KulturJongleure - Christian Callo - E-Book

KulturJongleure E-Book

Christian Callo

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Beschreibung

Spannend erzählt wird das abenteuerliche Leben des kosmopolitischen Ehepaars Pierre und Erato Mavrogordato in turbulenten Zeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als "KulturJongleure" zwischen unterschiedlichen Welten beginnt ihre Reise in Odessa und führt über Berlin nach Römhild. Pierre Mavrogordato war ein renommierter Archäologe und Kunsthändler, seine Frau Erato eine bekannte Künstlerin. Beide sind Ehrenbürger der Stadt Römhild in Thüringen.

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Seitenzahl: 513

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Inhalt

Impressum 2

Vorwort 3

Am Strand von Coney Island 10

Odessa 15

Igors Reise 161

Berlin 240

Athen 279

London 306

Römhild 323

Christian Callo 426

Impressum

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.

© 2022 united p. c. Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-7103-5582-0

ISBN e-book: 978-3-7103-5622-3

Umschlagfoto: Christian Callo

Umschlaggestaltung, Layout & Satz:united p. c. Verlag

Innenabbildungen: Christian Callo

www.united-pc.eu

Vorwort

Persönlicher Bezug

Am 29. März 1948 verstarben meine Großtante Erato und ihr Mann Pierre Mavrogordato gleichzeitig in ihrem Haus in der Nähe von Römhild in Thüringen. Beide stammten aus der Umgebung von Odessa und sind dort 1870/71 geboren. Sie waren Kinder griechischer Emigranten aus Chios und Mytilini.

Pierre war Experte und Sammler antiker Kunst, er hatte auch großes Interesse an der Mythologie und Philosophie. Seine Frau Erato stellte als begnadete Künstlerin Figuren her und machte sich zudem als Sammlerin seltener Briefmarken einen Namen. Zudem soll sie eine hervorragende Pianistin gewesen sein.

Der Lebenslauf der beiden ist von der Gemeinde Römhild sehr detailliert im Museum in der Glücksburg in mehreren Räumen dokumentiert und für die Öffentlichkeit zugänglich. Dort sind neben antiken Fundstücken aus dem Besitz der Familie auch Figuren von Eratos künstlerischem Schaffen ausgestellt.

Der bewegte Lebensweg der Mavrogordatos, der sicher auch als eine Art ‚Fluchtlinie‘ bezeichnet werden kann, führte von Odessa nach Berlin und Römhild, wo sie schließlich auf dem Friedhof hinter der Kirche begraben sind. Pierre Mavrogordato ist Ehrenbürger der Stadt Römhild.

Ab 1933 lebte das Ehepaar fest auf ihrem Anwesen zwischen den Gleichbergen. Sie nannten das Stück Land ‚Pierato‘, eine Zusammenlegung ihrer Namen, und es war ein Teil der dortigen ‚Waldsiedlung‘.

Fiktion auf der Grundlage von Tatsachen

Der Text beruht auf Tatsachen, die aus einer Reihe von Dokumenten, Bildern und dazugehörigen Erzählungen stammen. Der größere Teil aber ist Fiktion. Insbesondere ist die Figur von Igor, dem Erzähler und eigentlichen Helden des Romans, erfunden, um besser aufzeigen zu können, wie es zu den jeweiligen Charakteren kam, ebenso erfunden ist Igors Mutter, Lilly, sowie weitere Personen, wie etwa Pierres Schwester, Elara, und die Geigerin, Ilona, die es nicht gab. Von der Familie wahrscheinlich um 1910 herum adoptiert war eine gewisse Mousia, die dann in Athen einen Buchladen besaß.

Um Verwechslungen gleichnamiger Personen zu vermeiden, mussten auch einige Personennamen und deren Schreibweise geändert bzw. modifiziert werden. Ferner wurden weitere Reiseziele hinzugefügt, um ein besseres Verständnis der Entwicklung von Haltungen und Einstellungen sowie individuellen Handlungsmotiven der zentralen Figuren zu ermöglichen.

Quellen

Geheimrat Pierre (Piotr Amvrosievich) Mavrogordato war eine höchst schillernde Persönlichkeit. Das untermauert vor allem der ausführliche und hervorragend belegte Bericht von Boris Wilnitsky, Fine Arts, Wien, der nachweist, dass Pierre Mavrogordato das archäologische Geschäft perfekt beherrschte. In der Nähe von Odessa besaß er ein Grundstück, auf dem er selbst ausgraben konnte. Zudem war er in Pompei und auf der Krim tätig. Er kaufte und verkaufte Antiquitäten aus aller Welt, aus Asien, dem Orient, aus Indien und Ägypten. Hinzu kommt, dass Mavrogordato wohl insbesondere bei der Rekonstruktion von Funden sehr geschickt war. Insgesamt war er und das beweist gerade die Zeit in Römhild ein Art Drahtseilkünstler, ein Jongleur zwischen den Kulturen, der es fertig brachte, vor allem die jüdischen Wurzeln seiner Frau Erato und seine eigenen Wurzeln geheim halten zu können. Seine Frau war eine geborene Latry, deren Familie aus Mytilini stammte, und sie war seine Cousine.

Anschaulich dargestellt sind Leben und Wirken der Mavrogordatos in den Ausstellungsräumen des Museums in der Glücksburg in Römhild. Dazu hat Ralf-Rainer König, selbst aus Römhild, in seinem Beitrag zur Ortschronik ‚Die Waldhaussiedlung im Sattel der Gleichberge‘ (2019) eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der Siedlung veröffentlicht. Ebenso gibt es auch eine, von Almut von Zander verfasste, leider unveröffentlichte Textund Bild-Dokumentation über das gesellschaftliche Leben in Pierato.

Reizvoll in den Roman einzubauen war natürlich besonders die, bei Boris Wiltney behandelte, spektakuläre und wohl auch hollywoodreife Geschichte der Tiara, jenes legendären goldenen Helms des skythischen Königs, der angeblich bei Odessa gefunden worden sein soll und tatsächlich an den Louvre verkauft wurde, sich aber dann als Fälschung herausstellte, hinter der Pierre Mavrogordato als Drahtzieher vermutet wird. Trotz dieser nicht wirklich nachweisbaren ‚Gaunereien‘ aber habe ich dann doch den Eindruck gewonnen, das sich das Thema ‚Fälschung‘ bei Pierre zwar durch sein Leben zog, es aber nicht raffsüchtig betrieben wurde, sondern eher wie eine Art Spiel unter Archäologen im Geheimen zu sehen ist, das aufzeigt, wie leicht sich Menschen täuschen lassen, wenn sie einem perfekt gemachtem Objekt ihrer Begierde gegenüberstehen.

In der Nazizeit nutzte der Familie dieses Talent mit Sicherheit. Allerdings war es auch so, dass alle letztendlich zutiefst über das erschrocken sind, was sie wohl nicht recht glauben, für wahr halten oder zu Ende denken wollten.

Nun, Spekulation hin oder her, die Familie war in jedem Fall zutiefst kosmopolitisch und in gewisser Weise auch heldenhaft. Pierre war inmitten turbulenter Zeiten ein geschickter Händler von Antikem, dessen eigentliches Metier der Anund Verkauf von Kunst war, und Erato war die Frau ganz auf seiner Seite.

Mavrogordatos gesamtes Schaffen aber ist am genauesten in der Jahrbuchreihe ‚Pierre Mavrogordato und seine Antikensammlung‘ dokumentiert, aus der auch umfangreiche Forschungsarbeiten zum Thema ‚Völkerwanderung‘ hervorgegangen sind.

Grundlage

Der Roman basiert zwar auf historischen Fakten, aber da es für Vieles zwischen den Zeilen keine Belege gibt, ist die Geschichte weitgehend Fiktion, das heißt, es wäre rein zufällig, wenn alles tatsächlich so geschehen ist.

Die Namen der Orte wurden bewusst belassen, ebenso die des ganz engen Kreises der Familie. Ich habe mir das erlaubt, weil ich selbst ein Nachkomme bin. Einige Figuren und deren Namen aber sind aus dramaturgischen Gründen erfunden, ebenso die Beschreibung der Charaktere, ihre Haltungen, die Handlungsmotive der Agierenden und die jeweiligen Situationen. Vor allem aber ist es die Figur von Igor, durch die es für mich wesentlich leichter war, mir genauer vorzustellen zukönnen, wie die Beziehung zwischen Pierre und Erato sowie die zu anderen Personen gewesen sein könnte. Darunter fällt auch der kulturelle Kontakt zu fernen Ländern und die Antwort auf die Frage, wie es denn gelingen konnte, in schwierigen Zeiten zu heldenhaften Jongleuren zu werden.

Aber wie gesagt, genaueres wissen wir nicht. Wir können uns auch nur ansatzweise eine Vorstellung über den konkreten Lebensweg der Familie machen, wir können nur ersatzweise ein Bild entwerfen, wie es beispielhaft gewesen sein könnte. Die Wahrheit jedenfalls liegt für immer in Römhild unter der Erde. Als Zeitzeugen des letzten Teils der Geschichte übrig sind neben Frau von Zander, Herrn König, die in Pierato aufgewachsen sind, nur noch die Söhne der ersten Frau meines Vaters in Amerika sowie die Söhne der Schwester meines Vaters in der Schweiz.

