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Die Vögel zwitschern, die Sonne spiegelt sich im wunderschön angelegten Pool, den ich durch die üppige Vegetation des Hotelgartens in seinen Umrissen nur erahnen kann, und es liegt ein Geruch in der Luft, von dem ich meine, ihn von irgendwoher zu kennen. Ich überlege. Wieder und wieder hole ich tief Luft, lasse den Duft buchstäblich in meiner Nase zergehen, genieße ihn, weil ich weiß, wir zwei sind alte Bekannte. Ich schließe die Augen, lege die Hände auf die noch nachtfeuchte Brüstung des Balkons und atme tief. Ja, da ist es. Ich sehe das Bild vor mir, das zu diesem Geruch passt. Ein tropisches Gewächshaus. Mitten in der Stadt in unserem botanischen Garten. Der Geruch ist nicht ungefähr oder in etwa so. Nein. Es ist exakt diese Mischung aus feuchter Wärme, dem Duft exotischer Blüten und den Blättern immergrüner wuchernder Pflanzen und feuchter Erde. Genauso und kein bisschen anders riecht es zu Hause in diesem Gewächshaus. Ich öffne die Augen gerade im richtigen Moment, um noch das kleine eichhörnchenartige Tier zu sehen, das soeben auf den Stamm einer großen Palme klettert. Der Lärm der Riesenstadt wird durch die vielen Pflanzen und die den Hotelgarten umgebende, von hier fast unsichtbare Bebauung perfekt gefiltert. Ich atme die unverhoffte Stille mit dem scheinbaren Gewächshausduft. Leise kommt Vanessa hinter mir durch die Balkontür, legt ihre Arme von hinten um mich und ihren Kopf an meine Schulter. Ihre blonden Haare kitzeln mein Ohr. Ich drehe mich zu ihr und gebe ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. Sie sieht müde aber hübsch aus. "Riechst du das?" fragt sie mich leise und noch etwas verschlafen. Ich nicke: " Ja, es riecht wie…" "in unserem botanischen Garten im Gewächshaus", unterbricht sie mich. Ein Tautropfen nutzt das meterlange nur armbreite Blatt eines spiralförmig gewachsenen Baumes, der sich an die Balkonbrüstung lehnt, als Sprungschanze zur Erde. Leise plätschert ein kleiner künstlicher Bachlauf. Es ist noch immer so ruhig-und dieser Duft.
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Titel:
Lächeln in Bangkok
Autor:
Klaus Heidenreich
Copyright: © 2014 Klaus Heidenreich
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN: 978-3-8442-8615-1
Für meine Eltern,
die sich mittlerweile zu alt fühlen für eine doch recht strapaziöse Reise, und denen früher auf Grund der politischen Situation lediglich ein verschwindend kleiner Teil der Welt zugänglich war.
Die „Wende“ kam einfach zu spät.
Tolle Stadt – glauben wir.
Wenn wir das nächste Mal auf die Welt kommen, fahren wir auch hin.
So aber warten wir auf Euren ausführlichen mündlichen Bericht.
(Mein Vater Horst - auf unsere per Email geschilderten Eindrücke.)
Wir sehen ein relativ kleines Schild mit der Aufschrift „Gothailand”. Nur niemanden, der dazugehört.
Das Gedränge hier in der Ankunftshalle des Flughafens Bangkok ist einfach zu groß. Das Schild bewegt sich weg von uns. Wir rumpeln mit unseren Rollkoffern über Kanten, Gitterroste und jede Menge Füße panisch hinterher. Nur nicht den Kontakt verlieren. Das Schild bewegt sich auf einen anderen Ausgang zu. Jetzt verharrt es an einer Stelle. Der Abstand zwischen uns Kofferrallyefahrern und dem Schild verringert sich. Gleich haben wir’s. Jetzt. Die hellbraune Pappe zeigt zum Ausgang, also genau weg von uns. Es ist unerträglich heiß. Wir kämpfen uns weiter voran und sehen noch immer nicht, zu welchem Körper die Hand, die das Schild hält, gehört. Jetzt. Lange schwarze Haare und dazu eine sehr kleine zierliche Person.
„Gothailand”, rufe ich.
