Landgang - Linda Zervakis - E-Book

Landgang E-Book

Linda Zervakis

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Beschreibung

Linda Zervakis war schon immer eine Pionierin – z.B. die erste Tagesschausprecherin mit Migrationshintergrund. Inzwischen hat sie sich zu neuen Zielen aufgemacht, den Sender gewechselt – und auf ebay-Kleinanzeigen ein Haus in Schleswig-Holstein gekauft. Landgang erzählt vom Aufbauen, Ankommen und Anecken – und darüber, wie sich Land und Leute in den letzten Jahren so verändert haben. Und Linda. »Die Idee ist wunderbar aber dann kommt die Realität. Linda Zervakis ist dem gängigen Landlebenglücksversprechen nachgegangen, sie hat es wirklich versucht, Doch im Idyll war's ihr zu stüll Und so ist dies das Gegenteil eines Ratgebers, eine Ode schließlich aufs Stadtleben und ein großes Vergnügen.« Benjamin von Stuckrad-Barre

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Landgang

Die Autorin

Linda Zervakis

Landgang

Berichte von außerhalb der Stadt

Ullstein

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Kein Impressum hinterlegt

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Personenübersicht

Intro

Prolog

Was zuvor geschah

Kapitel 1

Kapitel 2

Lindas Landgang

Kapitel 3

Kapitel 

4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Ein Jahr später – Land ist auch keine Lösung

Kapitel 17

Danke an:

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Personenübersicht

Personenübersicht

Chrissi Mama von LindaMarlies Lindas Nachbarin in HamburgBeatrix † WellensittichLinda sie selbstVivi gute Freundin in SinnkriseBrigitte Bauerfeind Nachbarin, Kräuterhexe, LandlebenflüsterinHolger Hassler Nachbar und Mann, der 1.000 Hobbys und ein Geheimnis hatHeiko der mit dem WolfKümmel der Schrauber und Klempner

(Alle drei sind schon zusammen zur Schule gegangen!)

Corny Bedienung aus der ProbierstubeHorsti SamendealerDieter der MetzgerRoman und Rex Zufallsbekanntschaften, Kornhaus-Gründer, love interest (nur einer von beiden)Rocky LandhundDiggie ein altes Auto

Intro

Seit dem Tod meiner Mutter lebe ich in einem Vakuum.

Nichts fließt mehr.

Außer immer mal wieder stoßweise meine Tränen.

Schleusenzeit, sagt meine Freundin.

Die Zeit zwischen Tod und Bestattung.

Besondere Zeit.

Schleusenzeit.

Lebe sie.

Ist wichtig.

Ich lebe sie.

Treibe in der Schleuse.

Es geht nur hoch und runter.

Das Wasser ist eingeschlossen in der Schleusenkammer.

Das Wasser und ich.

Kein Boot, auf dem ich ruhen kann.

Nur Wasser und ich.

Ich schlafe viel.

Meine Freundin holt mich immer wieder raus.

Gestern waren wir in der Stadt.

Was besorgen.

Auf der Rückfahrt bin ich fast neben ihr im Bus eingeschlafen.

Das Draußen erschöpft mich.

Doch es tut mir auch gut.

In der Schleuse gibt es keine Zeit.

Vor ein paar Tagen, oder war es nur vorgestern …?

Jedenfalls waren wir in einem Café.

Es kommt immer unvermittelt.

Eine Erinnerung.

Oder etwas, was ich doch noch machen wollte.

Mit ihr.

Hätte machen können.

Das Ungelebte ist das Schlimmste.

Umgehend ertrinke ich in Tränen.

Ich bin müde.

Ich bin langsam.

In allem, was ich tue.

Wobei ich kaum etwas tue.

Ich arbeite wieder ein wenig.

Und bin überrascht, dass ich zusammenhängende Texte schreiben kann.

Mama hatte Wasser in der Lunge.

Vielleicht war auch sie in einer Schleuse.

Vielleicht treibt sie jetzt mit mir in der Schleuse.

Wir nehmen Abschied.

Ich kann das noch gar nicht.

Das merke ich immer wieder.