Recherchen:

Boris Wilnitsky, Fine Arts, Wien (Stichwort: Mavrogordato)

Ralf-Rainer König, Chronik. Die Waldhaussiedlung im Sattel der Gleichberge, Ortschronik von Römhild, 1.4.2019

Almut von Zander, Spurensuche. Die Waldkolonie bei Römhild 1910 1948. Unveröffentlichte Bilddokumentation, mit Schilderungen des bunten Lebens in der Waldkolonie und persönlichen Eindrücken

Glücksburg Museum, Dokumente und Sammlung in den Ausstellungsräumen der Glücksburg Römhild

Forschung:

Günther Schörner: Von Odessa nach Römhild. Pierre Mavrogordato und seine Antikensammlung. In: Angelika Geyer (Hrsg.): 1864-2006. 160 Jahre Archäologisches Museum der Universität Jena. Thüringer Sammlungen im Kontext internationaler Netzwerke. Kolloquiumsband der Tagung Jena am 28.10.2006. Logos Verlag Berlin, 2008, S. 118-130.

Günther Schörner, Hadwiga Schörner: Pierre Mavrogordato und seine Antikensammlung: Der Bestand in Römhild (Teil 1).

In: Jahrbuch des Hennebergisch-fränkischen Geschichtsvereins 25, 2010, S. 181-250.

Günther Schörner, Hadwiga Schörner, Jan Bemmann: Pierre Mavrogordato und seine Antikensammlung: Der Bestand in Römhild (Teil 2). In: Jahrbuch des Hennebergisch Fränkischen Geschichtsvereins 27, 2012, 193–263.

Günther Schörner, Hadwiga Schörner, Jan Bemmann, Von der Krim nach Thüringen. Das Museum Schloss Glücksburg im beschaulichen Römhild im Südwesten Thüringens birgt die ganz erstaunliche Antikensammlung des Pierre Mavrogordato, Antike Welt 41, 2010, H.1, 84-87.

Mein besonderer Dank gilt:

Herrn König (in Römhild aufgewachsen), der mich durch die Waldsiedlung geführt hat, Frau von Zander (Zeitzeugin und ebenso dort aufgewachsen), die mir ihre bebilderten Tagebuchaufzeichnungen zur Verfügung gestellt hat, der Verwaltung des Museums in der Glücksburg in Römhild, insbesondere dem Bürgermeister von Römhild, Herrn Heiko Bartholomäus und Frau Sabine Leib-Mänz, die mich durch das Museum geführt haben, dem Alten Museum Berlin, Herrn Oliver Vollert und Frau Dr. Agnes Schwarzmaier für deren Informationen sowie dem Direktor des griechischen Kulturinstituts in Odessa, Herrn Paradisopoulos, der mir in Odessa bei den Recherchen zum Stammbaum behilflich war, ebenso meiner Frau Cornelia Giesemann für die Unterstützung und Begleitung des Projekts.­

Am Strand von Coney Island

Igor hält die Glasmurmel gegen das Licht der aufgehenden Sonne. In den Hinterhöfen von Odessa war sie damals die begehrteste Trophäe. Keine andere konnte selbst in der Nacht derart geheimnisvoll leuchten und überraschende Geschichten erzählen. Jetzt scheint ihre Strahlkraft ermüdet zu sein. Nur noch wenige ineinanderfließende Farben dringen nach draußen.

Das Ende des Krieges liegt drei Jahre zurück. Doch der Schrecken lähmt noch die Glieder, auch wenn der Balsam der Zeit die Flügel der Seele auf Hoffnungsvolleres vorbereitet. Der Blick in die Vergangenheit zeigt mit unglaublicher Deutlichkeit die bewältigten Balanceakte in den verschiedenen Momenten des Schicksals.

Unglaublich, aber wahr, zu seinem 75. Geburtstag ist er, an der Freiheitsstatue vorbei, dort gelandet, wohin er schon als Kind immer reisen wollte, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wie lange diesmal der Aufenthalt sein wird, steht in den Sternen. Noch ist er Tourist.

Nur ein paar Sachen hat er mitgenommen, neben wenigen Kleidungsstücken, dem Amulett seiner Mutter, Erinnerungsfotos mit dem Vater und seinen Pass mit seinen Daten: Igor Borinski, geb. 1872 in Odessa, evangelisch, Vater Seemann aus Odessa, Mutter aus Hamburg. Dann gibt es noch ein Entlastungs-Zeugnis mit der Unterschrift des Vorgesetzten der Denazifizierungskommission, ohne das er nicht hätte einreisen können, sowie drei Notizbücher, mit vielen ungeordneten Gedanken, womit er sich im Laufe seines Lebens beschäftigt hatte. Aber er besitzt noch etwas, das ihn in Zukunft eine Zeitlang über Wasser halten könnte: eine Steindose mit Schraubdeckel aus dem alten China, die er geschenkt bekommen hat. In ihr befinden sich die Reste einer kleinen, antiken Terrakotta-Figur, einer sehr alten Darstellung des lüsternen Satyrs, dem dämonischen Begleiter von Dionysos. Auch diese Dinge sind Unikate und darum wertvoll und lassen sich gewiss lukrativ verkaufen. Der Einstieg in die ‚Neue Welt‘ war leichter als erwartet. Erstaunlicherweise hat die Suche nach einem Zimmer nicht lange gedauert, ebenso wie die nach einem schönen Café, in dem sich entspannt frühstücken lässt, natürlich eines direkt am Meeressaum von Litte Odessa. Doch das ist nicht der eigentliche Grund. Er selbst ist in Odessa geboren und hier umgibt ihn etwas Heimat. Nebenan liegt zwar Manhattan, aber das Erstaunlichste ist, in Little Odessa ist kein englisches Wort zu lesen, geschweige denn eines zu hören, bis auf Coca-Cola und Kaugummi. In den Läden gibt es nur russische Waren, und mit den Speisekarten ist es ähnlich. Auch die Zeitungen im Café sind russisch.

Vom Café aus lässt sich durch die großen Fensterscheiben auf einen schier unendlich sich am Strand entlangaalenden Holzsteg nach Osten schauen. Ein milder Herbsttag steht bevor. Die Sonne ist gerade aufgegangen, die Luft klar und es ist windstill. Die Konturen der Küste zum Atlantik in Richtung ‚alte Welt‘ sind besonders scharf umrissen, als hätte sie jemand mit feiner Feder gezeichnet. Die Wolken am Horizont im Osten verformen sich und man hat den Eindruck, als würden sie zu sprechen beginnen und die ungeheuerlichen Geschichten seines Lebens zu ihm herübertragen. Ganz intensiv betrachtet er das Geschehen in der Ferne, und dann geschieht es, dass noch einmal alles vorüberzieht, was ihn bewegt hat, wie alles war, was war.

Würde ihn jemand fragen, warum er sich um diese Erinnerungen bemüht, würde er sagen, das Vergangene sei trotz seiner Fülle an Unverständlichem reich an wunderbaren Momenten und Begegnungen gewesen, die es wert sind, sich genau zu erinnern und die über ein Leben hinausreichen. Und wenn er sich wieder auf Einzelheiten im Nachhinein einlässt, so kommt es ihm vor, als würde er auf eine Bühne schauen und die Figuren leibhaftig sehen und die Orte, und all das, was sich dort ereignet hat, und dann wäre es so, dass er noch einmal stückweise das Leben leben könne und das Gefühl von damals wieder empfinden könne, weil die Erinnerung eine wunderbare Einrichtung der menschlichen Natur ist, die den Stoff für eine Erlösung liefert.

Nach diesen Gedanken beißt er in den Fladen mit Marmelade und saurer Sahne. Wunderbar. Vor ihm steht ein großer bunter Strauß mit künstlichen Blumen auf dem Tisch.

Er schaut um sich. Im Moment ist er noch Mutterseelen allein. Doch das wird sich schnell ändern. Das Lokal hat schon sehr früh geöffnet und da gibt es bereits die berühmt-berüchtigte und erstaunlich mächtige Waffel mit Sahne und Himbeermarmelade zum russischen Tee aus einem blankgeputzten, silbernen Samowar, der auch ein Ofen sein könnte. Der dicke Koch winkt ihm wie ein König aus seiner Kutsche zu, sobald er ihn entdeckt und als seinen ersten Gast in seinem Reich willkommen heißt.

New York ist eine verrückte Stadt, die alles bietet, was sich Menschen ausdenken, eine Stadt, die keinen Schlaf kennt. Wenige Tage zuvor ist er an einem Nachmittag durch Chinatown geschlendert und kaufte in einem der Läden, ein Kästchen, das er entdeckte, mit der Aufschrift Memory-Box, vielleicht 20 mal 20 cm mit kleinen Flügeltüren, die aufgeklappt eine winzige Bühne freigeben. Er stellt die kleine Bühne auf den Tisch und sieht, dass sich an der hinteren Seite Fotos anbringen lassen und davor könnten kleine Marionettenfiguren bewegt werden. Er hat eine solche Marionettenbühne in Groß schon einmal in Berlin bei einem Chinesen gesehen, das war vor dem 2. Weltkrieg. Dort wurde das ‚Märchen vom schnöden Mammon‘ gespielt, so hieß es. Ein Thema, das nie endet, denkt er.

Dann schaut er darüber hinweg aufs Meer und entdeckt auf dem Sandstreifen zwei Personen eng nebeneinanderstehen. Sie wirken verloren und bei genauerem Hinsehen erschrickt er sogar mit einem Mal. Ihrer Gestalt nach könnten es aus der Ferne Pierre und Erato sein, ebenfalls aus Odessa, die er lange begleitet hat und deren Lebensreise vor zwei Jahren in Deutschland zu Ende gegangen ist.

