatiert wurde: Wo in aller Welt würde etwas zuerst gedacht, was nicht zuvor in seinen Elementen erfahren würde? Denken ist erst das Verbinden von Erfahrungselementen. Doch handelt es sich bei dieser Erfahrung eben nicht um eine „Vorstellung“, sondern um eine Vollzugsgewissheit, die weder Denken noch gegenständliche Erfahrungsgegebenheit ist. Dass Fichte sie – im Bewusstsein der Aporie bei Kant, dass er sich auf das Selbstbewusstsein beruft, das keine gegenständliche Erfahrungserkenntnis sein kann, aber auch kein bloßes Denken – intellektuelle Anschauung nannte, war gewagt. Denn jeder denkt bei „Anschauung“ an gegenständliche Anschauung. Es handelt sich jedoch bei der Vollzugserfahrung – Tathandlung und intellektuelle Anschauung bei Fichte – um ungegenständliche Anschauung seiner selbst im Vollzug – ein ebenso einmaliger wie grundlegender Sachverhalt.23
Darin liegt die philosophische Eigenart und Tiefendimension der →philosophischen Psychologie, wie sie hier versucht wird: Rekonstruktion der gewöhnlichen inneren Erfahrung von den Vorgaben, den logischen Implikaten dieser einmaligen Vollzugserfahrung her. Darin liegt auch, wie wir sehen werden, die notwendige Zurückweisung des Anspruchs einer empirischen Psychologie, erste Wissenschaft und Philosophieersatz zu sein, wie wir ihn besonders bei C.G. Jung finden werden.
Hegel hat seinen Rivalen Fries in Jena sowie für die Professuren in Heidelberg und Berlin, der diese innere Reflexivität des Selbstbewusstseins (vor aller „Vorstellung“ in Anschauung oder Denken) nicht wie er selbst auf seine Weise erfasst hat, mit der vernichtenden Charakteristik „Heerführer der Seichtigkeit“24 belegt. Fries war ein durchaus origineller Kopf, wenngleich kein genügend tiefer und daher kein wirklich systematisch durchsichtiger Schriftsteller. Das genannte, wirkmächtige Diktum Hegels kann sich, im Hinblick auf Fries‘ Hauptwerk, nur auf den zentralen Ansatz, seinem Vorbeigehen am Problem der inneren Reflexion, und dessen vielfältige Folgen beziehen, wenngleich der Anlass Fries‘ Auftreten auf dem Wartburgfest (1817) war, was Hegel selbst, wohl zu Unrecht, in einem politisch reaktionären25 oder opportunistischen Licht erscheinen ließ.
Nach Hegels frühem Tod brach die reflexionstheoretische Strömung des deutschen Idealismus erst einmal ab, noch bevor wichtige Grundstrukturen endgültiger und in größerer Einfachheit formuliert werden konnten. Deutschland erlebte, grosso modo gesprochen, in der Philosophie und von daher in den gesamten Geisteswissenschaften einen Niedergang ins bloße Historisieren und vielfach ins Willkürliche. Die Philosophie konnte infolgedessen, statt transzendentallogische, d.h. reflexionslogische Grundlage der sich emanzipierenden Geisteswissenschaften zu bleiben, je nach Gusto für jede Weltanschauung eingespannt werden und wird dies bis heute. Dies gilt insbesondere für eine nicht vorhandene →philosophische Psychologie und damit eine aus der „Einheit des Selbstbewusstseins“ abgeleitete Theorie der seelischen Vermögen. Dieses Unterfangen wurde seitdem und wird heute sogar als überholt belächelt. Das relative Scheitern der Versuche dazu hatte Auswirkungen über Jahrhunderte, so dass wir uns – mehr denn je an schnelle technologische und einzelwissenschaftliche Entwicklungen gewöhnt – nicht wundern müssen, dass wir nochmals da ansetzen müssen, wo Kant, Fichte, Fries, Schelling und Hegel damals standen: bei der Theorie des Selbstbewusstseins.