Aber wir wollten doch noch …

Aber ich habe noch Fragen …

Aber …

Nutzt nichts.

Ist vorbei.

Aus. Punkt.

Jetzt ist jetzt.

Sie war gestern.

Ich bin heute.

Ohne sie.

Ich habe gerade den Mund voll mit Tod.

Ich muss ihn noch kauen.

Zerkauen.

Runterschlucken.

Und verdauen.

Das dauert halt.

Es hat geschneit heute Nacht.

Ich mag Schnee.

Die Welt wird umgehend leiser.

Alles wird einheitlich weiß.

Das tut mir gut.

Es gibt mir Ruhe.

Die Trauerrede für meine Mutter ist geschrieben.

Welch schöne Liebeserklärung an sie, sagt meine Freundin.

Mir war gar nicht klar, wie sehr ich sie liebe.

Man muss den Tod konsumieren, um das Leben zu lieben.

Prolog

Weiße Rosen für Chrissi

Ich hatte schon wieder heiße Waden. Seit drei Tagen wärmten sie sich urplötzlich und ohne Vorwarnung auf; wie vom Blitz getroffen, nur nicht ganz so heiß. Eher so wie zwei Wärmflaschen, die mir jemand oberhalb meiner Tennissocken heimlich in die Hose gesteckt hatte. Ich mag Wärme, gerade jetzt, wo es abends schon wieder viel zu kalt ist. Es fühlte sich aber nicht warm an, sondern irgendwie kühl. Wie ein Anruf in der Hosentasche, bei dem ich ein Vibrieren spürte, obwohl niemand anrief. Oder doch? Nein, Fehlalarm. Ganz schön ballaballa, merkste selber. Ich versuchte, die Kontrolle über meine Ängste und Emotionen zurückzubekommen, und konsultierte deshalb schnell mein Handy: Hey Siri, was bedeuten heiße Waden? Ich hatte auf meinem iPhone die folgende Einstellung gewählt: deutsche Sprache, Stimme 2, Schweizer Version. Die Dame aus den Bergen klingt irgendwie immer entspannter und freundlicher, nicht ganz so streng wie die Computerstimme in Deutschland. Ihre Antwort auf meine Frage, die aus dem Handylautsprecher tönte, war allerdings ernüchternd. »Thrombose, Schlaganfall, Multiple Sklerose, Rheuma …« Die Aufzählung meiner persönlichen Todesartenliste klang von Siri vorgetragen wie ein Einkaufszettel für den Wochenmarkt. Ich hätte ihn sehr gerne zerknüllt und aus dem Fenster geworfen, brauchte mein Handy aber noch – und stellte stattdessen den Ton aus. Diagnosen dieser Drastik klangen also auch freundlich vorgetragen nicht beruhigend. Ich musste zu einem anderen Trick greifen und atmete Befund und Symptom erst mal weg, streckte das rechte Bein auf dem Bremspedal durch und drückte meinen steifen Rücken gleichzeitig ganz tief in die Kunstledersitze. Progressive Muskelentspannung, so hatte ich es in meinem Lieblingspodcast in den letzten Episoden gelernt: Anspannen und Loslassen. Das war meine ganz persönliche Erste-Hilfe-Maßnahme von meinem Podcast-Coach, die ich jederzeit abrufen kann und überall griffbereit habe, genauso sicher wie Pflaster und Druckverband unter dem Ersatzrad im Kofferraum. Meine gerade so wiedererlangte innere Ruhe wurde allerdings genau in dem Moment auf eine schwere Belastungsprobe gestellt, als ich das Automatikgetriebe in die Position »P« (für »Parken«) bewegte, der Dieselmotor trotzdem weiterlief und der Schlüssel klemmte. Das kann bei einem Modell Ü 40 schon mal passieren, auch wenn der Mercedes-Stern auf der Kühlerhaube ja eigentlich ein Symbol für Ausdauer und Zuverlässigkeit ist. Made in Germany genießt in unserer Familie schon so lange uneingeschränktes Vertrauen, wie mein Mercedes W 123 auf diesem Planeten herumgegurkt ist. Ich hatte auch nach 364 000 Kilometern keinen Bock darauf, dass mein schönes altes Auto auf dem Schrottplatz oder in Afrika landet, und fummelte nervös am Zündschloss herum, bis das Schloss irgendwann endlich einrastete.

