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Kurzgeschichten eines aufgeschreckten Clowns. Horst Rellecke. Der Maler macht einen Abstecher in das andere Medium. In seinen amüsanten Kurzgeschichten erzählt er von Widrigkeiten und Stolperfallen, die der Alltag für jeden bereit hält, oder den vertrackten Abenteuern, die so oder ähnlich jedem passieren können - man muss sie nur vor dem Vergessen bewahren.
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Seitenzahl: 109
Veröffentlichungsjahr: 2012
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1. Die Schlafzimmer-Madonna
2. Nachschrift zur Schlafzimmer-Madonna
3. Das Hümmken - oder der Herr des Besteckkasten
4. Der Kampf mit dem Schlappsack
5. Milch und Kohlen
6. Der kleine Bettelpastor
7. Die Chronik einer angekündigten Züchtigung
8. Lükes Hühner
9. Nur die Liebe zählt
10. Rivalen unter der Sonne
11. Das Land, wo die Zitronen blühen
12. Perfider Albion
13. Drei Tage Wind , Sand und Sterne
14. Fahrradsaga
15. Die Materie lebt
16. Tausendmarkscheine zerreißen
17. Matratzen-Philosophie
18. Im Tal der Könige
Der Satz saß wie ein Peitschenhieb. Der Mann hat ihn wie eine immergültige Wahrheit ausgesprochen. Kein Räuspern, kein Kieksen, jedenfalls keine begleitende Sprachverfremdung oder Mimik, die mir die Hoffnung gelassen hätte, hier wäre Ironie mit im Spiel. Ich muss daraus folgern, dass diese Feststellung ernst gemeint war. Der Mann hat wirklich gesagt und gemeint: "Das ist ein schönes Bild".
In bisher gewohnten Zusammenhängen pinseln derartige Beurteilungen den Bauch des Autors, schließlich sind Pinsel und Farbe seine besten Freunde, aber dass der "Schinken" über dem Fahrradständer das Lob einheimste, kratzt nun wirklich am künstlerischen Ego. Das ganze Haus ist voll von Kunst, die Schubladen im Atelier quellen über, wo man hinschaut Farbe mit absichtlicher Ordnung, mit Sinn, Sinnlichkeit und Phantasie in Szene gesetzt - und dann das!
Aber ich muss die Bauchschmerzen-Geschichte wohl doch von vorne erzählen:
Meine älteste Erinnerung an dieses Bild stand Pate für die Namensfindung. Die Madonna hielt im Schlafzimmer meiner Eltern über dem Doppelbett, den flankierenden Nachtschränkchen und der Frisierkommode Wache. Irgendwann zog die FriKo von der Innenwand auf die Fensterseite und der gewonnene Platz wurde mit einer etwas größeren Liegestatt für mich wieder gefüllt. Bis dahin muss ich wohl immer auf der Besucherritze geschlafen haben, meine Erinnerung reicht hier nicht mehr tiefer. Irgendwie hatte ich fortan so etwas wie ein stilles Komplott mit der Madonna, immerhin waren wir beide stumme Zeugen eines erzkatholischen Ehelebens. Du meine Güte....!
Die Madonna hatte ja wohl den prominenten Platz über den Daunen erhalten, weil man sich davon himmlischen Beistand erhofft hatte. Mag ja auch in mancher Hinsicht funktioniert haben (Sursum Corda!), aber in ganz handfesten Angelegenheiten, die ich besser beurteilen kann, hat der Zauber jedenfalls nicht gewirkt. Mit ihrem huldvollen Blick hat sie übersehen, wie der zu allen Hoffnungen anlassgebende Junge beinahe in den Flammen der defekten elektrischen Heizdecke unterseits und des schweren Federbetts (noch von Oma) oberseits sein junges Leben ausgehustet hätte. Ist ja gerade noch mal gut gegangen, weil Mutter was gerochen hatte. (Die andere Fraktion wird jetzt wieder sagen: Und wo hatte sie die gute Nase her, häh?). Zu der Zeit hatte man noch schöne Eisblumen an den Fensterscheiben und die Schlafzimmerheizung wurde durch eben eine solche Heizdecke ersetzt, die man billig auf einer Kaffeefahrt erstanden hatte. Nie wieder ist solches Teufelsmachwerk ins Haus gekommen, den Eltern nicht und mir schon gar nicht.
