kyrill - Hartmut Geerken - E-Book

kyrill E-Book

Hartmut Geerken

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Beschreibung

Der Autor Hartmut Geerken (geb. 1939) legt hier den ersten von zwei Bänden mit einer Auswahl von 300 seiner Gedichte vor, die er vor einem halben Jahrhundert (1959-1961) geschrieben, aber nie veröffentlicht hat. Sein ausführliches Vorwort zu dieser Sammlung thematisiert das Problem eines Frühwerks und dessen Veröffentlichung: das Dilemma des Dichters zwischen früherem Schreiben und heutigem Lesen der Gedichte und die psychologisch interessante energetische Reibung zwischen Selbstbeschmutzung und Werkgeilheit, der sich der Autor mit dieser Publikation ausgesetzt sieht.

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Seitenzahl: 113

Veröffentlichungsjahr: 2015

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für die frau

die viele dieser gedichte aus mir

herausholte

& diese fast von anfang an mit

anteilnahme & kritik begleitete

& einen grossteil davon mit einer

kohlepapierkopie abtippte

& in einer auflage von zwei

exemplaren 1961 unter dem titel

„aprilaugust“ in handgebundenen

hardcovern im siger-verlag

frickenhausen ‚veröffentlichte‘

dreizehn vorworte voller fragen & klammern

let those i love try to forgive what i have made

(ezra pound)

à une telle distance on ne peut plus s’écouter

(jacques derrida)

o der überlächerlichen lachlöcher – lachen der verlächerten lachhälse

(velemir chlebnikow übersetzt von franz mon)

das druckenlassen verhält sich zur niederschrift wie das wochenbett zum ersten kuss

(friedrich schlegel)

1

schon mit der wahl der mottos legt man eine spur (beziehungsweise mehrere) & selten nur ist ein prolog (wie dieser) so wichtig & mindestens gleichwertig mit dem ganzen inhalt des buches. & ezra pound kann sich von einer der grossartigsten leistungen der literatur so lange distanzieren wie er will. er wird uns damit nicht beeindrucken.

2

als ich im sommer 1998 ein paar wochen zusammen mit robert lax (1915-2000) auf der insel patmos verbrachte um tonaufnahmen für ein hörspiel mit ihm & über ihn zu machen war ich auch mit der vervollständigung einer umfassenden bibliografie dieses amerikanischen dichters beschäftigt die ich zusammen mit sigrid hauff (der diese & alle folgenden gedichte gewidmet sind) erstellte. robert lax erlaubte mir seine wenigen bücherregale systematisch durchzustöbern um eventuell noch unbekannte veröffentlichungen von ihm zu entdecken. ich stiess dabei auf mehrere originalverschnürte vergilbte & verstaubte päckchen. roberto erlaubte mir sie zu öffnen. es waren alte postsendungen mit den belegexemplaren von veröffentlichungen die der dichter ungeöffnet beiseite gelegt & ‚vergessen’ hatte. ein päckchen enthielt die etwa zwanzig belege der schmalen publikation „you will dissolve before me“ (green island edition 1970). ich fragte roberto ob er mir ein exemplar signieren wolle. er nahm eines zur hand warf einen kurzen blick auf den 28 jahre alten text klappte ihn schnell wieder zu (wie eine katze ihren kot im sand verscharrt) so als ob er sich schämte oder fürchtete oder eine abscheu hätte vor dem was er einmal geschrieben hatte & versah den druck dann trotzdem mit einer widmung.

in einer ähnlichen lage wie lax befinde ich mich jetzt. ich weiss nicht wo mich die erste veröffentlichung von gedichten hinführt die ich vor fast einem halben jahrhundert geschrieben habe. dies sind keine gedichte wie ich sie heute schreiben würde & trotzdem gebe ich sie frei. darf man das überhaupt? soll man das? muss ich mich dafür genieren oder entschuldigen? aber wofür? – der erste mensch dem ich 1958/59 meine ersten gedichte vorgelesen habe war der etwa gleichaltrige bildhauer rolf bodenseh der mir im gegenzug seine ersten plastiken von fetten weibern aus ytong vorführte. ich erinnere mich an konstruktive gespräche mit ihm die für den fortgang sowohl meiner vielleicht auch seiner kreativen tätigkeit sehr wichtig waren. –

