Laser Blue 1.0 – Fehler im System - Jana Maria Lüpke - E-Book
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Laser Blue 1.0 – Fehler im System E-Book

Jana Maria Lüpke

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Beschreibung

Ein übermächtiges Medienunternehmen und ein Held wider Willen: Ein humorvoller Zukunftsroman für Fans von »Ready Player One«, »Hunger Games« und »QualityLand« »Keiner friert mehr, keiner hungert. Für jeden Menschen ist gesorgt.« 2089 – eine technisch hoch entwickelte Welt, die bis ins kleinste Detail durchorganisiert und an die Bedürfnisse ihrer Bewohner angepasst ist. Hier lebt der 17-jährige Laser Blue Potlowski ein ganz gewöhnliches Leben voller medialer Zerstreuung und ohne lästige Verantwortung. Doch dann wird er in die Machenschaften einer Organisation hineingezogen, deren virtueller Krieg gegen Staat und Medienkonzerne ihn in große Gefahr bringt. Ganz vorne an der Front: Violetta – ein Mädchen, in das Laser sich mehr oder minder versehentlich verliebt hat. Bei dem Versuch, ihr Leben zu retten, wird Lasers Realität ganz plötzlich zum gefährlichen Computerspiel. »Tolle Charaktere, top Handlungsverlauf, klasse Wendungen. Klare Leseempfehlung.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Eine tolle Reihe, die sehr rasch Spannung und Tempo aufgenommen hat.« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Dieses Werk wurde vermittelt durch LöcherLawrence Literarische Agentur (München)

Redaktion: Franz Leipold

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Freepik (user24028412, kjpargeter, upklyak); Shutterstock (vvital, Sergey Nivens, Triff)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Level 1; -Hacked-

Level 2; -Error-

Level 3; -Violetta-

Level 4; -Jackpot-

Level 5; -Update-

Level 6; -Bambi-

Level 7; -Check-in-

Level 8; - CanAir 675-

Level 9; -MediaCon-

Level 10; -Synchro-

Level 11; -Eingefroren-

Level 12; -Chronik-

Level 13; -Blackout-

Level 14; -Gameplay-

Kapitel 15; -Allies-

Level 15; -Bosswave-

Level 16; -Port Hope-

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Level 1; -Hacked-

Meine Urgroßmutter ist eine der letzten Bewohnerinnen unserer Siedlung mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Sie ist Stylistin. Hairdresser. Zu ihrer Zeit nannte man das noch Friseurin. Meine Uroma sagt aber, mit dem Wort Friseur auf dem Ladenschild hätte man sich die junge Kundschaft schon damals vergrault. Zu einem Friseur gehen nur alte Weiber – Wickel aufdrehen, sagt sie. Mit denen hat man damals schon kein Geld verdienen können. Die wollten immer nur dasselbe, und das immer nur einmal im Monat. Trendige Frisuren, knallige Farben und teure Haarkuren verkauft man nur als Stylist. Promis haben Stylisten, und damals, damals – meine Uroma betont dieses kleine Wörtchen immer so ausgiebig, als könnte sie ein Stückchen dieser Zeit zurückbringen, wenn sie es nur oft und laut genug sagt und mit einer möglichst ausschweifenden Geste untermalt –, damals wollten alle Frauen aussehen wie Suri Cruise oder Shiloh Jolie-Pitt. Ich weiß nicht, wer die beiden sind, weiß auch nicht, wie ihre Haare ausgesehen haben, und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Ich verspreche meiner Uroma jedes Mal aufs Neue, Suri Cruise zu googeln, die ihrer Aussage nach die Modewelt revolutioniert hat. Spätestens wenn meine Omma in ihrem Rollstuhl zur Tür hinausgefahren ist, habe ich es aber schon wieder vergessen.

