Kruttingen - Marianne Erne - E-Book

Kruttingen E-Book

Marianne Erne

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Beschreibung

«Am Ende des Lebens wird bei uns im Dorf mit Kränzen abgerechnet und Elsbeth hat viele bekommen. Sie war beliebt.» Kruttingen, ein fiktives Dorf im Schweizer Mittelland: nur wenige Tage nach dem Tod seiner Mutter kehrt Georg in sein Heimatdorf zurück. Sein plötzliches Auftauchen versetzt seine Familie und Jugendfreunde in Aufruhr und bringt das Beziehungsgefüge des Dorfes ins Wanken. Während seiner fast 20-jährigen Abwesenheit ist Georg für die verschiedenen Figuren zu einer Projektionsfläche für eigene Wünsche und Sehnsüchte geworden. Seine überraschende Rückkehr bedeutet für sie denn auch die Konfrontation mit einer – mehr oder weniger unliebsamen – Realität und wirkt wie ein Katalysator für Konflikte und Veränderungen, die sich nicht länger aufschieben lassen.

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Seitenzahl: 235

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Am Ende des Lebens wird bei uns im Dorf mit Kränzen abgerechnet und Elsbeth hat viele bekommen. Sie war beliebt.

Über alles wächst einmal Gras, war man sich in Kruttingen sicher. Bis nach 20Jahren Georg in die Heimat zurückkehrt und die dörfliche Idylle arg durcheinanderbringt. Dunkle Geheimnisse drängen ans Licht und werden von den vier Autorinnen gnadenlos seziert.

«Und plötzlich ist man mittendrin, in diesem Dorf. Die Bewohner und ihre Geschichten wachsen ans Herz; die Geschichte ist rasant.»

NADINE JÜRGENSEN, MITGRÜNDERIN VON ELLEXX.COM, JOURNALISTIN & JURISTIN

«Die Mundart-Dialoge schaffen Nähe und Authentizität, fast so, als wäre man als Leser Teil dieser kleinen fiktiven Gemeinschaft. Oder ist sie vielleicht gar nicht so fiktiv?»

OLIVIER BORER, MODERATOR SRF SPORT UND LEHRER IN AUSBILDUNG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Herausgeber der «Edition Gaggalaariplatz» ist der Historische Verein Embrachertal.

«Kruttingen» wurde ausserdem unterstützt von:

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2023, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)

Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Umschlag und Satz: Lynn Grevenitz | www.kulturkonsulat.com

Illustration Dorfplan: © Marianne Erne

Lektorat: Katrin Sutter und Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

Druck: CPI books GmbH, www.cpibooks.de

ISBN Print: 978-3-907238-27-1

E-Book: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-907238-28-8

Inhalt

Dorfplan

Vorwort zur Mundart

Montag

Dienstag

Mittwoch

Personenregister

Mundartregeln

Dank

Autorinnen

Zur Mundart

Mit der «Edition Gaggalaariplatz» fördert der Arisverlag die Mundartliteratur. In diesem Band vermischen die vier Autorinnen Hochdeutsch mit der Mundart des Zürcher Unterlandes. Im fiktiven Dorf Kruttingen spricht man ein weniger hartes «Züridüütsch» als in der Stadt; viele Wörter werden gebunden, der Artikel ist immer mal wieder ein weiches p oder sogar g anstelle des d’s.

Die Kruttinger Bevölkerung redet in diesem Buch so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. So spricht eine Protagonistin Berner Mundart, eine andere ist weit gereist und ihre Mundart klingt sicher nicht mehr gleich wie die derer, die ihr Leben lang im Dorf geblieben sind.

Für die Zürcher Mundart gibt es – je nach Expertenschaft – andere Schreibempfehlungen und Regeln. Autorinnen und Verlag haben sich bewusst für keine der verschiedenen Richtungen entschieden. Genauso bewusst haben wir die vom Zürcher Mundartwörterbuch empfohlene Schreibweise mit z.B. è statt ä ignoriert – um Ihnen das Lesevergnügen einfacher zu machen. Ein Regelwerk zur Zürcher Mundart von Urs Peter (Autor von «Gaggalaariplatz für Aafènger und Fortgschrittni») finden Sie im Anhang unter «Mundartregeln».

Vill Froid bi de Lektüre!