Sofort dreht sich die zierliche junge Frau um, klemmt sich die „Gothailand“-Pappe unter den rechten Arm, lächelt uns an, als ob wir uns schon eine Ewigkeit kennen und sie sich wie wild freut, uns endlich wiederzusehen. Sie faltet ihre Hände vorm Kinn und verneigt sich mit den Worten:
„Sawatdeekah… Herlik willkommen. Familie Heidenrei?”
Das ‘ch‘ am Schluss verschluckt sie.
Wir nicken emsig, probieren auch so etwas wie eine Verbeugung und lächeln zurück. Was auch gar nicht anders geht. Zu herzlich war diese Begrüßung.
„Mein Name ist Sonhha.”
Die ganze Betonung ihres Namens liegt auf dem ’ha’ am Schluss, das sie in die Höhe schraubt, als wolle sie anfangen, ein Lied zu singen.
„Ik bin euer Bangkok Guide die nächten drei Tage. Bringe eu jetzt in Hotel. Könnt ihr eu frischmahen und wenn ihr habt Lust, mahen wir no eine kleine Spaziergang zu die höchte Tower von Thailand. Is nih so wei von die Hotel.”
Sie winkt einen etwa 1975-er Volvo herbei, öffnet die Tür, lächelt uns wieder herzlich an und meint:
„Fahrer bring eu in Hotel. Seid ihr dort etwa sechsen Uhr. Ik komme funf Uhr, okay? Mahen wir so?”
Wir nicken schon wieder, weil wir schon wieder gar nicht anders können. Sonhha macht uns Vorschläge, als wäre es ihr innigster Wunsch, uns die Stadt zu zeigen. Aber waren es nicht wir, die einen Guide gebucht hatten?
Alles läuft schnell und perfekt - wir kommen kaum zum Nachdenken. Sonhha schiebt uns in den tiefgekühlten Volvo, lacht uns schon wieder herzlichst mit gefalteten Händen an: „Sawatdeekah”, verneigt sie sich, „Bi gleih.”
Vanessa nestelt fast schon zitternd vor Kälte ihre Jacke aus dem Rucksack. Meine hatte ich noch am Gepäckband mit zu Vanessa gerichtetem vorwurfsvollen Blick und den Worten: „In Bangkok eine Jacke?”, in den Koffer verbannt.
Der Fahrer wuchtet selbigen soeben in den alten Volvokofferraum, verneigt sich und grüßt uns nicht weniger herzlich als Sonhha:
„Hotel Nai Lert Park, okay?”
Einmal mehr nicken wir geflissentlich.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach halb vier. Wann werden wir im Hotel sein, hat Sonhha gesagt? Um sechzehn Uhr? Wie soll das gehen? Der Flughafen ist doch mindestens zwanzig Kilometer vom Zentrum entfernt… Oder besser gesagt von unserem Hotel. Denn Zentrum, so werden wir noch erfahren, ist in Bangkok irgendwie fast alles. Und von leeren Straßen in dieser Stadt haben wir bis dato auch noch nie etwas gehört.
Unser Fahrer fährt los. Bereits nach Einlegen des dritten Gangs wird mir klar, warum der Zeitplan funktionieren könnte. Der Wolf im Schafspelz ist hier quasi der Ferrari im Volvokleid. Wir fahren auf die Stadtautobahn.
Nach Ende der Beschleunigungsphase rutsche ich zur Mitte, um einen Blick auf den Tacho zu erhaschen. Leider verdeckt die Schulter des Fahrers den Blick auf den rechten Teil des Tachos. Dort muss die Nadel irgendwo sein. Im für mich einsehbaren Bereich von 0 bis 140 hat sie es sich zumindest nicht bequem gemacht. Auf der Rennpiste stehen leuchtende Schilder: 80.
Naja, dass wir schneller sind, merken wir auch ohne Tacho. Nein, wir sind nicht nur schneller, wir sind die Schnellsten.
Immer wieder geht mein Blick zum Tacho. Ich mache noch eine andere interessante Feststellung. Der Zähler steht bei 999 987 Kilometern. Wenn wir noch dreizehn Kilometer fahren, müsste er wieder auf null springen oder bei 999 999 stehen bleiben. Am liebsten würde ich den Fahrer darauf aufmerksam machen. Passiert ja nicht alle Tage. Ich starre gespannt auf die Ziffern. Mit einer Gefühlsmischung aus Enttäuschung und Respekt muss ich allerdings zur Kenntnis nehmen, dass sich die Million heute wohl nicht mehr voll machen lässt, da sie es vermutlich vor längerer Zeit schon geschafft hat. Der Kilometerzähler bewegt sich einfach nicht weiter. Vielleicht würde er im Funktionsfalle schon an der zweiten Million knabbern. Auch die Sache mit der Tachonadel klärt sich in diesem Zusammenhang. Sie hängt, von mir mit Nichtbeachtung gestraft, mausetot unten links. Weit unter der Null am linken unteren Anschlag. Gefühlt allerdings so weit rechts wie es nur geht.