Meine Mutter wäre sicherlich auch Hairdresser geworden, hätte der Staat diesen letzten handwerklichen Beruf nicht irgendwann mit einer Verbeamtung verknüpft, um dem wahnsinnigen Andrang Herr zu werden, den das Aussterben der Dienstleistungsberufe mit sich brachte. Da jeder Mensch hin und wieder einen neuen Haarschnitt braucht und das Durchführen von Hygienemaßnahmen nicht nur seiner Gesundheit, sondern auch seinem seelischen Wohlbefinden dient, wurde jedem Bewohner der Bundesrepublik Deutschland von da an alle sechs Monate ein Styling bewilligt. Das ist heute noch so. Hairdresser wird man allerdings nicht mehr so leicht. Meine Urgroßmutter hat vor über siebzig Jahren eine Ausbildung gemacht. Sie hat in einem Salon gelernt und ist nebenbei zur Berufsschule gegangen. Heute braucht man ein einwandfreies psychologisches Gutachten, ein makelloses Führungszeugnis und einen Hochschulabschluss, um an der Fashion-Academy in Berlin zu studieren, die jedes Jahr etwa fünfzig Studenten aufnimmt. Die Tochter meiner Urgroßmutter, Mamas Mama also, war schon damals nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur eine dieser Voraussetzungen zu erfüllen. Und auch wenn sie es gewesen wäre: Spätestens die strengen Auswahlkriterien, die IQ-Tests und die Persönlichkeitsfestsetzungen hätten sie früher oder später aus dem Rennen geschmissen. Und wenn nicht die, dann die Studiengebühren. Die konnte man schon damals nicht mit Lebensmittelgutscheinen bezahlen.

Haareschneiden hat meine Mutter aber trotzdem noch gelernt. Von meiner Uroma. Zwar hat uns das nicht aus der Siedlung gebracht, aber wenigstens kann sie heute mit ruhigem Gewissen den Hygienegutschein aus ihrem E-Mail-Postfach entsorgen, wenn er alle sechs Monate pünktlich mit einem freudigen Bing in einem Briefumschlag, mit goldenem Adler bestempelt, auf unserem Bildschirm auftaucht. Sie kann ihn virtuell das Klo runterspülen und dabei ganz laut auf die Regierung schimpfen, die ihr diese einzige Chance auf ein spannendes Leben durch ihre bescheuerten Sparmaßnahmen gründlich versaut hat. Die Haare meiner Kinder schneide ich selbst. Wenigstens was den Kopf angeht, sehen meine drei nicht aus wie alle anderen Bälger dieser beschissenen Siedlung.

Meistens sage ich nichts dazu. Was soll ich schon sagen? Mir geht es gut. Ich habe alles, was ich brauche. Ich friere nicht. Ich habe genug zu essen. Ich kann lesen und schreiben. Keiner friert mehr, keiner hungert. Für jeden Menschen ist gesorgt. Wir sitzen auf dem Sofa, so wie Milliarden andere auch, schalten durch die unzähligen Kanäle unseres Mediasystems und erkunden die Welt. Wenn wir Hunger haben, essen wir. Wenn wir müde sind, schlafen wir. Wenn es draußen grau und eklig wird, schaltet sich die Heizung ein. Wenn es zu heiß wird, läuft die Klimaanlage. Wenn wir etwas wissen wollen, fragen wir Google. Wenn ich mit jemandem sprechen möchte, schreibe ich ihm eine Nachricht. Oder ich rufe ihn an. Manchmal treffen wir uns und sehen uns die Welt hinter dem Bildschirm gemeinsam an.

Wir sind alle gleich. Keinem geht es besser, keinem geht es schlechter. Worüber will ich mich also beschweren? Ich verstehe die Alten nicht. Ihr ständiges Gerede von damals. Wer bitte möchte schon freiwillig Teil einer Ellenbogengesellschaft sein? Sich dem ständigen Leistungsdruck unterwerfen, den ganzen Tag arbeiten, Stunden absitzen, bis irgendwann das Hirn krepiert und man anfängt, sich mit Psychopharmaka vollzustopfen – und am Ende bekommt man nur ein Magengeschwür davon. Die Welt hat sich beruhigt. Der Staat hat die Welt beruhigt. Er hat ihr eine Auszeit gewährt. Seit der Reformation vor sechzig Jahren hat es keine nennenswerten Unruhen mehr gegeben – nirgendwo. Es war an der Zeit, hart durchzugreifen. Die ganze Menschheit wurde neu strukturiert, schnell und kostengünstig. Unser technischer Fortschritt hat einen solchen Wandel erst möglich gemacht. Zuerst wurde das Grundbedürfnisversorgungssystem, kurz GbVS, noch lauthals verschrien, als kommunistische Missgeburt beschimpft und von allen sozialen Parteien dieser Welt abgelehnt. Ein Testlauf in Brasilien aber hat die Welt dann schlussendlich doch davon überzeugt, dass GbVS die einzige Möglichkeit ist, den Missständen unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Die Kriminalitätsrate ist schlagartig gesunken, die Staatskassen wurden von Jahr zu Jahr voller, und die Sterblichkeitsraten sanken rapide ab. Keine zwei Jahre später wurde GbVS weltweit eingeführt, und endlich kehrte Ruhe ein. Geld spielt jetzt keine Rolle mehr. Jedenfalls nicht für uns. Und das ist gut so. Mehr braucht man nicht zu wissen heutzutage.