Margaux

Wer soll die denn alle kaufen? Als ich den Spar betrete, wühlt Sara in einem Korb voller Auberginen im Sonderangebot. Manfred mag keine Auberginen. Milch, Brot, Käse – ich finde schnell, was ich brauche. Sonst noch etwas? Ich gehe durch die Regale. Die grünen Teigwaren fallen mir auch dieses Mal wieder auf, die wollte ich unbedingt mal ausprobieren. Ich nehme eine Packung in die Hand und wende mich dem Fenster zu, um etwas lesen zu können. Die Schrift ist viel zu klein, ich sehe nur die Erbsen, die auf der Packung abgebildet sind. 5.50Franken für 350Gramm? Ich schüttle den Kopf.

Durch das Schaufenster erblicke ich einen bärtigen Kerl. Er wirkt seltsam, irgendwie fremd, wie er dasteht und auf den Laden schaut. Ist er es? Er hat mir nie ein aktuelles Foto von sich geschickt. Ist er jetzt doch endlich gekommen? Ich senke kurz meinen Blick und als ich wieder aufschaue, ist er weg. Habe ich mich getäuscht? Mein Puls rast.

Speisegelatine brauche ich noch, die hätte ich in der Aufregung fast vergessen. Ich gehe an den Regalen vorbei, hier müsste sie doch sein, aber da ist nichts. Der Lehrling – ein Itsch, so nennt ihn Manfred – geht an mir vorüber, ohne zu grüssen.

«Junge Maa», rufe ich ihm nach, «wo isch scho wider d Gelatine?»

Er hört mich zuerst gar nicht, dann kommt er zurück, zeigt auf ein Regal und will wieder gehen.

«Da hets aber keni», sage ich.

Er schiebt seinen Arm ins Regal, zieht ihn wieder hervor.

«Momänt», sagt er und verschwindet im Lager. Etwas später höre ich, wie er bei seiner Chefin nachfragt. Dann steht sie neben mir, so plötzlich, dass ich kurz zusammenzucke. Sara schleicht im Laden herum wie ein Fuchs.

«Es tuepmer leid, Margaux, d Gelatine wird ersch morn gliferet. Ich legder e Packig uf d Site.»

Dann gibt’s heute eben keine Pannacotta, Manfred wird enttäuscht sein. Dass Sara ihre Nachbestellungen wieder nicht im Griff hat, ist ja nicht erstaunlich.

«Chani suschna öppis fürdi mache, Margaux?», fragt sie mit ihrer Verkäuferinnenstimme und starrt auf meine Hände. Da merke ich, dass ich die Teigwarenpackung noch immer unentschlossen in den Händen halte. «Die sind fein, die grüene Fusilli, us Erbsli», sagt sie mit derselben Stimme. «Und gsund.»

Mit der Packung im Einkaufskorb folge ich Sara wortlos zur Kasse.

Draussen auf der Strasse kommt mir der Mann von vorher entgegen. Ich kann nicht anders, als ihm direkt ins Gesicht zu schauen. Die dunklen, eher kleinen Augen und darüber die vollen Augenbrauen: Natürlich ist er es! Als wir aneinander vorbeigehen, grüsst er freundlich, ich grüsse zurück, er geht an mir vorbei in den Spar. Er hat mich nicht erkannt. Wie hätte er mich auch erkennen sollen? Damals hatte ich schulterlange, rötlich gefärbte Haare, jetzt sind sie kurz und grau. Wenn ich Georg anschaute, früher, dachte ich oft, was für ein schöner Mann! Der durchdringende Blick ist gleichgeblieben, sonst aber hat sich Georg stark verändert. Auch an ihm ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen.

Ich bin zu aufgewühlt, um gleich nach Hause zu gehen, und mache einen Umweg über die Kirchstrasse und die Taubenstrasse. Georg, jetzt bist du also zurückgekommen, nach all den Jahren! Manfred hat dich nie leiden können. Dabei warst du so ein feiner, tüchtiger, freundlicher Bursche. Wenn auch manchmal etwas verschlossen. Da war immer etwas Geheimnisvolles, das dich umgab. Ich habe schon damals gedacht, der Georg bleibt nicht ewig hier.

Zu Hause sitzt Manfred Zeitung lesend am Küchentisch.

«Wo bisch ä solang gsi?»

«Am Ychoufe», sage ich und füge an: «I bi haut o nümm di Schnäuschti.»

Manfred steckt seine Nase zurück in den Anzeiger Kruttingen-Schattwil, die einzige Zeitung, die er noch liest. Ich lege die Milch und den Käse in den Kühlschrank, das Brot auf den Tisch. Als ich die Packung Teigwaren in den Schrank stellen will, blickt Manfred wieder von der Zeitung auf.

«Was isch dänn das für grüens Gschmois?»

«Ärbsli-Pasta», sage ich, «die het mir d Sara empfole. Söue gsung sy.» Manfred wendet sich erneut der Zeitung zu.