Wir sind nämlich schon mitten in den gigantischsten Häuserschluchten angekommen. Noch immer auf der Autobahn - mittlerweile fast stehend - an einer Mautstelle. Die Abfertigung geht so zügig wie das Leertrinken von einem Glas Bier nach einem Dreißig-Grad-Tag auf der Baustelle. Schon sind wir im Gewirr, in dem unser Fahrer einige waghalsige Manöver vollführt, und ratzfatz, tatsächlich Punkt sechzehn Uhr stehen wir vorm Hotel Nai Lert Park. Respekt.
Die Türen werden geöffnet, die Pagen wuchten die Koffer aus dem Auto in die Lobby.
Der Fahrer bedankt sich offensichtlich dafür, dass er uns fahren durfte. Ich zücke meine Geldbörse, und sofort merke ich wieder, dass darin nur große Scheine sind. Der Chauffeur erkennt sofort mein Problem und wehrt freundlich lächelnd ab:
„No, no, no! Khop khun khrap.” Danke - wie wir noch erfahren werden. Er verneigt sich, winkt, lächelt, faltet die Hände und verneigt sich dabei nochmals.
„Sawatdee khrap.” Guten Tag, Schönen Abend, Auf Wiedersehen. Für alles ein Wort. Sawatdee khrap (Sawatdeekah) passt immer.
In unserem Zimmer steht ein Blumenstrauß und eine kleine Torte mit Happy – Honeymoon - Schriftzug. Ja, wir hatten eine Flunkermail versendet, weil wir gelesen hatten, dass es im Hotel auch recht laute Zimmer gibt. Also hatten wir uns zum Jubiläum, das wir aber nicht haben, ein schönes Zimmer erbettelt. Offensichtlich eben auch mit Blumen, Obstschale und Kuchen. Auch gut.
Wir duschen, ziehen uns um und sind kurz vor fünf fertig. Punkt siebzehn Uhr klingelt das Telefon. Verdammt, denken wir, was ist los? Deutsche Pünktlichkeit im chaotischen Bangkok?
„Ja hallo, hier it Sonhha… Ik warte in der Lobby, kommt ihr, wenn ihr so weit seid.”
Ja, sind wir. Wir kommen.
Sonhha steht in der Lobby, strahlt uns an und begrüßt uns noch einmal ebenso freundlich wie bei unserem ersten Zusammentreffen.
Sonhha ist sehr hübsch, sie hat für hiesige Verhältnisse sehr große schöne Augen, fast selbstverständlich braun, lange glänzend schwarze Haare und ist, wie die meisten hier, sehr schlank. Nur ein etwas schiefer Schneidezahn könnte ihr an sich selber vielleicht nicht so gut gefallen, hält sie aber nicht davon ab, beinahe unentwegt zu lächeln.
Sie trägt ein lilafarbenes Oberteil, das irgendwie eine Mischung aus Bluse und Poloshirt zu sein scheint, eine lange schwarze Hose und Flipflops.
Fast alle hier tragen lange schwarze Hosen, denke ich. Warum nur? An den Temperaturen wird es wohl nicht liegen. Vielleicht frage ich sie später danach.
„Na, wollen wir auf den Baioke Sky Tower steigen?”
„Steigen?”, fragt Vanessa etwas irritiert, „Wie viele Stockwerke sind das?“
„Naaaiiin”, lacht Sonhha, „war nur eine Spass. Konnen wir nik steigen. Sind dreiundachtzig Stockwerken. Ihr seid schon ausgeschopft, wenn ihr am Tower angekommen seid.”
„Erschöpft”, verbessere ich sie freundlich.
„Ja, ja”, freut sich Sonhha, „ausgeschopft ist die Suppe, ja? I verwechsele imma.
Auf jeden Fall - Bangkok ist schwer. Zum Sky Tower sind nur zwei Kilometer, aber schwer. Ist heiß, laut und gefahrlich.”