Ich nahm die Hühnersuppe und einen frischen Strauß Blumen für Chrissi vom Beifahrersitz. Die Rosen, die ich ihr bei meinem letzten Besuch mitgebracht hatte, standen wahrscheinlich immer noch auf ihrem Esstisch. Mutti füllte auch dann noch frisches Wasser nach, wenn die weißen Blüten abgefallen waren und nicht mehr leuchteten, sondern matt und verwelkt auf der Tischdecke lagen. »Sind doch noch gut!«, haute sie mir auf die Finger, während ich versuchte, sie davon abzuhalten, einen Löffel Zucker zwischen die schlappen Stängel zu kippen. Seufzend stellte ich dann die frischen Blumen daneben und ließ einen Vortrag darüber, dass ich nun wirklich den allerschwärzesten Daumen der Familie hätte, über mich ergehen. So weit war es aber noch nicht.

Der Wohnungsschlüssel passte immerhin sofort. Ganz langsam drückte ich das schwere Holz, das immer leicht schleift, über den Teppich, aber kein Hindernis, keine bewusstlose Mama lag im Weg. Uff. Der Deckel auf der Tupper-Schüssel hatte dicht gehalten, die heiße Hühnersuppe war bestimmt noch mindestens lauwarm.

»Mama?«

Keine Antwort. Die Tür zum Wohnzimmer war zwar geschlossen, aber schon im Flur hörte ich den Fernseher: Es war »Rote-Rosen-Zeit«.

»Rote Rosen« spielt ja in Lüneburg, also in quasi-urbaner Umgebung. Früher hatte Chrissi auch gerne den »Landarzt« mit Wayne Carpendale gesehen. Näher ist meine Mama dem Landleben in Deutschland tatsächlich nie gekommen. Arbeit und Familie waren eben in Harburg und dementsprechend war auch Chrissi da, basta. Selbst im Alter, wo sie eigentlich alle Zeit der Welt hat und reisen könnte, bleiben wir Kinder ihr Zentrum und im wahrsten Sinne des Wortes: Lebensmittelpunkt. Hier, in der Stadt, sind ihre Kinder und Enkel, ihr C&A, ihr Supermarkt – kurz: alles, was Chrissi glücklich macht. Vielleicht war »Land« für sie auch vor allem Feldarbeit, Anstrengung und Staub. So schön ich es fand, dass wir uns von dem, was der Garten hergab, ernähren konnten, wenn wir bei meinen griechischen Onkeln und Tanten zu Besuch waren, so wenig stand mir bisher jemals der Sinn nach Garten umgraben, Mist streuen, Erntesaison. Und doch fragte ich mich irgendwann: Ist entschleunigtes Landleben vielleicht das Richtige für mich? So entspannt wie im Sommerurlaub am Mittelmeer? Frisches Obst pflücken, eine Runde am Strand spazieren gehen und früh ins Bett? Genau das hätte ich jetzt eigentlich gerne kurz mit meiner Mutter besprochen, deren Aufmerksamkeit aber gerade gebunden war: Gegen ihre Lieblingsserie habe ich keine Chance und werde unweigerlich Nebendarstellerin für 45 Minuten. Chrissi hat schon viele Hauptdarsteller überlebt: Gerry, Leo und Katrin. Wenn meine Waden weiter so glühten, wäre ich die Nächste, die aus dieser Telenovela namens Leben ausstieg. Ich zog mich in die Wohnküche zurück und setzte mich auf einen der vier blauen griechischen Tavernen-stühle. Meine Füße legte ich auf die untere Sprosse und ließ die Knie vermeintlich entspannt zur Seite fallen wie bei einem Lotussitz. Von außen sah das bequem aus, innerlich war ich genauso aufgelöst wie der Pulverkaffee in meiner Tasse. Herzrasen, Wadenpochen, Ausnahmezustand. Ich hielt mich an einen weiteren Podcast-Tipp und atmete ruhig. Neben meiner Kaffeetasse lag das Handy, nach links wischen: Krieg. Nach oben: 12 Nachrichten. Nach unten: Elbtunnel gesperrt. Ich suchte lieber noch mal nach dem Gedicht. Es berührte mich noch mehr als vorhin, meine Schleusen öffneten sich. Die Tränen kullerten über meine Wangen und sickerten in die Tischdecke. Den verwelkten Blütenblättern bringen die Tränen auch nichts mehr, sie finden ihre letzte Ruhe im Hausmüll, bevor Chrissi deshalb schimpft. Der Text über den fiktiven Tod meiner Mutter stammt tatsächlich von meiner Freundin Vivi, deren Religion im Grunde die moderne Technik ist, der sie früher und intensiver als die meisten anderen huldigt. So war es auch zu dieser KI-Komposition gekommen, die zwischen Sommertrends, Wochenend-Trip-Idee und Body-Positivity in die Timeline gespült wurde.

