Krumme und gerade Wege - Anne E. Dünzelmann - E-Book

Krumme und gerade Wege E-Book

Anne E. Dünzelmann

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Beschreibung

Pilgerwandern quer durchs Land. Einfach so. Auch wenn nur Kurzstrecken gegangen werden, so bringt diese Art des Pilgern doch Vieles - Positives, aber auch Negatives. Vor allem, wenn sich die Ziele unterscheiden, mit anderen Landschaften und Begegnungen und Glück erfahren wird.

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Robert Dünzelmann

Inhalt

Prolog

Kleine Pilgerkunde

»Gott befohlen«

Entlang der Bonifatius-Route von Mainz nach Fulda

Auf nach Wilsnack!

Durch die Heide und das Wendland über die Elbe

Quer durchs Land

Kloster Loccum

Kloster Mor Jakob Warburg

Elisabeth-Schrein Marburg

Abtei Münsterschwarzach

St. Jakobus-Kirche Hohenberg

Cursillo-Haus St. Jakobus Oberdischingen

Eifel – Wege

Gerhard-Richter im Kölner Dom

Das alte Tolbiacum: Zülpich

Bruder Klaus-Kapelle Wachendorf

Kloster Maria Laach

Winterliche Pilgertage

Stille Tage in Damme:

Priorat St. Benedikt

Zum »Nordischen Rom«:

Magdeburg

Halberstadt

Ilsenburg

Goslar

Multireligiös unterwegs

Koptisch-orthodoxes Kloster Brenkhausen

Jüdische Synagoge Göttingen

Christliche Brüdergemeinde Fulda

Sri Sitti Vinayagar Tempel Stuttgart

HAP Grieshaber Reutlingen

Baha’i-Tempel Hofheim/Taunus

Ditib-Moschee Duisburg-Marxloh

Angekommen!

Egeln

Quedlinburg

Kloster Helfta Eisleben

Naumburg

Erfurt

Was bleibt

Er›fahrene‹ Erkenntnisse

Epilog

Was gilt noch?

Quellen

PROLOG

PILGERN IST ›IN‹

auf bekannten und weniger bekannten Jakobswegen und anderen Pilgerrouten. Was bewegt Pilgernde: Religiosität, Sinnsuche, entschleunigtes Unterwegssein und anderes mehr? Das muss Jede/Jeder für sich entscheiden und ist Ausdruck der Vielfalt persönlicher Pilgerschaft.

Was trieb mich, auf Pilgerfahrt zu gehen, mich Unbekanntem auszuliefern, physische und psychische Anstrengungen zu absorbieren? Nachdem ich über Jahrzehnte nicht mehr ›on the road‹ unterwegs war, das Leben in geordneteren Bahnen verlief, ich mich der wissenschaftlichen Arbeit widmen, den Sohn in die ›Wildnis des Lebens‹ entlassen konnte, fand ich es an der Zeit, wieder in Be›weg‹ung, zu sein, die darin immanente Freiheit zu spüren. Doch ging und gehe ich meinem neu erwachten Wandertrieb nicht sinnentleert nach, sehe mein Pilgern als ›gezähmtes‹ Unterwegssein. Dass ich diesem Verlangen lange, zu lange nicht nachgehen konnte, empfinde ich keineswegs als Defizit in meinem Lebensentwurf. Andere wertvolle Erfahrungen wirkten in der Zwischenzeit auf mich ein und bereicherten mich.

Weiter motivierte mich die Sehnsucht, Spiritualität und Bewegung miteinander zu verbinden, darin aufzugehen ohne mich zu verlieren. (Wie z. B. von Robert Musil in Mann ohne Eigenschaften beschrieben.) Dann will ich herauskommen aus Zwängen der Angepasstheit, hin zum Eigentlichen. Gefolgt von Fragen nach den damit zusammenhängenden Veränderungsprozessen und überhaupt: Was für Erkenntnisse gewinne ich durch das Pilgern? Eine weitere, wesentliche Entscheidung hängt mit meinem Leben selbst zusammen: In einem restitutiven Sinne soll es um die zu erlaufende Bewältigung bestimmter, im autobiografischen Gedächtnis verhafteter Geschehnisse gehen: Um die Versöhnung mit mir selbst und meiner Schuld. Auch will ich mir etwas abverlangen und zumuten, die Grenzen meiner Belastbarkeit erkunden, neue Aufbrüche wagen. Nicht zuletzt wegkommen von der fast alles bestimmenden Beschleunigung. Meine eigene Geschichte erneut wahrnehmen. Vor allem aber nicht zu viel erwarten und planen. Was kommt annehmen. Das alles waren jedenfalls die mir bewussten Intentionen. Erst später sollte sich herausstellen, dass ein nahezu völlig verdrängtes, viele Jahre zurückliegendes und belastendes Ereignis mich (unbewusst) antrieb.

