Kunst im Unterricht (E-Book) - Susanne Schrödter - E-Book

Kunst im Unterricht (E-Book) E-Book

Susanne Schrödter

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Wie lässt sich Kunst im Unterricht vermitteln? Wie kann sie die kulturelle Befähigung und gesellschaftliche Teilhabe der Lernenden stärken? Diese didaktische Hausapotheke liefert Ideen für den Unterricht, insbesondere auf der Stufe Berufsbildung. Sie vereint Impulse aus der klassischen Kunstrezeption, der Kunstgeschichte sowie der Kunstpädagogik und bietet Lehrpersonen nützliche Werkzeuge für die Praxis.

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Susanne Schrödter, Chiara Argentini

Didaktische Hausapotheke Band 17

Kunst im Unterricht

Ideen für die Praxis

Eine Publikation der Pädagogischen Hochschule Zürich

 

Susanne Schrödter, Chiara Argentini

Kunst im Unterricht

Ideen für die Praxis

Didaktische Hausapotheke, Band 17

ISBN Print: 978-3-0355-2064-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-2065-1

Coverfoto: Kunsthaus Zürich, Franca Candrian

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.ch

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

1 Kunst wahrnehmen

1.1 Wahrnehmung

1.2 Auftragsbeispiel: Bildbetrachtung mit Sprachspeicher

1.3 Fazit: Die Frage nach der Qualität

2 Sprache und Kommunikation

2.1 Kurzgeschichte anhand eines Kunstwerks schreiben

2.2 Kompositionsanalyse: Anordnung der Bildelemente

2.3 Beschreibung eines Gemäldes

2.4 Interpretation: Was könnte das Kunstwerk aussagen?

2.5 Beispiele für Unterrichtsmaterialien

3 Kunst in der beruflichen Grundbildung. Zwei Vorschläge für den allgemeinbildenden Unterricht

3.1 Die ikonographisch-ikonologische Methode von Erwin Panofsky

3.2 Die Analyse der Sache

3.3 Die Unterrichtsplanung

3.4 Didaktische Umsetzungsmöglichkeiten

3.5 Fazit

4 Kreativitätstechniken im Unterricht

4.1 Kreative Neugier

4.2 Grundbedingungen

4.3 Kreativitätstechnik 1: Forschendes Lernen mit der W-Fragen-Technik

4.4 Kreativitätstechnik 2: Creative Problem Solving

4.5 Kreativitätstechnik 3: Eine Hypothese aufstellen

4.6 Kreativer Lernort Museum

4.7 Kreatives Denken aktivieren

5 Künstler oder Künstlerin werden …

5.1 Die Künstlerinnen und Künstler

5.2 Der Markt

5.3 Die Museen

5.4 Über Kunst reden

5.5 Von der Herausforderung, Qualität zu definieren

5.6 Überlegungen für den Unterricht

6 Literatur

Die Autorinnen

Vorwort des Herausgebers

Eine gut ausgestattete Hausapotheke gehört in jeden Haushalt, um kleinere Verletzungen oder Erkrankungen selbstständig zu behandeln. Auf diesem Grundgedanken basieren die «didaktischen Hausapotheken», die die Pädagogische Hochschule Zürich zusammen mit dem hep Verlag konzipiert hat. Doch unsere Hausapotheken sind nicht für Notfälle im Unterricht gedacht. Sie sind vielmehr Anleitungen zur Selbsthilfe bei der Entwicklung der eigenen Berufskompetenz.

Die Hefte greifen aktuelle Herausforderungen aus Unterrichtspraxis und Schulalltag auf. Sie beziehen sich auf die typischen Handlungsfelder*, in denen Lehrpersonen im Beruf tätig sind.

Wer sich mit ihren Inhalten auseinandersetzt, erhält einen Mix aus nützlichem Hintergrundwissen, Anstössen zur Reflexion und praktischen Empfehlungen – eine Rezeptologie im besten Sinne des Wortes.

Die vorliegende Hausapotheke widmet sich einem im Unterricht an Berufsfachschulen eher vernachlässigten, aber wichtigen Thema: der Kunst. Sie zeigt auf, wie Kunst die kreativen Potenziale der Lernenden anregen kann. Ausgehend von einem methodisch-didaktischen Modell der Kunstbetrachtung wird eine breite Vielfalt an griffigen Unterrichtsideen präsentiert, bei denen die sprachliche Umsetzung im Vordergrund steht. Kunst wird so für Berufsfachschullernende zu einem Lerngegenstand, mit dem an wichtigen Kompetenzen gearbeitet wird.