ich habe die meisten gedichte nachdem sie niedergeschrieben waren (nachdem sie ‚heraus’ waren) nie mehr wiedergelesen. die blätter habe ich gelocht & in dinfünfordnern abgelegt. diese fürchterlich grauen polyvinylchloridordner der firma ivc („schöner kleiden froher leben durch chemiefasern“) waren ein frühes produkt des plastikzeitalters. es war ja auch die zeit der noch furchtbareren weissen nylonhemden die funken sprühten & knisterten wenn man sie sich über den kopf zog. besagte ordner waren ein geschenk der reutlinger textilfirma ulrich gminder für den kaufmännischen lehrling hartmut geerken (oder habe ich sie vielleicht doch mitlaufen lassen weil sich plastik so sinnlich anfasste?). in diesen ordnern gerieten die ‚abgelegten’ gedichte während meiner ausgedehnten auslandsaufenthalte in einer dachkammer in einem schwäbischen dorf jahrzehntelang in vergessenheit.

3

nun sind sie wieder aufgetaucht & es ergeben sich spannende fragen. war ich das damals? wer bin ich heute? wo ist das gelenk zwischen diesen beiden ich? darf ich wertend zurückblicken? hätte ich damals weiter vorausschauen müssen? die damaligen inhalte heute in gedichtform bringen zu wollen wäre eher peinlich. damals war dies sicher nicht der fall (oder vielleicht doch?) & wahrscheinlich therapeutisch notwendig in zeiten hormoneller umstellungen. lyrik (auch drama) schreibt man ja nur wenn man zu schwach ist für prosa also vornehmlich in der pubertät & im greisenalter. – auch formal hat sich einiges verändert: die vielen trivialitäten das aufdringliche partizip präsens & das (von heute aus gesehen) schwer erträgliche pathos habe ich in neuerer zeit mit hilfe des genitivs erfolgreich vernichtet („ogygia“ „klafti“). aber sollte ich im rückblick meiner aggression gegen das frühere (gegen das mehr oder minder kindische) freien lauf lassen? ich kann diese texte heute nicht mehr widerstandslos lesen. aber soll ich sie (& damit auch mein früheres ich) deswegen ins feuer werfen? – so könnte ich weitermachen mir fragen zu stellen bis an die grenze der selbstbeschmutzung. vielleicht ist das nötig. vielleicht ist es aber auch nötig diese texte vor der entsorgung zu retten? jedenfalls muss ich mich in einer art spagat sowohl von mir selber distanzieren (so als ob ich schon tot wäre) als auch von den gedichten & zusehen wo sich der autor von heute & seine gedichte von damals vielleicht wieder treffen um in eine wechselrede einzutreten die abneigung & anziehung abwägt.

als heinrich heine 1837 eine vorrede zur zweiten auflage seines „buchs der lieder“ schrieb hat er das mit einer erstaunlichen klarsicht getan: „es will mich bedünken als sei in schönen versen allzuviel gelogen worden & die wahrheit scheue sich in metrischen gewanden zu erscheinen. nicht ohne befangenheit übergebe ich der lesewelt den erneuten abdruck dieses buches. es hat mir die grösste überwindung gekostet. ich habe fast ein ganzes jahr gezaudert ehe ich mich zur flüchtigen durchsicht desselben entschliessen konnte. verstehen wird diese empfindung nur der dichter oder dichterling der seine ersten gedichte gedruckt sah. erste gedichte aber die gedruckt sind grell schwarz gedruckt auf entsetzlich glattem papier diese haben ihren süssesten jungfräulichen reiz verloren & erregen bei dem verfasser einen schauerlichen missmut.“ – aber warum hat heine diese gedichte dann trotzdem zum zweiten mal publiziert? warum hat robert lax sein „you will dissolve before me“ nicht zerrissen & stattdessen mir gewidmet? das ist die zentrale frage.

4

die geschöpfe die damals entstanden sind wirken heute unangenehm subjektiv. also könnte man mir vorwerfen (könnte ich mir vorwerfen) dass ich damals ein pfuscher war denn die texte können sich nicht von mir loslösen (objektivieren/sich nach aussen entbinden) denn (meint mynona) „je genialer ein dichter ist desto unabhängiger von seiner willkür bewegen sich seine geschöpfe“. muss ich aufgrund dieses utopischen gedankens von einer veröffentlichung absehen?