Welche Wege boten sich an: die herkömmlichen, die weniger bekannten oder ganz eigene, wie z. B. von Kloster zu Kloster oder einzelne Abschnitte verschiedener Jakobswege. Wie viele Kilometer könnte ich täglich laufen, 20 oder 15 und in welchem Zeitfenster? Als ›Lebenskünstlerin‹ und ehemalige Pfadfinderin fiel es mir nicht schwer, eine Grundregel – »so wenig Gepäck wie möglich, so viel wie nötig« – zu beachten. Vorläufig wollte ich die einzelnen Pilgertouren auf nicht zu viele Tage ausdehnen, zwischendurch auch öffentliche Verkehrsmittel nutzen, gelegentlich trampen. Der Weg an sich mit einem festen Ziel, die persönliche Intention und das Maß der eigenen Körperkräfte sind letztlich entscheidende Momente beim Pilgern.

Andere sich einem stellende Fragen können nur durch das Pilgern selbst beantwortet werden: Was passiert beim Laufen, Gehen oder Wandern mit dem eigenen Ich. Ist man achtsam genug. Wie reagieren die Sinne. Bewegt man sich irgendwann fatalistisch im Trott weiter oder geht bewusst Schritt für Schritt. Welche meditativen Elemente nimmt man auf. Wie wird die Umwelt mit ihren wechselnden Landschaften aufgenommen. Werden Unannehmlichkeiten wie Regen, Irrwege, Fehlentscheidungen als zugehörig zum Pilgern absorbiert. Wird man unterwegs von Gott, dem Göttlichen, der »allumfassenden Weisheit« (Hildegard von Bingen) berührt. Oder muss ich diese Kraft suchen. Ist sie nicht fortwährend um einen und begleitet alle Wege? Tatsächlich ist die Suche nach in Gott manifestierter Harmonie ein wichtiges Moment. Kann ich zudem an die in jüngeren Jahren gemachte Erfahrung der Befreiung von bestimmten Zwängen, des Loslassens anknüpfen? Mich also wieder mehr dem Sein zuwenden, das Haben war doch eigentlich nie mein ›Ding‹.

Ursprünglich plante ich nur ein bis drei Pilgerreisen vom Frühjahr bis zum Herbst. Tatsächlich durchwanderte ich dann den Rhythmus der Jahreszeiten: Frühling– Sommer–Herbst–Winter und erneut Frühling–Sommer– Herbst. Und jede Fahrt brachte mir anders gelagerte Erkenntnisse. So führte mich mein erster mehrtägiger Pilgerweg den Bonifatius-Weg entlang von Frankfurt nach Fulda. Gleichzeitig sollte diese Wanderung zur Vorbereitung weiterer Pilgerfahrten dienen und besaß daher eine Art Pilotfunktion. Dagegen eignete sich der Weg von Bremen zum früheren Gnadenort Wilsnack an der Elbe gut als Kurztour. Die dann folgende Pilgerreise, quer durch Deutschland, war intensiver zu planen und vorzubereiten. Meine herbstliche Wanderung durch die nördliche Eifel über Zülpich nach Wachendorf und weiter nach Maria Laach beschränkte sich ebenfalls auf wenige Tage. Die für den Winter geplanten Pilgertage führten mich über Weihnachten in das Priorat St. Benedikt in Damme und im März auf den Jakobsweg von Magdeburg nach Goslar. Im Frühsommer dann war ich multireligiös unterwegs und suchte unterschiedliche spirituelle Räume auf. Im Herbst beendete eine Reise von Egeln nach Erfurt diesen meinen Pilgerkreis.

Die von mir beschriebenen Pilgerfahrten stellen eine Art Gegenentwurf dar. Damit soll auch denen Mut zum Pilgern gemacht werden, die sich lange Touren nicht zutrauen, meinen, es nicht zu schaffen: das Alleinsein unterwegs, die Konfrontation mit sich selbst, überhaupt Aufbrüche scheuen. Nur Mut! Auch kurze Pilgerreisen haben es in sich. Es gilt sich zu befreien von der Vorstellung, nur der lange Weg, vor allem der nach Santiago de Compostela, hätte einen Wert. Tatsächlich vermitteln die kleinen Wege und Schritte genauso das, was Pilgern ausmacht: tiefinnere Freude, Harmonie, Erkenntnisse und manchmal schmerzende Traurigkeit.

