Kurze Anleitung zur Rettung der Erde - Cyril Dion - E-Book

Kurze Anleitung zur Rettung der Erde E-Book

Cyril Dion

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Beschreibung

Der Klimawandel wird die Welt wie auch unsere Gesellschaft schon sehr bald drastisch verändern, so viel steht fest. Aber meist sind wir zu sehr beschäftigt damit, zu konsumieren und das dafür nötige Geld zu verdienen, um unseren Lebensstil zu hinterfragen. Und viel zu oft glauben wir, allein ja doch nichts gegen die Übermacht der Politik und der großen Konzerne ausrichten zu können. Doch jeder gesellschaftliche Wandel beginnt mit kleinen Schritten. Der Aktivist und Autor Cyril Dion mobilisiert in Frankreich erfolgreich viele Millionen Menschen und hat zuletzt mit der größten Petition in der Geschichte des Landes Aufsehen erregt. Er erklärt, wie lokale Initiativen große Veränderungen bewirken können und was jeder Einzelne tun kann, um unsere Erde vor der Katastrophe zu retten. Ein Handbuch für ein umweltverträgliches und erfüllendes Leben.

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Seitenzahl: 210

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Cyril Dion

Kurze Anleitung zur Rettung der Erde

Wofür wir heute kämpfen müssen

Aus dem Französischen übersetzt von Ute Kruse-Ebeling

Reclam

Die französische Originalausgabe erschien unter dem Titel Petit manuel de résistance contemporaine. Récits et stratégies pour transformer le monde bei Actes Sud, Arles.

 

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

 

© Actes Sud, 2018

 

Covergestaltung: zero-media.net

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961520-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011215-1

www.reclam.de

Inhalt

VorwortEs ist schlimmer, als Sie denkenJede Handlung zählt, wenn …Die politische LähmungIndividuelles oder kollektives Handeln?Handeln, aber wie genau?Eine neue Geschichte schreiben, um den Lauf der Geschichte zu verändernWas die aktuelle Fiktion aufrechterhältErste Rahmenbedingung: Geld verdienenZweite Rahmenbedingung: Ein rundum unterhaltsames LebenDritte Rahmenbedingung: Die GesetzeDie Rahmenbedingungen für unsere EntscheidungenWie man neue Fiktionen entwickeltWir brauchen einen PlanNeue RahmenbedingungenWann beginnt die Revolution?Die Stunde der EntscheidungUnd jetzt?LiteraturhinweiseDanksagung

Vorwort

»Warum werden Ihre Überlegungen nicht gedruckt? Wie kann man Leute wie mich überzeugen, die zwar mit dem Gedanken spielen, ihre Gewohnheiten zu verändern, aber es einfach nicht schaffen?«

Es ist der 9. Dezember 2015. Ich bin zu Gast in einer sehr bekannten Fernsehsendung. Auf der anderen Seite der Mattscheibe verfolgen drei Millionen Fernsehzuschauer vermutlich eher nebenbei unsere Debatte. Auf dem Sessel mir gegenüber wirkt Yann Arthus-Bertrand sichtlich betrübt.

Seit mehreren Minuten treibt uns die – gerade erst zur besten Interviewerin Frankreichs gekürte – Journalistin, die unsere Filme kommentieren soll,* in die Enge. Der Schriftsteller und scharfzüngige Kritiker neben ihr, der dieselbe Aufgabe hat, macht weiterhin einen gelangweilten Eindruck.

Sie wendet sich erneut an mich: Der Film wirke zu cool, die Menschen, die wir zeigen, seien zu perfekt. Als sie ihn gesehen habe, habe sie sich gefühlt, als müsse sie ersticken: »Ich hatte nur noch einen Wunsch: den Flieger nehmen, mir ein Schaumbad einlassen und ein dickes T-Bone-Steak essen.«1

Sie wirft uns vor, die Sache falsch anzugehen. Dass wir ihr keine Lust darauf machen würden, aktiv zu werden, um die ökologische Katastrophe zu verhindern. Als ob wir dafür zuständig wären, sie wachzurütteln. Dieser Moment ist mir auf merkwürdige Weise in Erinnerung geblieben. Meine Worte klangen wie ein fernes Rauschen in meinen Ohren. Ich dachte mir, wie seltsam, dass solche Unterhaltungen (über den ökologischen Kollaps) in bestimmten Kontexten wie von selbst funktionieren und in anderen einfach nur ins Leere laufen …