„Wie wunderbar“, rufen die Zwei über die Bühne hinweg ihm zu, „dass wir es geschafft haben, dem arischen Volksleib entschlüpft zu sein, der uns einäschern wollte. Was für ein Glück! Aber was ist mit dir? Du kommst uns verloren vor und mehr als nachdenklich.“

„Es geht mir gut“, sagt er und klappt die Türchen der Bühne wieder zu und verstaut sie in seiner Tasche. Dann schließt er kurz die Augen und spürt, wie sehr er die alte Zeit vermisst. Er könnte wieder ein wenig mit anderen Gästen plaudern. Doch nach einem Smalltalk ist ihm jetzt nicht. Bei den Gesprächen muss man auch aufpassen, dass sie einen nicht zu sehr ablenken, und dadurch im Laufe der Zeit die eigene Geschichte verblasst. Denn die Gefahr ist groß, vor allem in dieser Stadt, die die Beurteilung von Tatsachen und deren Hintergründe durch Banalitäten meisterlich zu verdrängen vermag.

Vor dem Lokal befinden sich am Strand windgeschützt bequeme Holzliegen. Ein guter Platz für den Start in einen inneren Film. Er bezahlt und geht nach draußen zum nächstgelegenen Stuhl, in den er sich niederlässt. Danach knöpft er seinen Mantel ganz zu, zieht den Schal hoch und die Mütze fester um die Stirn und lehnt den Kopf nach hinten. Es ist merkwürdig, in dem Film kommt er selbst vor, aber erzählt wird die Geschichte von einem anderen.

Bild vom Autor

Odessa

1

Die Begegnung sah nach reinem Zufall aus. Doch was dann kam, war Fügung.

Pierre wuchs in Odessa mehrsprachig auf, russisch, französisch und griechisch. „Jetzt ist es höchste Zeit, noch etwas Deutsch zu lernen. Deutsch ist die Sprache der Zukunft.“ So sein Vater Ambrosius Mavrogordato. Erst vor kurzem wurde ihm eine junge Frau aus Hamburg empfohlen. Ihr Mann war bei einem Schiffsunglück im indischen Ozean umgekommen. Sie ist alleinerziehend, und was das finanziell heißt, muss nicht sonders erwähnt werden. Ihre Anfrage, ob sie zusammen mit ihrem Sohn zum Vorstellungsgespräch kommen dürfe, kam Ambrosius sehr gelegen.

Wir haben das Jahr 1892, an einem Samstag im Mai, im Haus der Mavrogordatos, im Gartenzimmer, wie man es nannte, mit viel Grün all überall, ein schöner Ort für eine Begegnung, abgesehen vom Wetter, das frühlingsmäßig nicht recht vorankommen will. Es regnet nämlich schon seit einer Stunde sintflutartig. Sturzbäche fallen in kurzen Abständen ohne Hindernisse aus dem Bauch dunkler Wolken. Selbst die nahen Bäume im Freien sind nicht mehr zu sehen.

Lilly steht völlig durchnässt mit ihrem Sohn am Eingang. Sie wird von einer Angestellten empfangen und vor das Zimmer des Hausherrn geführt. Dort steht die Tür offen, und sie sieht Herrn Mavrogordato hinter einem großen Schreibtisch.

„Lilly Borinski“, sagt sie zögerlich mit leicht nach unten geneigter Kopfhaltung. „Ich bin die Deutschlehrerin. Und das ist mein Sohn, Igor. Ich habe auch schon gefragt, ob er mitkommen dürfe.“

„Richtig. Kommen Sie doch bitte herein“, sagt Ambrosius.

„Sie sprechen gut russisch.“ Neben ihm sitzt mehr oder weniger gelangweilt sein Sohn. „Das ist mein Sohn, Pierre, um den es geht.“ Er deutet auf ihn, aber Pierre wirft nur einen versteckten Blick zu Igor, und der zu ihm.

Wie sich das anhört, „um den es geht“?

Die beiden sind in etwa gleich alt, eine perfekte Voraussetzung also, sich gegenseitig anzufreunden.

Was ist das denn für einer?, denken die Jungen gleichzeitig. Könnte ich mit dem und er mit mir? Wir spielen an verschiedenen Plätzen. In maroden Hinterhöfen neben dem Müll und auf einem edlen Gelände mit Rasen. Eine schwierige Ausgangslage.

„Aber legen Sie doch bitte Ihren Mantel ab, Frau Borinski“, sagt Ambrosius. Lilly folgt dem, nimmt auch den Hut vom Kopf und gibt beides der Frau hinter ihr, einer Angestellten mit Haube und weißer Schürze.

„Keine Sorge, die Pfützen am Boden sind schnell beseitigt.“ Fast hätte sich Lilly verpflichtet gefühlt, ihr beim Putzen beizustehen. Doch sie und ihr Sohn waren Gäste, und so etwas anzubieten wäre nicht angemessen.

Der Herr scheint nett zu sein. Er hat ein ernstes, aber offenes Gesicht und ein freundliches Strahlen in den Augen. Und sein Sohn? Der schaut ziemlich skeptisch. Hoffentlich ist er nicht zu verzogen, wie das in solchen Gesellschaften oft üblich ist. Frech und Marotten ohne Ende. Das kennt man. Igor ist das nicht. Das Leben hat ihn geformt. Er hat einiges durchgemacht. Sie natürlich auch. Igor ist ohne Vater aufgewachsen und sie musste die Erziehung ohne ihren Mann bewältigen. Alles viel zu unerwartet, viel zu früh. Und ein anderer Mann? Nein, das würde nichts lösen. Sie war immer sehr darauf bedacht, dass Igor ein guter Junge wird, damit sein Vater in gutem Andenken in seinem Herzen bleiben kann, und natürlich auch, damit Igor etwas Gescheites lernt. Bibliothekar zum Beispiel. Jemand, der sich für Literatur interessiert. Kunst. Musik. Für eine andere Welt. Die Welt der schönen Dinge. Sie hätte sich auch gerne damit beschäftigt, mit dem ‚Bürgerlichen‘, wie es manche ausdrücken, aber sie kam, jedenfalls in Odessa, nicht in diese Kreise hinein, hatte nicht den sozialen Rang, dem solche Türen offen stehen und nach dem immer zuerst gefragt wird, sobald man über die Schwelle eines solchen Hauses geht. Gebildet war sie, weil sehr belesen. Mit Hilfe einer guten Freundin kam sie auch immer an neue Bücher. Madame Bovary verschlang sie mehrmals, wenn sie Zeit hatte. Aber sie wusste auch, dass Bildung allein keinen zu einem aufrichtigen Menschen machen kann.

Das Leben war für Lilly bisher alles andere als leicht. Nach dem Unglück musste sie sich hauptsächlich mit Putzarbeiten über Wasser halten, manchmal auch auf den Schiffen, die einige Tage im Hafen liegend, Aushilfen brauchten. Und da ging es oft sehr rau zu. Aber sie wusste sich zu wehren. Sie ging, wenn sie attackiert wurde, auf die Männer ohne zu zögern aufrechten Gangs zu, trat ganz nahe an sie heran und schaute ihnen mit stechendem Blick in die Augen. Was willst du überhaupt? Wage bloß nicht, mich zu berühren! Du Feigling. Mein Mann war Seemann, und Hamburg hat mich einiges gelehrt.

Das mit dem Feigling hat eigenartiger Weise immer gewirkt, wohl auch weil es unerwartet kam und den Männern Respekt einflößte.

Attacken dieser Art nahmen zwar im Laufe der Zeit ab, denn es sprach sich herum, es sei besser, Lilly nicht anzumachen, aber um diesem Milieu endlich zu entkommen, wäre für sie das Haus der Mavrogordatos genau richtig, es wäre ein Glück für sie und ihren Sohn, und es käme zum richtigen Zeitpunkt. Und was wichtig war, Herr Mavrogordato scheint ein offenherziger Mensch zu sein. Einerseits etwas abwesend wirkend, als wäre er ständig woanders, was er wahrscheinlich tatsächlich ist, aber nicht verrät, wo, andererseits sehr penibel bei der Regelung des Geschäftlichen. Ähnlich seine Frau, Alexandra, die Lilly nuraus der Ferne kennt und vom Hörensagen. Sie soll eine fantastische Köchin sein und bei ihren Angestellten beliebt.

Oh je, geht es Lilly durch den Kopf, Igors Jacke und Hose sind wie ihr Umhang völlig durchnässt. Und da bemerkt sie in dem sehr edel eingerichteten Zimmer, wie verwahrlost ihr Sohn eigentlich aussieht, wie ein Rotzbengel von der Straße nach einer Prügelei. Aus den Schuhen rinnt Wasser und es bildet sich eine größere Lache. Aber das macht offensichtlich dem Herrn des Hauses nichts aus. Sie hebt die Schultern und Herr Mavrogordato gibt ihr zu verstehen, dass ihn das nicht stören würde. Er wälzt bereits andere Pläne. Sie scheint die richtige zu sein, um seinen Sohn mit der deutschen Kultur vertraut zu machen, und natürlich mit der Sprache, die er selbst nicht konnte, die zu beherrschen aber für ihn angesichts der sich ausweitenden Handelsbeziehungen von großer Bedeutung werden wird.

Igor schaut nach unten. Natürlich hat seine Mutter ihn ermahnt, etwas Ordentliches anzuziehen, aber er kam gerade vom Hof, in dem es wieder um irgendwelche Spiele mit anderen Kindern ging, Geschicklichkeitsspiele mit Glaskugeln und ähnliches und da fehlte die Zeit sich umzuziehen.

„Nur zwei Lehmflecken auf den Knien, Mama.“

Beim Besuch bei den Mavrogordatos steht viel auf dem Spiel. Das weiß er. Seine Mutter hat sich im Gegensatz zu ihm mit ihrer Garderobe ziemlich bemüht. Alles in vornehmem Schwarz, bis auf die gelbe Bluse, in der Hoffnung die Farbe lockere ihr Aussehen auf. Jetzt befürchtet er fast, er könne ihr durch seine Kleidung ihre Chancen verderben.

„Igor ist 10“, sagt Lilly.