Einen entscheidenden, gegenüber Fries wirkungsmächtigeren Einschnitt sehe ich bei Hegels Widersacher Arthur Schopenhauer, indem er – dem Schwachpunkt bei Kant folgend, nämlich dessen Leugnung einer intellektuellen Anschauung im Sinne ungegenständlicher Vollzugserkenntnis – die Selbsterkenntnis überhaupt leugnete, darin an Strenge oder vielmehr Gegenstandsfixiertheit über Kant hinausgehend, und dann kompensatorisch und irrationalerweise einzig beim Willen den erkenntnismäßigen Zugang zur Wirklichkeit sah. Dies war bei Schopenhauer die Folge jener objektivistischen Auffassung von Erkenntnis, die leider auch schon Kants Leugnung einer inhaltlichen Selbst-Erkenntnis zugrunde lag: als beginne Erkenntnis erst mit der intentionalen Objektivierung oder Repräsentation. Die entscheidende begleitende Selbsterkenntnis, der Charakter von Selbsterkenntnis als implizite Selbstbegleitung, wurde in einem sowohl rationalistischen wie empiristischen Geiste übergangen.26 Die Folge war, dass jene sprachlich brillante, scheinbar klarer formulierte →Willensmetaphysik Schopenhauers für viele Nachfolgende das Paradigma für willkürliche metaphysische Konstruktionen bot – bis der antimetaphysische Affekt des 20. Jahrhunderts mit aller „Metaphysik“, was immer das heißen mochte, aufzuräumen suchte.
Die Ironie dieses Stücks Geistesgeschichte besteht darin, dass nichts so unklar und leichtfertig ist wie die bis heute allgegenwärtige Polemik gegen „Metaphysik“. Es sollte allmählich zum Berufsethos der Antimetaphysiker aller Couleurs (von Heidegger über den Wiener Positivismus und Wittgenstein bis hin zur Sprachanalyse und der naturalistischen „Philosophy of Mind“) gehören, wenigstens jeweils klar zu sagen, was genau sie verwerfen, wenn sie sich gegen „Metaphysik“ wenden. Eine mittelalterliche Gotteslehre und Seinsontologie oder etwa auch die transzendentale Reflexion im Sinne Kants, also jede Besinnung auf das philosophierende Bewusstsein? Jede Bewusstseinstheorie, sofern sie nicht von vornherein von materialistischen Prämissen ausgeht und das „Ich“ dogmatisch als bloße Projektion eines physischen Apparates ansetzt?27 Allein eine nebulöse Ablehnung von „Metaphysik“ durch Sprachanalyse, Naturalismus usw. sollte nicht länger als erkenntnistheoretisches Gütesiegel gelten dürfen.
Selbst einer der großen Gründungsväter des amerikanischen Pragmatismus, der schon erwähnte Begründer der empirischen Psychologie in Amerika, William James (vergleichbar den vorausgegangenen Gustav Fechner und Wilhelm Wundt in Deutschland), verstand sich zugleich als Metaphysiker, wenn auch als Vertreter einer „empirischen Metaphysik“, der allerdings gegen eine apriorististische Metaphysik im Sinne Kants kämpfte und Hegel, dessen Methode „Rekonstruktion“28 war, als aprioristischen Metaphysiker missdeutete.
William James hat auch die Unterscheidung zwischen dem empirischen Ich bei Kant und dem transzendentalen Ich voll rezipiert. Er setzt dem bedeutenden Kapitel X seines Hauptwerkes Principles of Psychology (1990) als Vorspann voran:
„Let us begin with the Self in its widest acceptation, and follow it up in its most delicate and sutle form, advancing from the study of the empirical, as the Germans call it, to the pure Ego.”
Die Unterscheidung von I als dem reinen, transzendentalen Ich und Me als dem objektivierten Ich, die normalerweise Herbert Meads Werk Mind, Self and Society (1934) zugeschrieben wird und spätestens seitdem einen festen Platz im philosophischen Bewusstsein der US-Amerikaner hat, nimmt bei dem ein paar Jahre durch deutsche Universitäten gegangenen W. James bereits ihren Ursprung.