Mit dem ersten Umzug meiner Erinnerung musste die Madonna mit weniger prominenter Wirkungsstätte vorlieb nehmen. Sie landete im Keller in der dunkelsten Diaspora über dem Kartoffelschoss. Erst jetzt nach so vielen Jahren, kommt mir der Verdacht, dass sie Opfer einer unbewussten Retourkutsche meinerseits gewesen sein könnte. Sie musste weichen, weil der junge Künstler seine ersten ernst gemeinten Werke zu Geburtstagen oder auch zu Weihnachten in der Familie verteilte - jede Malerkarriere fängt so an.
Die stolzen Eltern gaben irgendwann vier springenden Pferden von des Sohnes Hand (schon in Öl) den Vorzug. Ich finde heute noch, dass die Madonna es einfach nicht besser verdient hatte, weil sie damals in der Feuernacht total versagt hatte.
Jetzt, da mir die Geschichte nur so aus der Feder (Tastatur) fließt, wird es mir immer klarer: die heilige Allianz muss durch das Inferno in Abneigung umgeschlagen sein, denn wie sonst soll ich erklären, dass später bei wüsten Bubenstreichen der ein oder andere Wurfpfeil die auf dünnem Papier gedruckte und auf Hartfaser kaschierte Ölgemälde-Reproduktion traf. Wegen meiner katholischen Vergangenheit hätte ich das bei einer echten Madonna ja nie gewagt, aber unsere war ja nur ein Falsifikat. Deswegen waren die zwei bis drei Einschüsse mit dem Luftgewehr sicher auch nur eine lässliche Sünde. Vermutlich habe ich diese Untat aber tatsächlich irgendwann gebeichtet.
Nach dem Tod des Vaters zog meine Mutter in eine kleinere Wohnung. Die Madonna zog zwar mit, hatte aber keinen Vorteil davon - es ging nur von Keller zu Keller. Sie konnte dort jetzt den vier springenden Pferden Gesellschaft leisten, die ihren Platz an “Die letzte Bastion der Magie (Werk Nr.54/72, Öl auf Leinwand, 60 x 70 cm) hatten abtreten müssen. Da ich zu dieser Zeit längst nicht mehr zuhause wohnte, kann ich über diese dunklen Jahre unserer Madonna nichts berichten.
Nach dem Tod der Mutter war nun auch dieser Haushalt aufzulösen. Wenn die praktischen und brauchbaren Dinge in naher und ferner Verwandtschaft weitere Verwendung fanden (ich konnte und wollte wirklich nichts davon gebrauchen), so habe ich mich an die kulturellen Werte gehalten. So nahm ich denn mein eigenes Taufkleidchen, den Chapeau Claque meines Vaters (dessen Krempe abgerissen war und der mir ja auch sowieso nicht gepasst hätte, weil mein Vater einen Mordskopf gehabt hatte) und die Schlafzimmer-Kartoffelschoss-Madonna als mein gesamtes und alleiniges Erbe zu mir.
Diese Sentimentalität brachte der Madonna für die nächsten Jahre immer noch keinen Gewinn, vielleicht waren sie sogar eine Zeit harter Entsagung. Sie wurde nämlich in einem Keller eingelagert, der die Zucht von Pilzen auf dem ebenso nackten wie feuchten Steinboden ermöglichte. Zwischen Weinflaschen und Konservendosen, die wegen der Feuchte ihre Etiketten verloren hatten, Fahrrädern und Sportgeräten, die im Schnellrostverfahren Form und Funktion verändert hatten, und der Pilzkultur überlebte die Madonna auch diese Prüfung.
Die verrosteten Geräte und Konservendosen haben wir beim nächsten Umzug in den Container entsorgt, den Wein natürlich getrunken und die Madonna, deren Alabasterteint die Schimmelpilze absolut nichts anhaben konnten, mit in das neue Haus genommen. Kunst vom Autor und seinen Kollegen hat natürlich alle bewohnten Räume beschlagnahmt, so dass es wieder nur zum Keller reichte. Ich habe den Platz über dem Fahrradständer in einem absolut trockenen Keller mit Restlicht durch die Kellertür aber durchaus für einen Ehrenplatz gehalten - wenn man daran denkt, welche Rechnung ich bei der Dame noch offen habe.
Da hängt sie nun auch schon im sechsten Jahr und eigentlich hat bis zum Großauftritt des Fensterputzers niemand besondere Notiz davon genommen. Der sollte die Scheiben des Ateliers putzen. Bilder hatte er bei der Inspektion seines Tätigkeitsbereiches zuvor ja dort bereits haufenweise gesehen. Auf dem Wege zur Zapfstelle im Keller für das benötigte Wasser verharrte er ganz ergriffen vor der Schlafzimmer-Kartoffelschoss-Fahrradständer-Madonna und sagte mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme: "Das ist ein schönes Bild".
Die Geschichte von der Schlafzimmer-Madonna habe ich als kleinen Weihnachtsgruß an die Familie, Freunde und Bekannte verschickt, weil eine Madonna ja immer irgend etwas mit Weihnachten zu tun hat. Ich habe nicht ahnen können, was ich damit angerichtet habe.
Plötzlich wollte nun jeder Adressat der ersten Veröffentlichung die Madonna über dem Fahrradständer sehen. Bald schon kursierten Fotokopien der Geschichte und billige Reproduktionen der Madonna in unkontrollierbarer Auflagenhöhe. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda, wobei jeder noch persönliches Beiwerk einfließen ließ, wurde die Sache weithin bekannt.
Ich sah mich bald gezwungen, den Keller zu festgesetzten Zeiten für die wachsende Zahl der Wallfahrer geöffnet zu halten. Nach geraumer Zeit und etlichen Spontanheilungen musste ich die Fahrräder und Gartengeräte beiseite schaffen, weil ich den Platz für die zurückgelassenen Rollstühle und Krücken der Geheilten benötigte. Die Entwicklung hatte aber auch für mich selbst ihr Gutes, weil ich mit dem Kerzenverkauf ein ordentliches Zubrot verdienen konnte. Damit konnte ich dann den Druck einer hochwertigen Reproduktion in einer Auflage von 5000 Exemplaren finanzieren, die so brillant war, dass sie mein falsches Original fast noch übertraf.
Der gesamte Devotionalienhandel war schließlich so zeitraubend, aber auch lukrativ, dass ich wirklich in Versuchung kam, meinen eigentlichen Beruf an den berühmten Nagel zu hängen. Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Gerade als alles so schön lief, hat der zuständige Bischof davon Wind bekommen. Ich erhielt eine Liste der Auflagen, was so alles zu einem ordentlichen Wallfahrtsort gehört - davon hat man ja als Laie keine rechte Vorstellung. Mein Antrag auf Aufnahme in die offizielle Liste wurde schließlich abgeschmettert, weil etwas mit den Wundern nicht in Ordnung war: es fehlte ein Heiliger. The empire strikes back.
Gut, dass ich den Bau des Hotels noch rechtzeitig stoppen konnte.
In jedem Haushalt, ob Single, WG, Liebesnest oder Großfamilie gibt es eines. Es ist unverzichtbar für jeden Hausstand, kann aber dennoch nicht in dem Zustand erworben werden, der es erst zur Namensführung berechtigt. Eigentlich kann man es gar nicht kaufen - tatsächlich wird es meistens in den Familien (nach meiner Beobachtung in der männlichen Linie) vererbt: das Hümmken, Hümmelken oder Hümmchen - je nach westfälischer Zuordnung - aus der Gattung der Schneidewerkzeuge. Die unterschiedlichen Spielarten deutscher Zunge werden diesen elementaren Haushaltsgegenstand anders benennen, aber inhaltlich ändert sich an der folgenden Erkenntnis nichts.
Das alte Tafelsilber, die schweren Schwerter und Gabeln groß wie Mistgabeln, mit denen man sich früher bei üppigen Gelagen dem Herzinfarkt entgegen gefressen hatte, und die Löffel, die für jeden mitteleuropäischen Mund kaum zu fassen waren, verschlafen ihre Statistenrolle meistens in samtenen Futteralen (blau, altrosa oder schwarz), die immer ein wenig nach Oma-unterm-Arm riechen. Das Alltagsbesteck hängt heutzutage ohne nennenswerte Chance auf Weiterentwicklung lustlos an verchromten Gestellen. Das Vorlegebesteck und das Messer-Set mit Holzblock im trügerischen Designer-Look sind zwar was für das Auge, die Standzeiten im täglichen Gebrauch sind aber geradezu lächerlich. Die Espressolöffelchen und andere Exoten wie Eierschneider oder Maiskolben-Spießchen sind sowieso die Parias in der Schublade. Der wahre Herrscher des Besteckkastens ist das Hümmken.