Alle Routen habe ich so ausgewählt, dass sie teilweise entlang bekannter Pilgerwege und öffentlicher Verkehrsnetze verlaufen. Auf Pilgerausweis und irgendwelche Stempel verzichte ich grundsätzlich. Sind diese doch ein Relikt aus der frühen Neuzeit mit der obrigkeitlich verordneten Praxis der Ausweispflicht und der darin implizierten Disziplinierung. Trotz der Reduktion auf einzelne Abschnitte ist, denke ich, ein persönliches und lebendiges Mosaik entstanden.

Kleine Pilgerkunde

Wenn der Aprilmond sanften Regen bringt,

Der Märzendürre an die Wurzel dringt,

Und jede Ader mit solch Säften schwellt,

Dass diese Kraft erzeugt die Blumenwelt

Wenn Zephyr auch mit seinem süßen Hauch,

Die zarten Trieb' in Heide, Wald und Strauch

erweckt hat und der jungen Sonne Brand

Des Widders Hälfte hat durchrannt;

Wenn Lust'ge Melofie das Vöglein macht,

Das offnen Auges schläft die ganze Nacht

‒ So stachelt die Natur es in der Brust ‒

Dann treibt das Volk die Wallfahrtslust

Und Pilger, fortzuziehn zu fremdenmStrande,

Zu fernen Heil'gen, kund in manchem Lande.

Chaucer, Canterbury Tales

IM FRÜHEN MITTELALTER

standen besonders Pilgernde unter kirchlicher Obhut – gemäß dem Diktum Karls des Großen, Gastfreundschaft zu Ehren Gottes und um des eigenen Seelenheils willen zu üben. Das entspricht auch den ur 12christlichen Glaubensinhalten. Etymologisch sind peregrines Wanderer, aber auch Fremde, kirchenlateinisch ist pelegrinus der, welcher nach Rom wandert. Aber auch Kreuzfahrer und herumziehende und teilweise marodierende Gruppen wurden als solche bezeichnet. Vom frühen Mittelalter an waren Pilgerfahrer integraler Bestandteil der Gesellschaft, wie überhaupt Mobilität allgegenwärtig war. Das zeigte sich u. a. darin, dass Massenwallfahrten häufig spontan entstanden, so bald es Nachrichten von einer Gnadensensation gab und zum »großen lauffen« führte. Im Bereich der Legende liegt der Gebrauch der Jakobs muschel als Pilgerzeichen. So soll z. B. deren Schale den Kreuzzugpilgern als Trinkgefäss gedient haben. Während der Pilgerhut in Muschelform ganz konkret die gleiche Funktion erfüllte. Und von der Symbolik her können die einzelnen Muschelrippen als Wege hin zu einem Ziel interpretiert werden.

Was aber trieb die Menschen besonders im Frühjahr auf eine lange, entbehrungsreiche Pilgerfahrt? Einerseits war das alltägliche Leben von starker Religiosität durchdrungen und bot genügend Anlässe. Sei es als Sühneleistung, zur Krankenheilung, zur Erfüllung eines Gelübdes, zur Bewältigung eines persönlichen Problems, ebenso als kirchliche Buße und als weltliche Strafe. So wurden Aachen- oder Romfahrten per Gerichtsurteil oder in Sühneverträgen verordnet. Andererseits ist das Pilgertum in Zeiten mentaler und ökonomischer Unsicherheiten als stabilisierender Faktor zu sehen, als Flucht vor Armut und Verelendung. Zudem befriedigte das Pilgern nicht nur die Abenteuerlust, es stärkte ebenfalls und ganz utilitaristisch die Wirtschaftskraft. Nicht nur dann, wenn Pilger und Händler auf gemeinsamen Fahrten unterwegs waren. Und mit der Pilgerschaft wurde Religiosität er›fahrbar‹ gemacht.

Letztlich wirkte sich die zunehmende infrastrukturelle Verdichtung im Mittelalter nicht nur positiv auf das Wirtschaftswachstum aus, auch das Pilger- und Wallfahrtswesen entwickelte sich zu Veranstaltungen der Kommunikation und gesellschaftlicher Ereignisse. Es entstand ein übernationales Wir-Gefühl ohne Unterschiede von Sprache, Herkunft und sozialem Status. So stellt Chaucer eine bunte Pilgerschar vor, die bereit war

zu ziehn zur Pilgerfahrt dahin

nach Canterbury mit frommem Sinn.