Eine andere Frage aber ist, ob James die Natur des transzendentalen Ich als „reiner Aktivität“ auch in ihrer gelebten, impliziten Reflexivität durchschaut hat. Dies ist leider nicht der Fall. Deshalb quält er sich unter anderem mit der Frage ab, wie das „pure Ego“ eigentlich die zeitliche Identität des Ichbewusstseins gewährleisten kann, durch welche Gedanken oder Vorstellungen, was überhaupt die Natur dieses „inner thinker“ sei, wie dieses Ich zum Seelengedanken steht usw.29
Er durchschaut, dass der Strom der Gedanken keine Antwort darstellt auf diese Frage. Denn die Gedanken sind alle schon Objektivierungen, objektive Phänomene, somit keine Antwort auf die Frage nach dem sich durchhaltenden Subjekt.30 Die traditionelle „Theory of the Soul“ gebe ebenfalls keine Antwort nach der Substanz der Seele – noch sei sie wissenschaftlich beweisbar.
„The reader who finds any comfort in the idea of the Soul, is, however, perfectly free to continue to believe in it; for our reasonings have not established the non-existence of the Soul; they have only proved its superfluity for scientific purposes.”31
In der hier dargelegten reflexionstheoretischen Sicht beantworten sich diese Fragen – merkwürdigerweise mit dem Aquinaten schon vor Descartes und deutscher Reflexionsphilosophie – dahingehend, dass die Natur oder das Wesen oder die sich durchhaltende Identität des reinen Ich nichts anderes als seine implizite Selbstreflexion ist.
Die Assoziationstheorie eines David Hume – die Ich-Subjektivität bestehe in der unverwechselbaren Kombination seiner Erfahrungen und Assoziationen – scheint James nicht weniger metaphysisch als die substantialistische Sicht des Thomas von Aquin (dessen anfängliche Reflexionstheorie er freilich nicht kennt oder erwähnt).32
Es folgt eine ausführliche Auseinandersetzung mit der „transcedentalist theory“ Kant und seiner Nachfolge. Er zeigt den auch hier schon erwähnten Schwachpunkt bei Kant auf: von einem Ich zu sprechen, das „all meine Vorstellungen begleiten können muss“, doch sonst keine Kenntnis über dieses Ich haben zu wollen. Und ausgerechnet dieses unerkennbare Ich werde bei Fichte, Schelling und Hegel zum Prinzip der Philosophie!33 Hier tut sich früh der Graben zwischen der europäisch-kontinentalen Philosophie und derjenigen der Neuen Welt auf, mit einer Mischung aus verständlichem Unverständnis und hochmütigem Stolz! Zu der empiristischen Denkart, die auch in Europa damals (1890) längt den Ton angab, kommt ein nationaler Zungenschlag hinzu – doch auch die berechtigte Forderung nach Klarheit.
