Landverstand - Timo Küntzle - E-Book

Landverstand E-Book

Timo Küntzle

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Beschreibung

"Wir Konsumenten blockieren ein nachhaltigeres globales Ernährungssystem, indem wir der Landwirtschaft einen Mühlstein aus Vorurteilen, Denkverboten und widersprüchlichen Wünschen um den Hals hängen." Über unser Essen und die Art und Weise seiner Herstellung wurde nie emotionaler und verbissener diskutiert als heute. Gleichzeitig ist die Zahl der Menschen mit direktem Einblick in die Landwirtschaft auf einem historischen Tiefstand. Klar ist lediglich: Jedes Lebensmittel soll makellos und rund ums Jahr zu haben sein – aber bitte nachhaltig, regional und bio. Kann das funktionieren? Natürlich nicht, sagt Timo Küntzle. Der Journalist und Landwirtsohn sieht genau hin, um mit romantisierenden und verteufelnden Vorurteilen aufzuräumen. Welche Rolle spielt Landwirtschaft beim Klimawandel? Ist "bio für alle" realistisch? Wie schädlich sind Glyphosat und andere Pestizide tatsächlich, was sind die Alternativen? Und nicht zuletzt: Ist unsere Angst vor Gentechnik auf dem Teller berechtigt, war unser Essen in der "guten alten Zeit" wirklich besser? Die Antworten sind nicht immer einfach. Aber zweimal hinsehen lohnt sich. Nicht nur, weil es um unser täglich Brot geht, sondern auch, weil etwas mehr Landverstand uns allen guttäte.

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UM/WELTNR.2

TIMO KÜNTZLE

LANDVERSTAND

WAS WIR ÜBER UNSER ESSENWIRKLICH WISSEN SOLLTEN

Für Flora & Bettina

Zu Ehren von Norman E. Borlaug –The man who saved a billion lives

INHALT

VORWORT

1DAS URPRINZIP DER „LAND-WIRTSCHAFT“ ODER: IM EINKLANG MIT DER NATUR VERHUNGERN WIR

2WER ISST, VERURSACHT TREIBHAUSGASE – DAS SAGT DER WELTKLIMARAT

3ACKER, WALD UND MOOR – KLIMAKILLER LANDNUTZUNG

4KLIMAGASE DIREKT VOM BAUERNHOF

5LÖSUNGEN FÜRS KLIMA

6ARTENVIELFALT ADE – WIE UNSER ESSEN DIE NATUR ZERSTÖRT

7EIN LOBLIED AUF DEN KUNSTDÜNGER

8GIFT UND GESUNDHEIT – DIE ROLLE DER PESTIZIDE

9GENTECHNIK – WOVOR FÜRCHTEN WIR UNS EIGENTLICH?

10RESÜMEE

ANHANG

VORWORT

Fast nichts von dem, was wir essen, ist natürlich. Nicht in seiner genetischen Zusammensetzung und schon gar nicht in der Art und Weise, wie es gewachsen ist. Vielmehr wurden nahezu alle unsere Nahrungsmittel auf die eine oder andere Weise von uns Menschen „manipuliert“, und das schon vor vielen tausend Jahren. Seit einigen Jahrzehnten wird uns allerdings das Gegenteil eingebläut und das vermeintliche Ideal einer vergangenen „natürlichen Landwirtschaft“ gezeichnet – die es aber nie gegeben hat.

Die daraus erwachsene Anforderungsliste an die Landwirte führt diese jeden Tag in viele schier ausweglose Zwickmühlen. Sie ist schlecht gemacht. Wir verlangen zum Beispiel, dass unser tägliches Essen das ganze Jahr über in der buntesten Vielfalt und größtmöglichen Auswahl zu günstigen Preisen zu haben ist. Es muss gesund und nahrhaft sein, außerdem stets frisch und hübsch anzusehen.

Gleichzeitig erwarten wir, dass die Bauern bei der Erfüllung unseres Auftrags keine „Chemie“, wenig Dünger und auf gar keinen Fall Gentechnik verwenden. Am besten soll alles „bio“ sein. Tiere sollen auf einer großen, saftigen Weide leben und glücklich sein, bevor wir sie essen. Die Umwelt soll dabei möglichst unberührt bleiben.

In diesem Buch konfrontiere ich Sie mit einer Reihe von grundlegenden Zusammenhängen rund um das weite Themenfeld der Nahrungsmittelproduktion. Gemeinsam werfen wir einen unverblümten Blick auf die landwirtschaftliche Praxis und auf Forschungsergebnisse, von denen es manche nie in die Nachrichten schaffen. Etliche dieser nachprüfbaren Fakten widersprechen dem, was einige besonders häufig in den Medien vorkommende „Umweltschützer“ wiederholt behaupten. Wohlgemerkt: etliche, nicht alle!

Ich bin überzeugt, dass Umweltschutzorganisationen bzw. Umwelt-NGOs lange eine wichtige gesellschaftliche Funktion ausgeübt haben. Sie haben uns wachgerüttelt und drängende Umweltprobleme ins kollektive Bewusstsein gerückt. Ihre vielen Millionen Spender gehören jedenfalls zu denen, die es gut meinen.

Allerdings ist das Meinungsklima der vergangenen Jahre durch einige wenige Umweltgruppen viel stärker geprägt, als es deren Fachkompetenz und Wissenschaftstreue rechtfertigen würde. Dies gilt ganz besonders für den mit großen Emotionen behafteten Bereich der Nahrungsmittelproduktion. Einige im Namen des Umwelt-, Klima- und Gesundheitsschutzes speziell über die Landwirtschaft getroffenen Aussagen widersprechen den Erkenntnissen der Wissenschaft fundamental.

Auch der in der Bevölkerung weit verbreitete Glaube, wonach alles Natürliche prinzipiell gesünder, irgendwie sanfter wirkend und umweltschonender sei als alles künstlich Hergestellte, ist in keiner Weise durch wissenschaftliche Erkenntnisse gedeckt. Eine der Ursachen für solche grundlegenden Missverständnisse ist, dass heute nur noch die Allerwenigsten eigene Erfahrungen mit der Nahrungsmittelproduktion machen.

Stichworte wie Glyphosat oder Gentechnik bringen die Kommentarbereiche bei Facebook & Co. zum Glühen. Grundtenor: Man müsse mit der Natur arbeiten, statt gegen sie. Diese „Erkenntnis“ müsse den Bauern über eine verbesserte Ausbildung nähergebracht werden, um sie von ihrer „Chemiegläubigkeit“ zu befreien.

Gerade unter Journalisten, Lehrern und anderen Meinungsmachern hat sich eine skurrile Gedankenwelt über das Wesen der Landwirtschaft zusammengebraut, befördert von der Lebensmittelwerbung. Mit der realen Landwirtschaft hat diese Welt immer weniger gemeinsam. Während sich auf Bauernhöfen satellitengesteuerte Traktoren, Drohnen, Melk- und Fütterungsroboter verbreiten, wird ein sprechendes Ferkel als bester Freund des sanftmütigen Biobauern zur Werbe-Ikone einer österreichischen Biomarke. Schein und Sein könnten kaum weiter auseinanderdriften.

Verzerrte und romantisierte Vorstellungen sind längst in Form von ideologischen Leitbildern in der Politik angekommen. Dort führen sie zu Entscheidungen, die Menschen und Umwelt mehr gefährden, als sie zu schützen, und eine Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit nicht befördern, sondern verhindern. Falsche Vorstellungen führen zu Gesetzen, die gut gemeint, aber schlecht gemacht sind.

In den kommenden Jahren brauchen wir allerdings Weichenstellungen, die gut gemacht sind. Ansonsten werden wir als globale Gesellschaft die enormen Herausforderungen kaum bewältigen, die eine wachsende Weltbevölkerung, der Klimawandel und der fortschreitende Verlust von Lebensräumen und Artenvielfalt mit sich bringen.