Prof. Dr. Christoph Städeli

Leiter der Abteilung Sekundarstufe II/Berufsbildung der Pädagogischen Hochschule Zürich

 

*Die Ausbildungen an der PH Zürich beruhen auf einem vom Dozierendenteam entwickelten Modell, das die Tätigkeit von Lehrpersonen in der Berufsbildung in elf Handlungsfelder und rund vierzig Kompetenzen aufgliedert. Die Themen der einzelnen Handlungsfelder sind auf dem Heftrücken der «didaktischen Hausapotheken» abgedruckt. In diesem Heft liegt der Fokus auf den Handlungsfeldern 1, 2, und 6: «Das Fach und seine Didaktik meistern», «Entwicklung und Lernen unterstützen» und «Wirkungsvoll kommunizieren»

Einleitung

«Physische und praktische Skills beziehen sich nicht nur auf tägliche manuelle Aufgaben, wie zum Beispiel sich zu ernähren und zu kleiden, sondern auch auf die Künste. Bis heute kennt die Forschung nichts, das die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern in vergleichbarer Weise oder Dimension fördert wie Musik- und Kunstunterricht. Die Beschäftigung mit den Künsten hilft Lernenden auch, Empathie zur Stärkung von emotionalem Engagement, von emotionaler Verpflichtung und Beharrlichkeit zu entwickeln.» (OECD, 2020, S. 69)

Wir leben in einer Welt, in der die Fähigkeiten, Probleme selbstständig zu lösen, Gedanken neu zu kombinieren und laufend innovative Ideen zu entwickeln, immer wichtiger werden. Zudem erfahren wir eine grundlegende Umstrukturierung der Arbeitswelt durch neue Technologien und Verfahren. Vorbei sind die Zeiten, in denen man von einem Lebensmodell ausging und dieses während des ganzen Werdegangs beibehielt. Wir sind gefordert, unsere Gewohnheiten, Gedankensysteme oder Lebensweisen immer wieder zu überdenken, aus ihnen auszubrechen und neue Wege zu gehen. All dies erfordert Mut, Können, Flexibilität, Ideen und das Vertrauen in die eigenen kreativen Fähigkeiten (vgl. Friesike & Gassmann, 2015, S. 8).

Ein Kunstwerk ist eine Schöpfung aus Inspiration, Kreativität, Handwerk, Material, ästhetischem Empfinden und Zeitgeist. Für die betrachtende Person ergeben sich daraus viele Möglichkeiten, sich einem Kunstwerk zu nähern, es zu verstehen und es in die eigene Welt zu integrieren. Kunst aktiviert die Imagination, die Fantasie und lässt spekulatives und hypothetisches Denken explizit zu. Dabei ist jedes Kunstwerk ein offenes System, in das ein bunter Strauss von Gedanken, Assoziationen, Emotionen und letztlich auch Wissen hineininterpretiert werden darf. Ein Kunstwerk ist in seiner Bedeutung nie eindeutig: Erst die verschiedenen Betrachtungsweisen, Meinungen und Deutungen machen ein Kunstwerk aus und es gleichsam lebendig. Über Kunst lässt sich lachen, spotten, fachsimpeln, diskutieren, polemisieren, schimpfen, empören. Darin liegt vielleicht das grösste Potenzial der Kunst: Sie lässt uns nicht kalt und alle, die ein Kunstwerk sehen, können eine Aussage machen, sei sie auch nur irgendwo zwischen Begeisterung und Ablehnung angesiedelt. Ohne dieses Verständnis von Kunst und die Möglichkeit, über sie zu debattieren, wäre ein Kunstwerk nur eine trostlose Ansammlung geformten Materials ohne inhaltliche Dimensionen.

Sich mit Kunst zu beschäftigen, heisst, sich durch die Betrachtung eine innere Welt zu erschliessen und diese mit einer bestimmten Vorstellungs- oder Lebenswelt in Bezug zu setzen. Dieser nach innen und nach aussen gerichtete Dialog ist für die Sensibilisierung der individuellen Wahrnehmung bedeutsam und Auslöser für vielfältiges kreatives Denken und Handeln – sowohl im beruflichen als auch privaten Umfeld. Lassen wir uns also auf diesen Dialog mit Kunst ein und entwickeln wir ihn mithilfe der Wahrnehmung, des gedanklichen Verarbeitens, des Einfühlens und des inneren Erlebens.