Was soll ich tun, wenn Georg bei uns klingelt? Ich zögere, bevor ich zu Manfred sage: «Es Cherli a der früsche Luft würdi dir sicher o guet tue, meinsch nid? U när chönntisch o no grad bir Sara verby gah u d Äppeeri für ds Birchermüesli für hütt Aabe choufe, die han i nämlech vergässe.»

Sara

Endlich 10Uhr. Pause. Die habe ich nötig. Noch immer bin ich genervt wegen der Falsch-Lieferung. Die Auberginen wollen einfach nicht alle im Gemüsekorb Platz finden und hier im Lager ist auch keine Ecke mehr frei. Die Körbe sind immer zu klein für die grösseren Gemüsesorten und zu gross für das kleine Gemüse, für Zwiebeln oder Radieschen. Und dann stand da auch noch einer vor der Ladentüre und starrte hinein, als würde er sich über mich lustig machen, weil ich die Auberginen nicht alle in den Korb kriegte. Aber dann merkte ich, dass er gar nicht mich ansah, sondern etwas suchte. Vielleicht die Bäckerei, die vor Jahren hier drin war.

Ich stand auf und wollte ihm entgegengehen. Doch dann durchfuhr es mich plötzlich: War das nicht Georg?

Warum war er auf einmal zurückgekehrt? Vielleicht hat unser Anzeiger, den ich am Durchblättern bin, eine Antwort darauf? Sommerfest im Altersheim, Suche nach neuen Mitgliedern für den Kirchenchor, Feuerwehrübung im Oberstufenschulhaus. Da steht Mats mit seiner Klasse. Er sieht auf dem Bild recht rundlich aus, hat schon etwas zugelegt. In letzter Zeit wirkt er ziemlich gestresst, er hat keine Zeit mehr zum Kochen am Mittag. Und Danielle kocht sowieso nie, weil sie eine Supermanagerin in so einer riesigen Firma ist. Vor zwei oder drei Jahren hat sie sich einen schwarzen BMW-Sportwagen gekauft. Habe sie noch nie beide zusammen darin fahren sehen. Ich glaube, Mats war gegen den Kauf des Wagens. Aber der hat bei so etwas wohl nichts zu melden, sie bringt schliesslich die meiste Kohle heim. Sicher ist, dass Mats für sich seither immer mehr Stocki, Spätzli, Tortelloni, manchmal auch Fertigbraten fürs Mittagessen einkauft. Für die Familie kocht er aber gut und frisch. Natalie durfte früher ab und zu bei ihnen zu Mittag essen, wenn ich keine Zeit hatte zu kochen. Und Danielle war am Mittag nie zu Hause. Sie mochte es nämlich gar nicht, wenn Natalie bei ihnen ass. Wahrscheinlich erzählte Mats ihr gar nichts davon.

Ein Inserat für die Bauernchilbi in Oberkruttingen: Ob es dieses Jahr wieder klappt, dass ich die Würste liefere? Der neue Volg-Chef von Schattwil hat sich den Auftrag letztes Jahr unter den Nagel gerissen. Wenn ich dieses Jahr den Zuschlag nicht bekommen werde, dann sehe ich schwarz. Ich kann mir die Zahlen kaum mehr ansehen, ohne dass mir schlecht wird.

Was? Elsbeth Hungerbühler ist gestorben? Am Samstag im Kantonsspital. Das erklärt alles. Nach kurzer schwerer Krankheit ist am Samstag … Wieso weiss ich davon nichts? Ach, die Rechstein ist doch eine verdammte … Die hat das sicher alles gewusst und mir absichtlich nichts gesagt. Dann ist Georg wohl wegen der Beerdigung gekommen. Er hat es verpasst, sie noch einmal lebend zu sehen.

Jedenfalls muss ich ihn unbedingt bald treffen.

Balz

Dieser Rostfleck, wie der mich ärgert! Er frisst mir das «O» bei Vogt fast gänzlich weg. «Gärtnerei Vogt, Vater & Sohn, seit 1912» steht auf dem Schild. Mit Vater und Sohn sind nicht mein Vater und ich gemeint, sondern Grossvater und Urgrossvater, die Gründer der Gärtnerei. Das Firmenlogo über dem Haupteingang ist stark verblasst; von Hand gemalte Schneeglöckchen. Ich müsste das Schild dringend erneuern. Eine Arbeit für den nächsten Winter, denke ich, bevor jemand mit dem Finger den zarten Hauch Rost ganz durchdrückt.