Ich selbst bin auf einem konventionell wirtschaftenden Bauernhof im schönen Badener Land, genauer gesagt in Weingarten bei Karlsruhe aufgewachsen. Schon als Kind begeisterte mich auch die Natur abseits von Acker und Viehstall. Von meinem Beobachtungszelt sah ich per Fernglas Gartenrotschwanz, Neuntöter oder Stieglitz nach. Seit meiner Jugend bin ich Mitglied der Umweltschutzorganisation WWF. Ich wollte mit meinem Beitritt dazu beitragen, den Sibirischen Tiger und die Gorillas zu retten.

Ein Herzensanliegen war mir vor allem „mein“ Gemüsegarten. Mit vielleicht zehn Jahren übernahm ich von meiner Mutter in alleiniger Verantwortung seine Bewirtschaftung. Unter Anleitung eines Buchs über biologisches Gärtnern baute ich Tomaten, Paprika, Lauch, Zwiebeln, Salat, Erdbeeren und vieles mehr auf ökologische Weise an: in Mischkultur, ohne „Kunstdünger“ und ohne synthetische Pflanzenschutzmittel. Es bereitete mir viel Freude und Zufriedenheit, und der Gedanke an ökologische Alternativen war mir immer nahe.

Was ich damit sagen will: Nichts läge mir ferner, als die dringende Notwendigkeit von Klima- und Umweltschutz infrage zu stellen. Als Vater einer Tochter ist mir kaum etwas wichtiger als eine Zukunft in einer lebenswerten Umwelt. Allerdings braucht es zur „Rettung des Planeten“ mehr als Ideale und gute Absichten. Was das für den Ernährungsbereich bedeuten kann, davon handelt dieses Buch.

1

DAS URPRINZIP DER „LAND-WIRTSCHAFT“ ODER: IM EINKLANG MIT DER NATUR VERHUNGERN WIR

Simpel betrachtet, umfasst die Landwirtschaft den Anbau von Kulturpflanzen und die Haltung von Nutztieren mit dem Ziel, landwirtschaftliche Rohstoffe wie Weizen, Kartoffeln oder Schweinefleisch zu „ernten“. Aber was bedeutet Landwirtschaft im tieferen Sinne?

Jeder, der über ein noch so winziges Stück Land verfügt, kann die Frage mithilfe eines kleinen Experiments selbst beantworten.

Angenommen, Sie haben einen Quadratmeter Boden, auf dem eine Wiese wächst. Ziel des Experiments ist es, dort Radieschen anzubauen, zu ernten und als frische Zutat eines selbst zubereiteten Frühlingssalats zu genießen. Wie kommen Sie diesem Ziel näher? Einfach Radieschen-Samen besorgen, auf die Wiese streuen und das Beste hoffen? Sie wissen intuitiv: Mit dieser Vorgehensweise wird das Experiment kläglich scheitern. Sie müssen das Stück Land mithilfe eines Spatens erst vorbereiten.

Was jetzt kommt, ist nichts Geringeres als die Fortführung einer viele tausende Jahre alten Tradition. Sie ist die Grundlage aller Zivilisationen, die jemals die Erde bevölkert haben. Sie sind jetzt im Begriff, Ackerbauer zu werden! Sie setzen also Ihren Spaten an und stemmen sich mit Ihrem ganzen Gewicht auf das Werkzeug, das nun hoffentlich einigermaßen senkrecht in den Boden gleitet. Anschließend heben Sie das Spatenblatt an, wenden es und lassen die Erdscholle mit dem Bewuchs nach unten dorthin zurückfallen, wo sie hergekommen ist. Herzlichen Glückwunsch! Sie haben gerade Landwirtschaft betrieben. Aber sind Sie sich bewusst, was Sie wirklich getan haben? Das Umgraben der Wiese bedeutet im Grunde nichts anderes, als der Natur die Herrschaft zu entreißen. Sie bestimmen, was wächst, und verwirklichen damit das Urprinzip der Landwirtschaft. Es bedeutet, das Land zu bewirtschaften. Und diese Bewirtschaftung vollzieht sich letztlich in einem andauernden Kampf gegen den „Willen“ der Natur. Das merken Sie auch im weiteren Verlauf Ihres Radieschen-Experiments. Rund eine Woche, nachdem Sie Ihr Stück Land umgegraben, die Erde eingeebnet und die Samenkörner in den Boden gelegt haben, strecken die Keimlinge allmählich ihre Köpfchen aus der Erde und beginnen sichtbar zu wachsen – vorausgesetzt, es ist nicht zu kalt, zu trocken oder Ähnliches.

Aber der Teufel schläft genauso wenig wie die Natur! Mit den Radieschen keimen auch neue Wildpflanzen. Die zahlreichen Vertreter dieser Kräuter, Gräser, Farne, Moose oder Gehölzarten werden traditionell als Unkraut bezeichnet, sobald sie unerwünscht auftauchen – obwohl diese Pflanzen nicht grundsätzlich schlecht sind und wichtige ökologische Funktionen als Futter, Behausung oder Brutstätte für Insekten und andere Tiere erfüllen. Die etwas differenzierter klingende Bezeichnung lautet daher Beikraut.

Schlussendlich ist die Bezeichnung egal. Für Radieschen sind andere Pflanzenarten ein Problem, weil sie ihnen Licht, Wasser, Nährstoffe und Platz rauben, zumal Wildpflanzen wesentlich durchsetzungsfähiger und robuster sind als Radieschen. Wildpflanzen sind von der Evolution auf eigenständiges Überleben und die Produktion von Nachkommen getrimmt. Radieschen wurden dagegen vom Menschen durch gezielte Züchtung so geformt, dass sie ihre Kraft in verdickte und wohlschmeckende Sprossknollen stecken. Ihre Robustheit haben sie dabei weitgehend eingebüßt, was sie gegenüber Wildpflanzen konkurrenzschwach macht. Ihr Überleben und ihre Gesundheit hängen von der Hilfe des Menschen ab.

Wenn Ihnen Ihre Salatzutat also am Herzen liegt, setzen Sie sich mit einer Hacke gegen die Natur zur Wehr oder zupfen das Unkraut direkt mit Ihren Händen. So helfen Sie Ihren Radieschen auf künstliche Weise zu gedeihen, wo sie von Natur aus chancenlos wären.

Allerdings ist das Problem mit den störenden Wildpflanzen ein längerfristiges. Samen können auf einem Quadratmeter zu Hunderttausenden und teils jahrzehntelang im Boden schlummern und werden ständig aus der Umgebung angeweht oder von Vögeln und anderen Tieren fallengelassen. Irgendetwas steht daher immer bereit zu wachsen.

Unkraut vergeht nicht, lautet ein altes Sprichwort. Schon immer mussten Ackerbauern mit der bitteren Erfahrung leben, dass die Unkrautbekämpfung stets nur kurzfristige Erfolge beschert. Daran hat auch die Erfindung von Glyphosat und anderen Unkrautvernichtern nichts geändert. Selbst wenn die Bodenoberfläche gerade vollständig befreit wurde, steht die nächste Unkraut-Generation schon in den Startlöchern. Wer sich nur zwei Wochen im Garten nicht blicken lässt, kann bei seiner Rückkehr eine böse Überraschung erleben: sprießendes Unkraut überall.

Es wird niemals dauerhaft verschwinden (wenn man von einzelnen, ganz bestimmten Arten einmal absieht). Seine Beseitigung verschafft Kulturpflanzen, in Ihrem Fall den Radieschen, für kurze Zeit gerade nur so viel Vorsprung gegenüber wild wuchernden Pflanzen, dass es Ihnen nach wenigen Wochen gelingen kann, eine Ernte einzufahren.