5

gern hätte ich eine tonkonserve meines ersten öffentlichen rundfunksolokonzerts für den südwestfunk im tübinger schlachthof aus dem jahr 1953 mit werken von béla bartók. – wieso ‚gern’? um eine biografische kontinuität festzuschreiben? um sagen zu können schaut her schon so früh…? sicher nicht um feststellen zu können wie schlecht ich damals als 14jähriger am klavier war. will ich mir dann etwa vormachen dass ich ein wunderkind gewesen bin?

6

worauf ich hinauswill: kann der frühere autor insoweit exploitiert werden dass eine annäherung an den jetzigen in form einer neuen ästhetischen reibung stattfindet? kann die unentwickeltheit (die unreife/das unvermögen gefühle in eine vom autor unabhängige form zu bringen) im nachhinein (nach einer verrauchten distanz von fast fünfzig jahren) eine neue ästhetische qualität hervorzaubern? oder ist vielmehr heute eine überreife eingetreten in der die gültigen individuellen qualitäten von früher keinen platz mehr beanspruchen dürfen? können diese texte nur noch historisch goutiert werden? oder kommt es nur ganz einfach darauf an in was für einer stimmung ein leser gerade sein muss um ein gedicht schätzen zu können? aber wie viele leser gibt es (& in wie vielen unterschiedlichen stimmungen)? muss ich sie alle bedienen? oder gewöhnt man sich etwa (nachdem man sich eingelesen & -gelassen hat) an die unzulänglichkeiten früherer ästhetischer massstäbe? – eine positive beantwortung dieser fragen würde vieles vereinfachen & es hiesse dass gedichte nicht veralten.

das problem (falls es überhaupt eines ist) liegt jedoch im zwischenbereich von damaligem schreiben & heutigem lesen. dieser zwischenbereich wird von mehr oder weniger durchlässigen fronten begrenzt. giftpfeile fliegen vom heute ins damals aber auch umgekehrt. der autor von damals will die fünfzig jahre entwicklung nicht mitmachen. der autor von heute der gleichzusetzen ist mit dem leser (denn jener liest seine gedichte heute wie die eines fremden) beklagt arrogant & hochnäsig dass der schreiber von damals noch nicht weit entwickelt war. was hätte denn entwickelter sein sollen? die form? der inhalt? das intellektuelle niveau? der stand in der gesellschaft? die nabelschnur zwischen autor & gedicht?

7

was ist es was mich an diesen alten gedichten abstösst? was mich von ihnen trennt? was ist es was mich aber auch anzieht? das hineinschlüpfen in eine längst verlassene chitinhülle ist weder dem insekt noch mir möglich. es muss etwas komplexeres sein als das voyeuristische hineinschauen in alte spielzeugtruhen (pubertäre doktorspiele/erste bücher & liebe). sind die verzeihbaren verzückungen eines jungen mannes die (nach einem halben jahrhundert) vom leben souverän eingeübt nun zum alltag gehören (& nach wie vor von glück & unglück geprägt) in dieser weise heute nicht mehr aufschreibenswert? – sicher in dieser weise nicht. der resignation & hoffnung in vielen dieser gedichte kann ich heute nichts mehr abgewinnen. ich kann nur noch darüber lachen dass ich diese lernunfähige krone der schöpfung leidvoll besang & sie nicht als unabänderliches faktum anarchisch hingenommen habe. kann man eine solche veränderung in der mutmassung über den menschen entwicklung nennen? oder sind es vielmehr verschiedene perioden von denen jede gültigkeit hat? jedenfalls suchte damals der junge (unerfahrene?) autor aus persönlichen politischen & gesellschaftlichen problemen einen ausweg mittels des gedichts (dieses immer offene klosettfenster in einem raum voller verstrickung & verstopfung).