Einige Monate später hatte die Öffentlichkeit Léa Salamés Theorie teilweise widerlegt. Die Idee, die wir in Tomorrow entwickelt hatten, hatte die Leute erreicht. Zumindest hatten 1,2 Millionen Menschen ihn sich im französischen Kino angesehen. Dann lief der Film in 30 weiteren Ländern an und gewann den César. Täglich erreichten uns Nachrichten von Menschen, die uns erzählten, was sie nach Verlassen des Kinos getan hatten: z. B. einen Kompost angelegt, eine lokale Währung gegründet, den Beruf gewechselt … Ihren eigenen Worten zufolge hatten wir »eine Geschichte, die guttut«, erzählt. Wir hatten ihnen »Hoffnung zurückgegeben« und sie »inspiriert«.

Dennoch hatte unsere Kritikerin an jenem Abend auch nicht völlig unrecht. Insgesamt gelingt es uns Umweltschützern nicht, unsere Botschaft zu übermitteln. Zumindest nicht in ausreichendem Maße.

Trotz all unserer Bemühungen verschlechtert sich die Situation in atemberaubender Geschwindigkeit immer weiter.

In dieser Hinsicht hat der Sommer 2017 alle Rekorde gebrochen: ein Rieseneisberg, der sich vom Schelfeis löste, Orkane von nie dagewesener Stärke, die höchste Temperatur, die jemals auf der Erde gemessen wurde, tödliche Überschwemmungen in Indien, katastrophale Brände in Portugal und Kalifornien, eine alarmierende Studie nach der anderen … Und jener berühmte Artikel von David Wallace-Wells, auf den ich noch später zurückkommen werde. Selbst wenn man von einem unerschütterlichen Glauben an die Menschheit und an ihre Fähigkeit, auch mit den schlimmsten Situationen fertigzuwerden, beseelt ist: Wer keine Angst vor dem hat, was uns in den kommenden Jahrzehnten noch erwartet, ist entweder ein naiver Optimist oder ausgesprochen kühn.

Unsere Reaktion auf all diese katastrophalen Neuigkeiten bestand über viele Jahre darin, unsere Mitmenschen immer und immer wieder zu warnen … Wir müssen uns jedoch eingestehen, dass das nichts bringt. Diese Informationen immer wieder herunterzubeten, sie verzweifelt in den sozialen Netzwerken zu posten, Kampagnen zu starten, also das zu tun, was wir Aktivisten, NGOs und Fachpresse seit Jahren unermüdlich tun, mag nützlich sein, zeigt aber insgesamt zu wenig Wirkung. So unglaublich es auch all jenen erscheinen mag, die die absolute ökologische Dringlichkeit erfasst und verinnerlicht haben – das Thema lässt die Massen kalt. Gewiss hat die Aufmerksamkeit für den Schutz unseres Planeten seit zwanzig Jahren zugenommen, man kann sogar sagen, dass sie noch nie so groß war wie heute. Dennoch bleibt die Mobilisierung gegen den Klimawandel lächerlich schwach. Beim größten Marsch der vergangenen Jahre, der im September 2014 in New York organisiert wurde, versammelten sich 300 000 Menschen, trotz des Medienrummels und der vielen amerikanischen Kinostars, die sich an die Spitze des Zuges gestellt hatten. Am 28. und 29. November 2015, unmittelbar vor dem großen Weltklimagipfel von Paris (der berühmten COP21), wurde ein weltweiter Marsch organisiert (der aber in Paris als Folge der Bataclan-Attentate verboten wurde). Nach Angaben der NGO 350.org zogen an die 2300 Protestzüge durch die Straßen von 175 Ländern, insgesamt beteiligten sich 785 000 Menschen2 (laut Guardian 600 0003). Im Vergleich dazu kamen 1,5 Millionen Franzosen auf die Champs-Élysées in Paris, um den Sieg Frankreichs bei der Fußballweltmeisterschaft zu feiern, und mindestens 500 000 nahmen am Trauerzug für Johnny Hallyday teil.