Wissen ist Macht? Hat irgendwann irgendwer mal gesagt, ja. Vielleicht war es Suri Cruise? Oder Shiloh Jolie-Pitt? Was gibt es schon großartig zu wissen? Wen interessiert, was ich weiß? Ich schlafe, wenn ich müde bin, ich esse, wenn ich Hunger habe. Wenn ich krank bin, bekomme ich Medizin. Wenn meine Schuhe zu klein sind, krieg ich welche, die eine Nummer größer sind. Wenn ich alt genug bin, um auszuziehen, bekomme ich eine Wohnung. Wenn ich einen Partner habe, ein größeres Bett. Wenn mir langweilig ist, setze ich mich aufs Sofa und erkunde die Welt. Diese Alten und ihr ewiges Gejammer. Damals, damals hatten wir noch Träume. Damals konnten wir werden, was immer wir sein wollten. Wir waren einzigartig, jeder für sich – so ein Schwachsinn! Wozu mir mein Hirn darüber zerbrechen, was ich werden will? Warum ein Leben lang kämpfen, um Macht, Geld und Anerkennung? Warum? Wenn ich doch auch hier auf meinem Sofa liegen und mir die Welt mit trockenen Füßen ansehen kann.

Abschlussarbeit Gesamtschule s1–3, 20.06.2089, Laser Blue Potlowski – Wie GbVS die Welt beruhigte

Bestanden steht in roter Schrift – die, wie ich glaube, so aussehen soll, als hätte sie jemand mit der Hand geschrieben – unter dem Text, den ich vor gut einem halben Jahr an die Schulbehörde geschickt habe. Sehr differenziert betrachtet. Die harte Arbeit hat sich ausgezahlt. Ich runzle die Stirn. Ich hab den blöden Text in einer halben Stunde geschrieben. Als letzten Teil meiner Abschlussprüfung für die Schule. 1,0 – sehr gut, steht da noch. Daneben prangt ein dicker Daumen, der wohl ausdrücken soll, dass der Behörde mein Text gefallen hat. Weil meine Arbeit laut dem angehängten Schreiben wohl die beste meines Jahrgangs war, bekomme ich nicht nur eine Auszeichnung (im Anhang), sondern auch noch einen zusätzlichen Hygienegutschein (auch im Anhang). »Wer auch immer für den Anhang des Gutscheins verantwortlich war, hat meine Arbeit mit Sicherheit nicht gelesen«, denke ich frustriert. Ich hätte mich über ein oder zwei seltene Items auf meinem Battle-Commander Account gefreut oder über ein paar Punkte für meinen Highscore, aber so weit denken die von der Schulbehörde wohl nicht.

Im Bett neben mir stöhnt mein kleiner Bruder Blast genervt auf. Er hat vormittags Unterricht, sitzt in seinem Bett, ein Kissen im Rücken, ein Tablet auf dem Schoß und einen Stöpsel im Ohr. Mit einem Plastikstäbchen kritzelt er auf dem Screen herum und ärgert sich über irgendwas. Ich bin heilfroh, dass ich mich damit nicht mehr herumquälen muss. Ich konnte meinen Abschluss schon nach fünf Jahren machen. Ich hab spät angefangen. Erst mit zwölf. Aber der Unterricht ist mir nie schwergefallen. Auch die Tests nicht. Blast hasst es. Er versucht oft, sich davor zu drücken; allerdings verweigert ihm Heepsi, unser Housekeepingsystem, jegliche Art von medialer Zerstreuung, bis er die zwei Stunden Schule täglich abgesessen hat. Ich sehe zu ihm rüber. Seine stachelig gegelten Haare stehen trotz seines nächtlichen hin und her Gewälzes akribisch geformt von seinem Kopf ab. Er hat die Nase kraus gezogen und kaut auf dem gelben Eingabestäbchen herum, während er angestrengt dem Unterrichtsvideo folgt. Ich schließe die E-Mail und drücke auf den kleinen Papierkorb neben der Betreffzeile. Ich glaube nicht, dass sich jemals wieder irgendjemand dafür interessieren wird, ob und mit welcher Note ich meinen Schulabschluss bestanden habe.