Mit der Anlage eines Radieschenbeets haben Sie also zwei Dinge getan, die regelmäßig heiß diskutiert werden: Sie haben Pflanzenschutz betrieben und damit einen aktiven Beitrag zur Verringerung der auf diesem Quadratmeter vorhandenen Artenvielfalt geleistet! Was den Pflanzenschutz angeht, muss man Sie loben: Das Mittel Ihrer Wahl war die ressourcenschonende Hand-Hacke. Im Fachjargon nennt sich der damit verbundene Vorgang mechanische Unkrautbekämpfung. Und die ist zumindest im Hausgarten, rein ökologisch betrachtet, der chemischen Unkrautbekämpfung vorzuziehen. Jedenfalls wenn sie muskelbetrieben funktioniert. Bezüglich der Ressource Rückengesundheitist das Hacken von Hand bei größeren Feldern allerdings weniger schonend.

Beim Thema Artenvielfalt haben Sie schon mehr Schuld auf sich geladen. Falls Sie gewissenhaft gearbeitet haben, ist das Unkraut jetzt nämlich nicht weniger tot, als wenn Sie es mit einem Unkrautvernichtungsmittel (Herbizid) totgespritzt hätten. Sie haben all die kleinen Pflänzchen zerstückelt und vertrocknen lassen. Statt zu blühender Insektennahrung heranzuwachsen, zerfallen sie jetzt zu Humus. Sie mussten es tun, um Ihre Radieschenpflanzen vor Wildkräutern in Schutz zu nehmen. Sie haben Pflanzen-Schutz in Reinform betrieben, aber dadurch auch die Artenvielfalt auf Ihrem Quadratmeter drastisch schrumpfen lassen!

In dem zugrunde liegenden landwirtschaftlichen Urprinzip unterscheidet sich ein Urban Gardener in Wien nicht von einem Großfarmer in Argentinien, ein Biobauer nicht von einem konventionell wirtschaftenden Landwirt. Sie alle fördern Kulturpflanzen und drängen andere Arten zurück. Auch wenn es jeder mit unterschiedlichen Werkzeugen und ungleichen Wirkungsgraden verfolgt: Es bleibt dasselbe Prinzip.

DIE ERFINDUNG DER LANDWIRTSCHAFT

Die Idee des Ackerbaus und der Viehzucht hatten Menschen in mehreren Regionen der Erde unabhängig voneinander, zuerst im Nahen Osten vor rund 12.000 bis 14.000 Jahren.

Dabei muss ungefähr Folgendes passiert sein: Einige biologisch Interessierte begannen damit, von den dicksten Körnern wilder Gräser einige abzuzweigen. Sie verwerteten sie nicht direkt als Nahrung, wie bis dahin üblich, sondern um die Pflanzen kontrolliert zu vermehren.

Ließe sich herausfinden, wer genau diesen Schritt zu welchem Zeitpunkt erstmals vollzogen hat, man müsste diesem Menschen posthum eine Handvoll Nobelpreise verleihen, derart fundamental änderte sich dadurch das Schicksal der gesamten Menschheit. Fest steht nur: Irgendwann legte jemand zum allerersten Mal in der Geschichte ein Samenkorn ganz bewusst in den Boden. Vielleicht hatte sie oder er zuvor beobachtet, wie versehentlich verschüttete Körner hinter Nachbars Hütte auskeimten? Wie ich uns Menschen kenne, war die Grassäerei lange Zeit als Hobby für Spinner verschrien. Wozu Samen in den Boden legen, wenn die Natur ohnehin genug wachsen lässt?

Aber die Idee wurde nach und nach von immer mehr Menschen kopiert. Es stellte sich nämlich heraus, dass eine eigene kleine Ernte nicht schlecht war, wenn in der Natur phasenweise weniger Nahrung zu finden war. Klimatische Schwankungen führten dazu, dass der Eigenanbau weiter intensiviert wurde. Zwar bescherte er mehr Arbeit, aber es konnten auch mehr Menschen von derselben Fläche ernährt werden. So begaben sich die Menschen nach und nach in eine immer größer werdende Abhängigkeit von der „Spinnerei“ mit den Graskörnern. Die großen Körner wurden noch akribischer ausgewählt und ausgesät. Diese jungsteinzeitliche Form der „Genmanipulation“ durch Auslese brachte mit der Zeit die Vorläufer unserer heutigen Getreidearten hervor: Einkorn und Emmer als erste Weizenformen, außerdem Gerste, Erbsen, Linsen und Lein.

Wohl aus alter Gewohnheit, besser gesagt, solange sie verfügbar waren, jagten die ersten Ackerbauern zunächst weiter wilde Tiere, vor allem Gazellen. Als deren Populationen im Umfeld der frühen Siedlungen aber allmählich zusammenbrachen, begann auch die Domestikation, oder salopp: die „Verhäuslichung“ der ersten Tiere. Aus Bezoarziege, Wildschaf, Wildschwein und Auerochse wurden innerhalb langer Zeitspannen Haustiere. Die Idee von Sesshaftwerdung und Landwirtschaft erwies sich auf Dauer als unschlagbar.

Die aus dem Gebiet des sogenannten Fruchtbaren Halbmonds, der sich in einem Bogen ungefähr vom heutigen Israel bis in das Gebiet zwischen Euphrat und Tigris erstreckt, importierte bäuerliche Lebensweise samt ihrer Eigenheit, sich von bestimmten Pflanzen und Tieren zu ernähren, verbreitete sich über ganz Europa, wo sie die bis dato lebenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften nach und nach verdrängte. Dies führte langfristig zu einer wachsenden Bevölkerung mit einem stetig zunehmenden, wenn auch schwankenden, Bedarf an Nahrungsmitteln, Heiz- und Baumaterial, Platz für Äcker, Weiden, Gebäude, Straßen und vieles mehr. Im Laufe der Jahrtausende gestalteten die Menschen die Landschaften Europas so zu Kultur-Landschaften um und änderten deren Aussehen radikal.

Aber wie hatten diese Landschaften bis dahin ausgesehen? Waren sie völlig naturbelassen? Was ist eigentlich Natur ? Mit der Beantwortung dieser Frage lassen sich wahrscheinlich ganze Bücherregale füllen. Dabei ergeben sich spannende Detailfragen, wie: Ist der Mensch Teil der Natur? Und falls ja, wäre dann nicht auch alles von Menschen Hervorgebrachte natürlich ? Ich definiere Natur grob vereinfachend als einen Zustand, wie er ohne direkte Einwirkung des Menschen, „von Natur aus“ entsteht.

Allerdings dürfte der Mensch seine Umwelt schon sehr viel länger einschneidend verändern, als man glauben möchte. Es gibt wissenschaftliche Hinweise1 darauf, dass auch schon die Jäger und Sammler am Höhepunkt der jüngsten Kaltzeit vor rund 20.000 Jahren Teile der ohnehin spärlich wachsenden Wälder niedergebrannt haben, um die Jagd und das Sammeln zu erleichtern.

Ein Blick auf eine Karte mit der potenziellen natürlichen Vegetation Europas im dann wärmeren Klima nach der jüngsten Kaltzeit vor grob 10.000 Jahren zeigt: Ohne wesentliche Eingriffe des Menschen war der überwiegende Teil Europas mit Laubmischwald bedeckt. Dort, wo die zahlreicher werdenden Menschen neue Behausungen errichten, Getreide anbauen und Vieh halten wollten, musste dieser Wald erstmal weg. Die Rodung von Wäldern war ein zentrales Element der Entwicklung Mitteleuropas. Nicht nur um Platz zu schaffen, sondern auch weil Holz als Brenn- und Baumaterial, etwa bei der Salzgewinnung und im Bergbau, massenhaft gebraucht wurde. Das gilt ganz besonders für eine langanhaltende Ausbau- und Blütezeit im Hochmittelalter, also für das 12. und 13. Jahrhundert.

In anderen Phasen der Geschichte schrumpfte die Bevölkerung, etwa während der großen Pestepidemie zwischen 1346 und 1353. Zu jener Zeit starben innerhalb weniger Jahre geschätzte 25 Millionen Menschen und damit ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Tausende in den Jahrhunderten zuvor gegründete Dörfer und Siedlungen verfielen wieder, sodass sich die ehemaligen Äcker und Weiden innerhalb weniger Jahre erneut in Wald verwandelten. Ähnlich wirkte sich auch der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648) aus, im Zuge dessen manche Landstriche mehr als die Hälfte ihrer Bewohner verloren.