Ich knüpfe trotzdem an die reflexionsphilosophische Tradition an, die bei Kant zögernd unter der Bezeichnung „transzendentale Erkenntnis“, bei Fichte dann voll thematisch wird und von Schelling wie vor allem von Hegel vorausgesetzt wurde, wenngleich bei allen drei Letztgenannten terminologisch zögernd und nicht ohne Unklarheiten gerade in Bezug auf die entscheidende Reflexionsthematik, Unklarheiten, die in diesem Rahmen nicht philosophiehistorisch analysiert werden können.34 Hegel spricht von innerer Reflexion, gleichbedeutend mit dem „immanenten Entwicklung der Sache selbst“ oder der „eigenen Seele des Inhalts“35, was die Philosophie zu rekonstruieren habe. Das ist die stärkste Seite, der große, folgenreiche Schritt bei Hegel, auch wenn selten so verstanden, auch von ihm selbst nicht voll. Sonst hätte er sich vielfach zu größerer Klarheit der Diktion durchzuringen vermocht. Soviel muss an Schopenhauer zugegeben werden, dass dieser große Denker seinen eigenen Intuitionen an entscheidenden Stellen nicht immer mit der von ihm selbst geforderten begrifflichen Klarheit gerecht wurde.36
Die Anknüpfung an Hegel und an Fichte geschieht jedoch nicht historisierend, sondern in systematischen Denkschritten weiterführend, selbstverständlich die dialogischen, kommunikationstheoretischen und sprachreflexiven Strömungen des 20. Jahrhunderts einbeziehend. Der erste Schritt ist der Aufweis, den ich in mehreren Büchern ausführlich geführt habe37 und daher hier nur kurz resümiere:
Figur 1: Die 4 Sinnelemente der menschlichen Handlungssituation, die bei allem menschlichen Wahrnehmen und Handeln beteiligt sind
Alles menschliche Wahrnehmen und Handeln spielt sich im Gefüge dieser vier →Sinnelemente ab. Diese sind nicht aufeinander reduzierbare, gleichursprüngliche Elemente des menschlichen Selbstbewusstseins. Den Ausdruck „Sinnelemente“ habe ich aus den frühen Hauptwerken des philosophisch bedeutenden Theologen Paul Tillich übernommen, der damit allerdings – vordialogisch - nur den Dualismus von Denken und Sein als unveränderliche Bestandteile von Sinnprozessen meint.
Wegen des vorhergehenden Referates zu William James sei nebenbei angemerkt, was für mich, nach jahrzehntelangem Umgang mit der Vierfachheit, ein überraschender Fund war:
„The constituents of the Self may be divided into two classes, those which make up respectively –
(a) The material Self;
(b) The social Self;
(c) The spiritual Self;
(d) The pure Ego.”38
Die vier „Konstituentien“ oder Bestandteile des empirischen Selbst nach James entsprechen durchaus den obigen Sinnelementen, die bei allem Wahrnehmen und Handeln stets beteiligt sind. Dass es sich tatsächlich genau um eine Vierfachheit handelt und in welcher Reihenfolge, wird allerdings m.E. nur einsichtig, wenn wir das Selbst in seinen sozialen Bezügen („the social Self“) betrachten. Denn erst wo zwei reflexive Instanzen (Ich und Du) ins Spiel kommen, werden Reflexionsstufen beweisbar.
Obigen vier Sinnelementen als den relationalen Polen des Selbstvollzugs entsprechen nämlich vier Stufen der interpersonalen Reflexion zwischen Ich und Du, also der →sozialen Reflexion. Dies ist ein zentraler und neuer Begriff: Denn es gibt keine bloß subjektive Reflexion, als spontan gelebte verstanden, im Unterschied zur „Icheinsamkeit“ (Husserl) des philosophischen Nachdenkens. Der reflexive Prozess des Ich ist immer schon durch die anderen Sinnelemente vermittelt, als Selbstbezug-im-Fremdbezug. Wenn wir genau auf die „Spiegelung“ zwischen zwei reflexiven Instanzen (Ich und Du) achten, so ist leicht einzusehen, dass es hierbei nicht um passive Spiegelung geht, sondern – selbst im Falle von Asymmetrie der Intentionen – um eine aktive wechselseitige Aufnahme der Intentionen des Einen durch den Anderen. Im Blick durchlaufen wir zum Beispiel diese Stufen:
1. Ich sehe den Anderen wie einen Gegenstand.
2. Ich sehe ihn als selbst Sehenden.
3. Ich sehe ihn als mich Ansehenden, lasse mich also auf eine Wechselseitigkeit des Blicks ein.
4. Wir nehmen jeweils zu dieser Wechselseitigkeit Stellung, sei es je subjektiv, sei es gemeinsam in irgendwelchen informellen oder formellen Verabredungen, d.h. gemeinsamen Normsetzungen. Wobei bereits vorgegebene soziale Normen, z.B. zeitliche Normen oder weitergehende Verhaltensnormen, akzeptiert oder verworfen oder abgewandelt werden. Wir können uns z.B. an Gepflogenheiten über Wochentage halten und etwa am Sonntag gemeinsam in die Kirche gehen oder einen Frühschoppen halten, sei es nun in vollem gegenseitigem Einverständnis, sei es durch Überredung von einer Seite. Selbst Überredung funktioniert jedoch nur mit einem zumindest minimalen Einverständnis.