Da ist noch eine zweite ungelesene Nachricht in meinem Postfach. Betreff: 800.567.433. Absender: BAMBI. Ich fixiere die Nachricht mit den Augen, und sie öffnet sich. Es geschieht nichts. Der Bildschirm bleibt weiß. Blast steht auf, um sich einen Saft zu holen. Ein schrilles Klingeln ertönt plötzlich durch meinen Audiostöpsel, der auf meinem Nachttisch liegt. Mein Kumpel Bullet ruft an. Ich nehme den Videocall entgegen und stecke den AudioIn in mein Ohr.

»Laser? Hast du es schon gehört?«, fragt er mich und kratzt sich dabei am Kinn. Ich ziehe den Bildschirm etwas näher zu mir heran. Mein Screen ist an einer Vorrichtung an der Decke befestigt, die es mir durch einen beweglichen Arm ermöglicht, das Bild direkt vor mein Sichtfeld zu ziehen, selbst wenn ich im Bett liege. Der 3-D-Effekt funktioniert allerdings nur, wenn man frontal darauf schaut.

»Nein, was denn?«, frage ich ihn. Es ist nicht mal zwölf. Was soll man denn um diese Uhrzeit bitte schon so alles gehört haben? Plötzlich läuft ein Rehkitz über meinen Bildschirm. Wo kommt das denn auf einmal her? Über dem Tier schwebt ein rotes Banner auf dem steht: Kennnummer 800.567.433, Ihr MediaCon Account wurde gehackt! Ich versuche, das Bild zu schließen, indem ich mit dem Finger über den Bildschirm wische, doch das komische Vieh mit den großen freundlichen Augen lässt sich nicht vertreiben.

»Laser?«, fragt Bullet.

»Ja, Sorry. Ich hab hier gerade so ein komisches Bild auf dem Screen. Ich kann’s irgendwie nicht wegklicken.« Ich wische und wische, doch das Reh dreht fröhlich tänzelnd weiter seine Runden.

»Das ist bestimmt bloß Spam. Warte einfach kurz. Das geht bestimmt gleich von selbst weg. Also, hör zu, Mann! Weißt du, was Liberty über deine Schwester gesagt hat?«

»Halt ja die Schnauze, Bullet«, brüllt plötzlich Liberty, Bullets Schwester, im Hintergrund. »Ich hab dir gesagt, du sollst dem kleinen Scheißer nicht von Mercurys Baby erzählen!«

»Verpiss dich aus meinem Zimmer!«, schreit Bullet zurück, leider direkt ins Mikro und somit direkt in mein Ohr. Ich zucke zusammen.

»Was für ein Baby?«, frage ich genervt. Das Rehkitz wird langsam immer größer wie ein Luftballon und verdeckt fast den ganzen Bildschirm. Ich sehe Bullet nicht mehr. Dann platzt es mit einem lauten Knall und gibt die Sicht auf meinen Videochat wieder frei.

Bullet grinst mir entgegen. Ich sehe sein Gesicht und ein paar riesige weiße Zähne, so nahe sitzt er vor dem Bildschirm.

»Der Carlo hat wohl Mercury angebumst. Sie ist schwanger. Hat sie Liberty erzählt.«

Ich bin ziemlich verwirrt über diese Nachricht und über das geplatzte Reh. Das kann eigentlich nicht sein. Also beides nicht.

Liberty kreischt erneut los, schimpft im Hintergrund, allerdings scheint sie den Raum verlassen zu haben, denn ihre Stimme ist nur noch undeutlich zu hören.

»Meine große Schwester Mercury soll schwanger sein?«, frage ich, nur um sicherzugehen, dass ich Bullet nicht falsch verstanden habe. Er redet häufig mal wirres Zeug. Und Liberty ebenso.