Gewiss wächst die Sorge um die Umwelt in der Bevölkerung seit einigen Jahren, doch sie bleibt moderat. Auch wenn sie mitteilsam und begeistert an die Sache herangehen, wissen die neuen Umweltschützer häufig nicht so recht, womit sie anfangen sollen, erschöpfen sich in kleinen Aktionen mit schwacher Wirkung oder widmen sich Projekten, die noch nicht mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Organisationen um sie herum koordiniert sind. Trotz ihrer (und unserer) Bemühungen schreitet die Zerstörung immer schneller voran als die Regeneration. Unendlich viel schneller. Wir schlafen. Von Zeit zu Zeit packt uns das Ausmaß der Katastrophe, dann nimmt der Alltag wieder seinen Lauf. Unaufhaltsam. Weil wir diese materialistische Welt lieben. Auf jeden Fall haben wir uns an sie gewöhnt. So sehr, dass wir nicht mehr anders leben können. Heute aber müssen wir schneller vorankommen und weiter gehen.

Das Ausmaß der Gefahr, mit der wir es zu tun haben, ist mit dem eines Weltkrieges vergleichbar. Zweifellos sogar noch schlimmer. Befördert wird sie von einer materialistischen, neoliberalen Ideologie, in der es hauptsächlich darum geht, Reichtum, Komfort und Gewinne zu erzielen. In der die Natur als ein riesiges Ressourcenlager zum Ausbeuten betrachtet wird; in der Tiere und andere Lebewesen für produktive oder unproduktive Variablen und Menschen für Zahnräder gehalten werden, die die ökonomische Maschine am Laufen halten müssen. Wir sollten Widerstand leisten. Wie zum Beispiel diejenigen unserer Vorfahren, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben, oder die Afroamerikaner, die Widerstand gegen die Sklaverei und später gegen die Rassentrennung geleistet haben, sollten wir uns nach und nach diesem fatalen Ziel verweigern. Wir sollten uns erheben und die Macht über unser kollektives Schicksal zurückgewinnen. Wir wollen nicht auf den Zusammenbruch und die Zerstörung zusteuern. Wir wollen keine absurde Welt errichten, in der jeder auf seine Rolle als Produzent-Konsument reduziert wird. Wir haben nicht vor, jegliches Leben auf der Erde auszurotten, einfach nur, damit wir uns aufs Sofa setzen können, das Smartphone in der Hand, mit säuselnder Musik und laufendem Fernseher im Hintergrund, mit Lieferant an der Haustür, geregelter Raumtemperatur von 22 °C usw. … Falls doch, sind wir definitiv degeneriert.

In diesem Buch habe ich versucht, die besten Strategien zusammenzustellen, mit denen wir Widerstand leisten können. Nach zwei Jahren Recherche, Lektüre und Begegnungen in über 18 Ländern habe ich rückblickend festgestellt, dass die wirksamsten Strategien nicht unbedingt diejenigen sind, an die wir vielleicht im ersten Moment denken. Demonstrieren, Petitionen unterzeichnen, lokal handeln, anders konsumieren, spenden, sich für etwas einsetzen, Orte besetzen, Dinge boykottieren … All diese Vorschläge finden wir in unzähligen Werken, Artikeln, Sendungen und sozialen Netzwerken, doch sie sind nutzlos oder nahezu nutzlos, solange sie nur isoliert von Einzelnen umgesetzt werden. Radikalere Ideen, die einen Aufstand oder gewaltsame Auseinandersetzungen erfordern, würden hingegen sicherlich nur dazu führen, dass wir das kopieren, was wir zu bekämpfen behaupten. Meiner Ansicht nach geht es nicht darum, zu den Waffen zu greifen, sondern wir müssen unsere Art, wie wir die Welt betrachten, verändern. Seit jeher waren es vor allem die Geschichten, die Narrative, die philosophische, ethische oder politische Veränderungen bewirkt haben. Wir können daher durch neue Narrative eine echte »Revolution« auslösen. Doch damit diese Narrative entstehen und in politische, wirtschaftliche sowie soziale Strukturen übersetzt werden können, müssen wir auf die Rahmenbedingungen einwirken, die unsere Verhaltensweisen leiten. Damit werde ich mich im letzten Teil des Buchs befassen.

 

Wenn all diese Fragen Ihnen eigentlich zu weit gehen (und Sie aus wundersamen Gründen dennoch dieses Buch in den Händen halten), so hoffe ich, dass ich Ihr Interesse gleichwohl wecken kann.