Neben einem Ritter, zwei Nonnen und zwei Mönchen, einem Kaufmann, einem Scholar, einem Rechtsanwalt und einem Gutsherrn werden einige Handwerker als Teilnehmende und Erzählende genannt.

Eine Voraussetzung der Mobilität war die religiös und gesellschaftlich fundierte Hospitalität: Alle Pilger bzw. Gäste sollten »wie Christus aufgenommen werden«, waren sie doch Teil des mittelalterlichen Systems und der Societas Christiana. Das bedeutet, die Grundversorgung erfolgte während der Pilgerschaft über das Almosen als reziprok wirksame Gabe. Es war Bestandteil der damaligen Wohltätigkeit und basierte auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit: In Übereinstimmung mit dem religiösen Weltbild erhielt die Almosen-Gabe Bedeutung als Heilserwartung für die Gebenden. Gleichzeitig schuf sie ein Moment der Egalität zwischen Gebenden und Nehmenden, was eine Marginalisierung gerade armer Pilger verhinderte, die mit ihren Gebeten für die Almosengeber eine Gegenleistung erbrachten.

Europaweit waren Herbergswesen und Wohltätigkeit auf einem gleichen Niveau anzutreffen und an kirchliches Wirken gebunden. Die kollektive Almosenverteilung blieb das gesamte Mittelalter hindurch eine Massenerscheinung, besonders seitens der Klöster. Davon profitierten neben Pilgern auch Verelendete und Arme, wobei beide Gruppen sich vermischten, die Übergänge oft fließend waren und im Kontext zur Zunahme Pauperisierter standen. Im 12. und 13. Jahrhundert nahm die individuelle Wohltätigkeit deutlich zu, was im Zusammenhang mit der Herausbildung vermögender bürgerlicher Eliten steht. Dieser Konsens, Wohltätigkeit gegen religiöse Leistung sowie die breite Akzeptanz herumziehender Pilger, trug zur Stabilisierung der mittelalterlichen Gesellschaft bei. Ebenso verbreiteten sich mit den Pilgernden und anderen Fahrenden Neuigkeiten, wurden Orte, Regionen und Länder in einem Kommunikationsnetz miteinander verbunden. Auch veränderten sich die Routen bzw. wurden günstigere Verbindungen genutzt. So befanden sich ursprünglich viele Wege in höheren Lagen, doch analog zur Gründung von Städten und Ansiedlungen in Flusstälern folgten diese den aktuellen Gegebenheiten.

Mit der infrastrukturellen Verdichtung im Mittelalter konnte ein komplexes Wegenetz von Klöstern, Pilgerherbergen und anderen Versorgungseinrichtungen entstehen. Pilgernde nutzten nicht nur das Straßennetz, ebenso wichtig waren Wasserwege, Fähren und Furten. Exemplarisch für die symbiotische Nutzung von Handels- und Pilgerwegen steht der Hellweg, eine alte Salzstraße und vielleicht schon in vorrömischer Zeit entstandene Verbindung von der Ruhrmündung bis zur Weserquerung bei Höxter. Heute noch verläuft die Trasse des Hellwegs quer durch Westfalen über Paderborn und Dortmund, hier z. B. als belebter innerstädtischer Westen- und Ostenhellweg. Auch in anderen Städten des Ruhrgebiets weist der häufig auftauchende Straßenname Hellweg auf seine ursprüngliche Bedeutung hin, so in Duisburg und Bochum.

In Höxter traf der Hellweg einmal auf den von Süden kommenden und bis nach Minden gehenden Handelsweg, von dort ging es per Schiff oder auf dem Landweg weiter nach Bremen. Zum andern führte seine Verlängerung über Goslar am Nordharz entlang bis nach Magdeburg und weiter nach Königsberg. In Magdeburg kreuzte der Weg die alte, von Kiew durch die Karpaten und Böhmen kommende und bis nach Haithabu an der Schlei gehende Handelsstraße, die als ein Ausläufer der Seidenstraße gilt. Ein ebenso prägnantes Beispiel ist die Via Regia, eine der wichtigsten Verbindungen quer durch Europa. Ihre Route, ebenfalls eine Verlängerung der Seidenstraße, verlief einmal über Krakau, Breslau, Leipzig, Erfurt, Fulda nach Frankfurt und Mainz. Weitere Zweige gingen in Richtung Köln bis nach Antwerpen sowie über Prag und Regensburg bis nach Spanien. Dieser Abschnitt war besonders für den Sklavenhandel wichtig.