„Gefährlich?”, fragen wir.
„Ja, wir mussen paar Mal die Seite von die Straße verwechselen. Is nik so einfach, aber geht.”
„Habt ihr denn keine Ampeln?”
Ich schaue Sonhha verstört an.
„Doh, doh - haben wir viele. Sind aber nur für die Autos. Für Leute keine. Oder nur ganz wenig. Die Autos mahen sonst noh mehr Stau ohne die Ampeln. Leute nich. Aber keine Angst. Die Autofahrer sind ganz gute in Thailand. Passe auf imma.”
Vielleicht hat sie recht. Unser Volvochauffeur hat uns immerhin lebend zum Hotel gebracht. Und schnell.
Während wir bei unserem Gespräch die Zufahrt des Hotels bereits verlassen haben und uns nun an einer etwa achtspurigen Straße befinden, deutet Sonhha auf die andere Straßenseite und macht eine Geste, bei der sie ihre Finger mehrmals zum Mund führt.
„Da druben gibt Essen nachher.”
Da kommen wir nie rüber, denke ich. Ich zähle nochmals die Spuren. Markiert sind nur drei in jeder Richtung. Aber nebeneinander passen mindestens vier, manchmal fünf Autos. Und ein paar Mopeds. Optimale Ausnutzung der Infrastruktur, denke ich.
Wir laufen weiter. Der ganze Fußweg neben der Straße ist nun ein einziger großer Markt. Neben frittierten Hühnerbeinen liegen gefesselte Krebse. Nebenan gibt es Rolex, Breitling, und - Achtung: Glashütte-Uhren für um-gerechnet zehn bis zwanzig Euro. Weiter geht’s mit Armani- und Lafroge - Hemden, i-Phones, erbärmlich stinkenden getrockneten Fischen, Hugo-Boss-Schlüpfern, gebratenen und rohen Schlangenköpfen, Designerbrillen in allen Stärken, Heimwerkerbedarf, zum Sechserpack gebundene Frösche, Fahrerlaubnisse und Ausweise für alles und jeden, Frühlingsrollen, Fleischspieße in allen erdenklichen Variationen, Adidas-Schuhe, FC-Bayern - Schweinsteiger- und Lazio-Rom-Klose-Shirts, Viagra, Aspirin, einstündige Thai-Massagen mit und ohne Happy-End, lebende und tote Hühner, schlafende Obdachlose, Ananas, Bananen, Bohnen, Straßenmusiker, jede Menge Auto- und Mopedabgase, Lärm und Menschen, Menschen… Menschen. Sogar Bratwurst. Nur keine Original Thüringer. Aber das kommt noch. Da bin ich sicher.
Plötzlich geht’s nicht mehr weiter. Wir stehen mit mindestens hundert Menschen gemeinsam am Straßenrand. Fragend sehen wir Sonhha an. Sie schreit mir etwas ins Ohr.
In diesem Moment donnert ein völlig überladener LKW an uns vorbei, von dem ich meine, dass er mit mindestens zwei Düsentriebwerken angetrieben wird.
Sonhha lacht und probiert es noch einmal: „Wir mussen hier ruba!”
Ich beobachte die Straße. Eine endlose Blechlawine wälzt sich die Straße entlang. Der Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Autos ist immer gleich. Maximal fünfzig Zentimeter. Der Strom reißt nicht ab. Eine Minute, zwei Minuten…drei. Jetzt schon vier, schätze ich, und schaue Sonhha an. Sie zeigt zur Ampel, die hundert Meter von uns entfernt steht und in diesem Moment gerade auf Rot springt. Eine gigantische kunterbunte Blechlawine kommt zum Stillstand. Der Abstand der Autos verringert sich nun auf zwanzig bis dreißig Zentimeter. Alles steht.
„Los!”, schreit Sonhha, „Jetzt! Aber aufpassen die Moped!”