Wenn diese Fragen Sie durchaus berühren, Sie sich aber machtlos fühlen, so hoffe ich, dass ich Ihnen Handlungsmöglichkeiten aufzeigen kann. Wir können uns nicht länger damit zufriedengeben, die Dinge aus der Ferne zu betrachten, mit den Schultern zu zucken oder mit dem Finger auf jemand anderes zu zeigen. Wir sind alle auf die eine oder andere Weise an diesem Prozess der massiven Zerstörung beteiligt. Es ist an der Zeit, dass wir wieder selbstständig denken und Entscheidungen treffen.

Ich hoffe, dass Sie bei der Lektüre dieses Buches spüren, wie sich das so charakteristische Gefühl von Freiheit langsam in ihren Gliedern und ihrer Brust ausbreitet. Dieser unvergleichliche Drang, etwas zu schaffen und nützlich zu sein; das Bedürfnis, zu einer Sache beizutragen, die uns selbst übersteigt; sich an einer Bewegung zu beteiligen, an die sich noch unsere Kinder und Enkelkinder erinnern werden, wenn sie diesen Schlüsselmoment in unserer Geschichte näher betrachten. Jenen Moment, in dem wir beschlossen haben, nicht aufzugeben.

Es ist schlimmer, als Sie denken

Mir ist bewusst, dass die Lektüre dieses Kapitels nicht gerade angenehm sein wird, und das Verkünden von Katastrophen ist auch wenig erfreulich. Doch wir müssen unsere Überlegungen auf eine solide Grundlage stellen. Über welche ökologische Lage reden wir genau? Was steht uns in den kommenden Jahrzehnten bevor? Tatsächlich befinden wir uns in einer ungemein paradoxen Situation – die zweifellos mit unserer Schwierigkeit zu reagieren zusammenhängt. Denn es stehen zwar zahlreiche ökologische Indikatoren auf Rot, andere Indikatoren stehen aber für einen Teil der Menschheit klar auf Grün. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel wir die Welt betrachten, und je nachdem, wie wir die gesammelten Daten zusammenfügen, können wir daher zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen.

 

Wenn wir in Europa, Nordamerika, Japan, Australien, Südafrika oder in einer der zahlreicher werdenden asiatischen, südamerikanischen oder afrikanischen Städte wohnen und wenn wir zur Minderheit der reichsten Menschen auf der Erde gehören, dann genießen wir heute einen Komfort, der in der gesamten Menschheitsgeschichte absolut beispiellos ist. Dank unserer Energieerzeugung können wir die Landschaften formen, in wenigen Stunden um die Welt reisen, uns in eiskalten oder glühend heißen Gegenden ansiedeln, um dort neue Mikroklimata zu schaffen, Waren, Kleidung oder Nahrung in großen Mengen produzieren, Arme durch Prothesen ersetzen, Haare verpflanzen, mit Sonden unsere Arterien oder auch das Sonnensystem erforschen und mit einem Klick mit einer Person am anderen Ende der Welt kommunizieren, deren Gesicht wir auf einem Ding aus Metall und Glas sehen, das kleiner ist als ein Stück Butter. Wir können die Gehirne, Gedanken und Schriften von mehreren Milliarden zuvor weit verstreut lebenden Menschen miteinander verbinden, Roboter und Maschinen bauen, die in der Lage sind, uns die schwersten Arbeiten abzunehmen, und künstliche Intelligenz mithilfe von Hochleistungsrechnern erschaffen, deren Rechenkapazitäten alles übertreffen, was wir uns vor kaum hundert Jahren auch nur hätten erträumen können.

Wer wäre nicht von einer solchen Macht berauscht? Zumal wir jahrhundertelang erbittert darum kämpfen mussten, der Erde auch nur das Nötigste zum Überleben abzuringen und unsere schwachen, hilflosen Körper ohne Krallen, Fell und starke Muskeln vor den drohenden Gefahren zu schützen. Vor dem Erfrieren, vor Hitzetod, vor dem Ertrinken im Ozean … In ständiger Angst vor den Nächten, vor Blitzschlag, vor dem unerklärlichen Wüten der Natur. Jahrhunderte haben wir damit verbracht, Götter und Flüche zu erfinden sowie Geschichten zu konstruieren, die erklären können, warum wir sterben. Warum wir leben.

Heute können wir das Leben endlich genießen. Und wir wollen nicht mehr sterben.

 

Der Philosoph Michel Serres ruft uns immer wieder gern in Erinnerung, dass wir seit fast 65 Jahren vergleichsweise in Frieden leben,* doch auch dies ist in der Geschichte Westeuropas beispiellos.4 Um eine historische Perspektive zu bemühen: Kamen in England im 14. Jahrhundert jährlich 100 Tötungsdelikte auf 100 000 Einwohner, sind es heute nur noch 0,7.5 Dieser Trend zeichnet sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges auf der ganzen Welt ab. Trotz des Vietnamkrieges, des Genozids in Ruanda oder des Bürgerkrieges in Syrien ist die Zahl der Todesfälle aufgrund von Kriegen oder Tötungsdelikten auf dem niedrigsten Stand seit sechs Jahrhunderten.6

Innerhalb eines Jahrhunderts haben wir unsere Lebenserwartung um mehrere Jahrzehnte erhöht; wir haben Krankheiten ausgerottet, die zuvor Millionen von Menschen töteten. Unsere Art hat sich vervielfacht. Nun, da wir endlich sicher und in der Lage sind, unsere Geburten zu kontrollieren, das Überleben unserer Babys zu sichern, unsere Alten zu unterstützen und unsere Kranken zu heilen, hat sich die Zahl der Menschen in weniger als einem Jahrhundert verdoppelt und verdreifacht. Dabei haben wir jeden Winkel der Erde bevölkert und die Grenzen der unberührten Natur immer weiter zurückgedrängt.

Den Propheten des digitalen Zeitalters und des Transhumanismus zufolge werden wir in Zukunft mithilfe von Chips bzw. Speichermedien im Gehirn unsere kognitiven Fähigkeiten verdoppeln, unsere Organe reparieren, unsere Körper vor dem Verfall und unsere Herzen vor dem Stillstand bewahren können. Und wir werden das, was uns zu Menschen machte, überwinden und göttergleich werden.

 

Angesichts all dieser Errungenschaften müsste unsere Gegenwart für einige eigentlich Anlass zur Freude bieten. Doch im Gegensatz zu dieser beeindruckenden Fortschrittslitanei sollte uns eine andere Aufzählung stark beunruhigen. Denn diese unglaublichen Fortschritte kommen nicht allen Menschen in gleicher Weise zugute. Alle sechs Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind an Hunger, alle sieben Sekunden an fehlendem Zugang zu medizinischer Versorgung. Jeder neunte Mensch ist unterernährt, jeder zehnte Mensch trinkt Wasser, das so verschmutzt ist, dass wir nicht einmal unsere Autos damit waschen würden.7 In Kuba kommen 672 Ärzte auf 100 000 Einwohner, in Äthiopien sind es gerade einmal drei …8 Und was die Umwelt angeht, haben wir in den vergangenen vierzig Jahren die Hälfte aller Populationen der Wirbeltiere auf der Erde und innerhalb von nur drei Jahrzehnten 80 Prozent der Fluginsekten in Europa verloren; schon bald wird es mehr Plastik als Fische in den Ozeanen geben, 2400 Bäume werden pro Minute gefällt,9 Dürren, Überschwemmungen und Tornados nehmen zu, immer mehr Gebiete werden dauerhaft vom Meer überspült. Millionen von Flüchtlingen sind bereits auf der Suche nach einem Ort, wo sie überleben können, das Wasser wird knapper, die Böden erodieren …

 

All diese Zahlen sind hinlänglich bekannt. Wenn wir uns für dieses Thema interessieren, finden wir sie mühelos in vielen Artikeln, hören sie aus dem Munde von Ökologen, die sie immer und immer wieder bis zum Abwinken wiederholen. Doch unser Gehirn reagiert nicht auf Zahlen und Konzepte, es braucht Bilder, Beispiele von realen Situationen, die beschreiben, was sich hinter Worten wie »globale Erwärmung« verbirgt. Klar, die Temperatur steigt. Doch was heißt das in der Praxis?

Im Juli 2017 hat der amerikanische Journalist David Wallace-Wells einen Artikel verfasst, der in wenigen Wochen zum meistgelesenen Artikel in der Geschichte des New York Magazine10 avancierte. Darin versucht er, die Zerstörungen aufzulisten, die uns die erfahrensten Wissenschaftler für die kommenden Jahrzehnte vorhersagen, wenn wir nicht die globale Erwärmung stoppen. Und er beginnt mit einer eisigen Warnung:

Ich kann Ihnen eines versichern: Es ist schlimmer, als Sie denken. Wenn Sie in Bezug auf den Klimawandel vor allem Angst vor dem Anstieg des Meeresspiegels haben, so haben Sie nicht einmal an der Oberfläche der Schrecken gekratzt, die ein Jugendlicher von heute im Laufe seines Lebens erleben wird.