Darüber hinaus besaßen viele Städte und Marktorte als Transiträume für Reisende exemplarische Bedeutung, wie z. B. Bremen. Hier kreuzten sich Pilgerwege in nord-südlicher und west-östlicher Richtung. Von Skandinavien verlief die von Frederikshavn kommende Via Jutlandia/ Jutlandica über Aalborg, Viborg, Schleswig, Glückstadt und Stade bis nach Harsefeld, teilweise um dort auf die aus dem Baltikum über Danzig, Greifswald, Rostock, Wismar, Lübeck und Wedel führende Via Baltica zu treffen. Als Teilstrecke des Baltisch-Westfälischen Jakobsweges ging es weiter über Zeven und Lilienthal zunächst nach Bremen.

Von hier aus gab es mehrere Möglichkeiten, nach Aachen, Köln, Santiago de Compostela und Rom zu pilgern: auf dem Seeweg mit Handelsschiffen; über Kloster Heiligenrode, Wildeshausen, Osnabrück, Münster und Dortmund; mit Weserkähnen den Fluss aufwärts bzw. auf dem Landweg über Bassum und Sulingen nach Minden. Von dort weiter über Paderborn, Dortmund und Wuppertal nach Köln. Von West nach Ost (in Richtung Wilsnack an der Elbe) nutzten Pilger die ›Flämische Straße‹, die von Antwerpen kommend über Nordhorn, Lingen, Cloppenburg und Bremen nach Skandinavien führte, parallel zur Via Jutlandia. Unterwegs waren der Marien-Wallfahrtsort Bethen und Wildeshausen mit Reliquien des hl. Alexander wichtige Gnadenorte. Die Bedeutung Bremens als gut besuchtem Pilgertransit beweisen die in der Weser nahe der St. Martini-Kirche und dem angrenzenden Hafen gefundenen Pilgerzeichen sowie einige Jakobsfiguren.

Noch Anfang des 14. Jahrhunderts lag die Beherbergung der Pilger in kirchlicher Verantwortung, und zwar in von Klöstern eingerichteten Häusern und in Herbergen, den Hospitalen (hospitale peregrinorum). Nach dem Konzil von Vienne 1311/12 sollten die Spitäler bzw. Gasthäuser von »tüchtigen und umsichtigen Männern von gutem Rufe« verwaltet werden. In Bremen z. B. wurde 1366 nahe der Weser und der Martinikirche ein neues Hospital für arme Pilger (novum hospitale pro pauribus peregrinis) gebaut, das »Gasthus by sunte Martene« (Patron der Kaufleute), später St. Gertruden-Gasthaus genannt nach der Patronin der Reisenden. Darin sollten Pilger für eine Nacht gastlich aufgenommen und mit einem Weizenbrot und einem Trunk Bier versorgt werden. Der Platz für dieses Gasthaus war gut gewählt: Es befand sich in Hafennähe, wo neben der Verschiffung von Waren auch die von Reisenden seewärts oder die Weser aufwärts erfolgte. Zudem waren die wichtigen Verbindungsstraßen gut zu erreichen.

Besonders im 15. Jahrhundert entwickelte sich das Pilger- und Wallfahrtswesen zu einer breiten Bewegung, wurden bestimmte Zielorte zu Massentreffpunkten. Erheblichen Zulauf erhielten Gnadenziele mit so genannten Heilig-Blut-Wundern wie Walldürn und Wilsnack. Zu diesen Gnadenstätten pilgerten vor allem Angehörige der unteren Schichten. Hingegen lässt sich aus den Quellen für die Oberschicht ein Rückgang in der Pilger- und Wallfahrtsbegeisterung feststellen. Das steht in Relation zum Umbruch von einer agrarfeudalistischen Gesellschaft hin zu einer ständisch orientierten. Da das bisherige Netz der Armenfürsorge die Versorgung der zunehmenden Menge Pauperisierter kaum noch gewährleisten konnte, bot das Pilgern Vielen eine Möglichkeit des Überlebens, wie aus diesem Vers hervorgeht:

Wir Jacobsbrüder mit grossem hauffen

Im Land sind hin und her gelauffen.

Von Sanct Jacob / Ach und gen Rom

Singen und bettlen ohne schom.

Gleich anderen presthafften armen.

Offt thut uns der Bettel Stab erwarmen

In Händen. alsdenn wir es treibn

Unser lebtag faul Bettler bleibn.