Die Spuren solcher sogenannter Wüstungen sind heute an vielen Orten zu finden und Untersuchungsgegenstand eines eigenen, von der Öffentlichkeit unbeachteten Spezial-Forschungsfelds. Gleichzeitig sind Wüstungen faszinierende Belege für das niemals endende Ringen zwischen Menschen und der Natur.

Wir müssen aber nicht ins Mittelalter zurückreisen, um Zeuge dieser Naturkräfte zu werden. Auch ein Stadtspaziergang mit offenen Augen genügt. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele offensichtlich verlassene und verfallende Wohnhäuser oder Gewerbehallen unbeachtet herumstehen, und wie schnell alle möglichen Pflanzen ein aufgegebenes Grundstück überwuchern. Egal ob diese Gewächse einst zur Zierde gepflanzt oder später wild aufgekeimt sind, ohne das Wirken eines Gärtners macht sich innerhalb weniger Jahre dichter Wildwuchs breit.

Solche nur allmählich ablaufenden Prozesse erzählen von der Bändigung und Umgestaltung der Wildnis genauso wie von deren Wiederausbreitung. Wo sich der Mensch zurückzieht, übernimmt die Natur die Regie. So wie sie es zuvor, ohne Menschen, getan hat. Dann regieren die Naturgesetze. Sie bilden das einzige Regelwerk in einem chaotischen Kampf der Arten um begrenzte Ressourcen. Die Natur ist kein eigenes, übersinnliches oder göttliches Wesen und schon gar kein gütiges im Sinne einer „Mutter Natur“. Denn nur die stärksten, effizientesten, trickreichsten oder – im Falle des Menschen – kooperativsten Spezies können sich in diesem System der Anarchie behaupten. Alle anderen werden gnadenlos beseitigt.

Warum ist das alles so wichtig? Was hat es mit unserem kleinen Radieschen-Experiment zu tun?

UNSERE FALSCHEN VORSTELLUNGEN VON NATUR UND NATÜRLICHKEIT

Sätze wie: „Wer geldgetrieben die Schöpfung manipuliert, sollte in Demut verstehen: Niemand ist effizienter und zukunftsträchtiger als die Natur selbst“2 oder: „Wir sind Teil der Natur und entsprechend natürlich sollten wir uns ernähren“,3 wie sie etwa die Fernsehköchin und Grünen-Abgeordnete Sarah Wiener regelmäßig äußert, zeugen von einer romantisch verklärten Vorstellung von Natur und Natürlichkeit, die fast nichts mit realer Landwirtschaft zu tun hat.

Prinzipiell ist es nachvollziehbar, mit der Natur und einem Natürlichkeitsbegriff zu werben. Etwa, wenn damit Lebensmittel gemeint sind, die ohne synthetisch hergestellte Zusatzstoffe auskommen. Was aber, wenn diese synthetischen Stoffe vor giftigen Mikroorganismen schützen, die überall in der natürlichen Umwelt vorkommen? Ist natürlich grundsätzlich gesünder?

Die inflationäre Verwendung eines unklar definierten Natürlichkeitsbegriffs erschwert uns die sachliche und objektive Beurteilung naturwissenschaftlich erklärbarer Zusammenhänge.

Wenn Natur vornehmlich als gut und sanft wirkend gesehen wird, aber alles „Unnatürliche“ oder von Menschen Erschaffene in erster Linie als schlecht und schädlich gilt, bereitet dies den Boden für schlechte persönliche und politische Entscheidungen, die ihrerseits schädlich für die Gesundheit oder das Ökosystem sein können.

Ihre Radieschen lehren uns genauso wie der Blick in die Vergangenheit, dass Landwirtschaft immer schon eher das Gegenkonzept zur Natur war. Unsere Vorfahren haben mit der Landwirtschaft eine enorm wirkungsvolle Strategie entwickelt, um sich in einer erbarmungslosen Umwelt zu behaupten. Nur weil sie die Natur gebändigt, bezwungen und manipuliert haben, konnten Menschen dauerhaft sesshaft werden und beginnen, Arbeitsteilung zu betreiben.

Im Laufe dieser Entwicklung konnten die Bauern immer mehr Menschen ernähren, die sich so anderen Berufen widmen konnten, ohne selbst Nahrungsmittel zu produzieren. Alles, was unsere Kultur und unsere Zivilisation ausmachen, wird erst durch die Landwirtschaft möglich.

Dieser Zusammenhang spiegelt sich sogar in der Bedeutung des Wortes Kultur: Es stammt vom lateinischen cultura ab, was einerseits Landbau, andererseits Pflege des Körpers und des Geistes bedeutet. Kultivieren können wir also sowohl unsere Sitten als auch ein Stück Land, das wir dadurch urbar machen und bebauen. Begriffe wie „Boden kultur“ oder „Kulturpflanze“ gewinnen so eine tiefere Bedeutung.

Apropos Kulturpflanze. Diese zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie der Mensch auf dem Feld kultiviert. Sie ist auch in sich selbst ein Kulturprodukt und alles andere als natürlich. Nicht einmal auf dem idyllischsten Biobauernhof wachsen Pflanzen, deren genetische Eigenschaften nicht durch menschliche Manipulationen (Züchtung) an unsere Bedürfnisse angepasst wären. Das zeigt sich in deren Inhaltsstoffen genauso wie im Aussehen. Wer einen Blick auf die Wildformen von Mais, Karotten oder Radieschen wirft, wird darin heutige Sorten nicht wiedererkennen. So sehr hat der Mensch im Laufe von Jahrtausenden das Aussehen der von der Natur bereitgestellten Pflanzen verändert.

An all das erinnern Sie sich vielleicht, wenn Sie dem rund um Ihre Radieschen-Kultur sprießenden Wildkraut mit Ihrer Hacke den Garaus machen. Die Rettung der Radieschen stellt nichts Geringeres als einen Akt des Zivilisatorischen dar. Ohne Unkrautjäten keine Kultur! Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben.

Die Natur fährt viele weitere Geschütze auf, die Ihre Radieschen nicht minder bedrohen. Zum Beispiel die Erdflöhe, die kleine Löcher in die jungen Blätter fressen und deren Larven die Wurzeln anknabbern. Ähnliches Verhalten zeigen die Maden der Kohlfliege, die Raupen des Kohlweißlings und einige andere. Tierische Schaderreger können einem den Spaß am Gärtnern ordentlich verderben. Meine Großmutter Maria pflegte sie deshalb unter dem schwäbischen Fachterminus Lombegfräß zusammenzufassen. Hinzu kommen Pilze, Bakterien und Viren, die alle möglichen Krankheiten verbreiten, Radieschen faulen lassen oder andere Methoden finden, um sie ungenießbar zu machen.

Diese sehr grundlegenden Überlegungen sollten uns immer bewusst sein, wenn wir über Landwirtschaft und Ernährung reden. Wir werden in den folgenden Kapiteln immer wieder darauf zurückkommen.

ZUSAMMENFASSUNG: WAS WIR ÜBER DAS URPRINZIP DER LANDWIRTSCHAFT WIRKLICH WISSEN SOLLTEN

1.Landwirtschaft bedeutet: die Bewirtschaftung des Landes. Der Mensch bestimmt, was wachsen darf.

2.Die Einschränkung der Artenvielfalt ist das Urprinzip der Landwirtschaft.

3.Ohne Menschen gäbe es in Mitteleuropa vor allem Laubmischwälder. Darin könnten nur so viele Menschen überleben, wie die Menge natürlich vorkommender Beeren, Wurzeln, Wildschweine usw. satt machen.

4.Ohne Landwirtschaft gäbe es keine Arbeitsteilung, keine Kultur, kein Handy, kein Studium der Philosophie.