„Ah ja. Pierre 12.“

„Ist Igor ihr einziger Sohn?“

„Ja.“

Die beiden Jungs mustern sich verstohlen. Man redet über sie. Pierre schaut auf Igors Schuhe. Lilly auch. Sie sind schon ziemlich abgenutzt und um sie herum vergrößert sich eine braune Wasserlache.

„Machen Sie sich keine Gedanken, Oxana wird das später wegwischen,“ sagt Ambrosius. Sie ist erleichtert, das spart ihr eine Entschuldigung.

Oxana, eine Angestellte, tritt, als sie ihren Namen hört, sofort neben die beiden und nickt. Sie wird das erledigen, sobald der Raum wieder leer ist.

„Pierre hat noch eine Schwester. Wo ist sie überhaupt?“

„Weiß ich nicht“, sagt Pierre.

„Sie heißt Mousia, Alexandra, Elara. Aber sie will nur Elara genannt werden, weil das kürzer ist. Aber bitte, setzten Sie sich doch.“ Es stehen noch zwei Korbsessel neben einem runden Tisch mit ausladender Tischdecke und grünen Stickereien. Obst, Blätter, Äste. Viel Arbeit, die den feinen Stoff überlagert. Lilly nimmt den ersten Sessel, Igor den neben ihr. Aufregung macht sich in ihm breit. Genügt seine Mutter den Erwartungen des hohen Hauses? Und er? Wie soll er sich verhalten?

Pierre reagiert da eher gelangweilt, als wäre es ihm egal, wer ihn unterrichtet. Das entscheidet ohnehin sein Vater.

Die Frage bei Igor ist hingegen eher die, ob er sich mit Pierre anfreunden könnte. Er könnte ihm zeigen, was er kann, das Spiel mit den Murmeln zum Beispiel. Aber das wird wahrscheinlich nichts, so, wie Pierre dasitzt, so unbeteiligt und gelangweilt.

Der Herr des Hauses will das Gespräch eröffnen, wird aber davon abgehalten, als seine Frau mit einer Silberschale voller Kuchenstücke hereinkommt. Hinter ihr rollt ihre Angestellte eine große Silberkanne Tee auf einem Wagen an den Tisch. Die Tassen stehen bereits da.

„Darf ich vorstellen, meine Frau Alexandra, mit einer ihrer köstlichen Kreationen aus Chios. Sehr süß, ich warne Sie. Wir sind alle Griechen, aber meine Frau hat deutsche Wurzeln.“

„Mein Vater hieß Bosse“, sagt sie, „aber ich habe deutsch vollkommen vergessen. ‚Guten Morgen‘, ‚guten Abend‘, ‚wie geht es Ihnen?‘, mehr nicht.

„Das klingt sehr gut“, sagt Lilly.

„Meinen Sie?“

„Akzent hin oder her“, sagt ihr Mann, „der Akzent macht noch keinen guten Kuchen.“

„Du übertreibst. Nur etwas Honig mit Kokosnuss zum Tee. Bei dem Wetter genau das Richtige.“

„Lilly Borinsky, ich stamme aus Hamburg, mein Mädchenname ist ‚Hansen‘, mein Mann, Boris, ist zur See gefahren, ja und das hier ist mein Lausejunge Igor.“

Pierre scheint dies alles wachzumachen, denn er schaut Lilly mit großen Augen an, während Alexandra lacht und meint:

„Lausejunge? Das kenne ich.“ Dann wendet sie sich einer Angestellten zu. „Kukla“, sagt sie, „wir stellen am besten alles auf den Tisch und Sie bedienen sich bitte.“

Kukla stellt die Kanne in die Mitte und fragt: „Darf ich Ihnen einschenken?“

„Gerne“, sagt Lilly. Alexandra bleibt während dessen neben ihr stehen.

Für die Jungs gibt es Zitronenlimonade mit Strohhalm. Was für ein Luxus! Für Pierre wahrscheinlich eher normal. Weil er es täglich trinkt, tut er gleich, als gälte die Wette, wer kann das Glas schneller leeren. Dieser Angeber, denkt Igor.

„Pierre ist wie ich, er liebt Zitronenwasser“, sagt Ambrosius und lacht. „Den Kuchen schlingst du aber nicht so schnell hinunter“, kommt es von Alexandra.

Und zu Igor: „Du hingegen kannst etwas mehr vertragen.“ Lilly äußert sich nicht dazu. Ihr Sohn ist schlank, aber nicht dünn und er ist kräftig. Wie sein Vater.

„So und nun zeig Igor dein Zimmer“, sagt Ambrosius. Die Aufforderung, die Erwachsenen allein zu lassen, ist Pierre ganz recht. „Komm“, ruft er und rast los.

„Moment, du brauchst noch Hausschuhe,“ sagt Kukla, rennt weg und wenig später steckt Igor in fremden Schuhen. Sie sind viel zu groß, dafür warm. Obhut lohnt sich für die, um die man sich kümmert. „Dann los mit euch,“ sagt sie laut, aber in nettem Ton.

Alexandra entschuldigt sich dann ebenso, weil sie die Küche rufe. Man habe heute Abend Gäste. Geschäftsfreunde ihres Mannes, verbunden mit viel Arbeit. Lilly bekommt überraschend das Angebot einer Einladung, lehnt aber dankend ab. Alles an einem Tag, wäre etwas zu viel für sie. Lilly ist aufs Erste zufrieden und natürlich gespannt, ob es ihr gelingt, eine Anstellung zu bekommen. Vorsichtig hebt sie ihre Tasse und nippt am Rand. Geräucherter Tee. Die Hausherrin mag sie, das spürt sie und lehnt sich zurück.

An der Wand hinter Ambrosius hängt die übergroße Zeichnung eines Mannes mit üppigem Haar und einem großen Schnurbart in einem weit ausladenden schwarzen Mantel. In der Hand hält er ein halb aufgerolltes Stück Papier und blickt glorreich in die Ferne.

„Das ist die bekannteste Figur in unserer Familie“, sagt er, als er Lillys Interesse bemerkt. „Mein Großvater wie er leibt und lebt, der gefeierte Befreier Griechenlands. Sie müssen wissen: Wir Griechen sind eine sehr eingeschworene Gemeinschaft, wir gehören zu einem Stamm, nach außen geradezu hermetisch abgeschlossen, alle untereinander verschworen, und dennoch sind wir die schlimmsten Individualisten, unteilbare, nur in sich verliebte Atome. Wir haben die Philosophie des Abendlandes erfunden und den freien Handel und überhaupt alles, was mit den Werten zu tun hat, Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und so. Wir haben uns das alles erdacht. Allerdings nur für den Kopf, nicht für die Hand. Und dann haben wir gesagt: ‚Das war es! Mehr lässt sich dazu nicht sagen‘.“

Er ist ein Schauspieler, denkt Lilly. Auf seine Rede reagiert sie jedoch nicht, denn das würde bestimmt nur in einen Test münden, den sie aber jetzt noch nicht will, obwohl sie durchaus das Zeug dazu hätte zu antworten, sie könnte sagen, ‚reden Sie nur weiter Herr Mavrogordato, das macht mir nichts aus, der Zar sitzt nicht im Raum und ich kann schweigen. Sie könnte auch bemerken, dass sie sein Anliegen sehr wohl verstehe, wenn er seinen Sohn nur in den besten Händen wissen will. Aber in diesem Punkt könnte er ihr ruhig vertrauen: sie ist die Beste.

„Pierre macht mir einen sehr aufgeweckten Eindruck. Ich denke er wird schnell lernen,“ sagt sie mit kräftiger Stimme, und Marvrogordato ist zufrieden. Es war die richtige Antwort. Alexandra kommt zurück. Sie möchte Lilly das Haus zeigen, vor allem den Raum, in dem sie Pierre unterrichten soll. Und dann natürlich auch die Küche, auf die sie besonders stolz ist.

„Ich denke, der erste Schritt ist gemacht“, sagt Ambrosius. Und Lilly strahlt.

Als sie aus dem Raum sind, meint Alexandra: „Mein Mann redet gerne, als stünde er auf einem Sockel. Ich ertappe mich oft dabei, nicht zuzuhören.“

„Keine Sorge. Ich kann damit gut umgehen“, sagt Lilly und wie sie das sagt, erzeugt das bei Alexandra Vertrauen.

In der Zwischenzeit sind die beiden Jungs in ihrem Zimmer, während Alexandra mit Lilly allein in der Küche ist.

„Eine wunderbare Küche“, sagt sie.

Alexandra jedoch lenkt ab. „Warum Odessa?“, fragt sie.

Lilly lächelt, und Alexandra versteht. Die Liebe. Natürlich was sonst.

„Wir haben uns in Hamburg kennengelernt.“

„Wir?“

„Boris und ich.“

„Da war Ihr Vater wahrscheinlich nicht begeistert, dass sie weggegangen sind. Oder?“

„Er wollte die Heirat verhindern und meine Mutter auch.“

„Und jetzt?“

„ …lebt nur noch meine Mutter. Ich habe keinen Kontakt zu ihr.“

„Das ist schade.“

Lilly ist sich nicht sicher, wie sie darauf antworten sollte.

„Gehen wir zu meinem Mann zurück. Wie ich ihn kenne, so hat er bestimmt noch Fragen.“

Das stimmt, denn Ambrosius wirkt irgendwie nachdenklich, als sie den Raum betreten.

„Ich lasse euch allein“, sagt Alexandra. „Schön, dass wir uns kennengelernt haben.“

„Ganz meinerseits.“

Ambrosius wartet nicht lange und legt gleich los, nachdem sie sich gesetzt hat.

„Welchen Schulabschluss haben Sie?“, fragt er.