»Ja, Mann! Voll krass, oder? Sie weiß aber nicht genau, ob es Carlo war oder Storm. Liberty meint, sie glaubt, es hätte auch dieser eine mit der Glatze aus der Vier gewesen sein können, Mick oder so ähnlich. Keine Ahnung.«

Ich bin sprachlos. Was sollen wir denn mit einem Baby? Wo soll das denn wohnen? Wieder meldet sich Liberty. Sie kommt zurück ins Zimmer, ich höre Bullet protestieren, doch Liberty stößt ihn zur Seite, und dann erscheint ihr wütendes Gesicht vor mir auf dem Bildschirm.

»Laser, wenn du das eurer Mutter erzählst, dann bringe ich dich um!«, zetert sie. »Mercury hat mir das im Vertrauen erzählt, und dieser dumme Affe hier kann wieder mal seine Schnauze nicht halten. Wenn du das weitererzählst, dann schwör ich, erzähl ich allen, dass du heimlich mit meinem Bruder bumst!« Bullet protestiert wütend und zerrt an Libertys Armen, doch sie lässt sich nicht von seinem Bildschirm wegziehen. Bullet und Liberty bilden ein merkwürdig aussehendes, schreiendes Knäuel, und ich lege irgendwann einfach auf.

Irritiert ziehe ich den Stöpsel aus meinem Ohr. Das ist wirklich sehr seltsam. Die Mädchen werden nicht einfach so schwanger. Und schon gar nicht Mercury. Ich überlege, ob meine Schwester und ich versehentlich unser Essen vertauscht haben. Nicht, dass ich ihre ganzen Hormone gegessen habe und mir am Ende noch Brüste wachsen. Vorsichtig betaste ich meinen Oberkörper. Noch ist alles in Ordnung. Unsicher darüber, was ich von der ganzen Sache halten soll, gehe ich raus ins Wohnzimmer. Ich steure geradewegs auf das Sofa zu und lasse mich mit gerunzelter Stirn darauf fallen. Wenn Mercury ein Kind bekommt, muss sie ausziehen. Dann hätten wir ein Zimmer zu viel. Das überfordert mich. Müssen wir dann auch umziehen?

Mama kommt aus dem Bad. Sie trägt rosafarbene Gummihandschuhe, hat einen Sprühkittel aufgelegt und hält eine Flasche Putzmittel in der Hand. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel, wie sie am Sofa vorbei auf den Bildschirm zusteuert, der die ganze Wand auf der Stirnseite unseres Wohnzimmers einnimmt. Zwischen ihren Fingern quillt der grüne Qualm einer Vap-Zigarette hervor. Sie hält die Putzmittelflasche vor die schwarze Fläche, die sofort, kaum hat die Kamera Mamas Interaktion erfasst, hell aufleuchtet und das MediaCon-Logo anzeigt.

»Putzmittel ist leer«, ruft sie und zieht an ihrem Vap, einem durchsichtigen Glasröhrchen, in dem grellgrüne Rauchschwaden wabern und seltsame Muster bilden.

Auf dem Bildschirm erscheint ein Eingabefenster.

»Habe ich dich richtig verstanden?«, fragt Heepsi in einwandfreiem Hochdeutsch. Eine nette, gesichtslose Computerstimme, stets bemüht, dir alle Fragen zu beantworten und dir behilflich zu sein, wann immer sie kann. »Reinigungsmittel aufgebraucht.«

»Ja«, ruft meine Mutter. Sie hört auf, mit der Flasche zu winken, dreht sich zu mir um und legt das erloschene Glasröhrchen auf den Wohnzimmertisch. Der Rauch riecht süß und sauer zugleich. Definitiv fruchtig, wenn auch nicht ganz klar ist, wonach genau.

Reinigungsmittel aufgebraucht erscheint im Eingabefenster. Mama beginnt, sich den aufgesprühten Kittel von den Klamotten abzupulen.

»Warst du heute schon in der Bosca«, fragt sie und knüllt die dünne Silikonhaut zwischen den Händen zusammen. Sie wirft den abgelegten Kittel in die Spüle. Die ekligen Glibberfetzen werden immer mit den Essensresten entsorgt.

»Nein.«

»Und dein Bruder? Wo ist der überhaupt?«

»Er wollte sich einen Saft holen. Keine Ahnung.« Mein Bruder ist nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich ist er zu Koschwitz rüber.