Die inzwischen mindestens zweihundert-köpfige Menschenmenge rennt los, als gäbe es kein Morgen mehr. Zwischen den Stoßstangen ist immer nur Platz für zwei Beine. Überall, wo zwischen zwei Autos genug Raum ist, drängeln, quetschen sich Menschen hindurch. Die kleine Sonhha stößt sich den Kopf am Außenspiegel eines überdimensionalen Jeeps, ich selbst verheddere mich bei dieser irren Hatz mit meinem Rucksack an einem Mopedlenker, der plötzlich hinter einem LKW erscheint. Heiße Auspuffgase grillen meine Waden, als es vor mir plötzlich nicht mehr weiter geht, weil ein weiteres Moped die Schneise des hektischen Fußvolks versperrt. Tragen die Thais trotz der Hitze deshalb alle lange Hosen? Ich will zurückweichen vor Schmerz, aber auch da stehen schon Mopeds. Sonhha und Vanessa habe ich längst aus den Augen verloren. Ich sehe nur, dass ich einer der Letzten in der Schlange meines Fluchtweges bin, und dass die verdammte Ampel mittlerweile auf Grün geschaltet hat. Die Motoren heulen auf. Die Auspuffgase heizen die ohnehin schon stickige Luft um weitere gefühlte zehn Grad auf. In der Ferne erkenne ich, wie sich der Kopf der sechs- oder siebenköpfigen Schlange in Bewegung setzt. Ich denke an Sonhhas Worte: ‘Die Autofahrer sind ganz gute in Thailand. Passe auf immer’.
Ich hoffe, sie behält recht.
Plötzlich löst sich der Menschenstau vor mir auf. Ich setze zum Sprint an. Maximal noch zwei Autobreiten. So wie ich ansetze, versuche ich auch wieder zu stoppen. Ich ziehe Bauch und Brust ein. Ein weiteres Moped schießt aus der Deckung eines Lieferwagens hervor und streift meinen linken Arm. Noch einen Satz und auch ich stehe auf der kleinen Insel in der Mitte der Straße, auf der normalerweise höchstens zwanzig Leute Platz finden dürften, heute aber etwa zehnmal so viele. Hinter mir geht die gefürchtete Blechlawine zu Tal, der ich gerade eben um Haaresbreite entkommen war. Ich atme durch. Ich sehe Vanessa und Sonhha. Gut. Sie haben überlebt. Sonhha schreit zu mir hinter:
„Hattest du mich nik gehort? Aufpassen auf die Moped!”
Sie lacht. Ich nicht. Meine Stirn und mein Gesicht sind nass, als hätte ich gerade geduscht, ich habe einen Puls von zweihundert und konzentriere mich panisch darauf, nicht nach hinten von der Rettungsinsel zu fallen.
In diesem Moment wird mir klar, dass ich beim nächsten Anlauf erneut die schlechtesten Karten habe. Ich stehe ganz hinten. Doch mehr Zeit bleibt mir nicht zum Nachdenken. Es geht los. Der Pulk setzt sich in Bewegung. Zum Glück läuft alles wie geschmiert. Beinahe entspannt geht es bis fast auf die andere Straßenseite. Beinahe! Denn plötzlich fährt alles. Mit weiteren vier Leuten stehe ich zwischen der vorletzten und letzten Spur. Ich halte den Atem an und versuche mich ganz dünn zu machen. Ein koffergroßer Außenspiegel eines Busses rauscht an meiner Nasenspitze vorbei. Einer der vier mit mir totgeweihten Thais hält die rechte Hand nach vorn und läuft einfach los. Ein Kleintransporter kommt quietschend zum Stehen. Polternd und krachend verschieben sich ungesicherte Gasflaschen, etwa dreihundert Melonen und ein Dutzend gackernde Hühnerkäfige auf der offenen Ladefläche. Der Fahrer nickt uns lächelnd zu. Träume ich? Er holt kein machetengroßes Messer aus dem Handschuhfach und will diesen verrückten Thai nicht mindestens vierteilen?
Vanessa steht kreideweiß am Straßenrand. Sonhha lächelt mich an und ruft:
„Habe ich gesagt doch: Die Autofahrer sind ganz gute in Thailand. Passe auf imma.”
Wir laufen weiter auf einem etwa zwei Meter breiten Fußweg, beziehungsweise dem, was davon noch übrig geblieben ist. An der äußeren Begrenzung zur Straßenseite hin haben die findigen Händler Stangen in das kaputte Pflaster gesteckt und daran Planen befestigt, an denen wiederum jede Menge Haken und eine Art Regalbretter baumeln, auf denen sie die Waren aufgeschichtet haben, die keinen Platz mehr auf den vor ihnen befindlichen Tischen bekommen. Auf der anderen Seite des Fußwegs finden sich die Auslagen der Geschäfte, die teilweise so weit in die Fußwegmitte hineinragen, dass man meint, die Auslagen der links und rechts des Weges befindlichen Gewerbetreibenden würden sich stellenweise berühren. Auf den verbleibenden Zentimetern schieben sich in beiden Richtungen je nach Lust und Laune bummelnde oder hastende Menschen mit Aktentaschen, Einkaufsbeuteln oder Rucksäcken.