Nachdem ich das Posting zum ersten Mal gelesen hatte, habe ich meine Mutter sofort panisch per FaceTime angerufen, um zu sehen, ob es ihr gut ging. Videotelefonie ist für Chrissi inzwischen ganz normal, und als ich sie erreichte, stand sie seelenruhig neben dem Backofen, als würde sie mich innerhalb der nächsten Minuten ohnehin erwarten und gerade eine Mahlzeit für mich vorbereiten. Augenklappernd, laut und deutlich versicherte sie mir, dass alles »tipptopp« sei und sie gerade mit meinem Cousin am anderen Ende der Welt gesprochen habe, der in Melbourne (was bei ihr wie »Mehlbirn« klingt) gerade Außen-Küche und Schaukel aufgebaut habe. Wirklich erstaunlich.

»Wie geht es Iannis?«, fragte sie mich eine Viertelstunde später. »Alles gut«, entgegnete ich mit der schlimmsten Modefloskel der Welt. »Er war gerade draußen, und der Empfang nicht so gut.« – »Ist er auf dem Mond?«, fragte Chrissi schmunzelnd zurück. Das vielleicht nicht gerade. Genau wie unsere Mama halten auch alle Zervakis-Kinder sich lieber in der Stadt auf. Ja, auch ich. Und genau deshalb ging mir das, was ich Chrissi heute erzählen wollte, auch nicht so leicht über die Lippen. Vielleicht war es das, was meine Waden noch immer kochen ließ. Ich hatte mich für ein Aussteigerprogramm entschieden. Ein Jahr nichts tun. Neuseeland, Bali oder Fidschi-Inseln. Nein, so krass war mein Plan nicht, aber ich würde es nicht mehr schaffen, zwei Mal die Woche bei Chrissi vorbeizuschauen und mich bei ihr aufs Sofa zu setzen. Eher zwei Mal im Monat. Wie brachte ich ihr das nur bei? Je älter sie wurde, umso einsamer fühlte sie sich, und während wir eben noch laut gelacht hatten, kippte plötzlich die Stimmung, obwohl ich meine Pläne noch gar nicht verraten hatte.

»Kannst du nicht mal anrufen? Ich habe keine Lust mehr zu leben.«

»Wo soll ich anrufen?«

»Bei Gott!«

»Der hat kein Telefon«, sagte ich entschuldigend und musste dabei lachen, obwohl mir ihr Bekenntnis den Hals zugeschnürt hatte.

»Der hat kein Telefon? Warum denn nicht?«

»Der hatte noch nie eins.«

»Das wusste ich nicht. Ich dachte, er ist Gott.«

Das Thema »Sinnsuche«, das unser Gespräch im allerallerweitesten Sinne gerade hatte, war eigentlich eine gute Überleitung, ich würde es jetzt einfach sagen:

»Mama, ich mache eine Auszeit auf dem Land.« Nachdem noch das wo genau, mit wem, wie lange und warum überhaupt geklärt war, war es schönerweise meine Mama, die laut lachte und sagte: »Du? Land? Dauert nix lang.«

Was zuvor geschah

Kapitel 1

Warum Tiere vor mir Angst haben (sollten)