Noch stärker konkretisierte Beispiele haben etwas sehr Willkürliches an sich, weil diese Reflexionsstrukturen schlechthin alles soziale Verhalten betreffen. Hier geht es allein um diese systembildende Struktur, die ein wechselseitiges Reflexionsprodukt ist. →Soziale Reflexion wird dabei nicht als passive Spiegelung, auch nicht als bloße, je subjektiver „Perspektivenübernahme“, sondern als Gemeinsamkeit eines wissenden und wollenden Handelns aufgrund wechselseitiger praktisch wirksamer Spiegelung verstanden.
Figur 2: Ein sozialer Reflexionskreislauf zwischen Person 1 und 2 mit 4 Reflexionsstufen
Von dieser allgemeinen menschlichen Handlungs- und Sprechsituation sowie von der grundlegenden Vierfachheit der Sinnelemente Ich – Du – Es – Medium/Wir-Gemeinschaft her, lässt sich aber zugleich eine Dreiheit erkennen: die eher in esoterischen Kreisen genannte, in heutigen „zünftigen“ Philosophenkreisen verkannte und zur so genannten Leib-Seele-Frage oder, angeblich gleichbedeutend, Körper-Geist-Frage verkürzte, dennoch einer streng begrifflichen Einführung zugängliche Dreiheit von Körper – Seele – Geist.
Figur 3: Die 4 Sinnelemente in Bezug zu den 3 anthropologischen Ebenen. Die kreisförmigen Pfeile bei „Ich“ und „Du“ kennzeichnen diese als Reflexionswesen.
In kurzen Definitionen:
→Körperliches meint alles im Raum Erscheinende, die res extensa des René Descartes, wozu nicht zuletzt auch der belebte Leib des reflektierenden Subjekts gehört.
→MenschlicheSeele meint – in erster erkenntnistheoretischer Annäherung – die reflektierende Instanz des Subjekts, dessen Innerlichkeit und Individualität (englisch: soul und mind, sofern man mind nicht auf die Verstandesfunktion verengt). Seele ist, seinsmäßig (ontologisch) tiefer gefasst, die durch das „Wunder“ der Selbstreflexion, durch die volle Rückbezüglichkeit, konstituierte Wesenheit, was immer noch über sie zu sagen sein wird. Seele wird hier weder zur irrationalen Zuflucht des Nichtwissens (asylum ignorantiae) noch zu einer einseitig gefühligen oder einseitig rationalen Instanz. Sie ist dennoch das Erstaunlichste, was es in dieser Welt gibt, was wir nicht direkt mit unseren Sinnen wahrnehmen können, sondern nur in ihren inneren und äußeren Wirkungen, in ihren näher zu untersuchenden Funktionen. Über die Art der direkten inneren Wahrnehmung als begleitendes, normalerweise unthematisches Selbstbewusstsein werden wir noch manche Worte verlieren müssen. Seele ist der innere Kern der →Person, die durch die Einheit von Selbstbezug und Fremdbezug (auf Körperliches, auf andere Personalität uns Seelenhaftigkeit sowie auf medialen Sinn) gekennzeichnet ist.