2

WER ISST, VERURSACHT TREIBHAUSGASE – DAS SAGT DER WELTKLIMARAT

Dem Thema Klimawandel und Landwirtschaft muss ich eine wichtige Sache vorausschicken: Der aktuell messbare Klimawandel, also der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um rund ein Grad seit Beginn der vorindustriellen Zeit (1850 – 1900), ist mit großer Wahrscheinlichkeit und zum überwiegenden Anteil menschengemacht. Grund ist die übermäßige Freisetzung von Treibhausgasen (THG) in die Atmosphäre. Dieser grundsätzliche Zusammenhang ist Konsens in der Wissenschaft und steht in diesem Buch nicht zur Debatte.

Nach menschlichem Ermessen müssen wir davon ausgehen, dass sich das Erdklima weiter erhitzt, wenn wir nicht deutlich gegensteuern. Der Klimawandel stellt zweifellos eine der größten aktuellen Herausforderungen für die Menschheit dar. Die diesbezüglichen Erkenntnisse zu ignorieren und zu hoffen, dass die Wissenschaft sich getäuscht hat, wäre nicht sehr klug.

DIE 17 ZIELE FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG

Ist der Klimawandel die einzige globale Herausforderung, die in ihrer Wichtigkeit über allem steht? Nein. Und diese Feststellung ist weniger simpel, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Wir dürfen den Klimawandel nicht losgelöst von vielen anderen Dringlichkeiten betrachten. Das haben auch die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen erkannt und auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2015 in New York einstimmig 17 Ziele (und nicht nur eines!) für eine nachhaltige Entwicklung beschlossen (englisch: Sustainable Development Goals, kurz SDGs). Im selben Jahr wurde auch das Pariser Klimaabkommen verabschiedet.

An allererster Stelle der SDG-Ziele steht die Bekämpfung von Armut, an zweiter die Beendigung von Hunger. Es folgen Ziele wie Gesundheit, Bildung, sauberes Wasser und Wirtschaftswachstum. Auch der Schutz der Ozeane und der Artenvielfalt in Land-Ökosystemen gehört dazu. Und natürlich die Bekämpfung des Klimawandels.

Die Tatsache, dass sich die Weltgemeinschaft 17 und nicht nur ein, zwei oder drei Ziele selbst ins Stammbuch geschrieben hat, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das eine nicht ohne das andere funktionieren kann. Nur ein Beispiel (sehen Sie mir nach, dass ich jetzt stark vereinfache, es geht ums Prinzip!): Für das Klima wäre es gut, wenn möglichst große Flächen des Globus mit Wald statt Acker bedeckt wären. Man könnte daher auf die Idee kommen, immer mehr Äcker zu Wald zu machen. Der könnte dann große Mengen CO2 aufnehmen und speichern. Gut fürs Klima!

Der Nachteil wäre, dass im Wald weder Mais oder Reis noch Tomaten oder Paprika wachsen. Von Radieschen ganz zu schweigen. Drehen wir also nur an der Wald-Schraube, indem wir etwa halb Europa wiederaufforsten, während alles andere so bleibt, wie es ist, dann wird irgendwer woanders auf der Welt Wald roden, um auf der Fläche Mais oder Paprika anzubauen und nach Europa zu verkaufen. Oder aber es wird dann global weniger geerntet, sodass Menschen irgendwo hungern. Beides wäre nicht sonderlich konstruktiv.

Klar ist: Wir müssen die Klimaproblematik immer in Zusammenhang mit den anderen Herausforderungen sehen, denen die Menschen auf dieser Welt nun einmal gegenüberstehen. Verlieren wir sie aus den Augen, entstehen andere Probleme, die unsere Klimaziele durch die Hintertür torpedieren.

Wenn man sich nur eine Stunde lang ernsthaft mit dem Themenkomplex aus Armut, Hunger, Landwirtschaft und Klimawandel auseinandersetzt, stellt man Folgendes fest: Simple Lösungen, die allen Zielen gerecht werden, gibt es nicht. Im Gegenteil: Die Angelegenheit ist komplex und voller Zielkonflikte.

Wie bei so vielem anderem gibt es auch bei der Frage des Einflusses der Landwirtschaft auf das Klima Menschen, die scheinbar plausible Lösungen parat haben. Diese Vereinfacher erklären den Zusammenhang in etwa so:

Menschengemachte Treibhausgase stammen zu einem großen Teil von der „industriellen“, wahlweise der „intensiven“ Landwirtschaft mit ihrer „Massentierhaltung“ und ihrem verschwenderischen Umgang mit „Kunstdünger“, Pestiziden und Gentechnik (die beiden Ersteren werden gerne unter dem Begriff „Agrochemikalien“ zusammengefasst). Gesteuert von geldgierigen Konzernen wie Monsanto (heute Bayer), unter Missachtung der Gesetze von „Mutter Erde“ und ohne Wertschätzung dem Leben gegenüber fluten sie die Märkte mit viel zu großen Mengen an ungesundem Essen und zerstören so das Klima. Ein paar wenige afrikanische oder oberösterreichische Kleinbauern widersetzen sich dem Ganzen und betreiben Landwirtschaft noch immer so wie zu Großmutters Zeiten: demütig, genügsam und in Einklang mit der Natur.

Wir müssen nur weniger Fleisch essen, weniger Lebensmittel verschwenden und weltweit alle Bauern zu Biobauern umschulen. So, und nur so, lässt sich der Planet Erde noch retten.

Die Geschichte wird nicht immer so zugespitzt wiedergegeben. Aber auch viele sachlicher klingende Wortmeldungen laufen letztlich auf dieselbe Botschaft hinaus. Sie basiert auf einer klaren, unverrückbaren und oftmals religiös anmutenden Trennung in Gut und Böse. Böse ist alles, was groß, intensiv und industriell erscheint. Gut ist alles, was klein, natürlich, idyllisch und bio ist.

Das Knifflige an dieser Erzählung: Sie hat einen wahren Kern. Das heißt: Auch das genaue Gegenteil ist falsch. Und das macht die Sache kompliziert. Das viel größere Problem ist aber: In seiner Einfachheit ist diese auch von Journalisten gerne verbreitete Geschichte viel mehr falsch als richtig. Sie verzerrt die Wahrheit so stark, dass sie uns die Sicht auf das große Ganze komplett vernebeln kann. Damit macht sie auch blind für mögliche Auswege und Lösungen.

TREIBHAUSGASE AUS DEM ERNÄHRUNGSSYSTEM – WAS SAGT DER WELTKLIMARAT WIRKLICH?

Für die Zusammenhänge zwischen der Produktion unseres Essens und dem Weltklima ist das wegweisende Gremium der sogenannte Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen, im Englischen abgekürzt mit IPCC4, auch als Weltklimarat bezeichnet.

Der Weltklimarat, besser gesagt die für ihn arbeitenden Wissenschaftler aus der ganzen Welt, tragen seit seiner Gründung 1988 regelmäßig das neueste, aktualisierte Wissen zu Ursachen und Auswirkungen der Erderwärmung zusammen. Außerdem identifizieren sie mögliche Reaktionsstrategien.

Aber im Grunde sortieren die Wissenschaftler lediglich die Studien abertausender Forschender und geben sie in Berichten wieder. Die kann sich jeder aus dem Internet herunterladen. Zusammenfassungen5 gibt es auch in deutscher Sprache.

Der Weltklimarat ist keinesfalls unfehlbar, aber seine Berichte stellen die wohl umfassendste Aufbereitung des ständig wachsenden Wissens über den Klimawandel dar. Und damit eine gemeinsame Faktenbasis, die zumindest als Diskussionsgrundlage von fast allen anerkannt ist. Gemeinsame Faktenbasis klingt großartig! Leider aber sind die IPCC-Berichte oft mehrere hundert Seiten dick, vielschichtig und äußerst facettenreich. Thematisch ist für nahezu jeden Geschmack etwas dabei. Das führt dazu, dass die grundsätzliche Anerkennung des Weltklimarats viele Leute nicht davon abhält, bestimmte Aussagen zu ignorieren, in einen irreführenden Kontext zu setzen oder gar ins Gegenteil zu verdrehen. Das beginnt schon bei der Frage, wie hoch der Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtmenge der durch Menschen verursachten THG berechnet ist. Selbst etablierte Medien machen regelmäßig falsche Angaben und verwirren mit unpräzisen Bezeichnungen.