»Sieh zu, dass du reingehst. Am Ende kriegen wir wieder die Glotze gesperrt, weil ihr zwei faulen Säcke es nicht auf die Reihe bringt, einmal am Tag in diese dämliche Kabine zu steigen. Und danach gehst du hoch zur Omma und schaust, ob sie das mit den neuen Essenspaketen verstanden hat.«

»Wieso muss ich immer nach der alten Schachtel gucken? Wird es nicht langsam Zeit, sie für ein Heim anzumelden? Warum darf die eigentlich immer noch alleine wohnen? Die nimmt doch den jungen Leuten den Wohnraum weg.« Ich quäle mich genervt vom Sofa hoch und schnappe mir die leere Putzmittelflasche.

»Red nicht so ein dummes Zeug!«, herrscht meine Mutter mich an, und wieder fliegt ihre Hand in die Höhe. »Die Omma bleibt, wo sie ist. Und jetzt: Sieh zu, dass du Land gewinnst.« Damit beendet sie die Diskussion, angelt nach ihrem Vap-Päckchen und befiehlt Heepsi, auf Kanal 25 zu schalten, auf dem gerade der Vorspann zum Zwölf Uhr Mittagsmagazin zu sehen ist. Zwei aufgebrezelte Blondinen sitzen auf knallpinkfarbenen Plüschsesseln, zwischen ihnen ein Kerl, der mit strahlend weißen Zähnen und glänzend schwarzer Gelfrisur in die Kamera grinst.

»Hallo Berlin! Hallo Welt!«, begrüßt er begeistert die Zuschauer. Kurz zwinkert er seinen beiden Kolleginnen zu, dann schaut er wieder in die Kamera. »Es ist zwölf Uhr, und ihr seht das Mittagsmagazin auf Kanal 25.«

»Gute Wahl«, lacht die Blondine rechts.

»Ja, tatsächlich. Wir haben heute Mittag einige heiße News für euch im Gepäck. Passt auf, dass es euch zu Hause auf dem Sofa nicht zu heiß wird, denn wir starten mit Michael King. Ja, genau der Michael King.« Hinter dem Kerl mit der akribisch geformten Haartolle, die majestätisch auf seinem Kopf prangt, erscheint ein Foto von Michael King. Meinem Michael King. Mein Herz fängt an zu klopfen.

»Was stehst du denn da immer noch rum?«, fragt meine Mutter, ohne mich anzusehen. Sie zieht an ihrem Vap. Diesmal ist der Rauch rot.

»Der Gute hat schon lange nichts mehr von sich hören lassen«, behauptet die Blondine rechts und schaut über ihre Schulter. Michael sieht alt aus. Er trägt einen ungepflegten Dreitagebart, und seine Augen blicken mir müde entgegen.

»Schade eigentlich«, kichert Blondine links.

»Bisweilen mussten wir uns mit etlichen Wiederholungen seiner Missionen begnügen, aber jetzt scheint es, als hätte er einen Vertrag mit dem Fantasy-Channel unterschrieben und sich und seinen Gamer für zwei Jahre nach Kanada verkauft. Das klingt nach spannenden neuen Abenteuern. Und Leute: Dieser Kerl«, der Tollenträger zieht die Luft zwischen den Zähnen ein und wedelt mit der Hand vor seiner Brust herum, »dieser Kerl in Lederhosen, mit Vollbart und Streitaxt? Da kriege sogar ich schweißnasse Hände.«

Jetzt kichern beide Blondinen.

Meine Mutter dreht schwungvoll den Kopf. Sie bläht die Nasenlöcher auf und spitzt die Lippen.

»Ja, ja. Ich geh ja schon«, knurre ich, hebe abwehrend die Hände und stampfe aus dem Zimmer. Wenigstens eine gute Nachricht an diesem Morgen: ein neues Abenteuer mit Michael King in Kanada. Ich habe es so satt, mir immer wieder die alte Afrika-Kampagne anzusehen, die jeden Tag auf dem Action-Channel wiederholt wird. Ich habe diese Spiele so oft gesehen, ich hätte sie vermutlich besser gezockt als Ullrich Breitstein, dieser arrogante Scheißtyp, der King durch seine erste Sahara-Kampagne gesteuert hat. Die ganze Mission hat viel länger gedauert als geplant, und Michael konnte dank diesem dämlichen Schnösel kaum sein volles Potenzial entfalten. Glücklicherweise hat Breitstein seinen Account aufgegeben und ihn an einen anderen Typen verkauft. Einen Ami. Der macht sich besser. Die letzte Kampagne dieser Reihe war wahnsinnig spannend. Jeder hat es sich angeschaut. Wirklich jeder. Sogar meine Mutter. Und die hat normalerweise nicht viel für den Action-Channel übrig. Sie sagt, King habe schöne Wangenknochen. So ein Schwachsinn. Was gibt es denn an ein paar Wangenknochen schön zu finden? Kings Wangenknochen interessieren doch kein Schwein. In der Sahara bei über vierzig Grad sind es wirklich andere Dinge, auf die es ankommt. Wenn dich die feindlichen Truppen unter Beschuss nehmen, dich und deine Männer einfach überrennen, dann gibt es nur noch eines, das dir hilft, zu überleben: ein guter Gamer.