Dies würde alles noch überraschend gut funktionieren, müssten die ganzen Verkaufsstände und Geschäfte nicht hin und wieder auch einmal mit neuer Ware versorgt werden.
So wird der sich quetschende klebrige Menschenbrei immer einmal wieder bereichert durch mit Kisten und Säcken gefährlich überladene Sackkarren und deren Schieber, die über ihre turmhohe Ladung nicht hinwegsehen können und sich deshalb ausschließlich mit Rufen und Handzeichen den Weg bahnen und doch nicht vermeiden können, dass sie alle paar Meter entweder in eine Hacke oder über eine Fußspitze rollen.
Bangkok ist schwer, hatte Sonhha gesagt. Sehr schwer, denke ich. Sehr schwer.
An meinem T-Shirt ist kaum noch ein trockener Fleck; der Lärm der tausenden Autos, die man durch die Planen an der Gehwegseite zwar nicht sehen, wohl aber hören und riechen kann, ist unerträglich.
All diese Einflüsse, gepaart mit Schlafentzug, Jetlag und Klimawechsel lassen eine gewisse Gereiztheit in mir aufkommen. Der nächste, der mir seinen Ellenbogen in die Seite schiebt, der... der…, ja was eigentlich? Habe ich hier auch nur einen Menschen gesehen, der seine Fassung verloren hat, der geflucht hat, der offensichtlich so genervt war, wie ich es gerade bin? Habe ich? Nein! Nicht einen. Also: Tief durchatmen! Schluss mit der Schnappatmung. Alles wird gut.
Wird es. Wir verlassen den fünfundsechzig Grad heißen Planentunnel und steigen die Stufen zu einer Fußgängerbrücke hinauf. Endlich etwas Luft. Ich atme tief ein und ignoriere den Gestank von Benzin, Diesel, verschmortem Gummi und verbranntem Öl.
Vanessa sieht genauso mitgenommen aus wie ich. Nur Sonhha wirkt frisch und entspannt: „Und? Alle klar bei eu?”, lächelt sie uns an.
Wir nicken. Unser Lächeln wirkt vermutlich so, als hätte man uns zwei Haken in die Mundwinkel gesteckt und würde links und rechts daran ziehen.
„Warum sind wir vorhin nicht über so eine Fußgängerbrücke gegangen?”, frage ich Sonhha angesichts meiner noch gar nicht so lange zurückliegenden Nahtoderfahrung.
„Ja, die Moglichkeit hätte gegeben. Aber wäre funfhundert Meter Umweg gewesen.”
„Na, das hätten wir doch geschafft”, behaupte ich.
„Ik wusste nik so genau. Umweg wäre so eine Weg gewesen wie die letzte fünfhundert Meter. Ziemlik schwer halt.”
„Dann war‘s wohl egal”, sage ich.
Die Entscheidungsfindung für Pest oder Cholera wäre mir heute - sagen wir mal - ziemlik schwer gefallen.
„Aber jetzt wird nik mehr so schwer”, deutet Sonhha auf die Tür des gegenüberliegenden Einkaufszentrums.
„Ist klimatisiert. Konnen wir uns abkuhlen. Und wenn wir hier durchgegangen sind, kommen wir direkt am Sky Tower hinaus. Sind wir dann nik so ausgeschopft.”
„Erschöpft”, verbessere ich sie wieder.
„Ja”, lacht Sonhha, „ik weiß doch. Erschopft. Das andere ist die Suppe.”
Wir verkraften den Temperatursturz um etwa zwanzig Grad besser, als es sich im ersten Moment vermuten ließ.
Das Einkaufszentrum besteht, anders als bei uns, aus hunderten kleinen Shops, die sich dicht an dicht reihen. Auch hier gibt’s alles, was das Herz des Plagiatsjägers höher schlagen lässt. Nur besser beleuchtet, gut gekühlt und doppelt so teuer wie in der Planentunnelshoppingmall.