Besonders häufig werden die Landwirtschaft, die Landnutzung und das Ernährungssystem als Ganzes durcheinandergeworfen. Dabei macht es einen gewaltigen Unterschied, von welchem Begriff die Rede ist. Auch bleibt öfter unerwähnt, ob es gerade um die globale Bilanz oder um die Bilanz bestimmter Länder bzw. Weltregionen geht, ob wir vom Anteil der Tierhaltung an den Emissionen der Landwirtschaft oder an den gesamten menschengemachten Emissionen reden usw. Unpräzise Angaben erwecken oft den Eindruck, die Landwirtschaft trage die Hauptschuld am Klimawandel.

In Medienberichten werden regelmäßig die direkt durch landwirtschaftliche Tätigkeiten entstehenden Emissionen mit jenen in einen Topf geworfen, die sich aus der Umwandlung etwa von Wald zu Agrarland ergeben. Solche Landnutzungsänderungen passieren im großen Stil auch in besonders armen Regionen, wo die Kleinbauern oft überhaupt keinen Zugang zu Mineraldünger, Pestiziden oder anderen mit „industrieller“ Landwirtschaft assoziierten Werkzeugen haben. Sie erwirtschaften daher viel zu geringe Erträge pro Fläche und roden deshalb immer mehr Wald. Je mehr die Bevölkerung wächst, desto größer wird der Flächenbedarf einer unproduktiven Landwirtschaft. Aber was sagt eigentlich der Weltklimarat zum Anteil der Landwirtschaft am Klimawandel?6

Die gesamten Emissionen des Ernährungssystems machen zwischen 21 und 37 Prozent aller menschengemachten Treibhausgasemissionen aus. Entscheidend ist dabei der Begriff Ernährungssystem. Die Landwirtschaft definiert der Weltklimarat als eine von insgesamt drei Kategorien des Ernährungssystems. Auf ihr Konto gehen grob gesagt Emissionen, die im direkten Arbeitsbereich der Bauern, also auf den Bauernhöfen mit ihren Äckern, Weiden und Ställen entstehen – within the farm gate (innerhalb des Hoftores) also. Dieser Kategorie Landwirtschaft rechnet der IPCC einen Anteil von 9 bis 14 Prozent der menschengemachten Treibhausgase zu.

Die zweite Kategorie des Ernährungssystems verbirgt sich hinter dem Stichwort Landnutzung. Dabei geht es um jene Emissionen, die entstehen, wenn sich die Art der Landnutzung ändert. Dazu gehört vor allem die Neugewinnung von Agrarflächen durch die Rodung von Wäldern oder das Trockenlegen von Mooren und Feuchtwiesen. Auch der Umbruch von Grünland (Savannen, Wiesen und Weiden) und seine Umnutzung in Ackerland fallen darunter. Den Anteil der Landnutzung beziffert der IPCC mit 5 bis 14 Prozent.

Und schließlich zählt zum Ernährungssystem die dritte Kategorie namens beyond farm gate. Die deutsche Entsprechung nennt sich vor- und nachgelagerter Bereich der Landwirtschaft. Der vorgelagerte Bereich umfasst jene Dinge, die ein moderner Bauer heutzutage beschaffen muss, bevor er überhaupt mit bestimmten Arbeiten anfangen kann. Dazu gehören Maschinen und Geräte vom Spaten bis zum Mähdrescher und die Produktion von Kraftstoff (CO2 entsteht ja nicht nur beim Verbrennen des Sprits im Traktortank!). Ebenso die Bereitstellung von Düngern und Pflanzenschutzmitteln. Allein die äußerst energieintensive industrielle Umwandlung von Luftstickstoff zu Mineraldünger verschlingt zwischen 1 und 3 Prozent des gesamten Energiebedarfs der Menschheit (mehr dazu in Kapitel 7).

Zum nachgelagerten Bereich zählen jene Stationen, die ein Lebensmittel auf dem Weg vom Bauernhof bis auf den Teller der Konsumenten durchläuft: Transport, Lagerung und Kühlung von Lebensmitteln; ihre Verarbeitung und Verpackung.

Geschätzte 25 bis 30 Prozent aller Lebensmittel gehen irgendwo auf dem Weg vom Feld auf den Teller verloren und werden somit völlig umsonst produziert. Auch die damit verbundenen Emissionen verrechnet der IPCC in der Kategorie beyond farm gate. Insgesamt fallen darunter 5 bis 10 Prozent der menschengemachten Treibhausgase. Rechnet man alle drei genannten Kategorien zusammen, also Landwirtschaft, Landnutzung und beyond farm gate, verursacht das Ernährungssystem als Ganzes die genannten 21 bis 37 Prozent der Emissionen.

Zwei Dinge möchte ich an dieser IPCC-Bilanz des Ernährungssystem hervorheben. Erstens: Die Bandbreite dieser Größenschätzung von ganzen 16 Prozentpunkten (zwischen 21 und 37 Prozent) zeigt, dass der Weltklimarat nicht genau sagen kann, wie hoch der Anteil des Ernährungssystems oder einzelner Teilbereiche tatsächlich ist. Wir haben es mit, wenn auch wohlbegründeten, Annäherungen zu tun.

Andererseits sind einige der Kernaussagen des Weltklimarats gut genug abgesichert, um daraus Handlungsbedarf abzuleiten. Trotzdem muss uns klar sein, dass wir es in all diesen Diskussionen mit äußerst vielen Detailfragen zu tun haben, für die es nicht immer eine eindeutige Antwort oder ein unumstößliches Richtig oder Falsch gibt.

Das Zweite, was an dieser Stelle wichtig ist: Es sind sehr viele einzelne Quellen an THG, die sich zum Gesamtbeitrag des Ernährungssystems (21 bis 37 Prozent) addieren. Wenn wir manche einseitig betonen, nur weil es gerade populär ist, dann drohen viele andere wichtige Quellen unbeachtet zu bleiben.

Angenommen, ich entscheide nach Feierabend spontan, ins Restaurant zu gehen und das Gemüse in meinem Kühlschrank welken zu lassen, sodass es am nächsten Tag in die Mülltonne wandert. Ist diese Verschwendung die Schuld der Landwirtschaft mit ihrem „Kunstdünger“? Und was können Bauern dafür, dass noch immer niemand einen CO2-neutralen Traktor erfunden hat? Sollen sie ihre Felder mit Pferden und Rindern beackern, so wie früher? (Wobei Pferde ohne Hafer-„Sprit“ auch nicht laufen.) Hat die Landwirtschaft Einfluss darauf, dass Brotbacken Energie kostet? Hat sie es in der Hand, ob wir Konsumenten mehr oder weniger klimaschädliche Lebensmitteln kaufen? Die Antworten darauf sind offensichtlich.

ZUSAMMENFASSUNG: WAS WIR ÜBER DEN WELTKLIMARAT WIRKLICH WISSEN SOLLTEN

1.Klimaschutz ist eine der drängendsten Aufgaben der Menschheit, aber nicht die einzige. Ihn losgelöst von anderen Zielen wie Ernährungssicherheit oder Armutsbekämpfung zu betrachten, ist gefährlich.

2.Diese Quellen an Treibhausgasen muss man unterscheiden:

•Landnutzung (Neugewinnung von Agrarflächen),

•Bauernhof (direkt),

•Vor- und nachgelagerter Bereich (Dünger- u. Dieselproduktion, Kühlkette, Verschwendung usw.).

3.Das globale Ernährungssystem als Ganzes verursacht laut Weltklimarat (2019) 21 bis 37 Prozent aller menschengemachten Treibhausgase.