Bei Descartes ist Seele die res cogitans seiner zweifelnden Suche nach erster Gewissheit, welche „res“ jedoch weder im dinglichen Sinne missverstanden noch vor allem auf das Denken im engeren Sinne verkürzt werden darf. Es gibt zwingende Gründe, schon Descartes‘ „Denken“ in dem weiten Sinn von „Bewusstsein“ überhaupt zu verstehen, wenngleich oder gerade weil er die Abgrenzung von conscientia und cogitatio nicht ausdrücklich vornimmt.39
Methodisch geht Descartes vom philosophischen Nach-denken aus, und es bleibt die Zweideutigkeit, ob das „Ich“ nun die nachdenkende Instanz oder die bedachte, schon vorweg selbstbewusste Instanz ist. Mit Recht identifiziert er ohne weitere Diskussion beide in der Sache. Doch nach vier Jahrhunderten40 des Hin- und Herdiskutierens über Descartes‘ methodischen Neubeginn ist die genauere Unterscheidung einer gelebten, implizit vollzogenen Selbstreflexion des Ich als „Bedingung der Möglichkeit“41 seiner ausdrücklich-thematischen Reflexion (Nachdenken) unerlässlich, um diejenigen aus ihren Zweifeln herauszubringen, die Descartes‘ Ansatz beim methodischen Zweifel sowie beim Ich noch immer in Zweifel ziehen. Bei letzterem Zweifel werden fälschlich nicht unterschieden: empirisches Ich-Bild und transzendentales Ich, gelebte Reflexion und nachträglich-ausdrückliche, objektivierende Reflexion, schließlich auch „Ich“ als die individuelle Instanz (mind) und Geist (spirit) nicht. Es ist ein Trauerspiel zu sehen, wie selbst sonst gute Übersetzer „spirit“ mit „Seele“ sowie „mind“ mit „Geist“ übersetzen.42 „Mind“ ist nur das individuelle Bewusstsein, und meist als der verstandesmäßige Ausschnitt dessen zu verstehen.
→Geist (spirit) beinhaltet dagegen den Bereich des Überindividuellen, die Sinnsphäre des Logischen und Medialen, in der obigen Grafik Sinn-Medium genannt. Das menschliche Subjekt ist fähig, diesen Geist in Form des Alles-Gedankens zu erfassen, implizit in seinen Sinnvollzügen des Behauptens, Wollens, Fragens, Liebens und Ahnens – oder eben explizit, indem es sich dieses „unendlichen Horizontes“ seiner Vollzüge als der Bedingung der Möglichkeit ihrer eigenen Unbedingtheit (die nun einmal im Behaupten, Wollen, Fragen, Lieben und im Verantwortungsbewusstsein liegt) bewusst wird. Die versuchte Redukton dieser unendlich offenen Sphäre des Logos, die Platon als den Bereich des Logischen in seiner Nichtreduzierbarkeit auf das sich vollziehende Ich staunend entdeckt hatte, die Reduktion der Geltungen überhaupt auf psychologische Funktionen, nannte man schon vor hundert Jahren →Psychologismus. Im heutigen naturalistischen (materialistischen) Reduktionsversuch des Psychischen auf Materielles durch die sogenannte „Philosophy of Mind“ oder „Philosophie des Geistes“ wird dieser Reduktionsversuch in Richtung Physik überboten.
Die →Seele (die psychische Individualität also) nimmt an der Sphäre des nicht-individuellen Geistes teil, so wie Individuen in der Kommunikation an gemeinsamen Inhalten teilhaben. Dieser →Teilhabe-Gedanke hat also eine vollkommen empirische, phänomenologisch und transzendentallogisch43 nachweisbare Basis: Wir nehmen an einem gemeinsamen Sinn teil. Teilhabe war bereits für Platons Denken zentral, wenngleich unter ganz anderen methodischen Voraussetzungen. Teilhabe darf nicht mit Teil-sein verwechselt werden, wie es in falscher Esoterik und Mystik geschieht, wenn behauptet wird, die menschliche Seele sei „Teil Gottes“ – und gehe folglich auch als Tropfen in diesem Meer schmerzlos und identitätslos unter. Den Denkenden schmerzt gerade diese grob sinnliche, fromme Vorstellung, weil dabei nicht erfasst wird, was geistige Individualität ist: die Fähigkeit zur Teilhabe am Unendlichen44. Je entwickelter ein Individuum, desto fähiger ist es, capax infiniti, des Unendlichen teilhaftig, zu sein. In Teilhabe-Relationen herrschen keine umfangslogischen oder mengentheoretischen Verhältnisse, wie sich das idealistische oder materialistische Fromme gleichermaßen vorstellen. Mir geht kein Gedanken- oder Gefühlsinhalt verloren, indem ich ihn mitteile, indem ich also andere an ihm teilhaben lasse. Wir müssen vom üblichen räumlichen Vorstellungsdenken (dem in der Philosophie nur eine untergeordnete Rolle zukommt) zur genauen, reflexionslogischen Rekonstruktion unserer alltäglichsten und fundamentalsten Erfahrungen übergehen. Bei diesem eigentlichen, oft „abstrakt“ genannten Denken spielen räumliche Anschauungen allenfalls die Rolle von schematisierenden Hilfskonstruktionen wie etwa in den hier verwendeten Zeichnungen.