Na endlich, denkt Lilly, darum geht es doch immer.

„Ich habe die Höhere Schule beendet.“

„Und Ihre Interessen?“

Du liebe Zeit ‚Interessen‘! Sie hat viele Interessen, die sie nicht leben kann.

„Literatur“, sagt sie. „Ich würde gerne schreiben.“

„Ah ja!“

Lilly weiß genau, was dieses Erstaunen meint: Frauen und Schreiben passen nicht zusammen.

Aber er reagiert anders: „Wir haben hier eine umfangreiche Bibliothek, griechische Klassiker ins Russische übersetzt. Auch einige deutsche Bücher, wenn mich nicht alles täuscht. Auch diesen Goethe.“

„Interessant“.

„Sie können die Texte gerne für den Unterricht benutzen.“

Das wird etwas dauern, wollte sie sagen, bleibt aber still.

„Nun gut, es ist bis dahin ein weiter Weg, aber ein junger

Kopf ist bekanntlich sehr aufnahmefähig.“

„Da haben Sie recht.“

„Ich möchte, dass er einmal studiert. Wir haben nämlich seit einigen Jahren, wie Sie wahrscheinlich wissen, eine eigene Universität. Das ist sehr gut, war aber nicht einfach.“

Sie nickt. Was die Zeitungen berichtet haben, ist ihr bekannt. Zwischen Adel und Kaufleuten gab es heftige Auseinandersetzungen. Erstere waren gegen eine Universität. Ein akademisches Lyzeum würde genügen. Die Bürgerlichen hingegen waren mehr an der Ausbildung ihres eigenen Nachwuchses interessiert, in der Meinung, ihre Kinder sollten sich besser mit ökonomischen Grundlagen beschäftigen, zumal Handelsgeschäfte mit Getreide besonders lukrativ waren und es immer noch sind.

„Was soll Igor werden?“, fragt er unvermittelt.

„Ich würde ihn gern in einer gesicherten Stellung sehen.“

„Ich verstehe.“

„Ob auch er das selbst will, werden wir sehen.“

Mavrogordato schaut kurz in den Garten zu den Pflanzen, die sich immer noch gegen den Regen aufbäumen. „Die Stadt bietet viele Möglichkeiten, wenn man sie erkennt.“

„Aber auch viel Obskures.“

„Sie sagen es. Jeder Hinterhof eine Gaunerschmiede.“ Und dann fragt er plötzlich: „Sind Sie Jüdin?“

Lilly ist überrascht.

„Ich bin Christin wie Igor, mein Mann, ohne Religion, aber

sie sprechen die neueren Ereignisse an.“

„Nur am Rande“, weicht er aus.

Sie hat nicht wirklich mit diesem Thema gerechnet, aber es ist natürlich klar: Es ist ihr von Beginn ihrer möglichen Anstellung an wichtig zu zeigen, welche Haltung sie dazu hat, und sie will aufrichtig sein, trotz der eventuell negativen Folgen. Wer weiß das schon.

„Schrecklich“, sagt sie. „Alle Menschen, egal welcher Religion, könnten friedlich miteinander auskommen.“

Die Antwort entspannt Ambrosius‘ Gesicht, und sie glaubt zu sehen, dass sie in dieser Hinsicht von ihm nichts zu befürchten hat.

„Lassen Sie uns in die Küche gehen“, sagt er, „meine Frau wartet vermutlich schon ungeduldig. Sie will Ihnen schließlich noch mehr von ihrem Reich zeigen“.

2

Pierre stürmt zum ersten Stock hoch in sein Zimmer, Igor folgt ihm etwas weniger zügig und bleibt unter der Tür stehen. Der Raum überrascht ihn. Er ist riesig für seine Verhältnisse. Über zwei Flügelfenster fällt aus dem Garten viel Licht auf hellgrüne Wände. An beiden Seiten hängen lange Vorhänge, dazwischen ein breites Bett, dem gegenüber ein ansehnlicher Schrank, in einem Eck ein schmales Regal mit Büchern und dann noch jede Menge nicht identifizierbares Spielzeug auf dem Boden verstreut. Braucht man so viel? Igor tritt über die Schwelle und stolpert dabei beinahe über seine Füße. Die Pantoffeln sind viel zu groß.

Pierre will ihn sofort in die Spielregeln einweihen. „Der Ball muss durch das Tor“, sagt er und reicht ihm den Schläger. Das runde Holztor steht schon in der Mitte bereit und kann von beiden Seiten bespielt werden. „Wir machen es von hier aus.“

Igor würde am liebsten der Hektik sofort entfliehen. Dann aber kommt ihm seine Mutter in den Sinn. Sie braucht das Geld, und dafür muss er sich gut benehmen.

„Hier, nimm!“, sagt Pierre und reicht ihm einen Schläger. Pierre beginnt, doch der erste Schlag geht gleich daneben, der zweite auch, nur der dritte sitzt.

Jetzt ist Igor an der Reihe. Bei ihm treffen alle drei auf Anhieb das Tor. Im zweiten und dritten Spiel dieselbe Situation. Pierre ist platt.

„Wie machst du das?“

„Ich spiele oft mit Glasmurmeln.“

„Und gewinnst du immer?“

„Manchmal.“

Pierre versucht es erneut, versucht jedoch ein wenig zu betrügen, indem er unmerklich dem Tor näher rückt. Igor merkt das natürlich, sagt aber nichts. Dennoch nutzt Pierre das nichts. Igor ist einfach besser, er ist im Polospiel nicht zu schlagen, und das ärgert Pierre. Er weiß, er kann schwer verlieren. Das war auch schon beim Spielen mit Elara, seiner Schwester, oft so. Nun gut, Elara ist ein Jahr älter, aber er ist ein Junge und Ballspiele jeder Art sind schließlich Männersache.

Pierre lümmelt sich auf den Boden. Igor will es ihm nachmachen. Geht dann aber erst zum Bücherregal und betrachtet die Buchrücken.

„Hast du die alle gelesen?“

„Mein Vater hätte das gerne.“

„Was wollen wir jetzt spielen?“

Igor hebt die Schulter.

„Hast du einen Freund?“, fragt Pierre.

„Keinen richtigen.“

Pierre nimmt die Holzkugel, die in seiner Nähe ist, und rollt sie Richtung Tor.

„Und du?“, fragt Igor.

„Bei dem Programm? Keine Zeit.“

Igor versteht nichts. ‚Programm‘, wie das klingt.

Pierre erklärt ihm, er gehe nicht in eine Schule, sondern die Lehrer kämen ins Haus und das den ganzen Tag. Bis auf Sonntag.

Plötzlich stürmen zwei Mädchen laut kichernd durch die noch offene Zimmertür.

„Oh je“, sagt Pierre flüsternd. „Meine Schwester Elara mit ihrer dicken Freundin Sulla.“ Und dann laut: „Was wollt ihr?“

„Nur mal schauen“, sagt Elara. „Schauen ist nicht verboten.“ Elara hat langes schwarzes Haar und große dunkle Augen. Sie hat sehr wohl gehört, was ihr Bruder wieder über Sullas Figur gesagt hat. Aber sie grinst ihn nur an. Ihre Freundin ist etwas pummelig, blond, kurzhaarig und trägt eine Brille. Na und?

„Hat sich alles schon herumgesprochen?“, sagt Pierre.

Elara schaut ziemlich frech auf die beiden herab. Das macht durchaus Eindruck, zumal sie auch etwas größer ist als alle anderen.

„Was macht ihr?“

„Wir philosophieren“, sagt Pierre in süffisantem Ton.

Igor ist überrascht, was Pierre da von sich gibt.

„Ah ja“, kommt es von seiner Schwester, und schon verschwindet sie wieder nach draußen und ihre Freundin hinterher.

„Was war das denn?“, fragt Igor.

„Meine Schwester kündigt ihre Besuche nie an, sie liebt Überraschungen und sie ist wahnsinnig neugierig.“

„Und die andere?“

„Ihre beste Freundin, Sulla. Sie klebt quasi an ihr wie ein Sahneklecks auf der Torte.“

Igor findet eine bunt bemalte Schachtel und fragt nach deren Inhalt.

„Zaubertricks.“ Die habe ich zum Geburtstag geschenkt bekommen.

„Toll.“ Igor will natürlich sofort eine Kostprobe sehen.

„Geht das?“

Als hätte Pierre schon seit Tagen darauf gewartet, baut er eilig die Sachen auf.

„Hier haben wir eine Kugel, die Kugel des Großmeisters Zaphira, Herrscher von Titanien, und ‚Hokuspokus‘ aufgepasst, schon sind es zwei. Zwei Weltreiche.“

„Klasse!“ Der Trick samt Kommentar ist gut, Igor weiß nur, wie er geht. Neu für ihn jedoch ist der Trick mit dem Schlangenseil. Die Schlange wird erst halbiert und dann wieder zum Leben erweckt.

Auf diese Weise verbringen die beiden einige Zeit mit Zauberkünsten, bis plötzlich etwas Eigenartiges passiert. Pierre nimmt ohne Ankündigung den Polo Stab und knallt den Holzhammer auf die Kugel, als würde er Golf im Freien spielen. Igor hat nicht die geringste Ahnung, warum. Die Aktion jedenfalls bleibt nicht ohne Folgen. Die Kugel durchschlägt die Scheibe einer Flügeltür und zertrümmert das Glas.

Der Krach dringt durchs ganze Haus, so dass kurz darauf Despina, eine weitere Angestellte, heraneilt. „Um Himmels willen, was ist passiert?“, ruft sie. Niemand sagt etwas. Danach kommen bis auf die Mädchen, die solche Situationen scheuen, auch alle anderen: Pierres Vater, seine Mutter und Lilly, die ängstlich ins Zimmer schaut.