Im Larvenzustand, zum Zeitpunkt des Erwerbs, ist das Hümmken ein neues kleines Schälmesser, aber eben nur ein Schälmesser und sonst nichts, mit dem vorzugsweise Kartoffeln oder Zwiebeln geschnitten werden. Von diesem Stadium bis zum fertigen Hümmken ist es noch ein langer Weg.
Der Griff sollte eigentlich aus Holz sein, ist aber oft aus Plastik. Für beide Varianten gilt, dass ein echtes Exemplar gewisse Stadien bis zur Reife durchlaufen muss. Bei Holz ist es wichtig, dass der Griff sich mit der Zeit ergonomisch verformt; er muss einerseits glatter werden (in Japan heißt dieses Phänomen Wabi Sabi), anderseits müssen aber auch Stücke abbrechen und dann durch Gebrauch wieder glatt werden. Auf jeden Fall dürfen keine Reste der Originalfarbe oder des Lackes sichtbar bleiben. Bei den Messern mit Plastikgriffen gelingt diese Art der Metamorphose zum richtigen Hümmken eher selten, vielmehr sollte in diesem Falle das Messer eine gewisse Zeit in der Nähe einer heißen Herdplatte vergessen werden. Begehrte Stücke beider Herstellungsvarianten weisen oft nur noch eine Griffseite auf, wobei dann die Stifte zur Halterung der Klinge sehr schön zutage treten. Allerdings muss man die Handhabung des Werkzeugs manchmal den neuen Gegebenheiten anpassen.
Der kalte Stahl verspricht zwar Rostfreiheit, wenn aber in den vielen Gebrauchsjahren die Schrift nicht mehr lesbar ist, hält er sich meistens auch nicht mehr an das Versprechen. Die Klinge ist auf der Schneideseite vorzugsweise etwas konkav, kann aber auch gerade sein, auf jeden Fall muss sie ein paar Macken aufweisen. Wellenschliff kommt aber von vornherein nicht in Frage. Das Hümmken muss seine Lebenstüchtigkeit aber auch dadurch beweisen, dass es andere dem ursprünglichen Erwerbsgrund nicht unbedingt entsprechende Tätigkeiten übernehmen kann. Hier ist zunächst die Verwendung als Schraubenzieher zu empfehlen, weil bei dieser Nutzung die beste Aussicht besteht, endlich die Spitze abzubrechen, die ansonsten immer noch die jugendliche Unreife verrät. Die Messerspitze muss demnach unbedingt ab - und wenn es zwanzig Jahre dauert.
Es hat aber wiederum keinen Zweck, diesen Zustand aus Ungeduld willentlich (d.h. mit Werkzeug: Zange, Hammer, Wagenheber o.ä.) herbeizuführen, weil das Abbrechen der Spitze immer mit einer besonderen wohl erinnerten Geschichte verbunden sein muss: das Abbrechen der Spitze ist z.B. durchaus gültig, wenn man etwas Kleingeld aus dem Sparschwein heraus fummeln, die letzte Kopfschmerztablette unter der Fußleiste hervor kratzen oder den eingetrockneten Deckel von der dämlichen Farbdose abhebeln will.
Ein Hümmken ist in seiner Vielseitigkeit nur noch mit einem Schweizer Offiziersmesser zu vergleichen. Man kann damit Briefe öffnen, spontan oder vorsichtig (unter Hinzuziehung von Wasserdampf die ganz besonderen), eingebrannte Fette von der Ofenplatte oder aus dem Backofen kratzen ohne die Emaille anzugreifen, vor der Fronleichnamsprozession oder dem Schützenfest das Moos aus den Steinritzen kratzen, Blei-sowie Buntstifte anspitzen, das Schwarze unter den Fingernägeln entfernen (!), die letzten faserigen Reste aus dem Pfirsichkern pulen, aus Möhren Männchen und aus Kürbissen Halloween-Masken schnitzen. Die Königsdisziplinen sind: Schnittmuster in den gedeckten Apfelkuchen ritzen, Wanderstöcke mit geschnitzten Rauten versehen, Stempel für den Kartoffeldruck herstellen oder Holzskulpturen(!) den letzten Pfiff geben. All diese Tätigkeiten hinterlassen ihre Spuren und machen aus dem anonymen industriellen Küchenwerkzeug einen Gegenstand mit geheimnisvoller Aura. Jede Scharte des Geheimnisträgers steht für ein Ereignis in Haus oder Garten von ungeahnter Tragweite.