Wir widerstehen den schönen Dingen, die speziell Vanessas Sammlerinstinkt ansprechen und auch bei mir in Form von vielen kleinen technischen sehr preiswerten Spielereien Jagdgelüste wecken. Leider haben die optisch perfekt imitierten i-Phones und Co vermutlich genauso viel mit dem Original gemeinsam wie ein Ölscheich mit dem Junkie am Berliner Bahnhof Zoo.
Das Einkaufszentrum endet nach etwa vierhundert Metern und gefühlten siebenhundertvierundfünfzig Läden genauso, wie wir es betreten haben: Direkt auf einer Fußgängerbrücke, die über die nächste vollgestopfte ‘zigspurige Straße führt.
„Seht ihr, da vorne”, meldet sich Sonhha zu Wort, “kann man schon sehen, den Tower. Und sind wir gar nik so erschopft”, lacht sie mich an, da sie mir dieses Mal den Wind aus den Segeln genommen hat, was das Verbessern von ausge- zu erschöpft betrifft.
Wir reihen uns ein in eine lange Schlange Wartender aller Nationalitäten. Es geht zügig voran, und schon nach zehn Minuten hat Sonhha unsere Eintrittskarten besorgt.
„Ist nik nur die großte Gebäuden von Thailand, ist auch die schnellste Lift. Geht ganz schnell oben.”
Es geht tatsächlich rasend schnell nach oben, so dass wir mit Schlucken, um den lästigen Druck in den Ohren loszuwerden, kaum nachkommen. Wir steigen aus und sehen Bangkok bei Dämmerung.
Sonhha meint:
„Das ist noch nik so schon. Erst wenn ganz dunkel, dann sieht sehr schon aus. Wartet mal noch zehn Minuten.”
Wieder einmal behält Sonhha recht. Das Beeindruckendste war eben gerade noch die Weitläufigkeit dieser Riesenstadt und die Dreißiggeschosser, die von hier oben wie Spielzeug aussehen.
Aber nun ist es dunkel. Innerhalb kürzester Zeit. So nah am Äquator gibt sich die Sonne nun mal nicht sonderlich lange damit ab, eine Dämmerung zu erzeugen. Sie fällt einfach schnurstracks senkrecht hinter den Horizont und ‘Klack’ - aus ist der Schalter fürs Sonnenlicht.
Sonhha lässt uns alleine staunen.
„Gehe nur schnell etwas essen, bin gleich zuruck.”
Hatte sie uns nicht unten auf der Straße etwas von Essen erzählt? Egal.
Wir genießen den Blick auf Millionen hell erleuchtete Fenster in großen Büro- und Wohntürmen, viel zu viele riesengroße knallbunte Leuchtreklamen, die selbst von hier oben sehr gut lesbar sind, und auf weiße und rote Schlangen, die sich durch die zahllosen Straßen schlängeln. Ohne Kopf und ohne Schwanz. Sie kommen aus dem Nichts und enden im Nichts. Hin und wieder scheint eine Schlange im rechten Winkel über eine andere hinweg zu kriechen, manchmal wird eine andere rote von einer weißen in der Mitte durchgebissen, die sich scheinbar nur somit ihren Weg in eine ganz andere Richtung bahnen kann. Es ist unglaublich. Auch in den Nebenstraßen wimmelt es von Getier jeder Art. Nebeneinander, übereinander und an den Kreuzungen vermischt sich alles zu einem großen vielfarbigen Brei.
Wir kreisen an den Fensterflächen dieses Aussichtsstockwerks, und es bietet sich überall das gleiche unwirkliche Bild. Rote und weiße Schlangen aus Licht, die irgendwo, ganz weit hinten, zusammen mit der Dunkelheit verschmelzen oder hinter Bürotürmen verschwinden.
„Bin schon wieder da”, schreckt uns Sonhha aus den Gedanken, „aber hier oben gibt so eine kleine Stand mit sehr gute Chilireis. Habe ik nur schnell gekostet.”
„Ich dachte, du wolltest dann mit uns unten etwas essen?”, frage ich sie.
„Ja klar, mache ik doch auch. Aber unten ist erst in paar Minuten, weißt du?