Mit dem 2021 eröffneten Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich haben sich die Möglichkeiten erweitert, vor bedeutenden Originalen der europäischen Kunstgeschichte inspirierende Anregungen zu erhalten, das eigene Kunstwissen zu vertiefen und Kunstwerke zu erleben. Die in dieser Hausapotheke verwendeten Kunstwerke sind mehrheitlich im Kunsthaus Zürich zu finden. Sie sollen gleichsam die Brücke zwischen der pädagogischen Ausbildungsstätte und dem Museum schlagen, das einen enormen Schatz an kreativen Potenzialen, Kunstwissen sowie Erinnerungskultur sichert und den nächsten Generationen zur Verfügung stellt.

Die vorliegende Hausapotheke beschäftigt sich mit dem Lerngegenstand «Kunst» Dementsprechend versucht sie, auf evidenzbasierte und einfache Art und Weise, (kunst-)pädagogische sowie didaktische Ideen vorzulegen und diese in Form von einfachen Modellen verständlich zu machen. Im Zentrum steht dabei die kontinuierliche Entwicklung der kreativen Kompetenz und wie diese gemäss den jeweiligen Schullehrplänen und anderen rechtlichen Vorgaben kontinuierlich und schulisch übergreifend gefördert werden kann. Die Publikation richtet sich an Lehrpersonen, die sich griffige Unterrichtsideen für den Aufbau kreativer Kompetenzen aller Bildungsstufen aneignen möchten.

Kunst lässt sich im Unterricht vielfältig einsetzen – sei es als kreativer Gegenstand oder als Zeitzeuge der eigenen Epoche. Ausgangspunkte für diese Hausapotheke waren Überlegungen, wie der Aufbau von kreativen Kompetenzen im Unterricht erreicht werden kann. Dies ist für die heutige schulische Bildung umso bedeutender, als die Kreativität zu den Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts gehört. Mit Blick auf den Lehrplan 21 heisst dies, dass an die kreative Kompetenz, die im Lehrplan der Volksschule im Fach «Gestalten» entwickelt worden ist, in der beruflichen Bildung angeknüpft wird und das «kreative Tun» in das «kreative Denken» übergeht.

Die vorliegende Publikation versteht die Kunst als Instrument, kreative Kompetenzen auf verschiedensten Ebenen zu fördern und sie in die persönliche Entwicklung von Lernenden zu integrieren. Viele Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen sowie erste Schritte, diese kreative Kompetenz zu implementieren (vgl. Sterel, Pfiffner & Schrödter, 2022), sind dieser Publikation vorausgegangen. Als Kunsthistorikerinnen, die sich zu Berufsfachschullehrpersonen für Allgemeinbildung und zu Dozentinnen an der Pädagogischen Hochschule weiterentwickelt haben, ist es uns ein Anliegen, der Kunst im Unterricht mehr Raum zu geben.

Bevor Lehrpersonen Kunst in ihrem Unterricht einsetzen, müssen sie sich einen eigenen Zugang zu ihr verschaffen. Hierfür gibt es zwei Wege: Der erste geht über das Erlebnis, die individuelle Wahrnehmung, Beobachtung und Reflexion, und führt zu einem persönlichen, rezeptiv-ästhetischen Zugang zur Kunst. Dieser Zugang ist heute ein Gebiet der Gestaltpsychologie und wird in der systematischen Kunstbetrachtung zunehmend erforscht (z. B. Debus, 2021). Das Ziel dieses Weges ist es, die Ausdrucksqualitäten eines Kunstwerks zu erforschen und zu einem ästhetischen Urteil zu gelangen. Der andere Weg führt über eine kognitive, wissensorientierte Verarbeitung von Ausdrucksqualitäten zu einem Orientierungswissen, das Stile, Epochen, Kunstschaffende und Zeitgeschehen rund um das Kunstwerk befragt. Dieser Weg ist von der Kunstwissenschaft geprägt und wird von einer entsprechenden Rezeption geleitet. Am Ende sollen die Beobachtungen und der Zuwachs von Wissen sprachlich umgesetzt werden. Dies kann in Form einer Diskussion, eines Kunstgesprächs im Plenum oder eines inneren Monologs geschehen, oder als eigene sprachliche Kreation umgesetzt werden (z. B. Kurzgeschichte, Gedicht, Drehbuch). Abbildung 1 zeigt diese Vorgehensweise, wobei hier als Grundlage der Lehrplan 21 verwendet wird.

Abbildung 1: Schematischer Aufbau kreativer Kompetenzen

Im ersten Kapitel steht die methodisch-didaktische Kunstbetrachtung im Vordergrund. Sie soll einen systematischen Zugang zur äusseren Erscheinung eines Kunstwerks ermöglichen. Dabei helfen die Prinzipien der visuellen Wahrnehmung. Kunst über die Wahrnehmung zugänglich zu machen, ist Ziel der ausführlichen kunstpsychologischen Studien von Rudolf Arnheim (z. B. Arnheim, 1978), die in den letzten Jahren innerhalb der gestaltpsychologischen Rezeption von Kunst eine wesentliche Weiterentwicklung erfahren haben. Auch Ralf Debus beruft sich auf diesen Ansatz: «Es ist möglich, eine tiefe Kunsterfahrung zu haben, ohne dass man die zeit- und kunstgeschichtlichen, ikonografischen oder biografischen Hintergründe des Werkes kennt» (Debus, 2021, S. 37).

«Unser historisches Wissen, die Kenntnisse über Kunsttheorien, über die Biografie des Künstlers oder über die materiellen Herstellungsbedingungen des Werkes lassen sich nicht ganz stilllegen (…); es ist auch gar nicht notwendig. Im Gegenteil, wenn wir dem Erleben Raum geben, uns den Wirkungen des Bildes überlassen, seine Gestalt qualifizieren, dann kann und wird unser Wissen das Erlebnis und Verständnis vertiefen.» (Debus, 2021, S. 42)

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der sprachlichen Umsetzung der Wahrnehmung sowie der Interpretation von Kunst. Hier stehen die sprachlichen Prozesse und die verschiedenen Sprachverarbeitungsbereiche im Vordergrund (sprechen, hören, schreiben, lesen). Die Lernenden erhalten die Möglichkeit, ihrer Kreativität im Sprachlichen Ausdruck zu geben. Dies geschieht mithilfe von Fachbegriffen, Wortschatzübungen und verschiedenen Textsorten, um die sprachliche Genauigkeit und Ausdrucksfähigkeit zu fördern. In diesem Kapitel werden Ideen aufgezeigt, mit denen eine systematische Sprachförderung anhand von Kunstwerken didaktisch gelingt. Für die Textsorte Beschreibung gibt es Vorschläge, wie ein Kunstwerk visuell erschlossen und mithilfe des sprachlichen Ausdrucks genauer charakterisiert werden kann.

Im dritten Kapitel erfolgt ein wissensbasierter Zugang zur Kunst über Stile, Epochen, Biografien von Kunstschaffenden und deren gesellschaftliche Hintergründe, der als Basis für die Interpretation dient. Die methodische Verarbeitung des Wissens erfolgt nach wissenschaftlichen Modellen und Theorien und vertieft nach Debus die sich entwickelnden Ausdrucksqualitäten in der Darstellung des Erlebens und der Kunstwerke (Debus, 2021, S. 43). Die wissensbasierte Methode einer kunstgeschichtlichen Interpretation von Kunstwerken wird mithilfe der ikongraphisch-ikonologischen Methode von Erwin Panofsky vorgestellt. Die Umsetzung eines wissensbasierten Vorgehens ist von Bedeutung, da so Fehldeutungen oder ein willkürliches Zurechtlegen von Inhalten vermieden werden können. Das Kapitel zeigt ausgehend von zwei Gemälden auf, wie die didaktische Umsetzung im Unterricht aufbereitet werden kann. Die Vorschläge sind zwar auf den allgemeinbildenden Unterricht an Berufsschulen ausgerichtet und verweisen auf eine mögliche Verankerung der Themen in den rechtlichen Rahmenbedingungen, können aber natürlich für andere Stufen angepasst werden.

Das vierte Kapitel ist der Anwendung und Förderung des kreativen Denkens und Handelns im engeren Sinne gewidmet. Es werden verschiedene Kreativtechniken vorgestellt, um das kreative Potenzial der Lernenden im Unterricht beziehungsweise mithilfe der Auftragserteilung zu aktivieren, damit es auch im beruflichen und privaten Alltag angewendet werden kann. Kreativitätstechniken im engeren Sinne sind Methoden, die das Ziel haben, kreatives Denken und Handeln zu begünstigen. Sie sollten bei einem auf Kreativität ausgerichteten Unterricht regelmässig eingesetzt werden.

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Kunstrezeption. Hier wird der Frage nachgegangen, auf welchem Weg die Kunst die betrachtenden Personen erreicht und wie diese darauf reagieren. Einflussfaktoren wie die Fachwelt, die Kunstschaffenden selbst oder der Kunstmarkt werden gleichermassen mit einbezogen. Im letzten Teil wird gleichsam als Schlussbetrachtung aufgezeigt, wie wichtig es ist, dass wir alle zu Rezipientinnen und Rezipienten werden und uns befähigen, aktive Teilhabe an der Kunst zu praktizieren. Dies setzt voraus, dass wir bereit sind, uns mit Kunst auseinanderzusetzen und sie in unsere Erinnerungskultur zu integrieren. Für den Unterricht heisst das, dass die Lehrperson die Technik der Kunstbetrachtung und -interpretation im Unterricht übt und somit den auf den Lehrplan abgestützten Auftrag der «kulturellen Befähigung» zu erfüllen versucht. Lernende werden so idealerweise zu aktiven Rezipientinnen und Rezipienten innerhalb des Kunstsystems. Hierzu möchte die vorliegende Hausapotheke die Lehrpersonen mit konkreten Vorgehensweisen im Unterricht vorbereiten.