Jost Amman, Die Jakobsbrüder

Tatsächlich zog diese Praxis des Überlebens nach zeitgenössischen Aussagen immer wieder »schlimmes Gesindel« an, dem kirchliche und weltliche Institutionen zu begegnen suchten.

Während der Reformation und danach veränderte sich das Pilgertum nicht nur durch die zunehmende obrigkeitliche Disziplinierung. Vor allem wurde dem Aberglauben der Kampf angesagt. Besonders Martin Luther kritisierte das Pilger- und Wall fahrtswesen und ging damit über die Ziele der Reformation hinaus. Mit ihrem Utilitarismus stand die ›Neue Lehre‹ im Widerspruch zur bisherigen Praxis des Almosengebens und prägte im Protestantismus für Jahrhunderte dessen ablehnende Haltung. Das führte in der Folge zu einem Paradigmenwechsel und zum Verlust der Mobilität. Die Pilgerspitäler wurden geschlossen oder einer anderen Bestimmung zugeführt. Das Bürgertum verschloss den Bettelmönchen und »den beständig durchwandernden Pilgrimmen ihre bisherige milde Hand«, wie für Bremen festgehalten. Ab jetzt wurden Pilger kontrolliert, wurden Erlaubnisscheine der jeweiligen Obrigkeit verlangt, wurde das Almosenheischen verboten. Damit sollte betrügerisches Pilgern von Bettlern und anderen Landfahrern unterbunden werden. Statt Spontaneität bestimmte planendes Handeln die Wallfahrten. Das bedeutet auch, Religiosität wurde nicht mehr er›fahren‹. Mit den organisierten Pilger- und Wallfahrten kam es ebenfalls zu einer gesellschaftlichen Umschichtung unter den Teilnehmenden. Nunmehr konnten die von der Armenfürsorge Abhängigen sich nicht mehr den Pilgernden anschließen, um ihren Lebensunterhalt durch das Heischen von Almosen zu sichern.

Als Papst Sixtus V. Ende des 16. Jahrhunderts daranging, Rom stadtplanerisch umzugestalten, lag seiner Idee die Verknüpfung der sieben Pilgerkirchen zugrunde. Sie sollten, wie Richard Sennett in seinem Buch Civitas ausführt, durch gerade Straßen und damit durch Blickachsen verbunden werden. Diesen Blickachsen sollten die Pilger auf ihrem Weg folgen, benötigten aber zu ihrer Wahrnehmung Fluchtpunkte in Form von freistehenden Skulpturen. So konnte der Blick der Pilgernden sich von einer Weihestätte zur nächsten bewegen, ohne abgelenkt zu werden. Damit machte Sixtus deutlich, wie man zu den Kirchen gelangte und nicht, wo sie lagen. Insofern ist der Weg zu einer Weihe- oder Gnadenstätte selbst bzw. seine Wahrnehmung von primärer Bedeutung.

Im übertragenen Sinne steht die Pilgerschaft oft als Metapher für den Lebenslauf. Der Weg selbst ist das Ziel und wird individuell oder kollektiv bestimmt, Entscheidungen sind zu treffen, Gefahrensituationen müssen bewältigt werden. Dementsprechend wurde in einem Pilgerlied gesungen:

Wer haben will vil übler zeyt

Der zieh mit uns ins land so weit.

Doch waren nicht nur die einfachen Pilgernden oft in ihrer Existenz bedroht, auch Vermögende mussten Entbehrungen auf sich nehmen, wurden zu Opfern von Überfällen. Konkret war Pilgern ein temporär begrenztes Landfahren bei starker gesundheitlicher Gefährdung. Neben der dem Pilgertum innewohnenden Askese sprechen viele Quellen von Sensationslust als Hauptmotiv, aber auch von nicht erwünschter sexueller Freizügigkeit. Davor warnte bereits Bonifatius 744, und im 15. Jahrhundert wird über die Syphilis als Mitbringsel von Santiago-Pilgern berichtet. Kann aber das Pilgern im Mittelalter als touristisches Erlebnis bewertet werden? Wohl kaum, auch wenn der Vertrieb von Pilgerzeichen als Massenartikel Parallelen liefert – dafür waren die Entbehrungen zu groß.