Ähnlich wie die 22 Wissenschaftler, die 2012 die nunmehr berühmte internationale Studie Approaching a State of Shift in Earth’s Biosphere veröffentlichten,11 und wie Pablo Servigne und Raphaël Stevens, deren Schlussfolgerungen in ihrem Werk Comment tout peut s’effondrer sich auf Dutzende von Publikationen renommierter Fachzeitschriften wie Nature und Science stützen, sowie zahlreiche Whistleblower und -blowerinnen rund um den Globus, beruft sich auch David Wallace-Wells auf unzählige Studien. »Dutzende von Interviews und Gesprächen mit Klimatologen und Forschern, Hunderte von wissenschaftlichen Artikeln über den Klimawandel« sind in seine Beschreibung des Kollapses und der Katastrophen eingeflossen, die die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten erleben könnte.

Dass ich so viel vorwegschicke, bevor ich die Befunde von Wallace-Wells zusammenzufassen versuche, liegt schlicht daran, dass all seine Aussagen unglaublich, ja, nahezu unmöglich klingen. Schließlich scheint unsere unmittelbare Realität – diejenige, die wir durch unsere Fenster beobachten können – davon meilenweit entfernt zu sein.

Und doch.

 

Erstens erhitzt sich die Erde schneller, als die besorgniserregendsten Vorhersagen des Weltklimarats (bzw. des Zwischenstaatlichen Expertengremiums für Klimaänderungen, IPCC) oder andere offizielle Stellen es angekündigt haben. »Seit 1998 doppelt so schnell wie von Wissenschaftlern angenommen.«12 Wir sind bereits bei einer Erhöhung der Durchschnittstemperaturen um 1,2 °C angekommen. Bei unserem gegenwärtigen Kurs landen wir eher bei 4 °C, möglicherweise bei 8 °C. Zwar soll das Abkommen von Paris die Erwärmung bis zum Jahr 2100 unter 2 °C halten, doch die internen Szenarien der Mineralölkonzerne Shell und BP sagen einen durchschnittlichen globalen Temperaturanstieg um 5 °C bis zum Jahr 2050 voraus.13 Und leider befürchte ich, dass die zynische Buchhalterlogik der multinationalen Konzerne weniger zur Blindheit neigt als die Logik der Regierungen.

 

Schon jetzt sehen wir Anzeichen der Erwärmung, etwa den Eisberg, 55-mal so groß wie Paris, der sich im Sommer 2017 in der Arktis löste, oder die Temperaturen in der Antarktis, die im Januar 2017 20 °C über dem Durchschnitt lagen. Wir haben aber auch den absolut größten, jemals auf der Erde gemessenen Hitzerekord von 2016 erlebt,* oder die Rekordzahl von Hurrikans im August und September 2017.14

Doch das, was uns erwartet, kündigt sich noch auf andere, beängstigendere Weise an.

Eines der größten Probleme betrifft das Auftauen der Permafrostböden. Diese dauergefrorene Fläche bedeckt 20 Prozent des Planeten und reicht von Sibirien über Teile Skandinaviens bis hin zur Arktis. Allein in der Arktis sollen 1800 Milliarden Tonnen Kohlenstoff eingeschlossen sein, doppelt so viel, wie sich gegenwärtig in der Atmosphäre befindet. Ist der Permafrostboden erst einmal aufgetaut, wird dieser Kohlenstoff teilweise in Form von Methan freigesetzt, dessen Klimawirksamkeit die des CO2 bei weitem übersteigt. In Sibirien schlummern 70 Milliarden Tonnen Kohlenstoff unter dem harten Boden, und das Auftauen hat bereits begonnen. All das kommt noch zu den Emissionen hinzu, die wir weiterhin in immer stärkerem Maße produzieren.