Level 2; -Error-

Ich ziehe meine Schuhe an und öffne die Haustür hinaus in den Flur. Das vertraute Surren der kleinen Kamera, die über unserer Tür angebracht ist, begleitet mich noch ein paar Schritte den weißen Gang entlang, in dem sich eine Haustür an die andere reiht. Jede Wohnung hat den gleichen Schnitt, die gleichen Möbel, das gleiche Mediasystem. Manche haben rote Wände, andere grüne. So, wie man es eben möchte. Unsere Wände sind beige. Meine Mutter mag es nicht so knallig. Sie sagt, bei Koschwitz drüben sehe es aus wie in einem Puff. So könne sie nicht leben. Aber die Liberty, das älteste der Koschwitz-Kinder, die treibe es ja eh mit jedem, der zufällig an die Tür klopft. Das würde in deren Fall ja dann ganz gut passen. Bei ihr, diesem kleinen Flittchen, ergebe die Geburtenkontrolle absolut Sinn. Ich laufe an besagter Koschwitz-Wohnung vorbei durch den menschenleeren Flur direkt auf die Bosca 15 zu. Keine Ahnung, warum meine Mutter sich immer so aufregt. Soll die Liberty doch machen, was sie will. Es interessiert die Koschwitzs ja auch nicht, womit wir uns den ganzen Tag so beschäftigen. Außerdem ist meine Schwester keinen Deut besser, aber das will Mama nicht hören. Wenn die wüsste, was Bullet gerade über Mercury erzählt hat. Mama würde wahrscheinlich nicht mehr so hemmungslos über Liberty herziehen. Ich kann das immer noch nicht ganz begreifen.

Ich bleibe vor der Bodyscan-Area im fünfzehnten Stockwerk stehen. Wieder begrüßt mich ein leises Summen. Die schwarze Linse der Kamera erfasst mich. Ich lege meine Hand auf den Scanner, und die Tür geht auf. Die Bosca ist gerade so groß wie ein Kleiderschrank. Vor mir schaltet sich ein Bildschirm an, und eine freundliche weibliche Stimme begrüßt mich mit den Worten:

»Guten Tag, Laser Blue Potlowski. Du bist spät dran heute.«

»Ja, ja. Ich weiß«, sage ich und stelle die Putzmittelflasche in den Rückgabebehälter, der unter dem Bildschirm angebracht ist. Ein Fließband zieht die Flasche ein. Ein kleiner Sprühstoß desinfiziert die Vorrichtung, und mir steigt der typische Bosca-Geruch in die Nase. Es riecht steril. So wie die Umkleidekabinen im Sportstudio.

»Angeordnete Reinigungsmittelrückgabe erfolgt.«

Ich ziehe meine Schuhe und Strümpfe aus und stelle mich auf die Sensorenplatte vor dem Bildschirm. Vor mir tauchen meine Daten auf. Männlich. Geburtstag 23.2.2072. 17 Jahre alt. 175 cm groß. 70 Kilo. Augenfarbe braun. Identifikationsnummer 80056743320720223–133.

»Bitte positioniere dich so, dass sich dein Körper innerhalb der weißen Markierung befindet«, ordnet die Stimme an.

Eine weiße Silhouette wird angezeigt, und ich kann mein Spiegelbild auf dem Screen sehen. Ich stelle mich so, dass die weiße Linie meinen Oberkörper umgibt. Meine ungekämmten dunkelblonden Haare stehen links und rechts über die Markierung. Ich drücke sie flach an. Dann beginnt die Platte unter meinen Füßen zu vibrieren. Ganz leicht. Ich schließe die Augen, damit das rote Licht, das meinen Körper von oben bis unten abscannt, mich nicht blendet. Ein leises Brummen dokumentiert die Arbeit der Sensoren und Kameras, die meine Körperdaten erfassen.

