Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Auf dem Zeltlager der Domsingknaben wird ein Junge missbraucht. Einige Tage später stürzt ein junger Priester von der Empore des Domes. Ein Unfall? Ohne jede Verbindung zu dem Missbrauch? Bischof Johann will die Wahrheit wissen. Aber hat Gegner in den eigenen Reihen. Sie fürchten um Macht und Ansehen. Deshalb ist der Bischof ihnen im Weg. Ein erbitterter Kampf beginnt. Auf der einen Seite steht ein Bischof auf der Suche nach der Zukunft seiner Kirche. Auf der anderen Seite stehen Prälaten in der Sorge um ihre Pfründe. Am Ende landet der Fall auf dem Schreibtisch des greisen Papstes. Mit ihm hat Bischof Johann seine ganz eigene Geschichte.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 501
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Krummstab
Prolog
Der Mond war hinter den Bäumen emporgestiegen, als wolle er noch einmal nach dem Zeltlager sehen. Der Bach murmelte eine seiner alten Geschichten, und im Feuer knackte das Holz, wenn die Lagerwächter nachlegten. Durch den Spalt am Zelteingang hätte Stefan die Sterne sehen können. Aber die Tränen hatten ihn blind gemacht.
Er hatte sich so sehr auf das Lager gefreut. Weg aus dem Mief seines Zimmers in der Wohnung mit Blick aufs Bahngleis. Weg vom allabendlichen Weinen seiner Mutter, seit sein Vater mit ihrer Freundin für immer verschwunden war. Weg aus der Schule und von den Lehrern, die ihn mit ihrem ewigen Verständnis und Mitleid zum Aussätzigen gemacht hatten. Weg zusammen mit den Domsingknaben, die ihn nach nichts fragten, solange er die Töne traf und beim Bolzen die Tore machte. Er hatte sich wieder Lachen hören, als ihnen das Zelt beim Aufstellen dreimal wieder zusammenfiel. Er hatte es genossen, mit den Älteren gleich am ersten Abend nach der Nachtruhe unter einer Decke noch Game Boy zu zocken und damit gleich zwei Regeln der Lagerordnung zu brechen. Es hatte ihm nichts ausgemacht, dass heute die anderen im Zelt diese Nacht als Wache am Feuer verbrachten und ihn schlafen geschickt hatten, weil er erst dreizehn Jahre alt war. Er wusste ja, er war nicht allein.
Also war er eingeschlafen in der Vorfreude auf das Fußballturnier. Dann hatte er geträumt, ein Bär sei ins Zelt geschlichen, habe sich auf ihn gelegt und schlecke an seinen Beinen. Und irgendwann wurde er wach und merkte, dass wirklich jemand auf ihm lag und ihm die Decke auf die Augen und den Mund drückte, dass seine Shorts heruntergezogen waren, dass jemand nach seinem Penis griff und dass dann irgendetwas Fleischiges sich an seinen nackten Oberschenkeln rieb. Er wollte sich aufrichten, aber das Gewicht auf seiner Brust war zu groß. Er hörte ein Stöhnen, und irgendwann spürte er etwas Klebriges auf seinen Beinen. Dann fiel die Decke über seinen Kopf, eine Schnur wand sich um seinen Hals, und er wurde auf die Seite gerollt. Bis er endlich die Schnur gelöst und die Decke heruntergerissen hatte, war er wieder allein im Zelt.
Wie betäubt hatte er ein Taschentuch geholt, das Klebrige von seinen Beinen gewischt und die Shorts wieder angezogen. Er hatte dagesessen und nichts mehr denken können und nichts mehr gefühlt. Aber dann schrie ein Dämon in seinem Gehirn ihm zu, was passiert war. Und der Dämon wusste noch etwas. Stefan hatte ein phantastisches Gehör. Das Stöhnen hatte genügt. Und so brüllte der Dämon auch einen Namen. Er brüllte ihn immer wieder.
Aber das konnte doch nicht sein. Das durfte doch nicht sein. Nicht er. Nicht der, den die Chorknaben verehrten wie einen Halbgott. Der Bananenflanken schlug und die Gitarre in ein Orchester verwandelte. Der am Lagerfeuer Geschichten erzählte, bis sie Tränen lachten. Der ihn aus dem Bach gefischt hatte nach dem Sturz vom Balken. Der einzige Erwachsene, der ihm zuhörte. Den er so gerne als Vater gehabt hätte.
Dieser Mann hatte auf ihm gelegen und sich befriedigt? Das war unmöglich. So etwas würde er niemals tun. Oder doch? Vielleicht weil ihn jemand gezwungen hatte? Oder verführt? Vielleicht, weil Stefan selbst ihn verführt hatte, ohne es zu wollen? Mit einem Mal ekelte er sich. Er ekelte sich vor seinen blonden Haaren, seinem Gesicht, seinem Körper. Du bist schuld, schrie der Dämon. Du ganz allein bist schuld. Ein hübscher Kerl, hat deine Oma immer gesagt. Ja, du hast ihn verführt.
Mit einem mal schien der Dämon ihn zu packen und zu schütteln. Er wand sich, zitterte, spürte kalten Schweiß überall, rang nach Luft. Irgendwie rappelte er sich hoch und stürzte aus dem Zelt. Irgendwie stolperte er noch bis zu einem Busch, bevor ihm der Mageninhalt aus dem Mund schoss. Entsetzt starrte er auf sein Erbrochenes.
Kevin vom Tenor, einer der Wächter, stand auf einmal neben ihm.
„Hey Alter. Alles klar?“
Nein, wollte Stefan brüllen. Nichts ist klar. Alles ist hin. Ich bin hin. Die Welt ist explodiert, und auf mir liegt der Trümmerberg. Aber er konnte nicht. Zwischen seinem Inneren und der Sprache war die Brücke weg. Nicht einmal umdrehen konnte er sich.
„Paar Marshmallows zu viel heute Abend, was?“ grunzte Kevin. „Ich hol mal ein Wasser. Hast sicher einen Scheißgeschmack im Mund.“
Bis Kevin mit der Flasche zurückkam, hatte Stefan aufgehört zu zittern. Er hatte zum Mond hochgeschaut, den Bach hinter den Büschen gehört und die Grillen, den Geruch des Rauchs vom Lagerfeuer wahrgenommen. Aus einem der Zelte kam Schnarchen.
Und was, wenn es gar nicht passiert ist? Wenn ich einfach nicht zulasse, dass es passiert ist? Wenn ich niemand etwas sage? Wenn keiner etwas merkt? Wenn es niemand weiß? Vielleicht geht es dann vorbei wie ein Schnupfen. Vielleicht wird es dann zu einem schlechten Traum. Vielleicht ist es dann irgendwann gar nicht mehr wahr. Und ich bin erlöst. Und er ist wieder mein Freund. Ja, bitte, lieber Gott, mach, dass er mein Freund bleibt. Verzeih mir. Ja, ich bin schuld. Vergib mir.
Stefan nahm einen kräftigen Schluck aus Kevins Flasche. „Danke. Tut mir leid. Scheiße“, krächzte eine Stimme, die er selbst nicht erkannte.
Kevin lachte. „Nee, nich Scheiße. Nur dein Abendessen mit nem Tropfen Magensäure. Mit nem Kasten Bier im Kopp kann ich das auch. Und jetzt hau dich wieder aufs Ohr. Kriegst zum Frühstück ne Semmel extra. Und dann ist die Welt wieder in Ordnung.“
Im Zelt lag noch das Taschentuch mit dem Klebrigen. Stefan umhüllte es mit einem frischen Taschentuch, wankte zum Donnerbalken, warf das Bündel in die Grube und schmiss noch zwei Schaufeln Erde hinterher. Weg damit. Begraben. Und auch in mir die Geschichte begraben. Was niemand weiß, ist nie gewesen. Morgen eine Extra-Semmel. Und dann ist die Welt wieder in Ordnung.
Bis die anderen von der Wache zurückkamen, war Stefan tatsächlich eingeschlafen.
Montag, 3. Juni 2002
Acht Uhr morgens war eigentlich Bischof Johanns Zeit. Erst recht nach ein paar Tagen am Meer. Gestern Abend war er zurückgekommen vom Kurzurlaub in dem Dörfchen an der Nordsee, wo seit Jahren eine Ferienwohnung jederzeit für ihn zur Verfügung stand. Ein paar Tage spazieren gehen, lesen, meditieren, Predigten konzipieren in aller Ruhe, umsorgt von der schweigsamen Bauersfrau nebenan und freundlich gegrüßt von Einheimischen, für die ein Katholik kaum weniger außergewöhnlich war als ein Marsmännchen. Einmal mehr war er froh gewesen, ein paar Tage weg zu sein - fern von allem „Herr Bischof, wir sollten“ und „Herr Bischof, wenn sie kurz Zeit hätten“ und „Herr Bischof, wir müssen los“, von allen Tagesordnungspunkten, Briefen und Unterschriftenmappen. Er hatte extra den Zug genommen, Ruhezone, um die Strecke in der untergehenden Sonne zu genießen und um Göbel, seinem treuen Fahrer, die freien Tage nicht zu verkürzen. Nur dass er weder die untergehende Sonne genossen hatte noch zur Ruhe gekommen war.