Wir Thais essen eigentlich die ganze Tag, oder sagen wir mal wenigstens jede Stunde. Wir sind wie Ameisen. Gibt Spruch bei uns, der heißt: Ameisen können sich dem Zucker nicht nähern, ohne davon zu essen. So sind wir auch. Essen immer was Kleines, weißt du? Deswegen gibt auch uberall was. Essen ist bei uns ganz wichtig. Bei uns fragt man auch nicht: Wie geht es dir? Sondern: Hast du schon gegessen? Weil, wenn du gegessen hast, geht es doch auch gut, oder?“
Sie hat wohl recht. Wer gegessen hat, der hat Appetit - ist folglich gesund. Wer gegessen hat, konnte sich ein Essen leisten und muss dementsprechend keinen Hunger leiden. Was braucht man mehr als Gesundheit und die Gewissheit, nicht hungern und dursten zu müssen? Zum Leben wohl kaum mehr. Und zum Glücklichsein? Wohl auch nicht viel mehr. Denn Glück steht in keiner Abhängigkeit zu Besitz.
Mir gefällt diese Anschauung - diese Frage: Hast du schon gegessen? Nun ja, ich esse ja auch gern…
Wir sind nun einmal um die Aussichtsplattform herumgelaufen. Hier, in der Nähe des Fahrstuhls, der uns wieder hinunterbringen wird, steht hinter Glas ein eineinhalb Meter hohes Modell des Baioke Sky Towers. Doch es ist kaum ein Blick darauf zu erhaschen. Immer wieder drängeln sich davor meist dicke Männer mit weißen Leinenhosen und Leinenhemden, goldenen Ketten und ebensolchen Zähnen neben elegant gekleideten Damen auf gefährlich hohen Schuhen. Sie stellen sich in Positur, neben die vermeintliche Trophäe Sky Tower und fotografieren sich gegenseitig. Es ist kein Ende abzusehen; kaum hat das eine Pärchen den Platz vorm Modell verlassen, drängelt sich auch schon das nächste Paar davor. Und immer wieder blitzt die Kamera.
„Das sind Russen”, sagt Sonhha, „machen immer so hier oben.”
„Wir dachten, bis nach Thailand sind sie noch nicht vorgedrungen”, sage ich.
„Oh doch”, meint Sonhha, „bis vor paar Jahren war vor allem Deutsche, Osterreicher und Skandinaven hier, aber seit unsere Regierung hat eine Geschaft mit Putin gemacht, sind die meiste Touristen Russen.”
„Was war das für ein Geschäft?”, will ich wissen.
„Ganz einfach. Thailand schickt Reis zu Russland. Putin schickt Touristen. Aber ist nicht faires Geschaft”, lacht Sonha, „wir schicken viel mehr Korner von Reis als wir bekommen Touristen.”
„Seid froh”, lache ich mit Sonhha über ihren Gag, „so viele würdet ihr nicht wollen.”
Irgendwann erhaschen wir dann doch einmal einen Blick auf das Modell und machen auch ein russisches Foto. Sonhha lacht:
„Fehlen irgendwie Goldketten, wisst ihr?”
Naja, was nicht ist, kann ja noch werden.
Genauso schnell, wie uns der Lift hier in die Höhe katapultierte, so schnell lässt er uns auch wieder hinabstürzen und sogleich wieder eintauchen ins unklimatisierte Gewimmel des tosenden Riesenbackofens Bangkok.
„So”, sagt Sonhha zu uns, „wird schoner Ruckweg - nik so gefahrlich, aber dafur mit ganz gute Abendessen.”
Wir sind gespannt. Wir wollten schließlich ein authentisches Bangkok erleben. Keinen Streichelzoo. Nein, wir hatten bei der Buchung Chili bestellt, nicht leicht gewürzt.
Sonhha tat ihr Bestes.
Trotz der krachenden Dauerbeschallung durch tausende Mopeds und Autos gelingt es, uns mit Sonhha zu unterhalten. Sie ist uns mittlerweile, sicher in Folge ihrer Freundlichkeit und Offenheit, vertraut wie eine alte Bekannte. Bereitwillig gibt sie Auskunft auf alle Fragen, die wir ihr stellen. Wir sind hungrig nach Informationen über diese so völlig andere Stadt. Es gibt beinahe nichts, was wir Sonhha nicht fragen. Sie erzählt alles und noch viel mehr und entwickelt dabei ein so großes Mitteilungsbedürfnis, dass es uns schon unheimlich ist. Warum sie so viel auch von sich selbst erzählt, gibt sie uns irgendwann durch die Blume zu verstehen: