Kühe, Konten und Komplotte - Gisela Garnschröder - E-Book

Kühe, Konten und Komplotte E-Book

Gisela Garnschröder

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Lug und Trug im Münsterland: Der zweite Fall für Isabella Steif und Charlotte Kantig Bauer Kottenbaak liebt seine Kühe, aber noch mehr liebt er Krankenschwester Hermine. Als sie auf dem Radweg von einem Auto überfahren wird, erleidet er einen Schlaganfall. Kurz darauf stürzt Hermines Sohn Johannes von der Leiter und wird tot aufgefunden. Grund genug für Isabella Steif und Charlotte Kantig, sich ein wenig umzuhören. Die beiden alten Damen sind sich sicher: Hier hat jemand nachgeholfen! Sie ermitteln mit Hochdruck, aber erst, als Charlotte entführt wird, merken die Schwestern, dass sie auf der richtigen Spur sind.  Entdecken Sie auch die weiteren Fälle von Steif und Kantig: - Band 1: Steif und Kantig - Band 2: Kühe, Konten und Komplotte - Band 3: Landluft und Leichenduft - Band 4: Hengste, Henker, Herbstlaub - Band 5: Felder, Feuer, Frühlingsluft - Band 6: Schnäpse, Schüsse, Scherereien - Band 7: Mondschein, Morde und Moneten - Band 8: Gärtner, Gauner, Gänseblümchen  - Band 9: Dünen, Diebe, Dorfgeplänkel - Band 10: Printen, Plätzchen und Probleme - Band 11: Komplizen, Kappen, Karneval - Band 12: Halunken, Horror, Halloween - Band 13: Blüten, Birken, Bösewichter

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Die AutorinGisela Garnschröder ist 1949 in Herzebrock/Ostwestfalen geboren und aufgewachsen auf einem westfälischen Bauernhof. Sie erlangte die Hochschulreife und studierte Betriebswirtschaft. Nach dem Vordiplom entschied sie sich für eine Tätigkeit in einer Justizvollzugsanstalt. Immer war das Schreiben ihre Lieblingsbeschäftigung. Die berufliche Tätigkeit in der Justizvollzugsanstalt brachte den Anstoß zum Kriminalroman. Gisela Garnschröder wohnt in Ostwestfalen, ist verheiratet und hat Kinder und Enkelkinder. Sie ist Mitglied bei der Krimivereinigung Mörderische Schwestern, beim Syndikat und bei DeLiA.

Das BuchBauer Kottenbaak liebt seine Kühe, aber noch mehr liebt er Krankenschwester Hermine. Als sie auf dem Radweg von einem Auto überfahren wird, erleidet er einen Schlaganfall. Kurz darauf stürzt Hermines Sohn Johannes von der Leiter und wird tot aufgefunden. Grund genug für Isabella Steif und Charlotte Kantig, sich ein wenig umzuhören. Die beiden alten Damen sind sich sicher: Hier hat jemand nachgeholfen! Sie ermitteln mit Hochdruck, aber erst, als Charlotte entführt wird, merken die Schwestern, dass sie auf der richtigen Spur sind.

Gisela Garnschröder

Kühe, Konten und Komplotte

Steif und Kantig ermitteln wieder

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

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Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMai 2015 (2)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-035-1

Alle Rechte vorbehalten.Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1. Kapitel

Die Äpfel waren reif. Isabella Steif stand in ihrem Garten und sah hinauf in den hohen Baum, den noch ihr Vater gepflanzt hatte. Er trug immer reichlich. Es waren saftige, etwas säuerlich schmeckende Äpfel. Isabella wusste nicht, wie die Sorte hieß, aber der Geschmack war einfach köstlich. Sie teilte sich jedes Jahr die Früchte mit ihrer Schwester Charlotte Kantig, die gleich nebenan wohnte.

In diesem Jahr trug der Baum so viel, dass Isabella schon einige Äste abstützen musste, damit sie nicht brachen. Nun ging sie unter dem Baum hin und her und überlegte, wie sie die Ernte am besten bewerkstelligen konnte. Natürlich musste Charlotte ihr helfen, auch wenn ihre Schwester bisher immer nur den kleinen Teil abgepflückt hatte, den sie selbst verbrauchte.

Entschlossen ging Isabella ins Haus und lief zum Boden hoch, wo sie den Apfelpflücker übers Jahr aufbewahrte. Als sie wieder herunterkam, stand Charlotte im Garten und biss gerade in einen Apfel.

»Gut, dass du kommst!«, rief Isabella ihr zu. »Dann kannst du mir gleich helfen!«

Charlotte kaute genüsslich auf ihrem Apfel herum und murmelte mit vollem Mund: »Keine Zeit. Ich muss gleich weg. Wollte heute Abend mit Ottokar ins Theater.«

»Ha, wenn´s um Arbeit geht, hast du ja nie Zeit!«, regte sich Isabella auf. »Aber morgen wird hier geerntet, sonst kannst du dir deine Äpfel kaufen!«

Charlotte warf das abgeknabberte Kerngehäuse des Apfels in hohem Bogen in einen Strauch und grinste. »Eigentlich habe ich gedacht, wir sagen den Männern Bescheid und revanchieren uns mit Apfelkuchen!«

Isabella starrte sie an, noch immer den Apfelpflücker in der Hand: »Welche Männer? Kommt Thomas zu Besuch?«

»Der ist doch grad aus den Flitterwochen zurück und zaubert mir ein Enkelkind«, grinste Charlotte. »Ich hatte an Ottokar und Eberhard gedacht. Die bekommen Apfelkuchen und jeder ein Körbchen Äpfel dazu!«

»Ist ja toll, wie du meine Äpfel verteilst«, sagte Isabella, aber der Gedanke, die Arbeit anderen zu überlassen, war durchaus angenehm.