1 Kunst wahrnehmen

«Wenn man die Wirksamkeit eines Bildes erfassen will, muss man es zuallererst als eine Ganzheit sehen. Was ist der stärkste Eindruck? Wie sieht die Stimmung der Farben, die Dynamik der Kräfte aus? (…) Von der Struktur des Ganzen sicher geleitet versuchen wir dann, die Hauptmerkmale zu erkennen und ihrem Vorrang vor untergeordneten Einzelelementen auf die Spur zu kommen. Allmählich offenbart sich der ganze Reichtum des Werkes und wird überschaubar, und wenn wir in dieser Weise das Werk richtig wahrnehmen, beginnt es mit seiner Botschaft unsere geistigen Fähigkeiten zu beanspruchen.» (Arnheim, 1978, S. 10)

Bevor also der künstlerische Prozess, der jedem Kunstwerk zugrunde liegt, verstanden werden kann, muss er auf der Basis von Beobachtung und Reflexion befragt und verarbeitet werden. Dieser Prozess wird durch eine persönliche Begegnung, ein persönliches Erlebnis mit dem Kunstwerk initiiert. Denn der Ausgangspunkt jeder Wahrnehmung von Kunst ist das Erleben – die Erfahrung, der visuelle Reiz –, das in einem zweiten Schritt mittels Denken, Fühlen und Verhalten kognitiv verarbeitet werden kann (Debus, 2021, S. 17–18). Ein solches Kunst-Erlebnis lässt sich schon im Unterricht erzeugen. Einprägsamer und intensiver wird ein Erlebnis mit Kunst bei einer direkten Begegnung mit dem Original in Museen oder Ausstellungen.

Wenn Kunst-Erlebnisse durch eine Lehrperson ermöglicht werden, lassen sich diese Erfahrungen verarbeiten, indem sie beschrieben und in bestimmte Erlebnisqualitäten eingeordnet werden. Die Erlebnispädagogik bietet hilfreiche Anhaltspunkte, wie das Erleben vor Ort, der individuelle Kontakt mit einem Kunstwerk, der sowohl deskriptiv als auch analytisch gestaltet werden kann. Doch wie gelingt ein Kunst-Erlebnis in einem Museum? Auch dafür bietet die Erlebnispädagogik verschiedene Ansätze der Verarbeitung und der Reflexion (vgl. Sterel, Pfiffner & Schrödter, 2022, S. 88–89). Der erste Schritt, um sich mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen, ist die Kunstbetrachtung. Sie basiert auf einer Reihe von Wahrnehmungsabläufen.

1.1Wahrnehmung

«Das Auge sieht nur, was der Geist bereit ist, zu begreifen.» (Henri-Louis Bergson)

Die visuelle Wahrnehmung, auch Gesichtssinn oder Sehen genannt, dient der Aufnahme von optischen Reizen wie Helligkeit, Farbe, Kontrast, Linien, Form und Gestalt (Komposition), Bewegung und Räumlichkeit. Das zuständige Sinnesorgan ist das Auge. Im künstlerischen Kontext wird ein wahrgenommenes Bild oder eine Szene auch als ein Sehereignis bezeichnet (Wikipedia, 2022).

Wahrnehmung ist ein komplexer Vorgang, der Objekte oder Prozesse in Bezug auf ihre Ausdrucksqualität zu befragen vermag. Die Qualität eines Kunstwerks lässt sich nicht mit physikalischen oder chemischen Merkmalen in Verbindung bringen, die wir in Masseinheiten angeben (z. B. Grösse, Schwere, Dichte, Wellenlänge, Geschwindigkeit) (Debus, 2021, S. 20). Um die Ausdrucksqualität eines Kunstwerks zu verstehen, ist eine bewusste Auseinandersetzung mit seiner Gestalt ein erster Schritt. Der Wahrnehmungspsychologie zufolge basiert die Gestaltwahrnehmung auf individuellen Wahrnehmungsmustern (Stangl, 2023). Eine Analyse der eigenen Wahrnehmung führt zu einem ästhetischen Urteil über die Qualität eines Kunstwerks.

Unterkapitel 1.1.1 bis 1.1.6