Wir mögen Schneeglöckchen in unserer Familie. Im Frühling stossen sie als erste durch die kalte Erde und gewinnen den Wettstreit mit dem Winter. Darauf kann ich mich verlassen und auch darauf, dass Sara im Spar bereits im Februar Tulpen anbietet. Das ist kein Witz! Jetzt, im Juni, gibt es bei ihr die ersten Sonnenblumen, hochgezüchtete Ware aus holländischen Treibhäusern, nie und nimmer CO₂-neutral! Woher Sara wohl die vielen Auberginen hat? Sie wollte mir diese unförmigen Dinger andrehen. Keine Lust auf Auberginen, habe ich gesagt und bin gegangen.

Vorhin bin ich der alten Rechstein begegnet. Kiro, mein Hund, knurrt meistens, wenn ihm jemand nicht geheuer ist. Bei der alten Rechstein tut er das nicht, sondern macht einen grossen Bogen um sie herum. Ihr Geschwätz, sie hätte Georg Hungerbühler gesehen, hat mich total nervös gemacht, aber ich habe mir nichts anmerken lassen.

Auf dem Heimweg zählte ich die Jahre, die ich Georg nicht gesehen habe, und kam auf zwanzig. Wir waren beste Freunde, so habe ich das jedenfalls in Erinnerung. Und wenn einer, der jahrelang weg ist, plötzlich im Dorf auftaucht, was dann?

Ich sehe uns in fremden Gärten, wie wir als Kinder Tulpen pflückten. Das gab grossen Ärger und kam nicht gut an bei den Besitzern. Deshalb mussten wir die übrig gebliebene Patisserie der Bäckerei Hungerbühler nach Ladenschluss zu jenen Leuten tragen, bei denen wir Blumen geklaut hatten, und uns dafür entschuldigen. Das war mir unangenehm, besonders bei Mats’ Eltern. Er stand an der Türe und grinste, als wir auf unserer Büssertour bei seinen Eltern vorbeigekommen sind. Mats, Georg und ich. Einer war immer zu viel.

Ob Georg wohl weiss, dass ich die Gärtnerei übernommen habe? Im Dorf der Totengräber bin? Ich hätte es ihm gerne selbst erzählt. Und er? Hat er Familie? Kinder?

Die Arbeit geht mir heute, an diesem lauen Frühsommertag, gar nicht flott von der Hand. Vorhin fiel mir beinahe ein Grabstein auf die Füsse. Herrgott nochmal! Bei uns im Dorf gilt die Grabesruhe für zwanzig Jahre. Ausser man entscheidet sich für ein Familiengrab, dann darf man länger liegen bleiben. Die meisten Angehörigen holen die Steine ab, wenn die Gräber geräumt werden, stellen sie zum Andenken in den eigenen Garten. Die liegen gebliebenen muss ich entsorgen, denn der Friedhof darf nicht wie eine Schutthalde aussehen, da bin ich konsequent.

Am Nachmittag werde ich Hans Hungerbühler ein Familiengrab empfehlen. Es sind jetzt wieder schöne Plätze frei geworden. Ich denke, Hans wird später bei Elsbeth liegen wollen. Mama sagte stets, sie wolle dereinst bei Papa liegen. Und dann ist alles ganz anders gekommen. Beim Jäten stand ihr Herz plötzlich still. Ich fand sie im alten Friedhof, vornübergekippt, zwischen den Gräberreihen, das Gesicht auf eine Zwergkonifere gebettet. Da wohnte Vater bereits nicht mehr bei uns. Ein Familiengrab erübrigte sich.

Sara

Wieso das Bestellsystem die Bestellung manchmal doppelt auslöst, konnten sie mir wieder nicht beantworten. Die Zentrale versucht, mir den Fehler in die Schuhe zu schieben. Wie werde ich nun bloss alle diese Auberginen los?

Bis gestern hätte ich den Laden darauf verwettet, dass Georg niemals mehr einen Fuss ins Dorf setzen würde. Und jetzt ist er plötzlich zurück. Ich muss ihn unbedingt abfangen und mit ihm sprechen, bevor er mit allen redet. Hoffentlich lässt er sich leicht überzeugen. Diese Jeans-Weste, die er trug, trägt man so etwas in Amerika? Vielleicht ist das in Hollywood gerade in? Die vielen Taschen an der Weste erinnerten mich an Maliks grünes Fischergilet, das ich ihm zu einem Geburtstag geschenkt habe. Darin konnte er alle Haken, Zapfen, Bleie und Schnüre verstauen. Ab und zu hat er sogar was gefangen.

Als Jugendlicher trug Georg immer teure Klamotten. Die Bäckerei lief damals gut, die Hungerbühlers verdienten richtig viel Geld mit ihren süssen Goldmöcken und ihrer Kruttinger Crèmetorte. Und ich habe mich als Kind oft gewundert, warum die Lehrer nichts sagten, wenn Georg zu spät kam oder die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Ich durfte mir so etwas nie erlauben.

Nach Georgs Verschwinden ging es langsam bergab mit der Bäckerei. Und jetzt stehe ich in der ehemaligen Backstube, die zu meinem Lager geworden ist, und suche nach Gelatine. Vielleicht finde ich doch noch eines Tages dieses Geld, von dem man sagte, es sei zusammen mit Georg verschwunden. Möglich wäre es, dass der alte Hungerbühler selbst das Geld irgendwo in der Bäckerei als Notgroschen versteckt und dann vergessen hat. Jetzt hätte ich es besonders nötig. Bald kommen die Sommerferien. Wer weiss, ob es den Laden im Herbst noch gibt.

Margaux

Endlich ist Manfred aus dem Haus gegangen. Ich habe mir schon überlegt, was ich gesagt hätte, wenn Georg vorher geklingelt hätte. Ich hätte ihm ein Zeichen gegeben, dass er später kommen soll. Und zu Manfred hätte ich gesagt: «Scho wider di Züge Jehovas.»

Ein paar Minuten später klingelt es tatsächlich. Georg steht vor der Tür, mit Blumen in der Hand. Sonnenblumen. Aus dem Spar, das sehe ich gleich. Deswegen ist er zum Laden zurückgegangen. Er streckt mir die Blumen hin.

«Es duet mer so leid», sage ich zu Georg und denke an Elsbeth. Meine Augen werden wässerig und es dauert nicht lange, bis mir eine Träne die Wange herunterkullert. Georg schaut mich erstaunt an und entschuldigt sich, dass er mich vorhin vor dem Spar nicht erkannt hat. Ich schüttle den Kopf und bitte ihn, auf einen Kaffee hereinzukommen. Wie abgekämpft er aussieht. Georg in unserer Stube, nach all den Jahren, wer hätte das gedacht? Er kommt mir vor wie ein verlorener Sohn, der seinen Weg zurückgefunden hat. Ich schaue immer wieder auf die Uhr.

«Es wäri besser, we du itz wider würdisch gah.»

Wir haben kaum miteinander geredet. Als ich die Tür aufmache und mich mit einem warmen Händedruck von Georg verabschiede, sehe ich Frau Rechstein vorbeigehen und beeile mich, die Tür zu schliessen.

Elsbeth habe ich am Donnerstag noch im Spital besucht. Georgs letzten Brief in meiner Tasche, jenen, in dem er schrieb: «Jetzt komme ich, jetzt komme ich wirklich!» Er hatte es schon ein paarmal angekündigt. Diese bange Frage: Kommt er diesmal tatsächlich? Elsbeth sah schlimm aus, völlig ausgezehrt und apathisch, die Krankheit hatte ihr zugesetzt. Auch die lange Warterei auf Georg. Ich fasste ihre Hand und sagte ihren Namen, sie schaute an mir vorbei ins Leere. Ich zögerte, bevor ich ihr sagte, dass Georg unterwegs sei. Das rüttelte sie wach, sie wiederholte seinen Namen. Und wenn er doch wieder nicht kam, fragte ich mich. Ich wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. «Georg», sagte sie noch einmal und drehte ihren Kopf wieder von mir weg. Ich war mir nicht sicher, ob sie meine Worte verstanden hatte.

Dann kam die Krankenschwester ins Zimmer und sagte, ich müsse jetzt gehen. Und ich atmete beinahe erleichtert auf. Ich hatte mein Möglichstes getan, auch diesmal. Ich habe Elsbeth nie etwas verheimlicht, das hätte ich ihr nicht angetan. Immerhin wusste sie, dass Georg noch lebte und es ihm gut ging, zumindest dieses Wissen hat sie mit sich in den Tod genommen.

Wo Manfred nur bleibt mit den Erdbeeren? Meine Augen brennen. Jetzt klingelt das Telefon – ist Manfred etwas passiert? Nein, es ist Thomas’ Nummer. Ich habe seit über drei Monaten nichts von ihm gehört. Wenn es wichtig ist, ruft er bestimmt noch einmal an. Schon hat das Klingeln wieder aufgehört, Geduld ist nie Thomas’ Stärke gewesen. Jetzt bist du unfair, Margaux, aber so ist es doch.

Was mache ich nur mit den Sonnenblumen? Manfred wird sich fragen, wo die herkommen. Wenn sie ihm überhaupt auffallen. In letzter Zeit entgeht ihm einiges; er lebt in seiner Welt. Wie er sich verändert hat. Seine Offenheit, die mir früher so an ihm gefallen hat, die hat er verloren. Ja, wir werden alt und sterben weg. Und die Vogts begraben uns alle, bis es sie selbst erwischt. Auch Balz, der vor Gesundheit strotzt, wird eines Tages unter der Erde liegen. Sein Vater hat Rosalie beerdigt, ihren Sarg in die Erde gelassen, der junge Balz hatte das Grab ausgehoben. Lange ist es her und schmerzt noch immer.

Mats

Hoffentlich ist der Spar noch offen; es ist beinahe schon zwölf. Manchmal bleibt Sara bis Viertel nach, damit ich und die anderen Lehrerinnen und Lehrer etwas zu Mittag kaufen können. Aber die letzten paar Male, als ich ein Sandwich bei ihr holen wollte, stand ich um zwölf vor verschlossener Türe. Mist, ich bin ja ganz ausser Atem. Danielle hat schon recht, wenn sie sagt, ich solle wieder Joggen gehen. Sara ist zum Glück noch da, ich kann sie durchs Schaufenster sehen. Sie steht beim Gemüse und räumt die Auslage um.

«Hoi, Sara!», rufe ich ihr zu, als ich die Ladentür öffne. «Ich bruuch dringend öppis z Mittag, ich han hüt kä Ziit zum heigaa.»

Warum schaut sie mich so an?

«Mats, wart!», sagt Sara bestimmt, als ich an ihr vorbeigehen will.

«Was isch dänn?», frage ich nun doch und bemühe mich, nicht genervt zu klingen. Hoffentlich dauert es nicht lange.

«Häschen ä gseh?», fragt sie.

«Wer?»

«Tänk oise Georg!»

«Was? Wele Georg?»

«De Georg Hungerbühler! Vo früener. Er isch hüt Morge da gsi.»

«Aja?», sage ich. Sara war immer schon gut darin, sich etwas einzubilden.

«Glaubschmer nöd, hää?», fragt sie.

Mist, jetzt komme ich nicht mehr weg. Dabei wollte ich doch nur schnell ein Sandwich kaufen.

«Er isch da gstande, vor de Ladetüür, hät ieglueget …»

«Häsch mitem gredt?»

«Näi, plötzlich ischer wider wäg gsi. Ich bi sicher, das ischen gsi. Er gseet no gliich us, nume elter, mit Bart.»

«Aber das chönnti doch irgendöpper gsi si, wonem gliicht. Nach so langer Ziit …»

«Pah! Ich erchäne doch de Georg!», sagt Sara. «Mueschmers ja nöd glaube!», ruft sie mir über die Schulter zu, bevor sie sich wieder der Gemüseauslage zuwendet.

Jetzt ist sie beleidigt. Aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit. Ich will endlich etwas zu Mittag kaufen und dann zurück in die Schule. Ich muss unbedingt die Nachmittagslektionen fertig vorbereiten. Am letzten Montag ist die Englischstunde richtiggehend entgleist. Sie fühlen es, wenn ich unsicher bin. Leon hat sich lustig gemacht über meine Aussprache, vor der ganzen Klasse hat er laut gesagt: «De Mischter Bolliger schpiiks väri guud Inglisch.» Und dann haben sie gelacht. Ich hätte Leon am liebsten eine runtergehauen … Ah, hier, das Schinkensandwich mit Ei sieht okay aus, das nehm’ ich, und vielleicht noch eine kleine Packung Chips und eine Cola drüben vom Kühlregal, oder nein, besser nur ein Mineralwasser. Und jetzt nichts wie weg.

Als ich schon fast bei der Tür bin, ruft Sara: «He Mats, zaale muesch aber schona!»

Margaux

Beim Mittagessen schaut Manfred hinüber auf die Kommode und rümpft die Nase, seine Stirn in tiefe Falten gelegt.

«Isch öpper da gsi?», fragt er.

«Ja», sage ich und füge, ohne zu zögern, hinzu: «D Frou Rechstein het mer se verby bracht.»

«Die isch aber gradna im Lade gsi», sagt er ungläubig.

«Ja, ufem Wäg i Lade het si mer se verby bracht. Si het sech wöue bedanke, dass ig ihre chürzlech uf der Poscht z Schattwil Gäud usgleiht ha, wüu si ihres Portemonnaie deheime het vergässe gha. Du hättisch se söue gseh, rot aagloffe wie ne Tomate isch si vorem Poschtschalter gstange!»