Aktuell liegt das Pilgern voll im Trend, wird aber auch zunehmend vom Tourismus bedient und instrumentalisiert. Geht das zu Lasten religiös-spiritueller Erfahrungen? Kommt es zu einer Polarisierung von Sinnsuche versus touristischer Vermarktung, findet gar eine Ökonomisierung des Pilgerns statt? Mutiert dann nicht Spiritualität zu einer ökonomisch-esoterischen Nische, die vor allem konsumiert wird? Zumal wenn spezifische Daten nur über Tourismusbüros zu erhalten, Pilgerherbergen nicht oder selten vorhanden sind. Zudem benötigen moderne Pilgernde in der Regel eine ausreichende finanzielle Grundlage, selbst bei stark minimalisierten Ansprüchen. Wer möchte schon unterwegs vom Betteln leben?

Neu ausgewiesene oder reaktivierte Pilgerwege sollen nicht nur ökonomischen Nutzen bringen, auch die Befriedigung nostalgischer Sehnsüchte ist angesagt. Kann da noch genügend Raum für Kontemplation sein? Für die enge Verbindung touristischer, spiritueller oder eher esoterischer Bedürfnisse mag auch der Slogan Wandern sie noch – oder pilgern Sie schon in einer Werbebroschüre stehen. Ebenso betrifft es Hinweise und Links auf Segmente wie Wellness, Kulinarisches usw., was mehr für ein eventmäßiges, dem Zeitgeist angepasstes ›Pilgern‹ spricht.

Viele historische Pilgerwege werden inzwischen rekonstruiert bzw. neu konstruiert, obwohl die Quellenlage nicht immer eindeutig ist. Das resultiert aus dem Selbstverständnis der mittelalterlichen Gesellschaft: Pilgern war ein integraler und anerkannter Bestandteil der Gesellschaft und keine außerordentlich bewertete und besonders festzuhaltende Bewegung. Zumal Handel, Pilgertum und Reisen sich ergänzten und gemeinsam die vorhandene Infrastruktur nutzten. Im Gegensatz zu den früher oft entlang der großen Handelsstraßen laufenden Pilger, achten die heutigen zwar einerseits auf Authentizität, möchten andererseits aber abseits der lärmenden verkehrsreichen Straßen wandern. So führen viele der neu ausgearbeiteten Routen auf abgelegenen Feld- und Waldwegen, Radwanderwegen oder kleinen Nebenstraßen zum Ziel. Tatsächlich passten sich die Pilgerwege immer auch den infrastrukturellen und geografischen Veränderungen an.

Da die Revitalisierung des Pilgerwesens mitsamt der historischen Wege auch wirtschaftlich interessant ist, sind Tourismus, Gastronomie und Kultureinrichtungen oft als Mitinitiatoren vertreten. So kann der Eindruck entstehen, dass manch wieder entdeckter Pilgerort als solcher inszeniert wird und damit das Pilgern selbst. Leistet das nicht einer Profanisierung Vorschub? Auf das wieder erwachte Interesse am Pilgern reagierte 1987 auch der Europäische Rat mit der Forderung, die einzelnen Jakobswege neu zu beleben. Was wiederum an die erwähnte Über-Nationalität des mittelalterlichen Pilgertums anknüpft.

Kann in diesem Kontext ebenfalls von einer Rückkehr der Religion gesprochen werden? Findet gar eine Inflation des Spirituellen statt in Symbiose mit hedonistischen und esoterischen Ansprüchen, entwickelt sich das Pilgern zu einem Event? Oder befriedigt es das Bedürfnis nach Gottesahnung in Zeiten paradoxer Säkularisierung? Und worin unterscheiden sich Zielsetzungen und Erkenntnisse heutiger Pilgernder gegenüber denen aus den Anfängen? Tatsächlich steht die Sinnhaftigkeit des Pilgerns in Interdependenz zu den jeweiligen Zeitläuften mit ihren spezifischen Ansprüchen und Problemstellungen.

Wie verhalten sich die Kirchen selbst gegenüber dem aktuellen Pilgertrend? Von der katholischen Kirche gehen eigentlich offiziell weniger Initiativen zu Pilgerfahrten aus. Vielmehr sind es Vereine, Verbände, Bruderschaften und Privatleute, die Pilger- und Wallfahrten initiieren, was auch der korporativen Struktur der Kirche entspricht. Auf protestantischer Seite entdecken einzelne Gemeinden verstärkt das Pilgerwesen und bewirken damit einen Wandel: Einmal anders Gedachtes wird neu definiert. Dieser Wandel trägt mit zur Revitalisierung historischer und Kon zipierung neuer Wege mit entsprechender Infrastruktur durch Bereitstellung von Pilgerunterkünften bei. So versteht sich das Kloster Loccum u. a. als End- bzw. Anfangsstation des Pilgerwegs vom und zum Zisterzienserkloster Volkenroda und als Pilgerherberge. Ebenso werden Tagespilgertouren z. B. von Kirche zu Kirche veranstaltet. Trägt Pilgern also dazu bei, Entfremdungen aufzuheben und sich mit der Welt zu versöhnen? Tatsächlich schließt das immer größer werdende Netz von Teilstrecken des Jakobsweges und anderen Pilgerwegen nicht nur eine Sinnlücke, sondern auch eine Marktlücke. Das war schon im Mittelalter so.