8

niemand hat mir empfohlen diese gedichte zu veröffentlichen. die entscheidung lag nur bei mir. den ausschlag sie zu drucken gab einerseits eine neue technische möglichkeit des buchdrucks andererseits das wissen darum dass die gedichte damals stimmten (in mich hineinpassten) & einen wichtigen therapeutischen wert hatten. aber eine notwendigkeit aus diesen gründen heute an die öffentlichkeit zu treten gibt es natürlich nicht. deshalb bin ich den texten & ihrer publikation gegenüber eher hilflos. ich sehe zwar mein flaches abbild (eine schon angegilbte fotografie) aber ich sehe mich heute nicht mehr so oder nur zu einem teil (ich höre zum beispiel immer noch die sehr angenehmen geräusche der mechanischen schreibmaschine). ich stehe heute nicht mehr hinter diesen texten kann aber auch nicht sagen dass ich nicht mehr dahinter stünde. ohne mich für die gedichte zu schämen setze ich an dieser stelle zum beweis meiner schamlosigkeit (& um die fragestellungen dieser vorworte auf die spitze zu treiben) die allererste veröffentlichte gebundene rede meiner literarischen laufbahn (‚ringelreihen’ kinderzeitung der neuen württembergischen zeitung zweiter jahrgang nummer fünf vom 14. mai 1949 seite 64):

Der Mai

Juhei, juhei,

jetzt ist es Mai.

Er bringt uns Blumen und Sonne,

Freude und Wonne,

die Bächlein fließen,

die Blumen sprießen.

Die Vöglein überall singen,

Has und Rehlein springen,

aus lauter Freud und Herrlichkeit.

Mensch und Tier sind alle Herzen weit.

muss ich mich dafür schämen? falls ja – bitte sehr. aber wie lange?

9

jacques derrida weist in seinem vorwort zu einem vierzig jahre zurückliegenden unveröffentlichten jugendwerk („le problème de la genèse dans la philosophie de husserl“ paris 1990) auf die idiomatische qualität des ausdrucks ‚s’écouter’ hin: „s’écouter, peut-on aimer cela? aimer sans le mauvais goût d’un poison ou l’avant-goût d’une maladie? j’en doute de plus en plus. on s’écoute toujours, certes, quand on cède à la tentation de publier. comment le dénier? autrement dit: comment faire autre chose que le dénier? on écoute alors son désir, bien sûr, et on écoute encore, on accepte au moins d’entendre à nouveau résonner pendant quelque temps la voix qui parle dans le texte. mais est-ce encore près de quarante ans après? “

10

eine andere frage (die einzige die ich mit einem eindeutigen ja beantworten kann): gehe ich mit dieser veröffentlichung ein risiko ein? risiko ist die bewusste inkaufnahme von gefahr. aber was wäre das für eine gefahr? der vorwurf der werkgeilheit & überheblichkeit? blamage wegen zu viel pathos? ein öffentlicher verriss? das stille übergangenwerden? die gefahren kommen nicht von ungefähr. sie sind zahlreich & jedem literarisch schreibenden bewusst. ich bin bereit das risiko einzugehen & rechne jederzeit auch mit einer art maelström der alle diese gedichte in seinen strudel mit hinabreisst.

11

diese ganze fragestellerei ist vielleicht auch nur ein rhetorischer anlass sich mit bescheidenen fragen brüsten zu können die sich andere auch schon gestellt haben & einen vorwand zu schaffen sich exhibitionistisch der leserschaft auszusetzen. die frage jedoch warum „kyrill“ jetzt da ist weiss ich nicht zu beantworten. die graduellen reibungen zwischen selbstbeschmutzung & werkgeilheit erzeugen so etwas wie eine fordernde energie der ich verfallen bin & nachgegeben habe.

12

der aussergewöhnlich schwierige vorgang der titelfindung für diesen gedichtband hatte ein listengedicht zur folge. zur auswahl standen folgende

titel

totentrompeten

koranzeichen gelb umrandet

rot asche grau

shibam

eukalyptus kinsey

grünspan

hände waschen im honig

ein telegramm ein telegramm

uhrengebrüll

mondkotze

& log & log

das vertikale lächeln

kadavermontagen

nagasakischnee

sokrates in unterhosen

schalsick

el hammam

haiku null

sterbende pilze

augenatoll

rabendunkelduft

boxkalb

ein pferd in griechenland

manteca

schüchterne zeithiebe

fette salamander

alle bis auf totentrompeten shibam sterbende pilze & boxkalb sind in der handschriftlichen liste gestrichen. eukalyptus kinsey ist als einziger potentieller titel rot umrandet aber schliesslich auch getilgt. es kamen in die engere

wahl

grünspan

mondkotze

haiku null