Wesentlich ist in obigen Definitionen, die keineswegs willkürlich sind, sondern erfahrungsgesättigt und phänomenologisch bzw. als Bedingungen der Möglichkeit empirischer Bewusstseinsphänomene, als Implikate des Selbstbewusstseins45, gerechtfertigt werden:
das Verständnis der menschlichen, reflexiven Identität (Seele) als Geist-Teilhabe oder Geist-Träger46
Verständnis von Seele und Geist vom zentralen Ich- oder Selbstbewusstsein her: als das Individuelle und Überindividuelle
sowie das Verständnis des Selbstbewusstseins als Leistung der vollen Rückbezüglichkeit oder Selbstreferenz oder Selbstreflexion (was hier alles dasselbe meint), wie sie sich in der Fähigkeit zeigt, „Ich“ sagen zu können.
Wenn Kinder „Ich“ zu sagen lernen, ist die gelebte, implizite Selbstreflexion bereits vorausgesetzt. Das Ich-Sagen der Kinder wie der Erwachsenen bildet einen ersten Schritt des Ausdrücklichmachens, allerdings noch nicht die theoretische Explizitheit, die in dem objektivierenden Begriff „das Ich“ zum Ausdruck kommt.
Dem Tier wird hier weder Bewusstsein noch Seele abgesprochen, wohl die volle Selbstreflexivität, die sich nicht zuletzt in der Entfaltung einer Sprache im Vollsinne, d.h. mit entfalteter Syntax zeigt. Die universale Syntax der Sprache besteht in nichts anderem als in dem Ausdruckssystem, das sich aus dem Selbstbewusstsein, der Selbstrelation Ich in Relation zu Es, Du und dem Sinnmedium ergibt.47
Näher werden wir uns in den ersten Teilen des Buches, die über die seelischen Vermögen oder Funktionen des Menschen handeln sollen, mit dieser anthropologischen Dreiheit von Körper – Seele – Geist nicht befassen. Erst in Teil IV, den spirituellen Bewusstseinsformen, sowie in Band II, der Theorie des Unbewussten gewidmet, wird diese Dreiheit grundlegend werden in Form des so genannten Drei-Kreise-Modells des Menschen. Hier musste sie zunächst lediglich um der terminologischen Klärung und Abgrenzung eingeführt werden, vor allem zu dieser Abgrenzung:
Geist ist kein seelisches Vermögen des Menschen! Das Wort muss im Englischen mit Spirit übersetzt werden, nicht mit mind! Der Mensch mit seinen seelischen Vermögen ist Geist-Träger, Bezug auf Geist, das Sinn-Medium. Es stiftet große Verwirrung, diese mediale Realität, so wichtig sie für die seelischen Vermögen des Menschen ist, selbst als ein Seelenvermögen, etwas namens „Geist“, einzustufen (wie es nicht allein bei Ken Wilber geschieht48).
Die soeben ausgesprochene These, dass Selbstbewusstsein auf Selbstreflexion beruht, dass es aus dieser hervorgeht, ja, dass es im Kern in nichts als dieser besteht (im Fachjargon: durch Selbstreflexion konstituiert ist),49