Abb. 1: Via Regia bei Neuhof/Fulda

»Gott befohlen«

Entlang der Bonifatius-Route von Mainz nach Fulda

Um 713 verließ der etwa vierzigjährige Benediktiner

mönch Wynfreth England, um auf dem Kontinent den

christlichen Glauben zu verbreiten. Er erhielt vom Papst in Rom

719 den Namen Bonifatius (Wohltäter). Als Missionar war er

intensiv in Hessen und Thüringen sowie in Friesland und

Bayern tätig, wurde zum Bischof und Erzbischof ernannt,

gründete Kirchen, Klöster und Bistümer. 746 wurde er Bischof

von Mainz. Als Achtzigjähriger reiste er 754 nochmals

nach Friesland und starb dort den Märtyrertod.

Seinen Leichnam überführte man zunächst mit dem Schiff

nach Mainz und von dort in einer großen Prozession

seinem Wunsch entsprechend nach Fulda.

Hier befindet sich in der Krypta des Doms sein Grabmal.

»GOTT BEFOHLEN«

Mit diesen Worten verabschiedete mich ein Mitarbeiter der Evangelischen Kirchengemeinde Dortelweil bei Frankfurt. Hier sollte mein Pilgerweg beginnen und nicht in Mainz. Doch stimmt das so? Beginnt der Weg nicht vor der eigenen Haustür? Tatsächlich impliziert bereits die Planung den Aufbruch. So habe ich mir während der Vorbereitungen überlegt, erst einmal in einzelnen Etappen zu wandern. Wichtig war für mich: Was bringe ich an Erfahrungen mit für eventuelle weitere Pilgerfahrten, wo sind meine Grenzen, wie gehe ich mit den ›erlaufenen‹ Erkenntnissen um. Wollte spüren, was mir und mit mir passiert.

Von Bremen am Nachmittag mit dem Zug kommend, fuhr ich in Frankfurt mit der S-Bahn weiter nach Dortelweil. Während der Fahrt rief ich mir das harmonisch verlaufende Gespräch mit einer zufälligen Reisegefährtin im Zug nach Frankfurt ins Gedächtnis. Sie arbeitete seit Jahren in Russland im sozialen Bereich und sprach sehr angetan von ihrem Leben dort, das anfangs recht gewöhnungsbedürftig war. Gerne denke ich an diese Begegnung zurück. Da am Dortelweiler Bahnhof kein Hinweis auf den Bonifatiusweg zu finden war, fragte ich im Büro der dortigen evangelischen Kirche nach. Kirchen sind ja nicht nur für Pilgernde ein guter Orientierungs- und Anlaufpunkt. Die Wolken zogen sich immer mehr zusammen, was den Mitarbeiter besorgt fragen ließ, ob ich auch gegen den zu erwartenden Regen einen Schirm dabei hätte! Na, wandern und gar Pilgern mit Schirm!

Auf dem Weg nach Karben unterlief mir bereits der erste Schnitzer beim Zuordnen des anscheinend verschobenen Pilgerweg-Logos: Ich landete in der Nähe eines Golfplatzes, wäre fast auf Bad Vilbel zugewandert und machte dadurch einen ziemlichen Umweg. Dabei hatte mir der Mitarbeiter deutlich den Weg erklärt! In Karben endlich angekommen, ging es auf dem gut ausgeschilderten Weg an der Kirche als zentralem Ort vorbei. Hier kam es zu einem kurzen Gespräch mit einer sehr freundlichen Mitarbeiterin. Langsam führte mich der Weg aus dem Ort hinaus in die Landschaft. Auf angenehmen Waldwegen und über freies Feld marschierte ich in Richtung Büdesheim. Ein kleiner Teil der Strecke gehörte zur alten Römerstraße und war als solche gekennzeichnet. Außer mir war niemand unterwegs, lediglich ein Jogger durchquerte den Wald.