Kunstlicht -  - E-Book

Kunstlicht E-Book

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Beschreibung

Zwischen künstlichem und künstlerischem Licht spannen sich die Betrachtungen der Lyrik und Prosa der 4. Anthologie der EDITION DORETTES. Neun Autorinnen und neun Autoren beteiligten sich diesmal unter der Überschrift "Kunstlicht" mit lesenswerten, zeitgenössischen Beiträgen. Klug, nachdenklich, bewegend oder satirisch.

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Seitenzahl: 62

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Marlies Blauth

Till Felix Biermann

Helmut Blepp

Ruth Forschbach

Margrid F. Gantenberg

Kay Gräfenberg

Kiki T. Lee

Karl J. Müller

Sigune Schnabel

Simin Sarah Shirazy

Dan K. Sigurd

Uwe Springfeld

Tom Stephan

Andrea Tillmanns

Christian Wagner

Jay Monika Walther

Johannes Wöstemeyer

Souad Zakarani

Marlies Blauth

changierend

wenn der Abend hereinglüht

bin ich aus Rosenholz

auf meinen Adern liegt Samt

der Tag tilgt sich Stunde um Stunde

seine schlagenden Schatten werden

zu mildem Tau

auf Grasflächen sind

späte Sonnenblüten zu Hause

warmgetönt

und die Nachbilder bleiben

in blauen Tönen

manchmal die Neugier

die – nach Violett hin –

zur Buße changiert

untermalt mit dem Trommeltakt

blutender Erinnerungen

und dann wieder Hoffnung

dass die leisen Töne im Raum

an Herzkammern rühren

mit der Weite des Himmels

selbst die Schatten sind eingefärbt

vom neigenden Licht

deine Geschichten sind ausgebreitet

wie unter riesigen Spiegeln:

nicht nur du – auch andere

halten wach was wichtig bleibt

leg‘ deine Hände sanft auf

Marlies Blauth

*1957, geboren und aufgewachsen in Dortmund, Lyrikerin und Künstlerin, lebt und arbeitet in Meerbusch bei Düsseldorf. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften, vier eigene Lyrikbände, zuletzt „morgens ein Atemzug Winter“, Dortmund / Herford 2024. Verschiedene – kleinere – Auszeichnungen; Mitgliedschaft u. a. beim VS und bei der GEDOK.

Till Felix Biermann

Kunstlicht – die Stimme der Unsichtbaren

Lena war mit Leib und Seele Künstlerin.

Für ihre Kunst verwendete sie hauptsächlich Dinge, die andere Menschen als Müll betrachteten. Sie verwendete altes Zeitungspapier, rostige Nägel oder morsches Holz, das sie aus stinkenden Mülltonnen fischte, um daraus Kunstwerke zu kreieren.

Diese Gegenstände – viele hielten es für schlottriges Zeug ohne Wert – waren für sie wie lebendig; jedes einzelne dieser alten Dinge erzählte ihr eine Geschichte.

Ihre Kunst war keine Entscheidung, sondern ein innerer Drang, ein unaufhaltsames Bedürfnis, die Schichten der Welt mit den Fingern abzukratzen, bis etwas Echtes, Rohes, vielleicht auch Schmerzhaftes sichtbar wurde.

Sie schuf Werke, die nicht für den flüchtigen Blick gedacht waren. Ihre Installationen waren vielschichtig, fordernd und manchmal unbequem. Lena hatte die besondere Gabe, Dinge sichtbar zu machen, die andere lieber übersahen. Sie hasste das Glatte und Polierte, da es für sie das Ende der Wahrheit bedeutete. Lena war sich bewusst, dass sie mit ihrer Kunst aneckte. Galeristen warfen ihr vor, „zu schwer“ und „zu wenig markttauglich“ zu sein. Doch sie weigerte sich, ihre Werke zu glätten, um in das Raster des Kunstmarktes zu passen. Für Lena war Kunst keine Ware, sondern ein Brennglas, das sie auf die blinden Flecken der Gesellschaft richtete.

Schon lange hegte sie den dringenden Wunsch, sich durch ihre Kunst einen Namen zu machen. Sie wollte ihrer Nachwelt etwas für die Ewigkeit hinterlassen. Sie hatte vor, etwas völlig Neues zu erschaffen und mit der Kunst dort hinzusehen wo niemand hinsah. Damit wollte sie den Menschen und der Gesellschaft zeigen, wie wichtig es ist, durch Kunst auch auf Missstände aufmerksam zu machen.

Auch heute verbrachte sie wieder Stunde um Stunde in ihrem Atelier und grübelte über eine neue, bahnbrechende Idee nach. „Womit konnte sie nun den Nerv der Gesellschaft treffen?“, fragte sie sich. Eine Gesellschaft, in der so vieles schieflief und in der jeder nur nach seinem eigenen Nutzen handelte. In ihrem Atelier ging alles drunter und drüber. Der Boden war übersät mit Pinseln aller Art und Farbklecksen, und überall lagen weiße Leinwände herum.