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ACKER, WALD UND MOOR – KLIMAKILLER LANDNUTZUNG

Obwohl die Freisetzung von Kohlenstoff und anderen Klimagasen aus Böden enorme Bedeutung hat, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass das Ganze erst dadurch richtig schlimm wird, dass die Menschheit Kohle, Öl und Gas verbrennt. Der darin enthaltene Kohlenstoff wurde vor Jahrmillionen als Langzeitspeicher angelegt. Seine energetische Nutzung für Industrie, Gebäude und Verkehr bringt den aktuellen Kohlenstoffkreislauf aus dem Gleichgewicht. Mehr als zwei Drittel der menschengemachten Treibhausgase stammen aus diesem und nicht aus dem Ernährungsbereich.

Wenn es generell um den menschengemachten Klimawandel geht, dann spielen vor allem drei Treibhausgase eine Rolle: Methan, Lachgas und natürlich unser altbekanntes Kohlenstoffdioxid (CO2). Auch ohne Menschen würden sie auf der Erde eine wichtige Rolle spielen, weil sie Teil ganz natürlicher Prozesse sind. Das Problem ist, dass der Mensch einige dieser Prozesse verstärkt, andere abschwächt oder umkehrt. Das allein wäre auch noch zu verkraften, wenn sich von unserer Art, so wie um Christi Geburt herum, gerade mal 190 Millionen7 Exemplare auf dem Erdball herumtreiben würden. Auch eine Weltbevölkerung von 990 Millionen wie im Jahr 1800: geschenkt!

Derzeit stehen wir aber bei einer Weltbevölkerung von 7,7 Milliarden, und so wie es ausschaut, dürften wir bis in 30 Jahren auf rund 10 Milliarden Menschen kommen. All diese Menschen brauchen Energie für die Fortbewegung, zum Heizen und Kochen und für die Produktion von Gütern. Und sie müssen ernährt werden, was zu einem großen Teil von einer 30 Zentimeter starken Schicht Erde abhängt. Mit 10 Milliarden Menschen haben wir dann doch ein Problem. Besser gesagt: mehrere.

Treibhausgase unterscheiden sich in ihrem Vermögen, die Atmosphäre aufzuheizen. Das liegt an ihren spezifischen Molekülstrukturen, die Wärmeenergie unterschiedlich stark absorbieren. Außerdem verweilen die Gase unterschiedlich lang in der Atmosphäre, bevor sie umgewandelt oder vom Meer oder den Landmassen wieder aufgenommen werden. Um kein heilloses Durcheinander zu schaffen, rechnet die Klimawissenschaft mit einer Vergleichsgröße: den CO2-Äquivalenten.

CO2 hat dabei ein Treibhausgaspotenzial von 1, während Methan über eine Zeitspanne von 100 Jahren gerechnet ein Treibhausgaspotenzial von 28 hat. Also entspricht eine Tonne Methan 28 Tonnen CO2-Äquvivalenten. Eine Tonne Lachgas wirkt dagegen wie 265 CO2-Äquivalente. Verwirrung entsteht nicht selten dadurch, dass Menschen von CO2 sprechen, wenn es eigentlich um CO2-Äquivalente geht, oder umgekehrt.

KOHLENDIOXID (CO2) – WER ACKERT, EMITTIERT

In den Medien kommt CO2 fast ausschließlich in einem sehr negativen Kontext vor; als hauptverantwortlicher Stoff für den Klimawandel, als der Unheilsbringer schlechthin. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass das Gas eigentlich Teil des natürlichen sogenannten Kohlenstoff-Kreislaufs ist. Wenn es um den Einfluss der Landwirtschaft auf den Klimawandel geht, müssen wir CO2 daher ein kleines bisschen näher kennenlernen. Nur so bekommen wir ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge.

An CO2 (ganz genau: Kohlenstoffdioxid) ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Alles Leben besteht zu einem großen Teil aus Kohlenstoffatomen. Während Pflanzen und Tiere wachsen, nehmen sie kohlenstoffhaltige Verbindungen auf und geben sie auch wieder ab. Im Periodensystem der Elemente, das Sie vielleicht noch aus dem Chemie-Unterricht kennen, trägt der Kohlenstoff das Kürzel C. Ach, und wenn wir schon dabei sind …

Das sind die wichtigsten Atome (Elemente), mit denen man es im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu tun bekommt. Wenn sie mit gleichen oder anderen Atomen eine chemische Bindung eingehen, dann werden sie Teil von Molekülen. Ein C- und zwei Sauerstoff-Atome machen als CO2-Molekül gemeinsame Sache.

Sämtliche Zuckermoleküle enthalten Kohlenstoff und werden auch Kohlenhydrate genannt. Zu langen C-Atom-Ketten zusammengesetzt, ist Kohlenstoff ebenso Hauptbestandteil von Fetten und Ölen. Auch die Proteine (Eiweiße) sind aus Kohlenstoff gemacht. Kohlenstoff bildet den Wesenskern sämtlicher organischer Masse des Planeten, sei sie tot oder lebendig.

Egal ob wir also Rumkugeln oder Spinat essen, in erster Linie verspeisen wir dabei Kohlenstoff (von Wasser einmal abgesehen). In unserem Körper werden Kohlenstoff enthaltende Moleküle zu Einfachzucker in Form von Glucose abgebaut. Die Glucose ist der Treibstoff, der bei der Verbrennung bzw. Veratmung in unseren Zellen Energie freisetzt. Diese Energie hält unseren Körper am Laufen. Die verbrannten C-Atome entweichen in Form von CO2 in die Atmosphäre.

Pflanzen machen es ein bisschen anders. Zwar verbrennen auch sie Kohlenstoff, um zu funktionieren. Um an ihn heranzukommen, müssen sie aber keine anderen Lebewesen fressen. Sie holen sich diesen Teil ihres Futters in Form von CO2 aus der Luft. Aus diesem CO2 und einer weiteren Zutat, nämlich Wasser, stellen Pflanzen mithilfe der Energie des Sonnenlichts Einfachzucker bzw. Glucose her. Als Nebenprodukt entsteht Sauerstoff. Diesen Prozess kennen wir unter dem Namen Photosynthese noch aus der Schule.

Glucose ist aber nicht nur das Produkt der Photosynthese, sondern auch Ausgangspunkt und Baustein für andere wichtige Moleküle. Mehrere Hundert oder gar Zehntausende Glucose-Moleküle formen sich etwa zum Kohlenhydrat Zellulose. Sie ist der Hauptbestandteil von Pflanzen.

Wenn Pflanzen am Ende ihrer Zeit absterben oder teilweise geerntet werden, gelangen die Reste ihrer oberirdischen Masse dorthin, wo ihre Wurzeln schon die ganze Zeit waren: in den Boden. Dort dienen sie einer riesigen Menge von Bodenlebewesen als Nahrung.

Zum Bodenleben gehören alle Lebewesen, die nicht auf, sondern im Boden leben: winzig kleine Tierchen wie Milben oder Nematoden, etwas größere Tierchen wie Regenwürmer, aber auch Algen, Pilze und vor allem Bakterien. Das Bodenleben tut dasselbe wie wir Menschen: Es ernährt sich von Molekülen aus Kohlenstoff, aus denen alle organische Masse aufgebaut ist. Es zerkleinert, „verdaut“ und verbrennt die Kohlenstoff-Moleküle, um daraus Energie zu gewinnen oder eigene Biomasse aufzubauen. Auch Bodenlebewesen entlassen beim Verbrennen einen Teil des Kohlenstoffs als CO2 in die Atmosphäre.

Bei Regenwürmern und Bakterien stehen in erster Linie Getreidestroh, welke Kartoffelblätter, kollabierte Eichen oder tote Mäuse auf dem Speiseplan – zum Glück: Wir würden sonst in totem organischem Abfall ersticken. Allerdings: Das Bodenleben hat niemals restlos aufgegessen. Zu jedem Zeitpunkt ist ein Teil der zersetzten organischen Masse im Boden gespeichert. Tote Pflanzen lösen sich also nicht über Nacht in Luft (bzw. CO2) auf. Vielmehr kann sich der Prozess der Verrottung (bei Tieren: Verwesung) über Monate oder gar Jahre hinziehen, auch abhängig vom Klima und davon, ob ein Strohhalm oder ein Eichenstamm verrottet.