 

Die gegenwärtige Erwärmung könnte also die zukünftige Erwärmung beschleunigen und zu unkontrollierbaren Veränderungen führen. Jenseits von 5 °C können wir nicht mehr genau sagen, wie die Dinge ablaufen werden. Bei einem der letzten Massenaussterben vor 252 Millionen Jahren »fing alles an, als der Kohlenstoff die Erde um 5 °C erwärmte; es beschleunigte sich, als die Erwärmung Methan in der Arktis freisetzte, und endete mit der Auslöschung von 97 Prozent des Lebens auf der Erde«, schreibt Wells. Wir reichern heute jedoch die Atmosphäre zehnmal schneller mit Kohlenstoff an, als es damals geschah. Man muss nur einen kleinen Denkschritt tun, um daraus apokalyptische Schlussfolgerungen zu ziehen. Davor scheuen die meisten Wissenschaftler allerdings aus guten Gründen zurück, nämlich aufgrund der Nichtvorhersagbarkeit der Zukunft, der Komplexität der gegenwärtigen Phänomene sowie der Ethik und Verantwortung. Dennoch eröffnen diese Faktoren eine besondere Perspektive auf die Zukunft.

 

Nun fragt man sich natürlich sofort: Warum? Warum sollte eine Erhöhung von 5 bis 8 °C zum teilweisen Aussterben des Lebens auf der Erde führen können?

 

Zunächst einmal aufgrund der Wärme.

Wie alle Säugetiere muss unser Organismus eine konstante Temperatur halten, um im Gleichgewicht zu bleiben. In unserem Fall beträgt sie 37 °C. Übersteigt die Außentemperatur unsere innere Temperatur, können wir durch Mechanismen wie das Schwitzen unseren Körper durch Feuchtigkeit abkühlen. Bis zu einem gewissen Punkt …

Bei einer Erhöhung um 4 °C würde jeder Sommer so glühend heiß wie die Hitzewelle von 2003 werden, die 70 000 Menschen in Europa das Leben kostete.

Bei einer Erhöhung um 6 °C wären die Einwohner New Yorks Temperaturen ausgesetzt, die mit denen im heutigen Bahrain vergleichbar wären.

Bei einer Erhöhung um 7 °C würden weite Teile des Planeten unbewohnbar werden, angefangen bei der Region rund um den Äquator.

»Bei einer Erhöhung um 11–12 °C würde die Hälfte der Weltbevölkerung in ihrer gegenwärtigen Verteilung unmittelbar an Hitze sterben«, fährt Wells fort und stützt sich dabei auf Forschungen von Sherwood und Huber.15

 

Eine zweite Ursache für das mögliche Aussterben: Nahrung.

Generell wird davon ausgegangen, dass jede Temperaturerhöhung um 1 °C die landwirtschaftlichen Erträge um zehn Prozent senken würde. In Anbetracht der Tatsache, dass die Weltbevölkerung, historisch gesehen, in nie zuvor dagewesenem Maße wächst (sie hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg schlechterdings verdreifacht), könnten wir theoretisch bis zum Ende des Jahrhunderts 50 Prozent mehr Menschen mit 50 Prozent weniger Erträgen ernähren müssen …* Warum? Weil sich Dürren in neuen Regionen ausbreiten werden (und bereits ausbreiten), wie etwa im Süden Europas und der Vereinigten Staaten, außerdem in Gebieten, die zu den am stärksten bevölkerten Gegenden Australiens, Afrikas und Südamerikas zählen, sowie in bestimmten Regionen Chinas. Weil wir unter Wassermangel leiden werden. Weil die allgemeine Ausbreitung von Monokulturen, deren Ertrag mit Kunstdünger gesteigert wird, die Böden auslaugt und die für die Produktivität der Böden äußerst wichtige Biodiversität drastisch mindert, so wie auch die mit Überschwemmungen verknüpfte Entwaldung die Bodenerosion erhöht. Es wird zu einem Mangel an fruchtbaren Böden kommen, und die vorhandenen werden wir nicht dauerhaft mit Hilfe der Petrochemie verbessern können. Zumindest nicht, wenn wir eine weitere Beschleunigung der Erderwärmung vermeiden möchten. Diejenigen Böden in Grönland oder Sibirien wiederum, nach denen einige schon gierig schielen, werden ihre größte Fruchtbarkeit erst nach Jahrzehnten der Bodenbearbeitung erreichen.

Wie Jared Diamond in Kollaps16 oder auch der weltweit bekannte Agrarwissenschaftler und Umweltaktivist Lester Brown in World on the Edge17 betonen, ist der Untergang von Zivilisationen zumeist mit einem Bruch in der Nahrungskette verbunden.