Meine Nachbarin Marlies war schrill, laut und hatte einen Vogel. Marlies konnte man nicht übersehen. Im Sommer trug sie gerne knapp bauchfrei, eng und bunt. Sehr bunt. Ihr Faible für Neon schien sich mit jedem Lebensjahrzehnt stärker auszuprägen. Marlies war 74, Witwe und trotzdem lebenslustig, weil der Tod ihres Mannes nun auch schon ein bisschen her war. Und Marlies hatte, wie gesagt, einen Vogel – Beatrix, der Wellensittich. Auch im Tierreich schien sie eine gewisse Tendenz zu Neonfarben zu haben. Als ich klein war, hatte gefühlt jeder einen Hamster oder einen Wellensittich. Und wenn man ihn nicht selbst besaß, dann aber auf jeden Fall Oma oder Opa (oder Marlies). Heutzutage ist der Wellensittich, zumindest in meinem Umfeld, nahezu ausgestorben. Ich kenne eigentlich niemanden, bis auf Marlies, der noch so einen Vogel hat. Sie hingegen hatte schon viele. Im Schnitt wird so ein Tier 8 bis 12 Jahre alt. Bei guter Haltung auch mal 15 Jahre. Marlies hatte mal einen, der laut ihrer Auskunft die Volljährigkeit nur ganz, ganz knapp verfehlt hatte.

Entsprechend oft hatte sie auch mit Beerdigungssituationen zu tun. Und obwohl jeder dieser Budgies, wie sie ihre Wellensittiche liebevoll nannte, eine besondere Beziehung zu Marlies hatte, ging sie nach dem Absterben der Tiere ziemlich rigoros vor. Die Vögel landeten im Hausmüll. Marlies sah es überhaupt nicht ein, eine große Abschiedszeremonie zu veranstalten, zumal sie meist schon kurze Zeit später wieder einen neuen Spielkameraden in ihrem Käfig sitzen hatte. Nun also Beatrix.

Beatrix war blau und ließ mein Klischeedenken offen zutage treten. Ein blauer Wellensittich namens Beatrix? War sie sich wirklich sicher, dass das ein Weibchen war? Beatrix hatte es Marlies auf jeden Fall besonders angetan. Sie war nicht mehr wiederzuerkennen, wenn sie vor ihrem Vogel saß, was ich vor allem deshalb gut beurteilen kann, weil ich regelmäßig unregelmäßig zu Besuch war. Und jetzt war es mal wieder so weit. Ich hatte Marlieslänger nicht mehr gesehen, Käsekuchen besorgt und wollte so die Gelegenheit nutzen, mich offiziell bei Beatrix vorzustellen.

»Du bist also Beatrix. Ehrlich gesagt sieht sie genauso aus wie Bärbel, die du vorher hattest«, wandte ich mich an die stolze Besitzerin.

»Quatsch! Guck dir mal diese Augen an: So rund und klar. Und diese Wärme, die sie ausstrahlt.«

Ich gab mir Mühe, die Besonderheiten in Beatrix’ kleinem Vogelgesicht auch zu erkennen, sah aber nur zwei winzige schwarze Punkte, die mich aufgeregt ansahen.

»Und Beatrix kann ein Kunststück«, setzte Marlies, die meine Skepsis bemerkte, nach.

»Soso. Ein Kunststück? Na, dann zeig mal her«, sagte ich etwas abgelenkt von Marlies’ Outfit, das heute ganz besonders … auffällig war.

Marlies trug ein neonorangefarbenes T-Shirt mit Rüschen am Ärmel. Ja, Einzahl, denn es gab nur einen Ärmel, die andere Seite war schulterfrei. Auf Marlies’ freiliegendem Schlüsselbein klebten drei Strassaufkleber. Ich fragte mich, wo sie das ganze Zeug herhatte. Auch wenn das nicht mein bevorzugter Kleidungsstil ist, fand ich es cool, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Klamotten trug. Beige und Taupe kann in dem Alter schließlich jeder.

»Das musst du dir mal vorstellen. Beatrix hat ja nur zwei Füßchen und kann eine Rolle vorwärts, ohne sich festzuhalten.«