»Gut. Du fragst Ottokar, und ich lade Eberhard zum Apfelkuchen ein«, war Isabella schließlich einverstanden. »Wenn die beiden dann auch noch ein Körbchen voll mitnehmen können, helfen sie uns bestimmt!«

»Toll, holst du mir noch zwei Äpfel runter?«, fragte Charlotte und zeigte auf den Pflücker.

»Wieso zwei?«

»Einen für mich und einen für Ottokar zum Probieren!« Charlotte lachte.

»Unverschämt bist du gar nicht?!«, sagte Isabella grinsend und hatte ruck, zuck mehrere Äpfel im Pflücksack.

Charlotte nahm zwei heraus und ging zur Pforte. »Bis morgen, Schwesterchen!«

»Bring einen Korb mit!«, rief Isabella ihr nach, nahm die letzten Äpfel aus dem Sack und brachte den Pflücker in die Garage.

Es war halb zwölf in der Nacht. Die Krankenschwester Hermine Aufdemsande streifte die neongrüne Warnweste über ihren Anorak und verabschiedete sich von ihrer Kollegin. Ihr Dienst endete eigentlich um elf Uhr abends, aber durch einen Notfall war es später geworden. Sie freute sich auf die Heimfahrt mit dem Rad. Es war eine sternenklare Septembernacht, die durch den Mond wunderbar erhellt wurde. Hermine liebte die nächtlichen Fahrten durch die Dunkelheit. Sie nahm für ihre Fahrt zur Arbeit immer das Rad, nicht nur weil der Radweg entlang der Landstraße direkt an ihrer Wohnung vorbeiführte, sondern auch weil es sie nach der anstrengenden Arbeit in der Klinik angenehm ablenkte.

Sie war schon fast zu Hause, als sie plötzlich ein Auto ohne Licht vor sich sah. Es war noch ziemlich weit entfernt, aber durch den Mondschein schon gut zu erkennen. Gerade als sie überlegte, wieso jemand auf dem Radweg parkte, hörte sie, wie der Motor aufheulte. Grinsend stellte sie sich vor, dass dort jemand seinen Rausch ausgeschlafen hatte, und nun eiligst das Weite suchte. Doch in Sekundenschnelle begriff sie, dass der Wagen auf sie zuraste.

»Der muss mich doch sehen«, dachte sie entsetzt und machte einen Schlenker zur Seite. In ihrer Panik verhedderte sie sich, wurde seitlich von dem Wagen erfasst und durch die Luft geschleudert. Das Krachen und Knirschen, als der Wagen über ihr Rad fuhr, noch im Ohr, prallte sie unsanft mit dem Rücken auf den Weg. Plötzlich war alles still, auch das Motorgeräusch war verklungen.

Sie wollte sich aufrichten, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst, und etwas Feuchtes rann an ihrer Stirn hinunter. Wie aus der Erde gewachsen stand dann jemand vor ihr: »Hilfe, ich …!« Sie verstummte, denn die Gestalt beugte sich zu ihr hinunter, fummelte an dem Kettchen um ihren Hals und riss es mit einem Ruck ab.

Charlotte und ihr Nachbar Ottokar Breit kamen gut gelaunt aus dem Theater. Mitternacht war schon vorbei, als sie auf der Landstraße Richtung Heimat fuhren. Sie schwärmten noch von dem Theaterstück und waren bester Laune, als ihnen ein Wagen entgegenraste. »Idiot! Mach dein Fernlicht aus!«, brüllte Ottokar verärgert, als der Wagen an ihm vorbeischoss, und fuhr etwas gemäßigter fort: »Der hat es ja eilig. Fährt, als sei Teufel hinter ihm her!«

»Sieht fast aus, als würde er vor irgendwas flüchten. Hast du die Nummer erkannt?«, fragte Charlotte.

»Nein, dazu war er zu schnell! Außerdem war ich so geblendet, dass ich nicht einmal sehen konnte, was es für ein Wagen war!«

»Egal, irgendwann wird er sich den Hals brechen!« Charlotte schüttelte den Kopf. »Stell dir vor, ein Reh kreuzt die Straße!«

»Dann hat er ein Problem!«, bestätigte Ottokar. »Aber die Leute meinen, des Nachts ist sowieso keiner unterwegs, und brettern, was das Zeug hält!«

Sie waren schon einige Kilometer weiter und fast zu Hause, als Charlotte rief: »Was war das denn?«

»Was meinst du?« Ottokar verlangsamte die Fahrt.

»Da hinter uns, lag da nicht ein Fahrrad?« Charlotte drehte sich nach hinten um und versuchte etwas zu erkennen, was allerdings trotz des hellen Mondlichts unmöglich war.

»Auf der Straße war nichts, das hätte ich gesehen!«

»Auf dem Radweg. Es lag mitten auf dem Radweg«, beharrte Charlotte. »Dreh um, bitte!«

Ottokar wendete den Wagen und fuhr langsam zurück.

»Da, da ist es!« Charlotte zeigte aufgeregt aus dem Fenster. »Das ist doch gefährlich, wenn ein Radler im Dunkeln daherkommt.«

Ottokar stoppte den Wagen so, dass die Scheinwerfer den Radweg beleuchteten. Kaum ausgestiegen, schrie Charlotte: »Um Gottes willen!« Auf dem Radweg lag nicht nur das Rad, sondern wenige Meter entfernt auch eine Frau.

Charlotte und Ottokar rannten zu der Verletzten. »Sie atmet noch, ruf den Krankenwagen«, stieß Charlotte hervor, die schon neben der Verletzten kniete und ihr vorsichtig ihre Jacke unter den Kopf schob.

Zwei Stunden später setzte Ottokar Charlotte vor ihrer Haustür ab. »Hoffentlich kommt sie durch!«, sagte Charlotte leise und verabschiedete sich mit einem Händedruck. Noch immer geschockt von dem Unfall ging sie ins Haus und setzte sich in ihr Wohnzimmer.

Ottokar hatte ihr vorgeschlagen, bei ihm zu übernachten, aber sie hatte es abgelehnt. Sie musste jetzt allein sein. Sie schaltete den Fernseher an, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, denn schlafen konnte sie nicht. Nach wenigen Minuten ging sie in die Küche, machte sich einen Tee und setzte sich wieder ins Wohnzimmer.

Die verletzte Frau hatte ihr noch etwas zugeflüstert, aber sie hatte es nicht verstanden. Dann war der Krankenwagen gekommen und die Polizei gleich hinterher. Ein Einsatzwagen der Feuerwehr war ebenfalls vor Ort gewesen.

Charlotte durfte gar nicht daran denken. Sie hatte die Fragen beantwortet und die Untersuchung der Unfallstelle beobachtet und sich zitternd an Ottokar geklammert. Keiner von beiden konnte sich vorstellen, warum jemand die Frau auf dem Radweg überfahren hatte. Die Polizei hatte festgestellt, dass die Fahrzeugspuren einige Meter hinter der Unfallstelle direkt zwischen den Bäumen hindurch vom Radweg auf die Straße führten. Auf dem Grasstreifen zwischen Fahrbahn und Radweg waren Spuren zu sehen gewesen. An der Unfallstelle gab es weit und breit keine Häuser und Zeugen des Unfalls wohl auch nicht. Aber wieso war der Wagen über den Radweg gefahren? Charlotte konnte sich das nicht erklären.

Die Frau war Krankenschwester am Josefs-Hospital und nach dem Unfall auch dorthin gebracht worden. Charlotte kannte sie vom Sehen, und bei der Unfallaufnahme hatte sie erfahren, dass die Verletzte Hermine Aufdemsande hieß und etwa einen Kilometer weiter in einem Haus an der Landstraße wohnte.

Erst als draußen schon der Morgen graute, hatte Charlotte sich so weit gefasst, dass sie sich ins Bett legte und in einen leichten Schlaf fiel.

Es war nach neun Uhr, als sie wieder erwachte. Die Haustürklingel schlug an. Gähnend erhob sie sich, schlurfte die Treppe hinunter und öffnete die Tür.

»Hast du noch geschlafen?«, überfiel Isabella sie empört. »Wir wollen doch heute die Äpfel ernten!«

Charlotte hielt sich gähnend die Hand vor die Stirn. »Schrei nicht so, ich habe schreckliche Kopfschmerzen!«

»Oh, gesoffen gestern Abend!«, höhnte Isabella. »Ich hab es ja gleich gesagt! Dieser Ottokar ist einfach nicht der richtige Umgang für dich!«

»Halt den Mund, Isabella, und komm mit in die Küche!«, sagte Charlotte, ihre ganze restliche Energie zusammennehmend. »Wenn Ottokar nicht gewesen wäre, hätte ich nicht gewusst, was ich tun sollte.«

»Wieso?« Isabella folgte ihrer Schwester in die Küche. »Was hat denn dieser Held vollbracht?«

Charlotte war nicht zu Scherzen aufgelegt und fauchte Isabella an: »Verdammt, mäkel nicht immer an Ottokar herum, das mach ich bei deinem Eberhard auch nicht!« Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Setz dich und hör zu oder verschwinde!«

Dann fragte sie: »Auch ’n Kaffee?«

»Du bist aber schlecht gelaunt, dann geh ich doch lieber«, antwortete Isabella patzig.

»Bleib und setzt dich! Ich muss dir was erzählen!«, sagte Charlotte, jetzt wieder ruhiger. »Es ist wichtig!«

»Dann nehm ich doch Kaffee!«

Während der Kaffee durch die Maschine lief, berichtete Charlotte von dem Unfall und schloss mit den Worten: »Ich konnte nicht schlafen, hatte immer dieses Gesicht vor Augen und das viele Blut. Ich bin erst zu Bett gegangen, als es schon hell wurde.«

Isabella hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört. »Das ist ja schrecklich!«, flüsterte sie, als Charlotte geendet hatte.

»Das kannst du laut sagen«, seufzte Charlotte. »Ich hoffe die Frau kommt durch.« Sie sah auf die Uhr. »Gleich ist es halb zehn, da bringen sie immer die Lokalnachrichten«, sagte sie und schaltete das Radio ein.

Es dauerte nur wenige Minuten, dann erscholl die Stimme des Radiosprechers: »Und hier die Lokalnachrichten aus Ostwestfalen: »Auf der Landstraße nahe Oberherzholz wurde im Außenbereich eine weibliche Person bei einem Unfall auf dem Radweg von einem Auto überrollt. Die Frau erlag in den frühen Morgenstunden im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen. Wie es zu dem tragischen Unfall kam, konnte bislang nicht geklärt werden. Sachdienliche Hinweise zum Unfallhergang nimmt die Oberherzholzer Polizeistation entgegen oder auch jede andere Polizeidienststelle.«

»Sie ist tot, ach Gott!«, flüsterte Charlotte und fügte leise hinzu, als vertrüge diese Meldung keine lauten Worte: »Sie wollte mir noch etwas sagen, aber ich habe es nicht verstanden.«

Isabella trank von dem Kaffee, den Charlotte während ihrer Schilderung vor sie hingestellt hatte, und antworte ebenso leise: »Diese Hermine Aufdemsande hat Zwillinge. Der Sohn ist Lehrer an der hiesigen Grundschule, und die Tochter ist ebenfalls Lehrerin. Sie waren bei mir auf dem Gymnasium.«

»Du kennst sie? Warum hast du das nicht gleich gesagt!«

»Kennen ist gut! Weißt du, wann die Zwillinge das Abitur gemacht haben? Das ist über zwanzig Jahre her!«

»Aber du weißt mehr als ich«, sagte Charlotte, der es langsam besser ging. »Lass uns heute Nachmittag beim Apfelpflücken weiter darüber reden. Ich brauch noch etwas Ruhe.«

Isabella erhob sich. »Sollen wir denn wirklich heute die Äpfel ernten?«

»Natürlich. Bei der Arbeit beruhigt sich mein Gemüt am besten!« Charlotte versuchte ein Lächeln, was ihr aber gründlich misslang.

»Wenn du meinst«, sagte Isabella versöhnlich. »Ich back den Kuchen. Leg dich noch ein wenig hin!«

Alois Kottenbaak stand im Stall und half seinem Neffen Matthias beim Füttern der Kühe, weil der Melker heute seinen freien Tag hatte. Kottenbaak war fünfundsiebzig Jahre alt und bei bester gesundheitlicher Verfassung. Den Hof hatte er vor zehn Jahren an seinen Neffen verpachtet, um die landwirtschaftliche Altersrente zu kassieren. Kottenbaak war kinderlos, aber durchaus nicht mittellos.

Der Sohn seines Bruders hatte nach seiner Ausbildung zum Landwirt bei ihm auf dem Hof angefangen. Kottenbaak spielte mit dem Gedanken, dem jungen Mann den Hof zu vererben. Lange waren sie ein gutes Gespann gewesen, aber seit Matthias mit Nora Brecht, einer gelernten Bankkauffrau verheiratet war, gab es immer wieder kleine Diskrepanzen. So hatte Kottenbaak mit dem Testament gezögert.

Er hatte den großen komfortablen Bungalow dem jungen Paar überlassen und wohnte in einem kleinen Anbau mit eigenem Eingang. Er brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Noch dazu wo er nach dem Tod seiner Frau vor vier Jahren eine alte Beziehung wieder aufgenommen hatte.

Hermine Aufdemsande lebte in seinem Haus an der Landstraße, was er vor Jahren für sich und seine Frau hergerichtet hatte. Nun besuchte er Hermine regelmäßig und überlegte, ob er ganz zu ihr ziehen sollte, denn der scharfe Ton, den Nora an den Tag legte, gefiel ihm nicht. Außerdem verband ihn mit Hermine etwas, was viele Jahre zurücklag und dessen Tragweite ihm jetzt erst so richtig bewusst geworden war.

Alois Kottenbaak war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass er den Wagen, der auf dem Hof vorfuhr, nicht gehört hatte. Er schob mit der Heugabel das frisch gemähte Gras, welches Matthias gerade mit dem kleinen Traktor abgekippt hatte, direkt vor die hungrigen Mäuler der Kühe.

Während er so in Gedanken vor sich hin arbeitete, schlug ihm plötzlich jemand auf die Schulter: »So hab ich das gerne. Der Chef bei der Arbeit!« Sein Bruder Klaus stand hinter ihm und sah grinsend in sein überraschtes Gesicht.

»Hast du auf deinem Hof nichts zu tun? Oder was machst du hier?«

»Wollt’ mal mit dir reden!«

»Wenn’s um den Hof geht, brauchst gar nichts sagen, der Matthias kriegt ihn schon noch!«, wehrte Alois ab.

»Na ja, aber du bist fünfundsiebzig. Da wird’s Zeit, dass du reinen Tisch machst!«

»Ha, ich bin noch voll fit. Da hab ich alle Zeit der Welt!«, fuhr Kottenbaak auf, »oder hast du deinen Hof schon an den Lukas abgegeben?«

»Ich bin acht Jahre jünger als du! Und der Lukas ist noch nicht einmal verheiratet.«

»Ich hab dem Matthias doch den Hof verpachtet. Er ist der Chef, und wenn ich die Augen zumach, erbt er ihn!«, sagte Alois.

»Die Nora meint halt, du könntest ihm doch vorher den Hof übergeben. Allein schon wegen der Steuer!«

»Ach, die Nora meint das!«, brummte Alois. »Ich aber nicht!«

»Alwis, du musst das doch verstehen. Die jungen Leute wollen was Eigenes!«

»Sie haben den Bungalow und den Hof, reicht das nicht?« Alois’ gute Laune war wie weggeblasen.

»Ein Pachthof ist kein Eigentum! Dann sind da noch deine Baugrundstücke und die Mietshäuser? Was meinst du, was da an Steuern auf uns zukommt!«, wirkte sein Bruder auf ihn ein. »Davon bin ich schließlich auch betroffen!«

Alois stützte sich auf seine Heugabel und sah seinen Bruder überrascht an. »Du? Wieso?«

»Das weißt du genau! Mutter hat dir den Hof vermacht und gesagt, dass du bei den Grundstücken an dein Geschwister denken sollst!«

»Ha, dass ich nicht lache«, antwortete Alois empört. »Das galt nur für die ersten zwanzig Jahre, die sind längst um. Dir steht heute gar nichts mehr zu! Außerdem ist dein Hof viel größer, und die Grundstücke dürften so nah an Münster wesentlich mehr wert sein als hier!«

»Bei uns ist es noch gar nicht sicher, ob das mal Baugrund wird, aber du hast doch schon etliche Häuser, und für den Grund am Industriegelände hast du auch schon ein Angebot der Stadt vorliegen!«, ereiferte sich sein Bruder.

»Ach, woher weißt du das denn schon wieder?«, fragte Alois.

»Nora hat da so …«, fing Klaus an und wurde gleich barsch unterbrochen: »Ich dachte es mir doch. Die Nora hat mal wieder ihre Finger da drin. Die soll sich in Acht nehmen, sonst war’s das mit dem Erbe!«

»Willst du etwa alles der Kirche vermachen? Ausgerechnet du, wo du nur an Weihnachten im Dom zu sehen bist!« Sein Bruder lachte und wurde wieder versöhnlich. »Mein Gott, Alwis. Wir sind doch deine Familie. Mein Hof könnte auch ’ne kleine Finanzspritze gut brauchen.«

»Wieso dein Hof? Du hast ihn doch schuldenfrei von Vater übernommen!«

»Ja, das schon«, sagte Klaus. »Aber der neue Stall war teuer und die Erträge in den letzten Jahren mehr als mager!«

»Bei dir sind die Erträge immer mager«, regte sich Alois auf, »weil du nicht ordentlich wirtschaften kannst!«

»Hat eben nicht jeder so ’n Glück wie du und so viele Quadratmeter Baugrund rund ums Haus!«, wehrte sich sein Bruder.

»Das liegt nicht am Baugrund«, wurde Alois laut. »Du spielst lieber den feinen Mann, anstatt dich um deinen Hof zu kümmern!«

»Jetzt hör aber auf«, beschwichtigte ihn der Bruder. »Das bisschen Vergnügen wirst du mir doch wohl gönnen!«

»Solange es nicht auf meine Kosten geht, gerne!«

»Reg dich nicht so auf!«, sagte sein Bruder. »Hab ja nur gemeint, dass du an uns denken sollst!«

»Schon gut, schon gut!« Alois winkte ab. »Ich überleg’s mir! Und nun lass mich zufrieden!«

»Ich verlass mich auf dich!«, sagte sein Bruder und setzte dann hinzu: »Oder ist was dran an dem Gerücht?«

»Welches Gerücht?«

»Dass du die Hermine heiraten willst, wird erzählt!«

»Wer sagt das?« Alois Kottenbaak war rot geworden im Gesicht.

»Ihr Schwager, der Franz-Josef!«

»So, so, na dann! Und wenn? Geht dich das was an?«

»Nimm dich in Acht vor der. Das ist eine ganz Schlimme! Wenn du mich fragst: Die ist nur hinter deinem Geld her!«

»Ich frag dich aber nicht!«, blaffte Alois, denn seine Laune war mittlerweile im Keller. Er warf seinem Bruder einen verärgerten Blick zu und widmete sich wieder dem Füttern der Kühe.

Isabella hatte Wort gehalten und gleich ein ganzes Blech mit Apfelkuchen gebacken.

Es war drei Uhr nachmittags, als nacheinander erst Charlotte, dann Ottokar und schließlich Eberhard Looch eintrafen. Ottokar hatte eine besonders lange Leiter mitgebracht und stieg gleich bis in die Spitze des Baumes, während Eberhard ihm den Korb anreichte. Isabella bearbeitete mit ihrem Apfelpflücker die unteren Äste, und Charlotte sammelte die Äpfel vom Boden auf, die während der Ernte herunterfielen. Sie sortierte die gepflückten Früchte, befreite sie von Blättern und Ästen und verteilte sie sauber in den Körben. Sie arbeiteten schweigend, bis sie vier große Körbe gefüllt hatten und Charlotte sagte: »Ich glaube, fürs Erste reicht es. Wir machen nächsten Samstag weiter. Schließlich müssen die Äpfel noch verarbeitet werden.«

Isabella war ihrer Meinung, und die Männer hatten ebenfalls genug Höhenluft geschnuppert und legten die Leiter neben dem Baum auf den Rasen.

Kurz darauf saßen alle in Isabellas Küche und diskutierten bei Kaffee und Kuchen über den nächtlichen Unfall.

»Wie ist der Wagen eigentlich auf den Radweg gekommen?«, fragte Eberhard, für den das Thema völlig neu war.

»Keine Ahnung«, sagte Ottokar. »Es war ja dunkel.«

»Aber es ist dort Platz genug, um mit dem Auto den Radweg entlangzufahren«, erklärte Charlotte. »Daneben ist ein Feld, und ich habe schon beobachtet, dass der Bauer beim Pflügen den Radweg entlangfuhr und darauf wendete.«

»Waren denn Fahrspuren von einem Auto auszumachen?«, erkundigte sich Eberhard.

»Keine Ahnung«, sagte Charlotte. »Die Polizei hat alles untersucht, und überall sind Leute von der Feuerwehr herumgeschwirrt.«

»Ich möchte nicht in deren Haut stecken«, sagte Eberhard. »Es muss schrecklich sein, immer wieder die Toten und Verletzten zu bergen!«

»Aber, Eberhard«, warf Isabella ein, »das ist doch deren Aufgabe!«

»Aufgabe? Es ist ein total schwerer Job! Das geht dir nicht so einfach aus dem Kopf!«, sagte er aufgewühlt. »Da hat man tagelang dran zu knacken.«

»Stimmt, Eberhard. Es ist wirklich eine schwere Arbeit. Ich bewundere Leute, die so was machen. Ich könnte es nicht«, gab ihm Charlotte recht. »Mir würde so was ständig aufs Bett kommen!«

»War auch kein schöner Anblick«, bestätigte Ottokar, »als die Frau da so auf der Straße lag!«

»Habt ihr denn was gesehen? Einen Wagen oder so?«, wollte Isabella wissen.

»Ein total Verrückter ist uns entgegengekommen«, sagte Ottokar. »Der war viel zu schnell, als dass man auch nur die Farbe hätte erkennen können!«

»Und sein Fernlicht hatte er auch an«, ergänzte Charlotte. »Bestimmt war er betrunken!«

»Vielleicht war das der, der die Frau überfahren hat«, mutmaßte Eberhard.

»Möglich«, sagte Charlotte, »ansonsten war er verrückt oder lebensmüde!«

Es war Samstagmittag, als sich Alois Kottenbaak mit dem Rad auf den Weg machte, um Hermine Aufdemsande zu besuchen. Als er am Haus ankam, wirkte alles wie ausgestorben. Alois klingelte mehrmals und ging um den kleinen Anbau herum, in dem Hermine wohnte. Durchs Fenster war niemand zu sehen. Dann klingelte er am Haupthaus, welches Hermines Sohn mit Frau und Kindern bewohnte. Wieder Stille. Nach einer Viertelstunde fuhr er langsam zum Hof zurück. Als er sein Rad neben dem Kuhstall abstellte, kam sein Neffe heraus und rief: »Onkel Alwis kannst du mir mal helfen? Die Rosi kalbt!«

Er sah an sich herunter und nickte. »Ich zieh mich gleich um.« Als er bekleidet mit einer grünen Latzhose in Gummistiefeln wieder in den Stall kam, brauchte er nur noch letzte Hand anlegen, und das Kälbchen war geboren. Er hatte es gerade mit Stroh abgerieben, als Nora in den Stall kam.

»Oh, das Kalb ist ja schon da«, sagte sie. »Da hätt ich mich gar nicht umziehen müssen.« Alois sah ihr die Erleichterung an, denn er wusste, dass Nora jegliche Stallarbeit hasste. Trotzdem ging sie jetzt zu dem Kalb und strich sanft über das noch feuchte Fell: »Ach, ist das süß!«

Die Männer grinsten wortlos, und Alois wollte schon davongehen, als Nora sich von dem Kalb abwandte und rief: »Haste schön gehört, Onkel Alwis? Die Hermine ist tot!«

Er stoppte und wurde blass. »Wer sagt das?«

»Matthias’ Vater hat vorhin angerufen. Sie ist gestern Nacht von einem Auto überfahren worden!«, sagte sie. »Das haben sie im Radio gebracht!«

Alois drehte sich wortlos um und verließ den Stall. Draußen ging er zu den großen Eichen, die mitten auf dem Hof standen, holte sein Handy aus der Tasche und rief bei der Polizeistation an. Als er auflegte, fasste er sich an die Brust. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, und er musste sich am Eichenstamm festhalten, an dem er gerade stand. Es war ihm übel, und ein Schwindel erfasste ihn. Erst nach einigen Minuten hatte er sich so weit erholt, dass er in den Werkzeugschuppen neben der Scheune gehen konnte, um sich zwei passende Hölzer zu suchen und sie zu einem Kreuz zu formen. Im Garten schnitt er eine besonders schöne Rose ab, nahm sein Rad, fuhr zur Straße und folgte dem Radweg, bis er zu der Stelle kam, die der Polizist ihm beschrieben hatte. Da wo ein dunkler Fleck auf dem Asphalt davon zeugte, dass die Verletzte dort gelegen hatte, stellte er direkt neben dem Weg sein Kreuz auf und legte die Rose darauf. Es war schon spät, als er zurückkam. Er wollte niemanden sehen und ging in den Stall zu seinem Pferd. Er lehnte sich an den Braunen, denn erneut spürte er den Schwindel und klammerte sich Halt suchend an der Mähne des Tieres fest. Der Braune wieherte und sprang zur Seite. Alois Kottenbaaks Hände verloren den Halt, und er rutschte an dem warmen Pferdeleib entlang ins Stroh.

Oberkommissar Meier saß in seinem Büro und betrachtete die Unfallfotos vom nächtlichen Unfall am Freitag. Schon der Samstag war den Ermittlungen zum Opfer gefallen, und er hatte noch nicht einmal das Spiel seiner Mannschaft gegen die Konkurrenz aus Münster mitbekommen, die am Samstagnachmittag auf dem Sportplatz mit 2:0 gewonnen hatte. Sein Freund Kurt hatte ihn aber zum Glück über den Spielstand auf dem Laufenden gehalten.

Meier hatte die unangenehme Aufgabe gehabt, die Verwandten der tödlich Verunglückten zu befragen, was für die Ermittlungen allerdings nichts gebracht hatte. Außerdem hatte er für den heutigen Tag Charlotte Kantig hergebeten, da er sich erhoffte, dass ihr vielleicht noch etwas einfallen würde, was zur Klärung beitragen könnte.

Er schaute auf die Uhr, es war gerade acht, und er stellte verärgert fest, dass sein Mitstreiter Kommissar Dietmar Frisch wieder einmal zu spät kam. Er selbst war seit einer Stunde im Büro. Als die Tür aufging und sein Kollege erschien, blaffte er ihn statt einer Begrüßung an: »Wo bleibst du denn? Es ist gleich neun!«

»He?« Frisch starrte ihn an und sah auf seine Uhr. »Zehn nach acht!«

»Du bist zu spät, da brauchst du dich gar nicht so aufzublasen!«, knurrte Meier, während sich Frisch kopfschüttelnd zu seinem Schreibtisch begab.

»Du hast eine Laune!«, knurrte Frisch zurück. »Haste Streit mit deiner Ollen, oder was ist?«

»Was ist? Hier tobt der Bär! Und du kommst hier rein, als wär das hier ein Kaffeekränzchen!« Meier war mittlerweile so in Rage, dass sein Gesicht ganz rot anlief. »Und gleich kommt auch noch die Kantig vorbei. Die kannst du dir vornehmen!«

»Was will die denn hier?« Frisch sah seinen Kollegen erstaunt an.

»Sie und ihr Lover haben doch Freitagnacht die Hermine gefunden!«, füllte Meier die Wissenslücken seines Kollegen auf.

»Hermine? Meinst du die Krankenschwester, die Mutter von dem Lehrer? Was ist mit der?«, fragte Frisch verständnislos und kam zu Meier herüber.

»Das kam doch durchs Radio! Hast du das nicht gehört?«, fragte Meier genervt. Am liebsten hätte er Frisch geschüttelt, damit dessen Unschuldsausdruck endlich verschwand.

»Ich war doch am Wochenende in Berlin, das weißt du doch. Bin erst heute Nacht wiedergekommen!«, erklärte Frisch.

»Ach stimmt, das hatte ich ganz vergessen«, sagte Meier, schlug sich mit der Hand vor die Stirn und reichte Frisch ein Schreiben, welches er gerade ausgedruckt hatte. »Dann lies dir erst mal den Bericht durch.«

Während sein Kollege das Schreiben studierte, setzte Meier die Kaffeemaschine in Gang. »Und was sagst du?«, fragte er ungeduldig, als Frisch sich nach einer Minute noch nicht geäußert hatte.

»Na ja«, murmelte Frisch nachdenklich. »Das ist natürlich schon merkwürdig!«

»Merkwürdig? Wieso merkwürdig?«

»Die Frau war doch auf dem Radweg, was hat der Autofahrer denn da gemacht?«, fragte Frisch.

»Das möchte ich auch gern wissen!«, blaffte Meier.

»Ich bin gleich am Samstagmorgen noch mal hingefahren. Aber auf dem Gras konnte man zwar sehen, dass da einer auf die Straße gefahren ist, aber für ’n Reifenabdruck war das zu wenig. Das Rad wird noch auf Farbspuren untersucht.«

»Wo ist denn der Wagen auf den Radweg aufgefahren?«, fragte Dietmar Frisch und überflog noch einmal den Bericht.

»Bin ich Hellseher? Da sah man gar nichts. Ich glaube fast, der Fahrer hat den Radweg mit der Straße verwechselt!« Meier goss sich Kaffee ein und trank in hastigen Schlucken.

»Dann muss der Typ ja vollkommen blau gewesen sein! Wer verwechselt denn den Radweg mit der Straße?« Frisch lachte, holte sich seine Brotdose aus der Aktentasche und setzte fragend hinzu: »Haste noch ’nen Kaffee für mich?«

»Was anderes fällt dir wohl nicht ein?«, brüllte Meier. »Koch dir gefälligst selbst deinen Kaffee!« Demonstrativ schüttete er sich den Rest in seine Tasse und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

Frisch stand grinsend auf und ging an die Maschine, doch im selben Moment öffnete sich die Tür und Charlotte Kantig trat ein. »Guten Morgen, die Herren!«

»Ah, Frau Kantig, der Herr Frisch kümmert sich um Sie«, sagte Meier und grinste Frisch schadenfroh an, dann erhob er sich und fuhr fort: »Ich muss leider noch einmal weg!«

Es war fast Mittag, als Charlotte die Polizeistation verließ. Kommissar Frisch hatte sich von ihr den ganzen Hergang vom Freitagabend noch einmal schildern lassen und es langsam und konzentriert in seine Maschine getippt.

Manche Sätze musste sie mehrmals wiederholen, denn der Polizist hatte mit seinem Zweifingersuchsystem beim Tippen die Geschwindigkeit einer übermüdeten Schnecke. Da sie aber keine weiteren Termine an diesem Morgen hatte, wartete sie trotzdem mit wachsender Ungeduld, bis Frisch das Protokoll ausgedruckt hatte, überflog es und unterschrieb.

Als sie endlich draußen war, atmete sie befreit die frische Luft ein und freute sich über den sonnigen Tag. Sie hatte ihren Wagen etwas entfernt von der Polizeistation vor einem Supermarkt abgestellt, weil sie noch einige Kleinigkeiten besorgen wollte. Als sie später den Einkauf verstaut hatte und in ihren Wagen einstieg, sah sie den Lehrer Johannes Aufdemsande auf dem Weg zum Pfarramt. Sicher wollte er mit dem Pfarrer noch letzte Details zur Beerdigung seiner Mutter besprechen.

Charlotte startete und fuhr davon. Noch immer sah sie das Gesicht der Verletzten vor sich und zermarterte sich den Kopf, was die Frau ihr hatte sagen wollen.

Zu Hause angekommen widmete sich Charlotte zuerst den Äpfeln, die noch vom Samstag unberührt im Korb standen. Sie schichtete die einwandfreien in eine flache Apfelkiste und brachte sie in den Keller. Der Raum dort unten war kühl, und die Äpfel blieben dort bis ins Frühjahr hinein frisch und saftig.

Wieder in der Küche, schälte sie die restlichen Äpfel, verarbeitete die meisten zu Apfelmus und ließ einige für einen Kuchen zurück.

Das Apfelmus war gerade fertig, und sie füllte es in Gläser, als es klingelte und Isabella hereinkam.

»Ah, riecht das lecker nach Äpfeln«, rief sie und kam gleich zum Wesentlichen: »Wie war es bei Wachtmeister Meier?«

Charlotte grinste. »Lass das den Meier bloß nicht hören. Er legt Wert auf die Bezeichnung Polizeioberkommissar!«, sagte sie. »Er hat sich verdrückt und diesem Kommissar Frisch das Feld überlassen!«

»War Frisch denn nachts auch da?«

»Nein. Deshalb musste ich alles noch einmal erzählen. Es hat ewig gedauert, bis er das getippt hatte!«, beschwerte sich Charlotte. »Und nun habe ich schon wieder überlegt, was mir Frau Aufdemsande sagen wollte.«

»Das wirst du wohl nie mehr erfahren«, stellte Isabella fest. »Aber wir könnten noch einmal rausfahren und uns die Unfallstelle ansehen. Vielleicht fällt dir dann noch etwas ein!«

»Genau das habe ich vor!«, sagte Charlotte. »Komm doch mit, ich bin grad mit den Äpfeln fertig.«

Die Sonne schien, und es war angenehm warm, als Charlotte und Isabella an der Unfallstelle eintrafen. Sie waren mit den Rädern gekommen.

Neben dem Radweg, dort wo ein Fleck noch von der Blutlache zeugte, in der die Frau gelegen hatte, war ein kleines Holzkreuz aufgestellt, und davor lag eine rote Rose.

»Das haben sicher die Kinder aufgestellt«, sagte Isabella und zeigte auf das Kreuz.

Charlotte konnte gar nicht hinsehen, denn die Erinnerung traf sie wie ein Schlag. »Lass uns mal nachsehen, wo genau der Wagen auf den Radweg gefahren ist«, sagte sie und schob ihr Rad schnell an dem Kreuz vorbei.

»Hier auf dem Gras sieht man noch, dass dort jemand langgefahren ist«, sagte Isabella und zeigte auf eine Rille im Grasstreifen zwischen Feld und Radweg. »Lass uns dieser Spur folgen. Irgendwo muss sie auf die Straße führen.«

Nach etwas fünfzig Metern stiegen sie wieder auf die Räder und fuhren langsam weiter. »Da muss einer den ganzen Weg über den Radweg gefahren sein!«, sagte Isabella kopfschüttelnd.

Charlotte war vor ihr und stoppte plötzlich. »Hier muss der Wagen gestanden haben!« Sie sprang vom Rad und ging auf und ab. Dann bückte sie sich und hielt eine Zigarettenkippe hoch. »Der Fahrer war ein Raucher.«

Isabella hatte ebenfalls ihr Rad abgestellt und betrachtete den Stummel. »Den kann jeder andere Autofahrer aus dem Fenster geworfen haben«, sagte sie.

»Und warum liegen denn dann hier direkt neben dem Feld noch drei weitere Kippen?«, fragte Charlotte. »Außerdem endet hier die Spur.«

Isabella zuckte die Schultern. »Na ja. Aber sicher ist das nicht.«

»Trotzdem, ich habe extra eine Plastiktüte mitgebracht, da kommen die Kippen rein. Die bringe ich morgen zur Polizei!«

»Da wird sich unser Meierlein aber freuen«, sagte Isabella spöttisch. »Hat der Wachtmeister eigentlich Abdrücke von den Reifenspuren machen lassen?«

»Nein, Frisch hat gesagt, das ist auf der Graskante nicht möglich. Der Abdruck wird zu ungenau!«, erklärte Charlotte.

Isabella sah zur Uhr. »Lass uns zurückfahren. Die Spur ist ab hier nicht mehr zu sehen, und wenn es da nicht einmal Abdrücke gibt …« Sie winkte ab. »Am besten wir halten Augen und Ohren offen, vielleicht kommt doch noch irgendwas ans Tageslicht.«

Sie stiegen auf und fuhren langsam wieder zurück.

»Mittwoch ist die Beerdigung«, sagte Charlotte, als sie an dem Kreuz vorbeikamen. »Gehst du hin?«

»Nein. Ich kenne die Frau doch kaum!« Isabella trat heftig in die Kette. »Ich mache heute Abend noch Nordic Walking. Willst du mit?«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich muss noch in den Garten.«

In der Polizeistation war nach der Beerdigung von Hermine Aufdemsande wieder Ruhe eingekehrt. Oberkommissar Meier hatte sich noch einmal alle Berichte und Zeugenaussagen vorgenommen und überlegte, ob der von Charlotte Kantig und Ottokar Breit beschriebene Fahrer, der wohl deutlich zu schnell gefahren war, als Täter infrage kam.

Als er seinen Kollegen darauf ansprach, schüttelte dieser den Kopf. »Es gibt so viele Autofahrer, die nachts zu schnell fahren, weil sie glauben, dass es niemand merkt, da würde ich mich nicht dran festhalten!«

»Dann werden wir den Täter wohl nie finden!«, war Meier sicher. »Die Fahndung läuft auf jeden Fall!«

»Was nützt denn eine Fahndung, wenn du noch nicht einmal weißt, was der Wagen für eine Farbe hatte, vom Typ oder der Autonummer ganz zu schweigen!«, sagte Frisch zweifelnd.

»Nützen tut es gar nichts, aber vielleicht kommt doch noch jemand, der was gesehen hat«, sagte Meier und sah auf die Uhr. Er pfiff leise vor sich hin und murmelte: »Wochenende!« Dann stand er auf, sortierte die Blätter auf seinem Schreibtisch ordentlich in den Ablagekorb und verschwand im WC. Als er wieder zum Vorschein kam, hatte Frisch seine Jacke vom Bügel genommen und stand schon startklar vor seinem Schreibtisch.

»Wir haben noch zehn Minuten«, monierte Meier, als plötzlich die Tür aufging und Charlotte Kantig eintrat. »Oh, haben Sie schon Feierabend?«, fragte sie statt einer Begrüßung.

»In neun Minuten«, erklärte Frisch, während Meier unwirsch den Kopf schüttelte und fragte: »Was gibt es denn, Frau Kantig?«

Charlotte legte eine Plastiktüte auf den Tresen. »Das habe ich an der Stelle gefunden, an der das Auto stand, welches auf dem Radweg den Unfall verursacht hat.«

»Welches Auto? Da stand kein Auto!«, sagte Meier. »Oder haben Sie in der Nacht dort eines gesehen?«

»Nein. Gesehen habe ich es auch nicht«, erklärte Charlotte. »Meine Schwester und ich sind den Radweg entlanggefahren, so weit wie die Grasnarbe eingedrückt war. Dann war plötzlich eine Stelle, an der ein Wagen gestanden haben muss. Dort lagen mehrere Zigarettenkippen.«

Meier fasste die Tüte mit spitzen Fingern an und begutachtete das Mitbringsel.

»Also, unsere Leute haben alles abgesucht. Da war nichts. Wo soll der Wagen denn gestanden haben?«

»So etwa einen halben Kilometer von der Unfallstelle entfernt«, sagte Charlotte und holte einen Bogen Papier aus der Tasche. »Hier habe ich die Stelle aufgezeichnet.«

Meier sah auf seine Uhr. »Ich werde das prüfen«, sagte er. »War das alles, oder ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«

Charlotte schüttelte den Kopf.

Meier schnappte sich die Tüte und die Zeichnung und legte beides in den Ablagekorb auf seinem Schreibtisch. »Wir kümmern uns drum, Frau Kantig. Schönes Wochenende!«

Mit einem freundlichen »Gleichfalls, die Herren!« verabschiedete sich die Lehrerin. Kaum war sie draußen, sagte Frisch: »Ob da wirklich ein Wagen war?«

Meier zuckte die Schultern. »Nächste Woche ist auch noch Zeit«, sagte er, holte seine Jacke, stellte das Telefon auf die Hauptstelle um, und beide Beamten verließen die Polizeistation.