„Was ist hier los?“, fragt Ambrosius mit strenger Mine.

„Das war ich“, sagt Igor. „Ich war aus Versehen zu heftig.“ Er kann seine Reaktion selbst nicht begründen, aber sie brach einfach aus ihm heraus. Pierre schaut ihn an, als wäre er jemand von einem anderen Stern.

Igors Mutter wird kreidebleich im Gesicht und sie will ansetzen zu sagen, sie werde natürlich sofort für den Schadenaufkommen. Aber Ambrosius winkt ab. Er findet Igor heldenhaft, etwas für einen anderen auf seine Kappe zu nehmen. Der Junge hilft ohne Zögern seinem Sohn. Und er hat dabei ein ganz eigenes Gefühl. Vielleicht entwickelt sich mehr daraus für die beiden.

„Scherben bringen Glück. Oder?“, sagt er geradezu heiter. Über diese Äußerung seines Vaters ist Pierre verständlicherweise äußerst überrascht. Das hätte er nicht von ihm gedacht. Dennoch deckt er die Sache nicht auf und gibt nicht zu, dass er der Täter war. Das erspart ihm die bekannten Strafen: Hausverbot, Kürzung des Taschengeldes und Ähnliches.

Pierres Mutter geht danach kommentarlos nach unten. Sie hat keine Ahnung, was da gelaufen ist und ist ebenso vom Ende überrascht. Keine ernsthafte Ermahnung, kein Donnerwetter, wem von den beiden auch immer gegenüber.

Dann denkt sie kurz nach. Ihr Mann mag die neue Lehrerin. Ambrosius schaut sich inzwischen den Schaden genauer an und mustert auch den Schläger, der neben Pierre am Boden liegt, und sein Gesicht hellt sich auf. Für Pierre alles sehr merkwürdig. Sein Vater sollte eigentlich toben.

Doch Igor sieht, dass der Mann durchschaut, was passiert ist. Er hat gesehen, dass Igor seinen Sohn vor einer Bestrafung schützen wollte, und das gefällt ihm offenbar wirklich.

„Na gut“, sagt Ambrosius, „die Jungs waren zu wild. Kein Wunder bei dem Wetter. Morgen soll jemand kommen und das richten.“

Lilly bedankt sich sichtlich erleichtert.

Dann gehen sie wieder. Nur die Jungs bleiben.

Nach einer Weile kommen die Mädchen zurück und kichern.

„Haut ab!“, sagt Pierre. „Wir haben etwas zu besprechen.“

3

Das Viertel, in dem Lilly und Igor wohnen, liegt auf dem Weg zum Bahnhof in der Nähe des Großen Basars. Hinter der Straßenfassade wohnen sie am Ende eines länglichen Hofes im 2. Stock in einem einfachen, jedoch relativ großen Zimmer. Die Miete ist vergleichsweise niedrig, aber wenn man nur wenig Geld hat, wird einem oft auch das zu viel.

In der Küche steht ein Kohleherd zum Kochen und zum Wärmen für kalte Tage. Ferner gibt es fließend Wasser und ein Spülbecken. Die Wohnung ist also durchaus komfortabel, im Vergleich zu vielen anderen, in denen es nahezu nichts gibt, außer einem Dach über dem Kopf. Dennoch ist das Gebäude insgesamt ziemlich heruntergekommen und teilweise auch baufällig.

Immerhin gibt es auf dem Flur eine intakte Toilette mit Waschbecken, die zwar von Nachbarn mitbenutzt wird, aber es halten sich alle bislang an die Regeln.

Ein Problem bereitet das warme Wasser. Wer sich richtig waschen will, heiß baden oder duschen, was normalerweise einmal die Woche angesagt wäre, muss entweder den Herd anwerfen, oder geht gleich in das türkische Hamam am unteren Ende der Straße. Es ist ebenfalls schon älteren Datums, aber es funktioniert dort alles hervorragend. Nur die Belüftung lässt zu wünschen übrig. In den gekachelten Räumen, die wie ein Labyrinth verwinkelt gebaut sind, staut sich nämlich den ganzen Tag ein hartnäckiger Nebel mit einem starken Duft nach Eukalyptus und Rosen zwischen den Wannen, Becken und Duschen. Dafür sind die Räumlichkeiten sauber. Vom türkischen Personal werden die Fliesen am Boden und an den Wänden täglich komplett gereinigt.

Odessa besitzt als aufstrebende Stadt mit dem Hamam eine gewisse Adresse, die auch bei betuchteren Leuten beliebt ist. Sie lassen sich dort massieren, damit sie hernach verjüngt dem Casino am oberen Ende der Straße einen Besuch abstatten können. Zudem ist der Eintritt ins Bad nicht überteuert, weil die Stadt ein öffentliches Interesse am hygienischen Zustand ihrer Bewohner hat.

Igor hat inzwischen das Alter für die Männerabteilung erreicht. Seine Mutter geht zu den Frauen. Jeden Freitag. „Das muss drin sein.“

Wasser scheint es im Hamam reichlich zu geben, in den Wohnungen hingegen ist Wasser überall knapp. Es ist auch nicht von bester Qualität wegen der Salzseen vor der Stadt. Aber zum Waschen geht es.

Igor und seine Mutter gehören nicht zur untersten Schicht. Dorthin abzurutschen, konnte Lilly bisher dank ihrer Vielseitigkeit vermeiden. Sie putzt, bedient und hilft aus, am liebsten in der Buchhandlung in der Nähe der Primorsky Allee. „Bücher halten mir den Kopf frei“, sagt sie. Dennoch ist das Geld knapp und die Einnahmen sehr davon abhängig, was für ihre Arbeit gerade bezahlt wird. Eine feste Anstellung zu finden, scheint unmöglich zu sein.

Nach dem Tod ihres Mannes ist das Leben in vielerlei Hinsicht von ihrem Geschick als Alleinerziehende abhängig. Nach Hamburg zurückzugehen, kam nicht in Frage, zumal ihr Vater seine Enttäuschung über ihre damalige Entscheidung auch jetzt nicht verkraften würde. Und die Tatsache, dass er nun einen so hübschen Enkel hat, wird ihm auch nicht darüber hinweghelfen. Und ihre Mutter? Sie fand Boris zwar nett, weil sie spürte, wie sehr der Seemann ihre Tochter liebte. „Aber musst du dir denn ein Leben lang einen Matrosen antun?“, hat sie zu ihr gesagt.

Nein. Es gab kein Zurück. Zu groß die Scham, versagt zu haben. Also wird dieses Leben im kleinen Glück ihr Schicksal bleiben. Neben ihrem Bett steht immer ein frischer Strauß mit irgendwelchen Blümchen, die sie unterwegs findet, und auch ein Foto von Boris neben einem Kreuz an der Wand.

Was für ein schöner Mann er doch war: markantes Gesicht mit strahlenden, blauen Augen, die sie liebevoll ansehen, so dass ihr jedes Mal warm ums Herz wird.

Lilly bemüht sich sehr, ihren Sohn so gut wie möglich zu erziehen. Er wächst zweisprachig auf und geht in eine Schule, nur mit dem Freundeskreis ist das so eine Sache. Die Stadt wimmelt von Kleinkriminellen, deren Kinder alle Tricks von klein auf von den Eltern lernen. Stehlen, Betteln, sich gewaltsam durchzusetzen, all das eben. Igor vor all dem zu bewahren, ist nur bedingt möglich. Aber er hat das bisher selbst ohne Blessuren gemeistert, bis auf ein paar Raufereien. Na ja. Einmal ist er gerade noch einer Verhaftung durch die Polizei entkommen. Er hatte Glück. An dem Diebstahl im Markt war er nur ein kleiner Kurier am Rand in einer der zahlreichen Banden, die ihre kriminellen Aktionen untereinander als Wettbewerb betrachten. Igor ganz aus den Revierkämpfen herauszuhalten, ist schwierig, insbesondere in dieser Gegend. Woanders zu wohnen wäre keine Lösung, es wäre auch dort ähnlich, außer vielleicht in den Vierteln der Reichen, wo die Straßen gepflastert sind und die Polizei sich gerne aufhält, weil sie nicht sofort staubige Stiefel bekommt.

Die Mavrogordatos wohnen in einer vornehmen Gegend. Und es war reiner Zufall, dass sie in der Buchhandlung erfahren hat, die Familie würde eine Deutschlehrerin suchen. Sie ist an jenem Tag wie schon oft auf dem Weg zur Bücherei an Gogols Haus vorbeigegangen, dem finstersten unter den Dichtern, dessen Gesicht an der Wand in makabre Abgründe blickt, dann entlang der prächtigen Fassade der Villa von Tolstois Familienclan zu dem kleinen Platz, an dem sich der Laden befindet.

Dort ist die Errichtung der Statue von Katharina geplant, hat sie gehört. Sie wird zusammen mit ihren geliebten Affären zu ihren Füßen stolz verkünden: Schaut auf meine Stadt. So jedenfalls wollen die Männer die berühmte Geste ihrer linken Hand gedeutet wissen. Für die Frauen verkündet sie aber eine andere Botschaft. „Nur Mut!“, ruft sie ihnen zu.

Wenn das so leicht wäre, denkt Lilly, für die armen Frauen, die in einem gewissen Gewerbe arbeiten müssen, um ihre Kinder zu ernähren. Ein solches Los ist ihr bisher erspart geblieben, sie musste sich nicht in den widerlichen Strudel begeben, ihren Körper an fremde Männer verkaufen zu müssen. Und selbst wenn eines Tages ein durchaus vornehmer Herr bei ihr seine Aufwartung machen würde, sie würde keine Beziehung mit ihm eingehen wollen.