Ich muss selbst lachen ob meiner Geschichte: Frau Rechstein in so einer Situation, das würde ich gerne einmal erleben!

Manfred gibt sich damit zufrieden und isst weiter. Als das Telefon etwas später erneut klingelt, weiss ich sofort, dass es Thomas ist, es muss doch etwas Dringendes sein. Manfred macht keine Anstalten, ans Telefon zu gehen, also stehe ich auf.

«Los, ich müessti da öppis mit oi bespräche.»

Das klingt allerdings nach etwas Wichtigem.

«Du weisch doch, dasimi sit längerem wetti selbständig mache. Ich han jetz alles duregrächnet und wäri froh umen Erbvorbezug.»

Ach so! Wenn er etwas braucht, dann pressiert es plötzlich.

«Chani hüt Namittag verbii cho?», fragt Thomas.

Manfred ist aufgestanden, um Kartoffelstock nachzuschöpfen.

«Hütt Namittag isch nid guet, da hei mir scho Bsuech», sage ich so leise, dass Manfred es nicht hört.

«Und morn?»

«La mi doch zersch mitem Manfred la rede. I lüte dir när zrügg.»

Thomas’ Stimme klingt unzufrieden, als er sich von mir verabschiedet. Er hat es immer schlecht vertragen, wenn er das, was er unbedingt wollte, nicht gleich bekam.

«Was hät de Bueb wele?»

Ich merke, dass ich mich schäme für Thomas. Dass er sich so selten meldet, und dann ist er bloss an seinem Erbe interessiert. Manfred redet sich ein, wir hätten eine gute Beziehung zu ihm. Manfred vergöttert Thomas.

«Der Thomas wott üs i de nächschte Täg cho bsueche. Vilech chöi mer im Garte grilliere?»

Manfreds Gesicht hellt sich auf, er lächelt und ich schäme mich erst recht. So viele Lügen an einem Tag. Ich starre auf die Sonnenblumen, die grell auf der Kommode leuchten.

«Schön sinds, die Sunneblueme», sagt Manfred.

Letizia

«Letizia!», begrüsst mich Frau Rechstein laut durch den Gang zwischen den Lebensmittelregalen. Ihre Stimme klingt aufgeregt.

«Grüezi Frau Rechstein», sage ich zu den drei Sorten Haferflocken vor mir auf dem Gestell. Ich habe mir vorgenommen, freundlich zu sein zu den Dorfbewohnern. Heute fällt es mir nicht leicht. Frau Rechstein kommt mit energischen Schritten auf mich zu und beginnt zu reden, noch bevor sie überhaupt neben mir steht.

«Letizia! Häschs ä ghört?»

Sie ist längst pensioniert, aber zu Hause ist es ihr zu langweilig. Solche Probleme müsste man haben. Darum hilft sie immer noch mehrmals wöchentlich im Spar aus, wobei helfen wohl das falsche Wort ist.

«Was?», sage ich und starre auf meine Einkaufsliste. Das mit der Freundlichkeit darf ich mir heute vielleicht schenken. Wieso duzt mich Frau Rechstein eigentlich? Ich bin 39. Am Morgen hat mich Diana so genervt, dass ich nicht arbeiten konnte. Und gegessen habe ich heute auch noch nichts. Es ist 14Uhr und mein Magen schmerzt vor Hunger. Endlich drehe ich mich zu Frau Rechstein um. Sie tut mir ein wenig leid, wie sie dasteht in ihrem braunen Spar-Kittel.

«Und?», frage ich. Bestimmt will sie mir wieder etwas von Silvan erzählen, der dritten Garage, die er eben eröffnet hat, oder ihrem Enkelkind.

«De Georg isch zrugg», sagt sie und schaut mich an, als erwarte sie eine Reaktion.

«Wele Georg?»

Ach so. Der Georg. Der Skandal-Georg, von dem meine Eltern endlos gesprochen haben; seine armen Eltern und die Bäckerei, die deswegen einging. Ich erinnere mich, wie ich mich fast etwas gefreut habe, dass gerade er seine Eltern so enttäuscht hat – mehr als ich meine Eltern enttäuscht habe. Hoffe ich zumindest.

«Was wett de dänn da?», frage ich, da Frau Rechstein immer noch auf eine Antwort wartet.

«Das weissme nöd», sagt sie. «Zum sich bide Mueter z entschuldige, isches jetz z spaat.»

Für mich ist es auch zu spät, um mich bei meinen Eltern zu entschuldigen. Will mir Frau Rechstein vielleicht das sagen? Aber jetzt hat sie bereits eine neue Kundin erspäht.

«Irene!» ruft sie in Richtung Eingang. «Weisch wer uf eimal uufgtaucht isch?»

Ob sie vor zwei Monaten genau gleich über mich geredet haben? Ich wende mich wieder den Haferflocken zu. Einatmen auf eins, zwei, ausatmen auf eins, zwei, drei, vier. Ich wollte mir ein Birchermüesli machen. Nachdem Diana mir sagte, dass ich mein Leben nicht im Griff hätte, will ich wenigstens etwas Gesundes essen. Diana will unbedingt das Haus verkaufen, dabei braucht sie das Geld doch gar nicht dringend. Ich hingegen brauche das Haus, habe ich ihr gesagt, emotional, aber auch finanziell. Mir geht es gar nicht gut, Diana, habe ich gesagt und sogar ein bisschen geweint am Telefon. Sie blieb kühl. Sie mit ihrem Mann und ihren langweiligen Teenies in der Agglomeration, mit ihrem anständigen Job. Und ich? Gerade frisch eine Trennung hinter mir, gerade frisch einen grossen Auftrag nicht bekommen. Diana denkt, alles, was bei ihr gut läuft, sei ihr Verdienst. Dabei hatte sie einfach Glück. Und kleinere Träume als ich. Daran liegt es doch.

Ich höre, wie Frau Rechstein und die neue Kundin sich lebhaft über Georg unterhalten. Georg. Einmal, als ich im Winter auf dem Heimweg war, lief er mir nach, warf mich um und drückte mein Gesicht in den Schnee. Meine Stirn fühlte sich so kalt an, dass ich kaum noch atmen konnte. Als er mich losliess und ich aufstand, lachte er fröhlich.

Ich beschliesse, mir ein Körbchen Erdbeeren zu kaufen.

Balz

Die Glöckchen des Windspiels klingeln, die Sonne blendet mich durch das Glasdach des Gewächshauses hindurch. Ich schaue vom Pflanztisch auf. Hans und Regula Hungerbühler stehen in der Türe. Seit dem Mittag pikiere ich Stiefmütterchen, die ich in den Farben Weiss, Gelb und Blau gezüchtet habe. Später werde ich sie auf die Gräber pflanzen. Bis es soweit ist, sind meine Jungpflanzen hier gut geschützt vor gefrässigen Schnecken.

«Mis Biileid», sage ich zur Begrüssung und drücke beiden die Hand.

«Hüt Morge, hüt am Morge», stammelt Hans, «ischer vor de Türe gschtande. Hät blöd grinst und so ta, we wäner nie wäg gsi wär. Hoi Vater, häter gsäit, gaatsder guet?» Hans schüttelt immer wieder den Kopf, kämpft gegen die Tränen an, seine Mundwinkel zucken. Der kräftige Mann wirkt wie ein Häufchen Elend. Regula streicht ihrem Vater über den Arm.

«Papi», sagt sie liebevoll. «Papi.»

«Hau ab, hanen agschroue», schnieft Hans. «De mues gar nüme heicho, de Sürmel. Hanem d Tür vor de Nase zuegschletzt. Miner Läbtig wetti nüpme mitem z tue ha. Eifach verreist ischer und s ganz Gäld usem Safe häter no mitgnoo, de fräch Galöri!»

Hans’ Wut kann ich verstehen. Wie viele Jahre hat Elsbeth auf ihren Sohn gewartet? Gehofft, dass er eines Tages nach Hause findet? Und jetzt haben sich die beiden so knapp verpasst.

«Verjage tuenen, wenen rüüdige Hund, wänner a p Beärdigung chunnt!» Regula drückt erneut den Arm ihres Vaters.

«Papi, sägem Balz, was du fürs Mami möchtisch. Er cha sini Ziit nöd mit dir verplämperle, er hät sicher no vill z tue.»

Ein Handy klingelt. Regula kramt in ihrer Tasche und zieht das Telefon hervor. Auf dem Display erscheint das Foto ihres Sohnes. Sie macht ein paar Schritte zur Seite. Hans steht vor mir, ich sehe, wie ihm erneut die Tränen kommen, lege ihm den Arm um die Schulter, spüre seine Wärme.

«Timo?», höre ich Regula sagen. «Mer sind bim Balz ide Gärtnerei und tüend fürs Grosmuetti p Blueme uusläse. Lüütem Papa a, wänn mit de Ufzgi nöd fürschi chunsch. Timo – was säisch? Bi ois?» Sie geht ein paar Schritte durch den Raum den Pflanztischen entlang. Bleibt abrupt stehen. «Was häsch gsäit? De Georg hät gwüsst, dass s Grossmuetti chrank gsi isch?»