Wir steuern direkt darauf zu.

 

Als nächstes kommen die Krankheiten. Halten Sie sich fest.

Wie Wells ausführt, sind bestimmte Viren seit Jahrmillionen im Eis der Arktis eingeschlossen. Sogar länger, als es Menschen gibt. Wir wissen daher nicht, wie wir auf sie reagieren könnten. Viren weit jüngeren Ursprungs wie die Spanische Grippe oder die Beulenpest werden in den Böden Sibiriens oder Alaskas vermutet. Doch am meisten Sorge bereiten den Epidemiologen die geographische Ausdehnung, die Mutation und die Verbreitung bestimmter Krankheiten aufgrund der Klimaveränderungen. Die Malaria oder das Dengue-Fieber würden höchstwahrscheinlich bis in die gemäßigten Breiten und damit auch nach Westeuropa gelangen. Schlimmer noch: Mit jedem Grad Temperaturerhöhung vermehrt sich der Parasit, der Krankheiten wie die Malaria überträgt, zehnmal schneller.

 

Kommen wir nun zur Luft, die wir einatmen.

Wie in vielen Großstädten ist uns in Paris in Anbetracht der wiederholten Warnungen vor Luftverschmutzung schmerzhaft bewusst geworden, dass die Emissionen von Autos, Fabriken und alten Heizungen, zusammen mit dem Dieselfeinstaub, dem Stickstoff der landwirtschaftlichen Düngemittel und zahlreichen weiteren chemischen Errungenschaften, Smog erzeugen, der unsere Bronchien und Nasennebenhöhlen reizt, unsere Lungen verschmutzt und unseren Organismus verunreinigt, schwächt und sogar tödlich sein kann. Bereits heute ist das die dritthäufigste Todesursache im Land: 48 000 Franzosen sterben jedes Jahr vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung. Zehnmal mehr als durch Verkehrsunfälle und fast genauso viele wie durch Rauchen. In China und Indien sterben jedes Jahr 1,1 Millionen Menschen18 aufgrund von Kohlensmog, Abgasen und anderen Schadstoffen an Atemnot. 2013, im Jahr der berüchtigten chinesischen »Airpocalypse«, »war der Smog für ein Drittel der Todesfälle im Land verantwortlich«, ruft wiederum Wells in Erinnerung. Weltweit sterben jedes Jahr 7,3 Millionen Menschen an der Luft, die sie einatmen.19

 

Doch das ist nicht alles. Je mehr sich die Konzentration von Kohlendioxid in der Luft erhöht, desto mehr sinken unsere kognitiven Fähigkeiten, und je mehr die Ozonkonzentration steigt, desto stärker könnte die Zahl der autistischen Kinder in die Höhe schießen (sofern die höhere Konzentration gekoppelt mit anderen Umweltfaktoren auftritt20) …

Ganz zu schweigen davon, dass gleichzeitig die Konzentration des Sauerstoffs sinken könnte: 20 Prozent des weltweiten Sauerstoffs stammen heute aus dem Amazonas-Regenwald, der bereits erheblich durch Entwaldung beeinträchtigt ist. Doch ihn könnte ein noch schlimmeres Schicksal ereilen, wenn er durch die Temperaturerhöhung so sehr austrocknet, dass er Bränden zum Opfer fällt, wie dies in den vergangenen Jahren bei zahlreichen Wäldern am Mittelmeer oder in Kalifornien der Fall war. Bei der Verbrennung würden außerdem wahnsinnige Mengen an Kohlenstoff freigesetzt und in die Atmosphäre gelangen. Ebenso besorgniserregend ist, dass auch die Korallen sterben – sie leiden unter der Versauerung der Ozeane und der aggressiven industriellen Fischerei. Das lässt befürchten, dass ein Großteil der marinen Unterwasserwelt und 40 Prozent des Sauerstoffs, die sie für unsere Erde produziert, verlorengehen werden.

 

Bedauerlicherweise ist absehbar, dass all diese Spannungen Kriege schüren werden; das haben auch die Wissenschaftler des IPCC bekräftigt.21 Laut Marshall Burke und Solomon Hsiang, Professoren an den Universitäten von Stanford und Berkeley, wird mit jedem halben Grad Temperaturanstieg weltweit unser Risiko, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu geraten, um zehn bis 20 Prozent steigen.22