Auf dem Weg von der Buchhandlung zurück nimmt sie meist einen anderen Weg, an der großen Treppe vorbei, der prächtigen Allee entlang. An ihr befindet sich auch das Londonskaya, ein vornehmes Hotel, in dem schon viele berühmte Künstler, Literaten, Schriftsteller und Tänzerinnen gewohnt haben. Auch Mark Twain war dort Gast und er hat das Leben in Odessa mit dem in New York verglichen. Vor dem Eingang steht immer ein Mann in Frack mit Zylinder, um den Gästen die Tür zu öffnen. Lilly war bisher immer zu schüchtern, in das Hotel zu gehen, um zu fragen, ob sie Arbeit für sie hätten. Mit ihren Sprachkenntnissen würde sie sicher dafür geeignet sein. Aber sie traut sich nicht und steht wieder nur regungslos auf der anderen Straßenseite. Dann geht es weiter am Bankgebäude der Familie der Efrussis vorbei, die als unvorstellbar reich gelten. Aus dem Gebäude hat sie noch nie jemanden hinein oder hinaus gehen sehen. Danach das Denkmal von Puschkin, dessen physische Größe sie immer wieder beeindruckt. Auch er ein dichtender Mann, denkt sie jedes Mal. Dort setzt sie sich auf eine Bank, von der aus man über den Park zum Hafen schauen kann. Dahinter liegt das Meer, meist grünlich grau. Der Tag, an dem Boris an Bord ging, war der schlimmste in ihrem Leben, voll von Ängsten und bösen Ahnungen. Das Meer war an diesem Tag tief schwarz. „Ich komme wieder“, hat er gesagt.

„Ich komme mit genügend Geld, dann können wir uns endlich eine Reise gönnen, nach Georgien, Kinkalis essen und den ältesten Wein der Welt trinken.“ „Ja das machen wir, Boris.“ Danach ist sie oft zum Hafen hinunter gegangen, in der Hoffnung, er tauche plötzlich wieder auf, doch er ist nicht wiedergekommen. Der indische Ozean hat ihn verschluckt.

Der Tag, als sie die Nachricht bekam, war der finsterste in ihrem Leben. Igor war gerade zwei und er weinte mit ihr, ohne etwas zu verstehen, und sie weinte, weil etwas ihr den Sinn ihres Lebens geraubt hat. Das Schiff ist gesunken, Boris ertrunken, erstickt, entseelt. Nur noch Erinnerungen existieren, nichts weiter, Bilderfetzen, die sich nicht mehr zusammenfügen lassen. Sie kannten sich nicht lange, viel zu kurz, und nun kann sie nicht einmal mehr sagen, wer er war.

Wenn der Wind vom Meer weht, riecht man das Elend des Hafenviertels, in dem Menschen in Baracken ohne Ordnung wie Tiere hausen. Doch selbst wenn ein ekliger Geruch von unten hochzieht, bleibt sie trotzdem sitzen und blickt auf den Kai, von dem aus das Schiff ablegte, und winkt Boris im Geiste mit dem kleinen Igor an der Hand zu, der noch nicht so recht ahnt, was los sein wird. „Gute Reise, Papa.“

Dann steht sie wieder auf und geht am archäologischen Museum vorbei Richtung Opernhaus, das demnächst wiedereröffnet wird. Da wäre sie gerne dabei.

In ihrem Lieblings Café, durch das sich mitten durch den Zigarrenqualm in den Garten dahinter gelangen lässt, verhält sie sich so, als wäre sie verabredet, so dass keinem etwas auffällt. Eine gemächliche Durchquerung an der Bar entlang lohnt sich, denn von dort aus lässt sich für einen Moment die lebendige Sprachenvielfalt hören. Die Leute, zumeist Männer, sitzen an kleinen Tischen, unter denen sich ein Fach für Zeitungenbefindet. Sie halten sich oft stundenlang lang bei einem Mokka auf und debattieren in allen erdenklichen europäischen Sprachen. Es wird lautstark politisiert, philosophiert, über Literatur gestritten, aber auch um Dinge gefeilscht, und da geht es natürlich um Gaunereien, im Flüsterton um Diebesgut, das von weither kommt und an geheimen Plätzen ihre Besitzer wechselt. Die Szene ist nicht anders wie die in Puschkins Eugen Onegin: Wer Babylon in Odessa erleben will, muss die Cafés aufsuchen. Wie damals sind die Menschen nach der neusten Mode gekleidet. Der Mann mit Geld hat die Auswahl zwischen einem englischen, italienischen oder deutschen Schneider. Die Damen mit ihren Gönnern machen es ihnen nach, sind sich aber ewig unschlüssig, ob sie sich in einen mit Zitronenoder Rosenduft parfümierten, französischen Stoff hüllen sollen oder besser gleich in chinesische Seide. Nur die Männer mit bestimmten Kappen sind bei manchen nicht beliebt. Diese Männer wissen das natürlich und tragen daher ihre Kopfbedeckung demonstrativ als Markenzeichen der Zunft der Kleinganoven. Die Ordnungshüter wissen Bescheid und schauen in der Regel meist über ihre Geschäfte hinweg, weil sie selbst nicht frei davon sind und weil in Odessa fast alles geht und fast alles erlaubt ist. Unbeliebt ist in vielen Kreisen eher nur das, was zu sehr nach russischer Mode aussieht. Na gut, Pelzmäntel ausgenommen.

In dieser Weise sinniert Lilly im inneren Gespräch und merkt, wie schön es eigentlich wäre, wenn einmal jemand mit ihr ausgehen würde.

Im kleinen Park hinter dem Café steht unter Bäumen eine Bank, auf die sie sich auch immer wieder gerne setzt, um die junge Luft des Frühlings zu atmen oder den kühlen Schatten im Sommer. Diesen Moment genießt sie zu jeder Jahreszeit, leider meist viel zu kurz, weil sie wieder weiterziehen muss. Entweder ruft sie die Pflicht, oder sie spürt an manchen Tagen zu sehr den Trubel, der aus dem Café dringt, weniger weil die Geräuschkulisse aus einem geheimen Schauspiel stammt, das sie irgendwie trotz allem fasziniert, sondern eher wenn ihr die Probleme ihrer Situation zu schmerzlich bewusst werden, und sie nicht anders kann, als ständig an die Welt der Gegensätze zu denken, gegen die man nichts ausrichten kann, außer man wappnet sich rechtzeitig dagegen. Erfahrungen mit derKriminalität sind überall, und sie weiß, sie kann dem gegenüber für ihren Sohn nur ein anderes Vorbild sein. Mehr nicht.

Wo hat sie eigentlich ihre ehrliche Haut her? Nicht von hier. Oder gerade doch?“

Die Zeiten für die Entwicklung echter Lebenstüchtigkeit, die ohne Betrügereien auszukommen versucht, werden immer komplizierter. Im Kleinen wie im Großen. Die Wolken am Himmel drohen mit unheilvollen Veränderungen. Da werden die verrücktesten Dinge gemunkelt, wer in Odessa zukünftig sein darf und wer nicht. Das alles ist schrecklich, und es ist umso schrecklicher angesichts der sich häufenden Ausschreitungen gegen Juden.

Lilly möchte sich am liebsten in überhaupt keine Umtriebe einmischen, geschweige denn geraten, weil das für sie als Deutsche unter Umständen riskant wäre. Darum will sie sich aus allem herauszuhalten. Auch ihre Familie hat das öffentliche Geschehen zu Hause meist ausgeblendet. Ihr Vater war Kaufmann und nur am Geschäftlichen interessiert. In der Familie wurde nicht über solche Themen gesprochen. Ob das gut ist? Mavrokordato ist auch Kaufmann. Wiederholt sich da etwas?

Sie weiß nur eines, sie will ihre ganze Kraft einsetzten, dass ihr Sohn bestmöglich aufwächst, dass aus ihm ein gebildeter und ordentlicher Mensch wird, was immer das heißt. Er geht in eine christliche, genauer gesagt evangelische Schule, die von einer deutschen Minderheit finanziert wird und nur einen geringeren Beitrag verlangt. Um die Kosten zu decken, muss sie den täglich sich ändernden Arbeitsangeboten gegenüber wachsam sein. Ein Teil ihrer Einnahmen kommt von der Bücherei, einer vom Putzen in einer Pension und dann das, was sonst noch geht. Kranksein wäre ganz schlecht. Darum will sie sich und vor allem Igor gesund ernähren. Zwiebeln, Kohl, rote Beete und Kartoffeln sind auf dem Markt günstig. Fisch und Fleisch eher weniger. Das gibt es auch nur zu besonderen Gelegenheiten. Das Geld muss sinnvoll eingeteilt werden, sonst droht ein bedrohlicher Absturz, von dem sich viele nicht erholen. Die Nachbarschaft ist voll von solchen Schicksalen.

4

Nach dem Besuch bei den Mavrogordatos kehrt für Igor wieder der Alltag ein, tagsüber Schule und am Abend mit Mama.

Die Stelle als Lehrerein hat sie für drei Monate, das ist toll und ein rosa Hoffnungsschimmer am Horizont. Zweimal die Woche muss sie für 4 Stunden zu Pierre. Das ist ziemlich oft, und als Igor das hört, merkt er, dass er ganz schön neidisch ist. Aber seine Mutter muss es tun, weil sie jetzt endlich auch den Rückstand der Miete begleichen kann. Vom Unterricht selbst erzählt sie nichts, auch wenn sie am Abend zusammen unter der Hängelampe am Tisch sitzen, Wurstbrot verzehren und Kräutertee trinken. Da geht es mehr darum, was bei ihm in der Schule los ist, nicht aber, wie sie als Lehrerin mit Igor zurechtkommt. Manchmal frage Pierre auch nach ihm und ob er mal wiederkäme.

Eines Nachmittags, an einem Samstag, steht Lilly mit Pierre unerwartet und völlig überraschend in der Wohnung. Er war gerade dabei, seine Glasmurmeln zurecht zu legen, für ein Spielchen mit seinen Kumpeln im Hof.

„Hallo, wie geht es dir?“, sagt Pierre in deutsch mit einem lustigen Akzent. Er dehnt das O und rollt das R besonders lang.

„Gut und dir?“

„Danke der Nachfrage.“

Seine Antwort ist typisch Mama.

Der Austausch von Floskeln geht jedoch nicht lange, dann reden sie wieder Odessianisch.

„Was ist?“, fragt Pierre.

„Gehst du auf ein Fest?“

„Warum?“

Pierre steht da wie eine vornehm gekleidete Puppe. Kurze Hosen, blau mit feinen Streifen, eine Jacke mit Silberknöpfen und ein weißes glattes Hemd. Hauptsächlich aber sind es die Schuhe, die auffallen. Dunkelbraune Lederschuhe mit Absätzen. Mit ihnen traut er sich keinen Schritt vorwärts, als wäre der Boden vergiftet.

„Pierre wollte sehen, wo du wohnst“, sagt Lilly. „Das Wetter erlaubt es auch, draußen zu spielen. Wollt ihr?“

Sie schauen sich an.

„Ich weiß nicht“, sagt Igor.

„Warum?“

Sie weiß, was er meint.

„Wir haben etwas für dich, Pierre.“ Dann geht sie an den Schrank und kramt einige Kleidungsstücke heraus. „Die könnten passen.“

So ist es auch, na ja, so einiger Maßen. Und im Nu verwandelt sich der vornehme Junge in einen von der Straße. Er fällt kaum auf, bis auf seine blasse Haut und die dünnhäutigen Hände. Die Schuhe wird schon keiner bemerken. Und wenn sie etwas herumtoben, ändert sich das schnell.

Erstaunlich, was Kleider aus Menschen machen. Pierre sieht in Igors Klamotten völlig anders aus und ist kaum wiederzuerkennen. Ein wohlbehüteter Junge ist zu einem Straßenkind geworden.

„So und jetzt Abmarsch! Und in spätestens zwei Stunden

seid ihr wieder hier.“

Igor steckt sich noch ein paar von seinen einfachen Murmeln ein, das soll genügen. Er will ihn vorsichtig in das Spiel der Spiele einführen: Das Glasmurmelspiel.

5

Pierre ist gerne bei Igor. Im Murmelspiel macht er Fortschritte und er lernt eine Menge über die Einschätzung der Unebenheiten des Bodens in Bezug auf die Entfernung zur Kuhle und über das sanfte Anstoßen der Kugel mit dem Zeigefingen. Polo hingegen erfordert mehr Einsatz im Zusammenspiel von Handgelenk und Armmuskeln. Pierre muss sich also mehr auf einen ruhigen Zeigefinger konzentrieren, als auf seine Kraft, und das gelingt ihm immer besser.

Wenn allerdings um die wertvolleren, weil größeren und bunteren, Glaskugeln gekämpft wird, beweist bislang Igor im entscheidenden Moment mehr Geschick. Bei umfangreicheren Duellen mit anderen Gruppen aus der Nachbarschaft nimmt Pierre nicht teil. Da hat er die Aufgabe, genau darauf zu achten, dass niemand schummelt. Denn hier gelten ausnahmslos vereinbarte Regeln, an die sich alle halten müssen. Beachtet werden muss erstens: der Abstand zur flachen, drei Finger tiefen Mulde muss 10 Schritte betragen. Zweitens: Die Kugel sollte nach dem ersten Wurf mit dem Finger nur ganz kurzangestoßen werden und nicht geschoben. Diese Regel ist besonders in der Aufregung schwierig. Manche wollen sie aus Trotz, aus wutentbranntem Stolz oder aus dem Verlust ihres Einsatzes nicht um alles in der Welt einsehen, was meist zum Anlass für einen heftigen Streit wird. In einem solchen Fall muss Pierre eingreifen und ein deutliches Wort sprechen oder körperlich drohen. Und Pierre ist verdammt stark. Das sieht man dem ‚feinen Herrn‘, für den ihn manche halten, nicht an. Aber was nur Igor weiß, Pierre hat einen chinesischen Kampfsportlehrer, der ihm einige Tricks beibringt. Also besser nichts riskieren. Auch Igor hat einen kräftigen Körper, aber seine spezielle Gabe, mit der er Pierre übertrumpft, ist sein schnelles Auge. Er erkennt Regelverstöße sofort und auch den Punkt, wann das Spiel wegen zu vieler Verstöße abgebrochen werden muss. In einem solchen Fall wird die Kugel konfisziert und der fairste Spieler bekommt den Einsatz aller. Meist ist das Pierre, der extra dafür auch eine eigene Holzschachtel mit Schlüssel dabeihat, in der schon so einiges drinsteckt. Von geringerem Wert sind die Tonmurmeln, unter ihnen am wenigsten die braunen. Am meisten wert sind die blauen. Bei den Glaskugeln ist es ähnlich, sehr wertvoll sind die großen und noch wertvoller die mit einer prächtigen Färbung im Inneren. Und wie das bei Schätzen so ist, gibt es immer auch eine besonders legendäre Kugel, jetzt ist sie, die märchenhafteste von allen, in Igors Besitz. Er hat sie in einem großen Kampf erworben, dann aber nie mehr eingesetzt. Einmal, als sie im Park waren, hat er sie gegen das Sonnenlicht gehalten, sodass man den Eindruck hatte, aus ihr sprühten heiße Funken. „Das ist längst nicht alles. Bei Vollmond leuchtet in ihr ein geheimnisvolles Feuer.“

Spannende Wettkämpfe im Hof unter den beiden, aber auch mit anderen aus der Nachbarschaft, machen die Besuche bei Igor attraktiv, mehr jedenfalls als das, was bei ihm zuhause diesbezüglich geboten ist. Die Kinder der befreundeten Familien in seinem Alter sind eher darauf gedrillt, Spiele zu spielen, die keine Grasflecken hinterlassen.

Eines Tages aber, es ist wieder ein sonniger Samstag im Mai, so gegen Mittag, kommen von einem anderen Viertel üble Typen in den Hof, 8 an der Zahl. Igor hat sie vorher noch nie gesehen. Solche Gruppen ziehen in den verschiedensten Vierteln nur umher, um einen Krieg anzuzetteln, mit den sie ihren Einflussbereich vergrößern wollen. In Igors Hof sind sie besondersauf die Erbeutung von Glasmurmeln aus und dabei vor allem darauf, Angst zu verbreiten, indem sie ihre Schlägerkünste demonstrieren. Sie sind alle etwa gleichen Alters, tragen wie Piraten weiße Kopftücher, bis auf einen schon sehr großen bulligen Kerl ganz in schwarz, der in der Truppe wohl das absolute Sagen hat. Er ist mit Sicherheit älter als die anderen. Bei ihrem Auftritt verschwinden fluchtartig alle Mitspieler, bis auf Igor und Pierre, die sich nicht von der Stelle rühren.

„Oh“, ergreift der Bullige das Wort, „welche interessanten Restbestände haben wir denn da!“ Er schaut Pierre abfällig von oben bis unten an.

„Diese Schuhe! Nein! Außergewöhnlich. Dazu die blasse Haut von hohen Herren in Kombination mit Gammler Klamotten!“

„Hänge du deine Bildung gefälligst an deinen eigenen Pimmel“, provoziert ihn Igor.

„Hoho, da ist ja noch einer von der Sorte der Gescheiten!“, spricht der Dicke und schaut ihn verächtlich an. Alle lachen. Und so macht er weiter: „Bei dem Vergleich ziehst du aber immer nur den Kürzeren. Ringelschwänzchen in Gelee.“ Wieder wird gelacht.

„Nun, meine Herren“, fährt er fort, „wir sind nicht da, um über die billigen Dinge zu reden. Kurz gesagt: Ihr rückt am besten gleich die Glasmurmeln raus, und zwar komplett, auch die besonders große, diese Märchenkugel, von der auch schon anderswo geschwärmt wird. Danach machen wir eine Fliege, als wäre nichts gewesen, und kommen in, na ja sagen wir mal euch zuliebe, erst in einem Monat wieder. Selber Tag, selbe Uhrzeit.“

„Ihr seid ja perfekt organisiert,“ kommt es von Igor.

„Ja, gell.“

Wieder ein Lachen.

„Nur ihr Idioten vergesst eines: Das hier ist mein Revier. Kapiert?“

„Hoppla, da haben wir es mit einem aufmüpfigen König zu tun. Ganz schlecht, ganz schlecht“

„Und warum?“, fragt Pierre.

„Ganz einfach. Wir mögen solche Könige nicht, die sich uns nicht unterwerfen. Das geht meist sehr schmerzlich für sie aus.“

„Ach nein,“ sagt Igor.

Der Dicke geht einen Schritt auf ihn zu: „Doch, doch, extrem schmerzlich, Herr Naseweis.“

Pierre wird die Szene zu bedrohlich, er will abhauen, doch er wird sofort von zwei Typen davon abgehalten. Er will noch einen seiner Kampfsporttricks anwenden, aber gegen drei ist das dann nichts. Zwei von ihnen biegen ihm beide Arme gewaltsam nach hinten, so dass er sich nicht rühren kann. Der Dritte schaut zu. Er kann den Schmerz gerade noch aushalten, um nicht in die Knie zu gehen. Der Vierte postiert sich breitbeinig hinter ihm.

Igor hingegen bleibt ganz ruhig, dort, wo er ist.