Dieses Chaos war von Lena gewollt, denn sie hasste nichts mehr als Ordnung und Struktur. „Das Leben ist chaotisch und unvorhersehbar“, sagte sie sich. Und nur in diesem gewollten Chaos wollte sie arbeiten. Trotzdem fehlte es ihr heute an der nötigen Inspiration.

Eine zarte Herbstbrise wehte durch das Fenster ihres Ateliers und erfrischte Lenas erhitzten Schädel. Kurz stöhnte sie vor Verzückung auf und blickte aus dem Fenster. Sie sah die an ihr vorbeiziehenden, hupenden Autos und vernahm den ohrenbetäubenden Lärm des zähen Straßenverkehrs.

Plötzlich blieb ihr Blick auf einem Obdachlosen haften, der auf der Straße lag.

Der Mann sah aus, als hätte er sich seit Jahrzehnten nicht gewaschen. Seine Kleider waren zerlumpte Fetzen, die schlaff an seinem Körper hingen, und seine Haare waren ein einziger zerzauster, fettiger Haarbüschel. Er lag auf der Straße, ohne Jacke, die ihm in dieser Jahreszeit Wärme gespendet hätte. Vor seinen Füßen lag ein zerfetzter alter Pappbecher, in dem er mühsam einen Groschen nach dem anderen sammelte, um sich davon bald eine karge Mahlzeit zu besorgen.

Die meisten Leute ignorierten den armen Bettler und gingen an ihm vorbei, als wäre er unsichtbar. Hier und da warf ein vorbeigehender Passant ein paar Cent in den Pappbecher des Bettlers und sie taten dabei so, als würde sie ihm damit helfen, so aus dem Elend und der Armut zu entkommen.

Plötzlich überkam Lena eine Welle der Wut, die sie mit der Kraft einer Schneelawine überrollte. „Jemand muss aufstehen, hinsehen und etwas gegen das Unrecht in der Welt und diese marode Gesellschaft tun”, dachte sich Lena. Sie war kein Moralapostel und stellte sich nie auf ein Podest. Doch in ihrem Wesen lag eine Geradlinigkeit, die sie von vielen unterschied: Sie tat das Richtige – auch dann, wenn es unbequem war. Ehrlichkeit war für Lena kein großes Ideal, das man zur Schau stellte. Für sie war es eine Frage des Respekts: Wer mit ihr sprach, verdiente die Wahrheit – selbst wenn diese manchmal schwer verdaulich war.

Aber Lena konnte auch schweigen, wenn Worte unnötig waren. Sie prahlte nicht und gab nicht mit ihren guten Taten an. Wer genau hinsah, bemerkte jedoch, dass sie oft die Erste war, die half, und die Letzte, die darüber sprach. Lenas Anstand war keine Fassade. Es war nichts, dass sie sich angeeignet hatte, um gut dazustehen. Es war vielmehr ein innerer Kompass, tief in ihr verwurzelt, geboren aus einem schlichten, aber festen Glauben: dass es in einer Welt, in der vieles käuflich war, wenigstens einige Dinge geben sollte, die nicht verhandelbar waren. Für sie war das ihre Redlichkeit.

Plötzlich, ganz schnell wie der Blitz, kam ihr eine grandiose Idee, als sie auf eine defekte, flimmernde Straßenlaterne blickte. „Warum gehe ich nicht auf die Straße und projiziere Licht auf die Obdachlosen? Ein Licht, das als Brücke zwischen Arm und Reich fungieren kann. Ein heller Schein, der Licht in die Dunkelheit bringt.“

Wie von einer Tarantel gestochen schreckte Lena auf, warf ein paar Utensilien – darunter einen großen Projektor – für ihr Vorhaben in die Tasche und marschierte eilenden Schrittes die Straße hinunter.

Die Stadt war gerammelt voll von umherirrenden Passanten. Frauen klemmten ihre vollen Einkaufstaschen unter die Arme, Kinder schrien und Tauben suchten wie Ratten im Müll nach Nahrung. Die Menschen hasteten mit gesenktem Blick an ihr vorbei. Nun blickte sie auf all die Werbetafeln, auf denen das perfekte Lächeln von Mannequins zu sehen war, die das neueste Parfüm oder unbezahlbare Luxusuhren bewarben. Ein Lächeln, das man kaufen konnte. Schönheit, die man abonnieren konnte.

Eine Stadt, die immer hell war, und dennoch blickte niemand richtig hin.

In ihren Händen hielt Lena ihren Projektor.

Mit einem leisen Klicken sprang der Strahl an.