Man könnte die Verrottung auch Kompostierung nennen. Was als Zwischenstufe dabei herauskommt, ist der Humus, ein wesentlicher Bestandteil von fertigem Kompost. Humus lässt bekanntlich jedes Gärtnerherz höherschlagen, weil er u. a. die Wasser- und Nährstoffverfügbarkeit des Bodens verbessert, ihn fruchtbarer macht und das Bodenleben fördert.

Für das Weltklima von herausragender Bedeutung ist die Tatsache, dass es sich bei Humus vor allem um gespeicherten Kohlenstoff handelt. Das heißt: Solange Kohlenstoff als Humus oder als Bestandteil von Pflanzen oder Bodenlebewesen gebunden ist, kann er nicht in Form von CO2-Gas die Atmosphäre erwärmen.

Grundsätzlich befindet sich Kohlenstoff in einem ständigen Kreislauf des Lebens: Pflanzen nehmen ihn aus der Luft auf und lagern ihn in ihrer Biomasse ein. Tiere nehmen ihn auf, indem sie Pflanzen oder andere Tiere fressen. Im Zuge der Zellatmung zur Energiegewinnung wird Kohlenstoff von den allermeisten Lebewesen als CO2 auch wieder in die Atmosphäre entlassen. Sterben Pflanzen ab, gelangt der in ihnen eingelagerte Kohlenstoff in den Boden und wird zu Humus. Teilweise auch indirekt, indem Tiere (und Menschen) Pflanzen fressen und ihre unverdaulichen Reste später als Dung (oder Klärschlamm) dem Boden zuführen. Vom Bodenleben wird der Kohlenstoff in Form von vielzähligen organischen Verbindungen ständig auf- und abgebaut. Dahinter stecken allerlei biochemische Prozesse, deren Intensität von der Art des Bodens, seinem Wassergehalt, der Temperatur und etlichen weiteren Faktoren abhängt. Wichtig ist vor allem: Kohlenstoff wandert ständig zwischen Atmosphäre, Boden und Lebewesen hin und her.

Aber was hat die kleine Geschichte vom Leben und Sterben der Pflanzen mit dem Klima zu tun? Ganz einfach: Wenn ein Stück Land mit seinen darauf lebenden Organismen über lange Zeitspannen hinweg mehr Kohlenstoff aufnimmt als abgibt, ist das gut fürs Klima. Das Land bildet dann eine Kohlenstoff-Senke. Wenn es allerdings durch Verrottung oder Verlust von Biomasse netto Kohlenstoff verliert, übernimmt es aus Sicht der Atmosphäre die Rolle einer Kohlenstoff-Quelle. Und das ist schlecht fürs Klima.

Das Spannende ist dabei: Ackerböden können sowohl Senken als auch Quellen sein. Allerdings tendieren sie dazu, Kohlenstoff in Form von Humus eher zu verlieren als aufzubauen.

Das liegt zum einen daran, dass mit jeder Ernte Kohlenstoff vom Feld abtransportiert wird. Zum anderen verliert ein Acker allein durch das Beackern an sich Kohlenstoff. Durch die Bearbeitung, zum Beispiel das Pflügen, gelangt nämlich vermehrt Sauerstoff in den Boden. Und der wirkt auf das Bodenleben fast wie Doping: Bodenbakterien werden aktiver und beschleunigen den Abbau von Pflanzenmaterial und Humus. Durch den Humusabbau landet vermehrt CO2 in der Luft.

Besonders folgenreich ist es, wenn alte Wälder oder Grünland in Ackerland umgewandelt werden. Ein womöglich jahrhundertelang angehäufter Kohlenstoffvorrat beginnt sich dann über Jahrzehnte hinweg abzubauen, und das Land wird zur Kohlenstoff-Quelle.

Ohne Ackerbau ist alles genau umgekehrt. Ein junger Wald, dessen Bäume über Jahrzehnte wachsen und Biomasse anhäufen, nimmt ständig mehr Kohlenstoff auf, als er durch die Atmung der Lebewesen oder verrottende Pflanzen abgibt. Ähnlich ist es bei natürlichem oder nicht zu intensiv genutztem Grünland und erst recht bei einem intakten Moor. Solche Flächen sind Kohlenstoff-Senken und damit ein Glücksfall fürs Klima.

Ohne die Aktivitäten des Menschen bildeten Wälder, Graslandschaften und Moore unberührte, gigantische Kohlenstoffspeicher. Allerdings sind wir Menschen auf der Bildfläche erschienen und haben mit Ackerbau, Tierhaltung und Städtebau angefangen. Mit jedem dafür geopferten Wald- oder Savannenstück verschwand ein Stück Speicherkapazität für Kohlenstoff, und diese Entwicklung hält an.

Erinnern Sie sich an Ihren Quadratmeter Radieschen aus dem ersten Kapitel? Auch den haben Sie von einer Senke (Wiese) in eine Quelle (Radieschen-Acker) verwandelt. Wenn Sie weiter Gemüse darauf anbauen, bleibt er das womöglich für viele Jahre.

Dass die Menschheit den Planeten großflächig mit Äckern überzogen hat, stellt also ein ganz grundsätzliches Problem in Sachen Klima dar. Zwar kann auch ein Ackerboden (≈ 1 – 4 Prozent Humus) mithilfe humusaufbauender Bewirtschaftung etwas Kohlenstoffgehalt zulegen (von der Quelle zu einer schwachen Senke werden). Aber den Humusgehalt von Wald (2 – 30 Prozent) oder Grünland (4 – 15 Prozent) wird ein Acker an derselben Stelle nie erreichen.

Aber: Rund zwei Drittel der globalen Agrarflächen bestehen laut FAO aus Grünland, ein Drittel aus Ackerland. Beide Kategorien werden häufig in einen Topf geworfen, obwohl dies bezüglich ihrer Klimawirkung nicht sinnvoll ist.

So oder so: Die bei der Umwandlung von Moor, Wald oder Grünland in Ackerland (bzw. von Moor/Wald in Grünland) ausgelöste unvermeidliche CO2-Freisetzung aus dem Boden lastet der Weltklimarat folgerichtig nicht der Kategorie Landwirtschaft, sondern der erwähnten Landnutzung an. In der Bilanz machen sie rund die Hälfte der insgesamt durch Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Landnutzung verursachten Treibhausgase aus (siehe Kapitel 2).

AUS MOOR WIRD ACKER – GUT GEGEN HUNGER, SCHLECHT FÜRS KLIMA

Heute gehört es zum Allgemeinwissen, dass Wald ein bedeutender Kohlenstoffspeicher ist und viele andere wichtige Funktionen erfüllt. Auch um den Wert tropischer Regenwälder und deren Zerstörung weiß längst jedes Kind.

Kaum jemand spricht allerdings über Moore. Dabei leisten diese sumpfig-morastigen Flächen im Verhältnis sehr viel mehr fürs Klima als gewöhnlicher Wald. Das ist auch der Grund dafür, dass die Regierung Schottlands Bäume fällen lässt, um den Ursprungszustand bestimmter Moore wiederherzustellen.8 Bäume fällen als Klimaschutzmaßnahme?

Um den Sinn dahinter zu verstehen, müssen wir etwas tiefer in die Moor-Thematik eintauchen. Die größten Moorgebiete liegen in den baumlosen Weiten Kanadas und Russlands. Es gibt sie aber auch als tropische Variante mit Baumbewuchs, zum Beispiel in Indonesien oder im afrikanischen Kongobecken. Innerhalb Europas sind und waren die Sumpflandschaften vor allem im Norden zu finden. Die Fans der Netflix-Serie The Crown