Er hatte schlecht geschlafen und war trotzdem schon wach gewesen, als der Wecker zur gewohnten Stunde um 5:30 Uhr schrillte. Wie immer hatte sein erster Weg nach Duschen und Ankleiden ihn aus der Wohnung im zweiten Stock des Bischöflichen Palais in die Hauskapelle im Erdgeschoss geführt. „Erst den Herrn anschauen und dann in den Spiegel“, war sein Motto, „nur dann fängt der Tag richtig herum an.“
Dabei hätte Johann vor einem Blick in den Spiegel wahrlich keine Angst haben müssen. Die Schultermuskeln und die Haltung eines Gardeoffiziers ließen immer noch den Leistungsschwimmer der Jugendtage erahnen. Einen Bauch hätte er sich nie verziehen. Der Bart aus Silberfäden und die zurückgekämmten Haare umrahmten ein schmales Gesicht mit braunen Augen. Die dreiundsechzig Lebensjahre sah ihm kaum einer an. Natürlich wusste er, dass sie ihn gelegentlich den schönen Johann nannten oder mit Sean Connery verglichen. Und in irgendeinem Herzenswinkel freute sich eine nicht restlos aberzogene Eitelkeit sogar darüber.
Nach Stundengebet und Anbetung hatte Johann mit den zwei Schwestern, die ihm den Haushalt führten und die Pforte betreuten, die Messe gefeiert, war wieder in die Wohnung zurückgekehrt, hatte allein im Esszimmer gefrühstückt und die Zeitung gelesen. Bei all dem hatte er weder gehetzt noch getrödelt, um schließlich fast auf die Minute genau um acht Uhr das Arbeitszimmer im 1. Stock zu betreten.
Nachdenklich musterte er nun die Papierstapel auf seinem Schreibtisch, die er vor der Abfahrt noch einigermaßen geordnet hatte. Nicht, dass irgend etwas Schlimmes dabei gewesen wäre. Einfach nur das Übliche. Terminanfragen, Bitten um Grußworte und Schirmherrschaften und Interviews, ein paar Aufträge aus bischöflichen Kommissionen. Johann hätte nur einfach mit irgendetwas davon anfangen müssen, den Tag nutzen, die Stapel verkleinern. Aber er fühlte sich wie gelähmt.
Der Bischof stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Schräg gegenüber dem Bischofshaus ragte auf der anderen Seite des Platzes das gotische Westwerk des Domes mit den Türmen empor, und einmal mehr bewunderte er die Kraft der Architektur und den Mut der Erbauer. Visionäre, die genau wussten, dass sie die Vollendung ihrer Entwürfe nie erleben würden. Und trotzdem hatten sie angefangen. Und ich? Welche Vision habe ich? Was habe ich angefangen, egal, ob ich die Vollendung erlebe?
Johann blieb noch einen Moment am Fenster stehen. Er rechnete mit dem flotten Schritt seines Sekretärs auf dem Flur und dem energischen Klopfen. Natürlich würde Domvikar Steinmann ihm Arbeit im Übermaß bringen, wie immer. Und doch hoffte er irgendwie, sein Adlatus werde ihn aufmuntern. Steinmann war ihm einfach ans Herz gewachsen. „Hält mich jung, der Knabe“, hatte er damals gegenüber dem zaudernden Generalvikar seine Wahl begründet. „Er erinnert mich daran, dass wir für die Zukunft verantwortlich sind.“ Und vielleicht wusste jemand, der sein Sohn hätte sein können, ja auch weit mehr von der Zukunft als er selbst?
Aber statt flotter Schritte hörte er ein Schlurfen, und das Klopfen geriet viel zu laut. Johanns Hoffnung auf Besserung seiner Laune verflog. „Wie soll ein Tag gut beginnen, wenn Schwester Agatha die Post bringt?“, brummte er. Im gleichen Moment schämte er sich dafür. „Herein!“, rief er in der Hoffnung, dass seine Bassstimme nicht allzu unhöflich klang.
Eine müde Hand drückte die Klinke nieder und schob die Tür auf. Schwester Agatha quälte sich rückwärts hindurch, den Stapel Post im linken Arm balancierend. Mit dem rechten zog sie die Tür knallend zu. Dann wendete sie ächzend ihre geschätzten zwei Zentner Lebendgewicht und hinkte durch den viel zu großen Raum auf Johann hinter seinem Schreibtisch zu. Erst als sie ihre Last auf das freie, linke Ende der Tischplatte hatte fallen lassen, konnte sie sich einigermaßen aufrichten. Johann wartete ergeben, bis sie zu Atem kam. „Guten Morgen, Ihro Ehrwürdigkeit!“, grüßte er, und gab sich Mühe mit einem Lächeln.
„Guten Morgen, Herr Bischof“, schnaufte Schwester Agatha. Irgendwann musste sie einmal eine helle Sopranstimme gehabt haben, aber Johann kannte sie nur heiser. Unter dem Schleier lugten gerötete Augen über die üppig gepolsterten Wangen. Irgendwo waren noch eine Stupsnase und ein Mündlein über einem Doppelkinn untergekommen. Das alles thronte auf einem Körper, dessen Fülle vom Ordenskleid nur mit Mühe zusammengehalten wurde. Beide Beine waren mit Bandagen umwunden, und Johann hatte Schwester Agatha irgendwann das Geständnis abgepresst, dass die Haut ständig wund war. Mehr über ihren Gesundheitszustand verriet sie um keinen Preis, aber Johann kannte die Symptome genau genug, um Diabetes zu erraten. Einmal mehr fragte er sich, wie lange die Ordensfrau ihren Dienst im Bischofshaus wohl noch durchhalten würde – und ob es nicht längst an ihm wäre, sie fortzuschicken. Aber als er vor neun Jahren sein Amt antrat, hatte er den Moment verpasst.
Natürlich hatte es die allerbesten Gründe gegeben, die altgediente Pförtnerin zu übernehmen. Im Gegensatz zu ihm kannte Schwester Agatha nicht nur Land und Leute und das Bistum, sondern auch die Verwaltung, die Führungsetage und die Quälgeister, die Bischöfe üblicherweise belagern. Mehr als zwei Jahrzehnte hatte sie bereits seinem Vorgänger gedient. Genau wie heute hatte sie an der Pforte des Bischofshauses die Barriere für all jene aufgebaut, die vermeintlich nur vom Bischof höchstpersönlich die Lösung ihrer Probleme erwarten durften. Genau wie heute war jedes Schriftstück über ihren abgewetzten Schreibtisch hinein und hinausgegangen, von Hand mit Schulmädchenschrift in der Kladde erfasst. Ihr Elefantengedächtnis ordnete jeden Brief dem entsprechenden Vorgang zu, und so hätten die Handakten als Muster für Lehrbücher dienen können. Sie fand alles in den Papieren, obwohl ein Computer ihr nur ein verächtliches Lächeln entlockte.
Zwar hatte Johann auch das Raunen vernommen, sie habe seinen Vorgänger durch ihre Briefentwürfe gelenkt und geleitet, als er bereits häufiger im Bett lag, als am Schreibtisch sitzen konnte. Er hatte gehört, dass sie wie ein Wachhund vor seinem Krankenzimmer Stellung bezogen hatte und jeden weg biss, der ihr nicht gefiel. Einige Eingeweihte flüsterten, sie ganz allein habe die Anliegen mit hineingenommen und die Antworten wieder herausgebracht, ohne dass jemand ermessen konnte, wie sie zustande gekommen waren. Weder Sekretär noch Generalvikar hatten die Bastion zu nehmen vermocht. Aber diese Warnungen waren typisch kirchlich nebulös geblieben, und wenn Johann nachfragte, wollte sich niemand festlegen. Also hatte er die getreue Ordensfrau erst einmal behalten. Und dabei war es geblieben, weil das natürlich auch bequemer war, wie Johann ehrlich zugab.
Entwürfe allerdings ließ er sich keine schreiben. Er konnte nur ahnen, wie sehr dies Schwester Agatha gekränkt hatte. Die eiserne Disziplin der Schwestern von der Herzwunde Jesu hatte sie jede Kritik für sich behalten lassen. Aber wenn sie so wie jetzt wieder vor ihm stand, schien sie Kälte auszustrahlen wie eine offene Gefriertruhe und gab sich keinerlei Mühe, das Eis jemals zum Schmelzen zu bringen.
„Was wird der Tag mir bringen?“, versuchte Johann das Gespräch in Gang zu bringen.
Schwester Agatha antwortete langsam, als verursache es ihr Schmerzen, was gut möglich war. „Für elf ist Pfarrer Gummersbach bestellt zur Vereidigung auf seine neue Stelle. Mehr wie üblich am Montag nicht.“
Johann wartete einen Moment, aber die Ordensfrau machte keine Anstalten zu erklären, warum Steinmann nicht da war. Mit erzwungener Geduld fragte er schließlich: „Und was hindert meinen secretarius, uns mit seiner Anwesenheit zu erfreuen?“
„Er lässt ausrichten, dass er zu seinen Eltern gefahren ist, die Mutter liegt im Krankenhaus.“ Agathas Stimme verriet weder Anteilnahme noch ob sie Steinmanns Begründung für eine Ausrede hielt. Aber der Bischof hatte keine Lust, sie nach ihrer Meinung zu fragen.
„Na gut, dann stürze ich mich mal in die Freuden des Alltags.“ Für jeden anderen wäre das ein klares Signal gewesen, dass Johann nun allein sein wollte. Aber Schwester Agatha rührte sich erst, als der Bischof ihr wenigstens noch eine Erinnerung an ihre Unersetzlichkeit gewährt hatte: „Ich rufe sie dann, wenn es etwas zu tun gibt.“ Und Johann rang sich dazu durch, ihr noch ein „Danke!“, nachzurufen, als sie sich auf den weiten Weg zurück zur Tür und durchs Empfangszimmer machte. Dann setzte er sich und lehnte sich im Stuhl zurück.
Also gut, resümierte er. Du bist irgendwie leer. Und die paar freien Tage haben daran nichts geändert. Im Gegenteil. Nur Grübelei, und kaum ein konzentriertes Gebet. Obwohl doch gar nichts besonderes los ist. Oder vielleicht genau deswegen. Weil die Jahresstatistik nichts neues gebracht hat, die du dir dummerweise als Urlaubslektüre mitgenommen hast. Wieder ein Prozent weniger im Gottesdienst, wieder ein Prozent weniger Gläubige im Bistum insgesamt. Sie schreien nicht. Sie brüllen keine Protestparolen auf der Straße. Sie gehen einfach. Weil sie uns nicht brauchen. Weil wir ihnen nichts mehr zu bieten haben. Weil wir in ihrem Leben nicht vorkommen. Von den Zahlen her vielleicht alles noch kein Grund zur Panik. Noch sind wir rund eine Million Gläubige. Aber wenn das so weiter geht, ist in hundert Jahren keiner mehr übrig. Und ich, Johann Hernauer, der Hochwürdigste Herr Bischof, habe daran nichts geändert. O mein Gott, wo willst Du nur mit uns hin?
Johann beugte sich vor und nahm den ersten Brief zur Hand. Eine Bitte um einen Zuschuss zur Veröffentlichung einer Doktorarbeit. Wütend knallte er das Papier auf den Tisch. Natürlich. Wenn es ums Geld geht, sind wir gefragt. Weil sie alle noch glauben, wir hätten im Überfluss. Was längst nicht mehr stimmt, weil weniger Gläubige irgendwann auch weniger Kirchensteuer bedeutet. Und dann? Wer will dann noch etwas von uns wissen?
Johann war schon in Versuchung, ein „Abgelehnt“ auf den Antrag zu schreiben. Aber dann heftete er doch nur die übliche Bitte um Stellungnahme an den Referenten für Schule und Hochschule daran. Was kann der arme Doktorand dafür, dass du gerade Trübsal bläst. Nicht die Nerven verlieren. Arbeiten. Wo bleibt deine Disziplin?
Der Bischof straffte sich und vertiefte sich in die Post, nicht ohne vorher noch ein Stoßgebet für seinen Sekretär und dessen Eltern zum Himmel zu schicken. Schicht um Schicht trug er den Poststapel ab und kam gut voran dabei. Nur dass irgend ein Teil seiner selbst beständig quengelte. Du lenkst Dich ab mit dem ganzen Schreibkram und den viel zu vielen Terminen. Du drückst dich davor, Konsequenzen zu ziehen aus deiner Urlaubslektüre. Nur welche? Lieber Gott, welche?
An den Domvikar dachte Bischof Johann erst wieder beim Mittagessen. Wie gewohnt, hatte er am Esstisch in der Küche der Schwesternwohnung im 2. Stock Platz genommen und bemerkt, dass nur für drei gedeckt war: Für die Köchin, Sr. Cäcilia, die Hauswirtschafterin, Sr. Dorothea, und ihn selbst. Sr. Agathas Fehlen war normal, sie bekam im Mutterhaus der Schwestern von der Herzwunde Jesu besondere Diät. Aber auch Domvikar Steinmanns Platz an der gegenüberliegenden Schmalseite blieb leer.
„Er hat angerufen, da waren Sie noch beim Frühstück“, erzählte Sr. Dorothea, und legte ihr Gesicht in noch mehr Falten, als es ohnehin schon waren. „Er klang ein bissel verwirrt.“
Sr. Dorothea hätte vom Alter her schon fast die Großmutter des Domvikars sein können und wäre es wohl liebend gerne gewesen. Lange Jahre hatte sie einen Kindergarten in einem Dorf geleitet, bis diesem die Kinder und ihr die Kräfte ausgingen. Nachdem sie im Mutterhaus sich selbst und ihren Mitschwestern in kürzester Zeit gehörig auf die Nerven gegangen und gleichzeitig im Bischofshaus die alte Hauswirtschafterin einem Schlaganfall erlegen war, hatte die Generaloberin sie dorthin gesandt. Nun konnte sie zwischen Wäsche, Garten, Sakristei und Einkaufen ihren Bewegungsdrang stillen, und sie fand immer etwas zu tun. Nur zum Bemuttern hatte sie niemanden mehr – außer dem Sekretär, denn Bischof Johann selbst hatte jeden Annäherungsversuch in diese Richtung energisch abgewehrt.
„Na, Dorothea“, neckte sie Sr. Cäcilia. „Der Domvikar wird schon auf sich aufpassen.“ Dorothea wurde ein wenig rot, aber der Küchenschwester konnte niemand wirklich böse sein. Sr. Cäcilia hatte gerne gute Laune und guten Appetit um sich herum, und zu beidem trug sie nach Kräften bei. Mit ihrem Lachen hätte sie eine Trauergemeinde anstecken können, und ihre Menüs waren längst Legende. Dabei tischte sie gerade mittags vor allem Leichtes und Gesundes auf, und wenn sie davon schon selbst nicht dünner würde, so doch der Bischof wie von ihm gewünscht auch nicht dicker.
Bischof Johann genoss die Tischgemeinschaft, denn nach einem ehernen Gesetz wurde hier nie über seinen Dienst gesprochen. Aber diesmal fühlte er sich unbehaglich, ohne recht zu wissen warum. Der leere Platz ihm gegenüber beunruhigte ihn. Steinmann rief sonst immer ihn selbst an, wenn er sich entschuldigen musste. Warum diesmal nicht? Ging es seiner Mutter derart schlecht, dass er nicht warten konnte? Brauchte er Hilfe? Jetzt fängst du auch schon an, wie Schwester Dorothea, schalt er sich schließlich im Stillen. Dann begann er mit dem Gebet das Essen.
Natürlich hätte Paul Göbel nicht unbedingt noch einmal nach seinem Dienstfahrzeug sehen müssen. Was sollte damit schon passiert sein seit dem Dreifaltigkeitssonntag. Schließlich hatte er selbst den Wagen nach der Rückkehr von einer Altarweihe wieder betankt, das Innere ausgesaugt und schließlich gewaschen. Aber seine Berufsehre als Bischofsfahrer ließ es einfach nicht zu, dass er das Fahrzeug am Abend vor einer Firmreise nicht noch einmal kontrolliert hätte. Zwar war es kaum möglich, dass Bischof Johann ihn benutzt hatte, schließlich war er bis gestern weg gewesen und würde heute am Schreibtisch genug zu tun gehabt haben. Aber man konnte nie wissen.
Paul Göbel tat seinen Dienst als Bischofsfahrer mit einer Mischung aus Leidenschaft und Gelassenheit. In einem früheren Leben war er ein paar Jahre zur See gefahren, und seither hatte das Fernweh ihn unheilbar infiziert. Trotzdem hatte er seiner Frau Anette und den Kindern zuliebe jahrelang einen Gabelstapler durch Lagerhallen gefahren. Aber irgendwann waren die Kinder aus dem Haus und Anette als Sekretärin im Pfarrbüro einer Vorstadtpfarrei untergekommen. Und weil sie ihren Paul liebte und sein Fernweh kannte, hatte sie ihm die Ausschreibung der Stelle des Bischofsfahrers auf den Tisch gelegt, als der alte Rügamer in Ehren in Rente ging. Sieben Jahre war das jetzt her, und es waren nicht die schlechten sieben, wie er gerne erzählte, wenn sie ihn irgendwo draußen fragten. Der wichtigste Grund dafür war natürlich der Bischof selbst.
Göbel vergaß nie die erste Fahrt. Rügamer hatte ihn mit aller Sorgfalt eingewiesen: Fahrtroute bis auf den letzten Meter planen, Parkplatz erfragen. Und dann nur keine Bange, der Bischof beißt nicht, einfach Tür aufhalten, einsteigen lassen, dann sich selbst setzen, und wenn von hinten das okay kommt, losfahren. In den Norden sollte es gehen, zum Besuch einer Seelsorgskonferenz. Fast nur Autobahn, also eigentlich ein Vergnügen mit dem Turbodiesel, und er kannte die Strecke. Aber trotzdem hatte er Lampenfieber gehabt, und nicht zu knapp. Er hatte den Wagen in die Hofeinfahrt gebracht und das Holztor zum Domplatz geöffnet. Dann kam auch schon der Bischof aus der Seitentür. Der gleiche kräftige Händedruck wie beim Vorstellungsgespräch, und nur die eine kurze Frage: „Na, Herr Göbel, alles klar?“ „Alles klar, Herr Bischof!“ Und dann hatte Göbel den ruhigsten Fahrgast erlebt, den er sich vorstellen konnte. Aus dem Fonds kam kein Wort, nicht einmal, als er statt der wegen des Automatikgetriebes fehlenden Kupplung beim Ausrollen vor einer Ampel die Bremse erwischte. Verstohlen hatte er einmal im Rückspiegel nach dem Bischof gesehen. Der las in aller Ruhe. Und als sie angekommen waren, kam wieder nur ein Satz: „Na, das klappt doch prima, danke!“ Was wollte ein Fahrer mehr? Und deshalb bedankte sich Göbel jeden Tag mit Pünktlichkeit, Sorgfalt und Genauigkeit.
Bevor der Bischofsfahrer die Seitentür der Garage aufschloss, konnte er seinen Chef hören. Pünktlich um 19:30 Uhr erklangen weiche Celloklänge. Also alles in Ordnung, dachte Göbel. Der Bischof hat wie üblich von 14 Uhr bis 18 Uhr am Schreibtisch gesessen, zu Abend gegessen, das Stundengebet gehalten, die Nachrichten im Fernsehen angeschaut. Jetzt entspannt er sich im Wohnzimmer mit Blick aufs Tal bei ein paar Sätzen aus Dvoraks Streichquartetten, bevor er wieder an den Schreibtisch geht bis kurz vor Mitternacht.
Göbel blieb noch einen Moment stehen, um den Klängen zu lauschen. Johann hätte nicht nur das Zeug zum Berufsmusiker gehabt, er hatte auch neben der Theologie noch Cello studiert und in Musikwissenschaft seinen Doktor gemacht. Manchmal fragte Göbel sich, wie dieser hochbegabte Mann es eigentlich auf den Dörfern aushielt, wenn ein Chor aus furchtbar netten Menschen den Bach oder Schubert vergewaltigte. Aber nicht ein einziges Mal hatte er seinen Chef sich abfällig äußern hören.
Göbel zog die Seitentür auf, die von der Hofeinfahrt her in die Garage führte, und tastete nach dem Lichtschalter, denn die Fenster des ehemaligen Pferdestalls waren reichlich klein geraten. Aber noch während er die schwere Stahltür aufhielt, hörte er Schwester Cäcilia etwas rufen. Das Cellospiel brach ab, und jetzt verstand Göbel die Ordensfrau: „Herr Bischof, schnell! In den Dom! Es ist furchtbar!“
Paul Göbel saß zuhause am Küchentisch. Dass schon gedeckt war für ihn und seine Frau, sah er nicht. Auch nicht den Zettel von Anette, dass sie noch kurz nach der Nachbarin sehen wollte, deren Mann im Krankenhaus lag. In seinem Kopf rasten ein ums andere Mal die Bilder hin und her, die sich kaum mehr zusammenfügen wollten. Er sah den Bischof am Fuß der barocken Innentreppe im Bischöflichen Palais vor sich, die Miene versteinert, und hörte ihn etwas sagen, von dem er nur das „Kommen Sie mit“ verstand. Er sah den Rettungswagen und die Polizeifahrzeuge auf dem Domplatz und die blauen Streifen, die die Warnleuchten wie Irrlichter auf die Domfassade warfen. Er sah die Gruppe im Hauptschiff der Kathedrale, die Sanitäter, den Mesner, den Dompfarrer, die Polizisten und ein paar Männer in Zivil, die im Mittelgang des Hauptschiffs im Kreis um etwas unter einer Decke standen. Er sah den Mesner wegrennen, um sich zu übergeben, als sie die Decke wegnahmen. Er sah die Gestalt von Domvikar Carsten Eberlein, die Glieder seltsam neben den Rumpf gestreckt und kein Gesicht mehr, nur Blut.
Alles Weitere war aus Göbels Gedächtnis weggewischt. Er wusste nicht mehr, wie er ins Bischofshaus zurückgekommen war, und auch nicht mehr, wie er mit dem Fahrrad die gewohnte Strecke in die südliche Vorstadt zurückgelegt hatte. Ein Teil von ihm wollte schreien, ein anderer weinen, wieder ein anderer davonrennen, und nichts von all dem konnte er.
Wirklich erinnern konnte er sich erst wieder, als Anette ihn in den Armen hielt, bis er aufhörte, zu zittern. Als er ihr stammelnd das Wichtigste erzählt hatte, fiel Göbel auch wieder ein, dass er mit Bischof Johann gemeinsam zum Bischofshaus zurückgegangen war. Sein Chef hatte ihm schweigend die Hand gegeben, und Göbel hatte die Tränen in seinen Augen gesehen.
Paul Göbel hatte geweint, während Anette das Abendessen richtete. Sie hatten schweigend ein paar Bissen gegessen und gemeinsam abgespült, und die einfachen Handgriffe taten ihm gut. Als das Telefon schrillte, schüttelte er nur den Kopf. Kein Geplänkel jetzt mit einer der Töchter wegen Ebbe in der Studentenkasse drei Tage vor Monatsende, und sie braucht unbedingt noch eine neue Jeans. Aber Anette holte ihn, denn Bischof Johann war am Apparat.
„Sie denken noch an die Firmung morgen?“, fragte er.
„Die Firmung? Ja natürlich. Wir fahren um 8:30 Uhr los.“
„So früh? Da wird es wohl nur zu einer kalten Dusche reichen. Aber was tut man nicht alles für das Reich Gottes.“
Natürlich hatte Göbel diesen Scherz schon oft genug gehört, aber diesmal hätte er den Bischof dafür umarmen können. Firmung wie geplant. Trotz allem Schock, trotz aller Trauer. Das Leben geht weiter. Später im Bett schmiegte er sich an Anette, um ihren Herzschlag zu spüren, und dieser Rhythmus des Lebens wiegte ihn schließlich in den Schlaf.
Es sollte bis zum nächsten Morgen dauern, bis zwei Bilder ebenfalls wieder an die Oberfläche seiner Erinnerung gespült wurden, und noch weit länger, bis er deren Bedeutung erkannte. Das eine war der Dienstwagen in der Garage. So schief hatte er selbst ihn nicht geparkt, und auch Bischof Johann stellte den Wagen immer sorgfältig in die Mitte, wenn er ihn ausnahmsweise benutzte. Und das andere war eine Gestalt in dem Halbkreis rund um den toten Domvikar Eberlein. Blonde Haare, ein schmales Gesicht, die Statur eines Langstreckenläufers, ein Zweireiher mit Kreuz am Revers. Die Augen wanderten überall hin, bloß nicht auf die Leiche, und der Kehlkopf zuckte beim Schlucken ständig auf und ab. Domvikar Steinmann, der einzige Zeuge des Unfalls, stand unter Schock. Nachdem die Männer in Zivil von Bischof Johann abgelassen hatten, war dieser kurz auf seinen Sekretär zugegangen und hatte beruhigend auf ihn eingeredet. Dann nahmen der Arzt und die Sanitäter ihn mit.
Dienstag, 4. Juni 2002
Um rechtzeitig zur Firmung um 9:30 Uhr in die rund 70 Kilometer entfernte Kleinstadt in der Hügellandschaft im Südwesten zu kommen, musste Bischof Johann um 8:30 Uhr abfahren. Dr. Hans Kleinmeier, der Pressesprecher der Diözese, konnte sich das ausrechnen. Also musste er spätestens um 8:10 Uhr anrufen, denn um 8:20 Uhr würde der Bischof sich bereits zum Ankleiden zurückziehen und nicht mehr zu sprechen sein. Kleinmeier ging noch einmal seine Fragen durch. Gestern Abend hatte ihm der Dompfarrer mehr stammelnd als redend die Nachricht durchtelefoniert, und Kleinmeier hatte einigen Schnaps gebraucht, um seinen Magen wieder zu beruhigen, denn er mochte Eberlein – beziehungsweise hatte ihn gemocht. Aber jetzt war er stocknüchtern, denn es ging darum, für die Meute vorbereitet zu sein, die längst die Jagd nach der ersten Nachricht eröffnet hatte. Eine ganze halbe Stunde nach dem Telefonat mit dem Dompfarrer hatte er schon einen Lokalredakteur des Tagesblatts an der Strippe gehabt, der vermutlich irgendeinen Domkapitular selbstverständlich rein zufällig in dessen Stammkneipe getroffen hatte. Aus den Fragen zu schließen wusste der Kollege bereits mehr als Kleinmeier selbst. Er hatte es aufgegeben, sich darüber zu ärgern. Aber er wollte vorbereitet sein, wenn heute der Sturm losbrach.
Denn Kleinmeier legte Wert darauf, Profi zu sein. Er hatte schon zehn Jahre in einer Lokalredaktion im Ruhrpott auf dem Buckel gehabt, bevor er sich fast mehr zum Spaß auf die Stelle des Bistumssprechers in seiner Studienstadt beworben hatte. In den fünfzehn Dienstjahren seither hatte er sorgsam den Kontakt zum einheimischen, durchaus bescheidenem Medienadel aufgebaut, hatte je nach Vorlieben mit den einen philosophische Diskussionen geführt, mit den anderen gesoffen und den dritten geduldig zu ihren Beziehungskisten die Beichte abgenommen. Also wusste er genau, wer wann was von ihm zu Eberleins Tod würde wissen wollen. Von der Polizei würden sie genau die gleiche dürre Verlautbarung bekommen, wie er selbst: Der Domvikar war von der Orgelempore des Domes kopfüber in den Mittelgang gestürzt. Die Ermittlungen dauerten noch an, bisher gab es keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung, Ende, keine Nachfragen erlaubt.
Also würde die Meute nach dem Vorher fragen: Was hatte Eberlein abends nach Schließung der Kathedrale noch im Dom zu tun gehabt, insbesondere auf der Empore? Natürlich konnte er darauf verweisen, dass Eberlein schließlich der Zeremoniar war und immer irgendetwas im Dom zu tun hatte. Das würde den Wohlgesonnenen genügen, den Neugierigen und Sensationshungrigen aber wohl nicht. Also musste eine Sprachregelung her. Und die musste insbesondere den redefreudigeren Domkapitularen so lange vorgebetet werden, bis die hohen Herren sie wenigstens zur Hälfte internalisiert hatten. Mit mehr rechnete Kleinmeier bei einigen der Hohen Herren schon lange nicht mehr, dazu kannte er deren Beratungsresistenz zu gut. Der Bischof hingegen ließ sich etwas sagen, und deshalb wollte er mit ihm absprechen, was die Jäger zu hören bekommen sollten.
Kleinmeier blickte noch einmal kurz zu dem Kreuz über der Tür des Kämmerchens, das sein Büro sein sollte. Die Pressestelle war im Dachgeschoss des Verwaltungsgebäudes der Diözese untergebracht, einem Zweckbau, den irgendein reichlich einfallsloser Architekt in den Sechzigern für wenig Geld auf einem Gartengrundstück schräg hinter dem Dom zusammengeschustert hatte. Hier oben pfiff im Winter der Eiswind durch die Ritzen, und im Sommer konnte man auf den Dachschindeln bequemst ein Spiegelei braten. Unter diesen Schindeln hauste der Pressesprecher mit seinem Stellvertreter, dem einstigen Kulturredakteur eines an Schwindsucht verstorbenen Lokalblättchens, sowie den beiden Sekretärinnen und ab und an einem Volontär. Allesamt hockten sie in ihren Kämmerchen wie die Sträflinge eines vergessenen Gefängnisses, und sie konnten sich gegenseitig telefonieren hören, als gäbe es die Wände gar nicht. Aber zu so früher Stunde war er allein hier, und alles war still. Normalerweise liebte er diese Stille, in der sich Reportagen zu Papier bringen ließen, und die waren seine Leidenschaft, auch wenn kein Zeitungsredakteur je ernsthaft darüber nachdachte, sie abzudrucken. Aber heute war ihm unwohl so allein. Er wusste nicht recht, wie er das Gespräch mit dem Bischof anfangen solle.
Kleinmeier war Bischof Johann treu ergeben. Vor ein paar Jahren hatte er ihm beichten müssen. Seine Frau hatte ihn nach endlosem Streit verlassen. Ein furchtbar netter alter Freund hatte ihr so lange eingeredet, dass sie in der Bischofsstadt nie heimisch geworden sei, bis sie mit ihm durchbrannte. Und Kleinmeier hatte erst nur Trost gefunden bei einem drallen Alt aus dem Domchor und schließlich Liebe. Generalvikar Dr. Pfundner hatte getobt, als er davon erfuhr, und Kleinmeier hatte eine Riesenangst, den Job zu verlieren. Aber Bischof Johann hatte nur zugehört, ihn dann lange angesehen und schließlich gefragt, ob er denn weitermachen wolle. Und als er dies bejahte, hatte sein oberster Dienstherr nur verlangt, dass er mit seiner Frau einen anständigen Frieden schließen solle. Daran hatte er sich gehalten. Seit die Altistin nur wenig später einem zehn Jahre jüngeren Tenor verfiel, hatte er keusch wie ein Mönch gelebt, und Johann hatte ihn nie mehr nach etwas gefragt.
Also wie nun den Bischof ansprechen? Jeder wusste, dass er Eberlein geschätzt hatte. Und es war ja auch kaum möglich, ihn nicht zu mögen. Eberlein, der gebürtige Kölner, die personifizierte rheinische Frohnatur, ein wenig rund, ein wenig lange Arme, nur noch ein Haarkranz, unzählige Lachfalten um die kleinen Augen, zwischen denen eine leicht schiefe Nase über einem breiten Grinsen thronte. Eberlein, der Ästhet, der die Liturgie am hohen Dom zu inszenieren vermochte wie eine Oper aus dem 19. Jahrhundert. Eberlein, der belesene Altphilologe und Exeget, der auf des Bischofs Geheiß promovieren sollte, um irgendwann Professor zu werden. Eberlein, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte und dem deshalb auch keine Fliege jemals etwas zu Leide tun würde. Eberlein, der jetzt irgendwo im Kühlhaus der Rechtsmedizin lag.
Es half nichts, Kleinmeier musste anrufen und wählte die direkte Durchwahl ins Arbeitszimmer des Bischofs. Der war auch gleich am Apparat und machte es ihm leicht. „Guten Morgen, Dr. Kleinmeier. Danke, dass sie anrufen. Was gibt es Neues in Sachen Eberlein?“
„Nicht mehr als gestern Abend, Herr Bischof. Also vermutlich ein Unfall. Mehr wird der Pressesprecher der Polizei auch nicht sagen.“
„Was schlagen Sie vor?“
„Gar nicht groß auf den Hergang eingehen. Von einem tragischen Unfall reden. Ansonsten die üblichen Daten zum Lebenslauf, die Hinweise auf seine Verdienste. Er war ja doch ziemlich bekannt. Vielleicht eins noch --“
Kleinmeier zögerte, aber der Bischof kannte ihn genau genug. „Sie hätten gerne das übliche persönliche Wort des Bischofs, nicht wahr?“
„Wenn das möglich wäre ...“
„Schreiben sie, dass ich sehr betroffen bin. Dass das für die Diözese, aber auch für mich selbst ein großer Verlust ist. Dass er mir als Zeremoniar eine große Hilfe war, und dass ich überzeugt bin, dass er ein hervorragender Alttestamentler geworden wäre. Dass man ihn nicht einfach gerade einmal so ersetzen kann.“
Kleinmeier hatte flink mitgeschrieben, nach alter Gewohnheit von Hand, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Er las noch einmal kurz nach. Das sollte genügen. „Danke, Herr Bischof.“
„Danke Ihnen, Herr Kleinmeier. Wissen Sie, mir geht das gewaltig unter die Haut. Aber es hilft ja nichts. Die Firmlinge warten. Bis bald.“
Kleinmeier legte auf und drehte sich zu seinem Rechner. Aber bevor seine Finger sich auf die Tastatur stürzten, blitzte etwas in ihm auf: Zum ersten Mal, seit er ihn kannte, hatte Bischof Johann ein Wort über seinen eigenen Gemütszustand verloren. Dessen gewürdigt worden zu sein, ließ den Pressesprecher rot werden. Dann hackte er seine Meldung in die Maschine.
Paul Göbel war es gewöhnt, dass sein Fahrgast schwieg. Normalerweise war es ein gutes, einvernehmliches Schweigen. Sie waren ein eingespieltes Team, und Firmungen hatten einen klaren Rhythmus: Mit ein wenig Zeitreserve losfahren, im Zweifelsfall am Ortsrand noch warten, um nicht zu früh da zu sein und den Ortspfarrer damit in Verlegenheit zu bringen; dann vor die Kirche fahren; während der Bischof vom Ortspfarrer und den anderen Seelsorgern begrüßt wird, zwei Messdiener für Stab und Mitra an den Kofferraum holen, ihnen Handschuhe geben und die Insignien anvertrauen; den Wagen parken, den Koffer schnappen und in die Sakristei bringen; dort dem Bischof das Schultertuch und die Albe auflegen und das Zingulum zum Schnüren anreichen; wenn er dann noch Stola und Messgewand angelegt und das Brustkreuz umgehängt hatte, ihm den Bischofsstab reichen und die Mitra aufsetzen; das alles mit der nötigen Schnelligkeit und der gebotenen Ruhe, während der Bischof ein nettes Wort für Lektoren, Mesner, Messdiener, Geistliche, Organisten und Firmkatecheten fand; im Gottesdienst selbst schließlich dem Bischof jeweils Stab und Mitra geben oder abnehmen, die Firmlinge zum Empfang des Sakraments aus den Bänken geleiten, dafür sorgen, dass der Bischof nach der Firmung sich den Chrisam mit etwas Salz und Wasser von den Fingern reiben konnte; schließlich nach der Messe alles wieder zusammenpacken und ins Auto räumen; mit zum Mittagessen kommen, wo der Bischof sorgfältig darauf achtete, beim Dank niemand zu vergessen, und ansonsten so gut zuhörte, dass er nachher mehr wusste, als die Anwesenden je sich erinnern konnten, ihm gesagt zu haben; ein dezentes Zeichen zum Aufbruch geben. Das alles war Routine und vollzog sich mit der Präzision des Ineinandergreifens von Zahnrädern einer Schweizer Taschenuhr. Wenn sie dann wieder im Auto saßen, um zur nächsten Firmung oder wie heute wieder nach Hause zu fahren, bedankte sich Bischof Johann jedes Mal auch ausdrücklich bei seinem Fahrer; dann konnte jenes einvernehmliche Schweigen beginnen, dass Paul Göbel so sehr schätzte, weil es ihm das Fahren leichter machte.
Nur dass sein Chef sich heute zum ersten Mal zu bedanken vergessen hatte. Göbel kam nicht einmal auf die Idee, dass der Bischof nicht zufrieden mit ihm gewesen wäre. Dann hätte er seine Kritik so geschickt in gute Worte gekleidet, dass sie klar gewesen und trotzdem noch im Gewand eines Kompliments dahergekommen wäre. Was Göbel erschreckte, war, dass der Bischof überhaupt nichts gesagt hatte. Und als der Fahrer verstohlen über den Rückspiegel nach seinem Fahrgast sah, fand er ihn weder lesend noch schlafend. Bischof Johann blickte zum Fenster hinaus, ohne allerdings dort etwas zu sehen. Eine Weile überlegte er, ob er seinen Chef ansprechen sollte. Aber bevor er sich die richtigen Worte zurechtlegen konnte, schrillte das Mobiltelefon. Der Bischof nahm ab und sprach leise ein paar Worte. „Herr Göbel“, sagte er dann, „wenn wir heimkommen, wartet schon die Polizei auf uns. Und ich fürchte, es ist nicht, weil Sie zu schnell gefahren sind.“
Das Innere des Bischöflichen Palais hatte Kriminalkommissar Kunz sich anders vorgestellt. Bisher hatte er den Barockbau nur von außen gekannt und die zum Domplatz zeigende Schaufassade bewundert. Also hatte er ein ebenso barockes Inneres erwartet, nachdem er gemeinsam mit seinem Kollegen Reimann die Stufen zur Eingangstür erklommen und sich an der Sprechanlage gemeldet hatte. Umso überraschter war er von der Nüchternheit, die ihm im Inneren entgegenschlug. Durch die Tür waren sie in den Vorraum gekommen und hatten sich bei Schwester Agatha ausgewiesen, die zur linken hinter ihrer Glasscheibe den Wachdienst versah. Ihr Knopf hatte ihnen die Glastür geöffnet, und sie fanden sich im trüben Licht des Treppenhauses wieder. Die Freitreppe gegenüber dem Eingang hatte zwar den barocken Schwung bewahrt, war aber irgendwann einmal von einem lieblosen Puristen gänzlich weiß gestrichen worden und seither in Ehren ergraut. Schwester Agatha machte sich vor ihnen an gut vier Höhenmeter bis zum ersten Obergeschoss. Dort war der Gang gegenüber der Treppe als Galerie gestaltet. Schwester Agatha öffnete die Tür zu einem Sprechzimmer und bat die Herren um Geduld, der Bischof müsse gleich von der Firmung zurück sein und werde sich sofort Zeit nehmen. Sie schlurfte davon, um ihnen einen Kaffee zu bringen.
Im Sprechzimmer stand ein niedriger Holztisch. Links und rechts davon waren je zwei Stühle mit verblichenen Polstern gestellt. An der rechten Längsseite hatte ein Sideboard mit Strickdeckchen seinen Platz gefunden, all das im Stil der sechziger Jahre und irgendwie angestaubt. In der linken Längswand führte eine Tür weg, zu einem angrenzenden Zimmer, wie Kunz vermutete. Von einem Gemälde über dem Sideboard sah irgendein verblichener Theologe den kostbaren Kruzifixus an der Wand gegenüber an. Wände und Decke hätten einen frischen Anstrich vertragen, aber hier war es noch weniger schlimm als im Treppenhaus.
Kunz fühlte sich sofort als Fremder, aber etwas anderes wollte er auch gar nicht sein. Seine bigotte Mutter hatten ihn als Kind mit Andachten und Werktagsmessen, mit Rosenkranz und Bußgebet auf Knien so lange traktiert, bis er gleich zu seinem achtzehnten Geburtstag dem Beispiel seines Vaters folgte und erstens auszog und zweitens aus der Kirche austrat. Sein Gerechtigkeitssinn hatte ihn zur Polizei und dort zur Kripo geführt. Seit ein paar Tagen war er nun in der Domstadt bei Mord und Totschlag, und der Tod von Domvikar Eberlein war der erste Fall, bei dem er selbst die Fragen stellen sollte, natürlich, weil dieser Fall harmlos war – im Grunde konnte es sich ja nur um einen Unfall gehandelt haben. Deswegen hatten sie ihn auch zusammen mit Reimann geschickt, der nur noch vier Wochen bis zur Rente hatte, den ganzen Tag von seiner Datscha am Flussufer schwärmte und sich nicht einmal den Namen des Toten merken konnte.
Der Fall bot wenig Möglichkeiten, sich zu profilieren; aber Kunz wollte, dass seine hohen Herren auf ihn aufmerksam wurden. Also hatte er von der ersten Minute an mit seiner Akribie die Fahnder und den Arzt fast zur Weißglut gebracht. Immerhin hatten sie auch etwas gefunden, und Kunz hatte sich schon genau zurechtgelegt, wie er den Bischof damit konfrontieren würde.
Aber auch Bischof Johann war eine Überraschung. Natürlich hatte Kunz sich vorher informiert und Fotos angesehen, ja sogar einen Videobeitrag des lokalen Fernsehsenders über den Alltag des Oberhirten. Und selbstverständlich hatte der Ermittler sich Maske und Kostüm sorgfältig ausgesucht: Er trug eine graue, sportliche Hose, ein hellblaues Jackett und keine Krawatte auf dem cremefarbenen Hemd, um den dynamischen Eindruck noch zu verstärken, den auch die kurzgeschorenen Haare auf dem kantigen Schädel vermitteln sollten. In seinen Händedruck legte er wie immer vor solchen Befragungen bewusst etwas zu viel Kraft, während er die Stimme eher dämpfte, damit sein Gegenüber gezwungen war, genau zuzuhören.
„Kunz und Reimann, Kriminalpolizei“, stellte er sich und den Kollegen vor, und suchte mit harten Augen den Blickkontakt.
Und genau dabei bekam die Fassade zumindest einen Stoß. Johanns Blick war einfach zu offen, zu ehrlich, zu freundlich, zu entwaffnend. Für einen Moment hatte Kunz das Gefühl, diese Augen hätten bis in Winkel seiner Seele geschaut, die er sogar vor sich selbst verbarg, und der sanfte Bass klang schon bei der Begrüßung wie der Zuspruch eines guten Freundes.
Aber dann setzten sie sich, und Kunz ließ die Wut in sich die Oberhand gewinnen, die Wut auf seine Mutter und die Kirche und alle ihre Repräsentanten, auf den toten Eberlein und auf seine Vorgesetzten, die ihn diesen Fall bearbeiten ließen, der eigentlich keiner war.
„Wie gut kannten Sie Herrn Eberlein?“, begann Kunz mit der ersten Frage aus seinem wohlvorbereiteten Katalog.
„Recht gut. Er war einer der ersten, die ich hier zum Priester weihen durfte. Seit er Domzeremoniar war, kam er natürlich regelmäßig zu den nötigen Absprachen vorbei.“
„Seit wann war er das, Domzeremoniar? Und wie oft kam er vorbei?“ Pack ihn dir, wenn er zu allgemein wird, memorierte Kunz seine Ausbilder. Das wird ihn einschüchtern.
Aber der Bischof schien mehr zu sich selbst als zu dem Kriminalbeamten zu sprechen. „Im September wären es drei Jahre geworden. Und vorbei kam er einmal die Woche, manchmal auch zweimal, je nachdem, was anstand. Er war immer genau vorbereitet, hatte immer schon alles mit dem Domkapellmeister, den Mesnern, den Messdienern, Lektoren, den Verantwortlichen besonderer Gruppen und so weiter vorbesprochen. Ich wusste immer, woran ich war. Es tut einfach weh, dass er nicht mehr da ist.“
„Wann haben sie ihn das letzte Mal gesehen?“ In Kunz' Rolle als Ermittler kamen Bekundungen von Bedauern selbstredend nicht vor.
Bischof Johann seufzte. „Beim Hochamt zu Pfingsten. Er hatte Dienst. Es war eine wunderbare Orchestermesse. Mozart. Wir sind recht fröhlich auseinandergegangen.“
„Sie kannten ihn also recht gut?“
„Ja, ich denke schon.“
„Hatte er ein Alkoholproblem?“
Bischof Johann schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Nach den Befunden der Autopsie hatte er rund zwei Promille im Blut, als er von der Orgelempore abstürzte“, erläuterte Kunz barsch. „Außerdem haben wir auf der Empore zwei Whisky-Flaschen gefunden, richtig billigen Fusel aus dem Supermarkt. Eine davon war leer, die zweite bereits zu Hälfte. Also, er hatte ganz sicher kein Alkoholproblem?“
Zur Verblüffung von Kunz schloss der Bischof für einen Moment die Augen. Dann antwortete er leise: „Mir ist nie etwas aufgefallen. Wenn er also doch ein Alkoholproblem gehabt haben sollte, muss ich das übersehen haben.“
„Warum hat er sich vor seinem Tod betrunken?“ Kunz hatte jetzt, was er wollte: Der Bischof war verunsichert. Daraus ließ sich vielleicht etwas machen.
Tatsächlich zuckte Johann mit den Achseln. „Das ist mir ein Rätsel.“
Kunz machte sich demonstrativ ein paar Notizen, obwohl er sie nicht brauchen würde. Erst dann fragte er weiter: „Hatte Herr Eberlein Feinde?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich ist er auch mal jemandem auf den Schlips getreten. Er konnte schon laut werden, wenn ein Kantor die Töne nicht traf. Und ein Zeremoniar muss auch Nein sagen können, sonst erkennt man die Grundformen des Gottesdienstes vor lauter Tanz und Spielszenen nicht wieder. Da hat er sicherlich die eine oder andere Gruppe verprellt, die eine Messe mit mir hatte. Aber das reicht doch nicht für Feindschaft.“
Wieder verzog Kunz keine Miene und notierte sich etwas, während Reimann zum Fenster hinaus sah, als höre er das Gespräch nur versehentlich.
Kunz legte nach. „Als er abstürzte, muss Domvikar Steinmann unten gestanden haben. Wir können ihn nicht vernehmen, er steht immer noch unter Schock. Wie standen die beiden zueinander?“
„Sie waren gute Freunde. Nicht zu eng, nicht ständig zusammen, das ging ja schon vom Dienst her nicht. Aber ab und an sind sie mal zusammen essen gegangen, oder ins Kino.“
„Als Eberlein abstürzte, war der Dom bereits seit einer halben Stunde geschlossen. Was hatten die beiden in der Kirche zu tun?“
„Das weiß ich nicht. Vielleicht hatte Eberlein eine Idee zur Liturgie? Er wollte immer etwas verbessern. Vielleicht hat er Steinmann um Rat gefragt? Aber das kann mein Sekretär Ihnen doch sicher bald beantworten.“
Kunz sah noch einmal über seine Notizen. Und dann nutzte er einfach aus, dass sein Kollege keinerlei Anstalten machte, ihn zu bremsen. „Ich halte also fest: Eberlein war kein Alkoholiker, aber vor seinem Tod betrunken. Warum, wissen Sie nicht. Sie glauben nicht, dass er Feinde hatte. Er war mit Steinmann befreundet. Aber warum die beiden im Dom waren, wissen Sie auch nicht.“ Kunz sah nun den Bischof an. „Wir können also keineswegs mit Gewissheit sagen, dass hier lediglich ein Unfall passiert ist. Also werden wir natürlich weiter ermitteln.“
Bischof Johann hatte die Beamten verabschiedet und noch die Treppe hinunter bis zur Tür gebracht. Ihn fröstelte, als er die Treppe wieder hinaufstieg, um sich noch einmal an den Schreibtisch zu setzen, und Kopfschmerzen breiteten sich vom Nacken her aus. Er spürte jetzt, dass er bereits die zweite Nacht schlecht geschlafen hatte. Aber auch das Gespräch setzte ihm noch zu. Nicht etwa Kunz' Übereifer. Der Ermittler war ihm eher wie ein Kind vorgekommen, das sich einen Schnurrbart ins Gesicht gemalt hat, um böse auszusehen, und seinem Kollegen schienen die Fragen eher peinlich. Aber Eberlein betrunken? Und Steinmann mit ihm allein abends im Dom? An einem Tag, an dem er extra nicht zum Dienst erschienen war, um seine Eltern zu besuchen? Der alte Instinkt des Regens ließ ihn ahnen, dass der Unfall noch nicht das eigentliche Erdbeben gewesen war.
Aber Kopfschmerz hin und schlechte Gefühle her, morgen war Ordinariatskonferenz, und er musste noch die Unterlagen durchgehen.
Schwester Cäcilia war ehrlich geknickt. Sie hatte sich viel Mühe gemacht mit dem Abendessen; und der Bischof genoss ihren Rohkostsalat sonst immer in vollen Zügen, wenn er mittags eingeladen gewesen war und Mühe gehabt hatte, wohlgemeinte Portionen aufzuessen. Aber heute hatte er kaum etwas genommen. Außerdem hatte er nicht nur selbst kaum ein Wort gesprochen, sondern ihr und Schwester Dorothea auch nicht zugehört, was so gut wie nie vorkam. Dabei hatten sie sich alle Mühe gegeben, von irgendetwas zu plaudern, nur nicht von den Domvikaren Eberlein und Steinmann. Das war vor allem Schwester Dorothea nicht leichtgefallen, die doch zu gerne noch erfahren hätte, wie es Steinmann ging. Sie hatte Göbel ausgefragt, als er die Albe des Bischofs zum Aufbügeln in ihr Reich im zweiten Stock brachte, aber der wusste entweder nichts oder wollte nichts sagen. Und dann waren ja noch die Kriminalpolizisten da gewesen. Was hatten sie gewollt? Schwester Agatha anzugehen, trauten sich weder Dorothea noch Cäcilie.
Also hatten die beiden die Küche sauber gemacht und in der Kapelle ihr Abendgebet gesprochen, und nun saßen sie in ihrem winzigen Wohnzimmer auf der Couch bei Näharbeiten.
Plötzlich knallte Schwester Dorothea ihre Stickerei auf den Tich. Eine Schwester von der Herzwunde Jesu murrt nicht, ereifert sich nicht, erträgt alles in Geduld und tut in Demut ihren Dienst, so hatte sie es seit Jahrzehnten gelernt und gelebt. Aber heute platzte es einfach aus ihr heraus.
„Cäcilia, das regt mich einfach auf, wie wir hier oben hocken, als wären wir dämliche Tauben in ihrem Verschlag.“
Ihre Mitschwester blinzelte irritiert über den Brillenrand. „Wir? Dämliche Tauben? Wieso?“
„Na schau: Da stürzt der Eberlein von der Orgelempore im Dom, und Steinmann ist dabei. Der Bischof kaut daran, der Göbel kaut daran, wir alle kauen daran. Aber keiner sagt etwas. Sie erzählen uns nichts, wir fragen nicht. Das ist doch idiotisch.“
Cäcilia schüttelte den Kopf. „Dorothea, das ist doch nun mal so. Wir sind dafür da, dass der Bischof alles hat, was er braucht. Wir sind seine Dienerinnen. Das ist der Auftrag, den Schwester Generaloberin uns gegeben hat.“
„Der Bischof selbst hat gesagt, wir sind jetzt so etwas wie seine Familie. Diejenigen, mit denen er unter einem Dach lebt.“
„Na und?“
„Was ist das für eine Familie, in der man nicht miteinander spricht? In der man Freud und Leid nicht miteinander teilt?“
„Ach Dorothea.“ Schwester Cäcilia seufzte und schüttelte den Kopf. „Er ist nun einmal der Bischof, und wir sind die Köchin und die Hauswirtschafterin. Das sind doch ganz verschiedene Stufen.“
Aber ihre Mitschwester hatte nun die Arme in die Hüften gestemmt und sich leicht vorgebeugt, so wie früher, wenn sie ihren Zöglingen im Kindergarten Paroli bieten musste. „Der Bischof hat Hunger und Durst wie wir, er muss schlafen wie wir, und er muss sogar zur Toilette wie wir; und irgendwann einmal wird er sterben, ganz genauso wie Du und ich. Natürlich hat er studiert. Natürlich hat er eine riesige Verantwortung. Natürlich ist er der Bischof. Aber kann er denn nicht trotzdem einmal mit uns reden, wenn ihn der Schuh drückt? Oder hält er sich für etwas Besseres?“
Cäcilia war rot angelaufen. „Dorothea, so darfst Du nicht reden. Das steht Dir nicht zu.“
Schwester Dorothea schwieg. Aber ihre Augen blitzten, und zwischen den Augenbrauen war die gestrenge Falte zu sehen, die den Kindern stets als höchstes Alarmzeichen gegolten hatte.
„Lass uns lieber noch den Rosenkranz beten für den armen Eberlein“, schlug Schwester Cäcilia vor. Schwester Dorothea war zwar ganz und gar nicht in der Stimmung dafür. Aber sie wollte ihre Mitschwester nicht kränken. Also stimmte sie in die uralten Gebete mit ein.
Mittwoch, 5. Juni 2002
Nach Generalvikar Dr. Pfundner konnte man die Uhr stellen. Schwester Agatha hatte sich schon oft gefragt, ob sein Stellvertreter eigentlich bewusst die letzten Sekunden vor der Tür abwartete, bevor er mittwochs exakt um 8:28 Uhr auf die Klingel an der Tür des Bischöflichen Palais drückte. Aber vielleicht berechnete er auch den Weg von seiner Wohnung bis zum Bischofshaus so präzise, dass er immer zur vereinbarten Zeit eintraf. Jedenfalls war er ein Mann der Genauigkeit, der vorgegebene Abläufe und klare Regeln liebte. Das hatte ihn Kirchenrecht studieren und von Fachleuten viel beachtete Artikel über Verwaltungsnormen schreiben lassen, sodass Johanns Vorgänger ihn schließlich aus der Pfarrei geholt und zum Generalvikar gemacht hatte.
Schwester Agatha mochte ihn, denn wie sie gehörte er noch zu der alten Garde von Bischof Ulrich. So schenkte sie ihm ihr seltenes Lächeln, als er wie ein Offizier bei einer Parade auf seinen zu kurzen Beinen im Stechschritt an ihrem Pfortenfenster vorbeimarschierte. Die Treppe ließ ihn wegen einiger überzähliger Pfunde kurzatmig werden. Also hielt er kurz in der Garderobe an, zog den Sakko über dem Spitzbauch zurecht, zog einen Kamm heraus, scheitelte sorgfältig die verbliebenen Haare und schob die Brille zurück, die auf der schmalen Nase in dem länglichen Gesicht ständig herunterrutschen wollte. Dann eilte er, die Aktenmappe an sich pressend, durch die Galerie zum Arbeitszimmer des Bischofs, um die Tagesordnung der Ordinariatskonferenz mit ihm durchzugehen.
An dem Besprechungstisch im Arbeitszimmer hatten Bischof und Generalvikar ihre gewohnten Plätze: Johann saß mit dem Rücken zu seinem Schreibtisch an der einen Längsseite, und Pfundner ließ sich schnaufend rechts von ihm nieder. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln glichen sie die Tagesordnung ab, und Pfundner gab Erklärungen zu ein, zwei Punkten. Das wichtigste waren jedes Mal die Personalangelegenheiten, denn nichts liebte insbesondere Finanzdirektor Dompropst Hutzler mehr, als bei jeder Besetzung einer Pfarrstelle allen erdenklichen Unbill zu wittern und den herzensguten Personalreferenten Domkapitular Weierich mit erkennbarer Freude verbal zu verprügeln. Tatsächlich neigte Weierich um der Menschen willen gelegentlich zu recht eigenwilliger Auslegung des Kirchenrechts. Da durfte beispielsweise schon einmal ein Pfarrer eine neue Stelle antreten, obwohl er für die Kirchenstiftung seiner bisherigen Pfarrei nicht einen einzigen Jahresabschluss vorgelegt hatte. Pfundner konnte Weierich deshalb nicht ausstehen, und das war Grund genug, dessen Vorschläge zu torpedieren – aber natürlich würde er niemals offen gegen den Bischof opponieren und suchte deshalb vor der Sitzung, die Stimmung seines Herrn zu ertasten.
Der Rest war dem Generalvikar im Grunde egal. Kleinmeier wollte eine Pressekonferenz zum Neubau des Diözesanarchivs ansetzen, was Pfundner überflüssig fand, denn seiner Ansicht nach mischten sich diese Pressefritzen viel zu oft in innerkirchliche Angelegenheiten ein. Aber sie mochten den Bischof, was Pfundner mit gewissem Neid bewunderte, ohne es zu verstehen.
Ansonsten ging es noch um ein paar Vorschläge für die Auszeichnung verdienter Laien mit päpstlichen Orden, die niemandem weh tun würden, und der Zuschussantrag der Armen Schulschwestern zur Sanierung der Sporthalle ihres Gymnasiums, den Dompropst Hutzler schon allein deswegen befürworten würde, weil seine leibliche Schwester in ebenjenem Gymnasium zur Schule gegangen und später bei den Schulschwestern eingetreten war.
Es blieben noch ein paar Minuten, und normalerweise hätte der Bischof sie mit höflichem Geplauder überbrückt. Aber dieses Mal blieb er einfach nur sitzen und hielt die Tagesordnung flach über dem Tisch, als wolle er sie wiegen. Das ist also alles, was wir zu bereden haben, dachte er. Sicher alles nötig. Sicher alles wichtig. Sauber vorbereitet von meinem getreuen und mir trotzdem so fremden Generalvikar. Und nichts dabei, was uns wirklich voranbringt.
Nicht, dass Johann seinen ständigen Vertreter nicht geschätzt hätte. Schon allein dessen handschriftliche Notizen waren für ihn ein Wunderwerk. Kleine Buchstaben, aber bestens lesbar und in derart gleichmäßige Zeilen gebracht, dass man sie hätte drucken können. Johann ahnte, wie viel Arbeit hinter jeder Tischvorlage stand. Was immer Pfundner auf den Tisch legte, hatte er von allen Seiten gründlich abgeklopft. Als gelernter Jurist legte er sich nie fest, ohne jeden erdenklichen Umstand berücksichtigt zu haben. Das war seine Stärke, aber zugleich auch seine Schwäche: Er tat sich schwer mit eigenen Entscheidungen und ebenso mit Empfehlungen für seinen Bischof. Oft genug schien er seinem Oberhirten etwas nahezulegen, um es dann wieder heftig in Zweifel zu ziehen. Er setzte gerne Kommissionen und Ausschüsse ein, nach seiner Diktion, um genügend Argumente zu hören, nach Ansicht seiner Kritiker, um die Verantwortung verteilen zu können. Johann hätte manches Mal gerne schneller entschieden, aber Pfundner kannte in vielen Fragen die Details weit besser, und als Bischof konnte er es sich einfach nicht leisten, sich in jede Angelegenheit bis in die Tiefe einzuarbeiten.
Natürlich wusste Johann, dass sein Generalvikar sich keineswegs allgemeiner Beliebtheit erfreute. Nicht, dass jemand offen mit ihm darüber gesprochen hätte. Aber er hatte das Raunen wahrgenommen, warum denn ausgerechnet Pfundner ein halbes Jahr vor dem Tod von Bischof Ulrich die Nachfolge des allseits geschätzten Generalvikars Dr. Fiebiger angetreten habe, der Bischof in einer Nachbardiözese geworden war; denn Ulrich, das wusste jeder, stand damals bereits an der Schwelle zur Demenz, in die er sich angesichts der zunehmenden Überforderung mit seinem Amt flüchtete. Wer also hatte den Bischof auf Pfundner aufmerksam gemacht?
Johann wollte das alles gar nicht wissen. Pfundner hatte in den Monaten der Krankheit von Bischof Ulrich und dann als Diözesanadministrator nach dessen Tod das Bistum zwar keinen Schritt vorangebracht, aber dadurch auch Johann nicht in die Verlegenheit gebracht, irgendetwas wieder rückgängig machen zu müssen. Der General kannte das Bistum, er kannte seine Mitbrüder im Domkapitel, er kannte die Verwaltung. Es wäre töricht gewesen, sich nicht auf ihn zu stützen. Menschlich warm allerdings war er mit Pfundner nie geworden, obwohl er sich dafür fast ein wenig schämte. Vielleicht lag es daran, dass der Generalvikar weder über Musikalität verfügte noch über echten Humor.
Johann blickte auf und bemerkte verschämt, dass sein Gegenüber ihn wohl schon seit Minuten fragend angeschaut hatte. Es wurde allmählich Zeit, die paar hundert Meter zum Ordinariatsgebäude jenseits des Domes zurückzulegen. Aber der Generalvikar rutschte noch unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
„Sie haben noch etwas?“, fragte Johann.
„Naja – was machen wir wegen Eberlein?“
„Natürlich halten wir zu Beginn der Sitzung noch ein Totengedenken. Ansonsten ist es doch Sache des Domdekans, sich nun um die Beerdigung zu kümmern.“
„Der Artikel heute im Tagesblatt war ja recht gut, die haben angedeutet, dass es ein Unfall war. Das hat Kleinmeier gut hinbekommen.“
„Ja, ich bin ihm dankbar dafür.“
„Es wäre doch sicher gut, wenn es die Presse dabei bewenden lässt, nicht wahr?“
„Was meinen Sie?“
Der Generalvikar zupfte sich am Ohrläppchen, wie immer, wenn er nervös war. „Es gibt doch nichts mehr weiter zu berichten. Und auch die Polizei kann das doch jetzt auf sich beruhen lassen. Vielleicht kann denen das jemand noch einmal sagen.“
Johann verstand nicht, auf was der General hinauswollte. „Die Polizei soll tun, was sie tun muss. Das macht keinen guten Eindruck, wenn wir hier Einfluss zu nehmen versuchen. Außerdem haben sie ja nichts Besonderes entdeckt. Gut, Eberlein war betrunken. Aber das ist kein Fall für die Kripo.“
„Na, dann hoffen wir mal, dass es wirklich dabei bleibt.“ Pfundner stemmte sich hoch, und sie machten sich in Richtung Ordinariat auf den Weg.
Der Bischof war völlig in Gedanken, als sie schweigend den Domplatz überquerten. Einmal mehr ertappte er sich dabei, dass er seinem Generalvikar ständig vorauseilte. Widerwillig drosselte er das Tempo. Nicht, dass sie Gefahr gelaufen wären, zu spät zu kommen. Aber Johanns innere Unruhe, durch Eberleins Tod noch verstärkt, hatte seine Geduld einigermaßen leiden lassen. Schließlich bog das ungleiche Paar in die Hintere Domgasse ein und gelangten durch die schmucklose Tür des Verwaltungsgebäudes in das dämmrige Foyer. Johann schenkte der Pförtnerin in ihrem Verschlag zur linken noch ein gutes Wort und stieg mit Pfundner die Treppe gegenüber hinauf.
Als Johann sich am Treppenabsatz zu seinem Generalvikar umdrehte, nahm er kurz dessen Gesicht wahr, gerötet von der Anstrengung und den Blick zu Boden gesenkt, um die Stufen nicht zu verfehlen. Pfundners letzte Bemerkung kam ihm noch einmal in den Sinn. Und mit einem Mal hatte er das Gefühl, dass der General vor irgendetwas Angst hatte.
Wie immer verstummte das Gespräch, als der Bischof den Sitzungssaal betrat, und wie immer senkten Hutzler und seine Gesprächspartner den Blick, als habe er sie bei etwas Unerlaubtem erwischt. Johann hatte sich damit abgefunden, dass er von einigen in diesem erlauchten Kreis wohl nie ein offenes, ehrliches Wort vernehmen würde. Er war der Bischof, Regierung, oberster Gesetzgeber und Richter zugleich. Also trennte ihn der Graben der Macht von seinen Mitarbeitern, mochte er noch so sehr den Teamgeist beschwören. Außerdem hatte Johann keine zwei Sitzungen gebraucht, um zu bemerken, dass einige der Kapitulare sich auch gegenseitig kaum über den Weg trauten. Also ging er reihum, gab jedem die Hand, hielt sich aber nicht mit langen Floskeln auf, sondern bat zügig, doch Platz zu nehmen.