»Bitte lege deine rechte Hand auf die gelbe Markierung vor dir.«

Ich seufze. Blutabnehmen. Ich hasse das. Ein wenig zögerlich tue ich, was die Bosca-Stimme von mir verlangt, und lege meine Hand auf die gelbe Fläche; sie zeigt genau an, welche Position mein Zeigefinger einnehmen soll. Ein schneller Piks, und ich darf die Hand wieder wegnehmen. Ich stecke mir den Finger in den Mund und gucke skeptisch auf den Bildschirm, auf dem kleine Punkte im Kreis wandern und mir signalisieren, dass ich einen Moment warten muss. Die Bosca rechnet.

»Blutwerte im annehmbaren Bereich. Ich erkenne leicht erhöhte Körperfettwerte. Bitte besuche das zuständige Sportstudio in deinem Bezirk. Vereinbare dafür einen Termin mit deinem Housekeepingassistenten.«

Ich bücke mich und ziehe meine Strümpfe wieder an. Leicht erhöhte Fettwerte? Verdammt. Wahrscheinlich habe ich in den letzten Wochen wirklich Mercurys Hormone gegessen. Aber hätte dann die Bosca nicht irgendwas davon in meinem Blut finden müssen? Eigentlich schon.

Ich öffne die Tür der Bosca und trete wieder hinaus in den Hausflur. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche.

»Heepsi: Ich brauche einen Termin im Fitnessstudio«, sage ich.

»Morgen früh, elf Uhr«, erwidert mein Handy.

Gerade als ich Bullet anschreiben will, um mit ihm über die neue Michael King Kampagne zu quatschen, fällt mir ein, dass ich ja noch hoch zu meiner Omma muss.

Ich seufze über mein schweres Schicksal und mache mich auf den Weg zum Aufzug, um in den 25. Stock hochzufahren. Ich kann die Omma bereits riechen, da habe ich ihre Wohnung noch gar nicht betreten. Jedenfalls bilde ich mir ein, ich könnte es. Meine Uroma ist so alt, eigentlich müsste sie bereits zu verwesen anfangen. Und weil sie mir so unnatürlich alt erscheint, mit ihrer grauen Hautfarbe, dem lichten Haar und der kaum hörbaren Stimme, meine ich wohl, sie müsste auch so riechen, wie sie aussieht. Und mit diesem Gedanken im Kopf habe ich permanent einen üblen Geruch in der Nase, sobald ich aus dem Fahrstuhl steige. In Stockwerk 25 gibt es nur Zweiraumwohnungen. Eigentlich dürfte meine Omma hier gar nicht mehr wohnen. Sie braucht keine zwei Räume. Eigentlich braucht sie nicht mal einen Raum. Alles, was sie tut, tut sie von ihrem Rollstuhl aus. Alles, was sie nicht kann, macht Mama für sie. Ich bin der Meinung, sie gehört in ein Heim. Alle Alten kommen irgendwann ins Heim. Das hat ausschließlich Vorteile. Für jeden von uns.

Komischerweise ist meine Omma in Stockwerk 25 noch niemandem weiter aufgefallen. Sie fährt jeden Morgen brav in die Bosca; die erzählt ihr dann, sie könne keine Werte auslesen, da Omma die Sensoren mit den nackten Füßen berühren muss, und Omma antwortet wahrheitsgemäß, sie könne nicht raus aus ihrem Rollstuhl. Dieses Spielchen geht dann eine halbe Stunde so weiter, bis einer von den Nachbarn meine Omma aus der Bosca rausschiebt, weil er selbst rein will und keine Lust hat, zu warten. Das heißt, meine Uroma wird seit fünf Jahren nicht mehr vom System erfasst, und bis jetzt hat sich niemand darüber beschwert.

Ich finde das äußerst merkwürdig. Normalerweise passieren solche Fehler nicht. Ich muss wieder an Mercury denken. Vielleicht ist unser Houseorganisingsystem kaputt – der zuständige Computer für alles, was bei uns in Nummer drei so organisiert werden muss. Allerdings ist das Houseorganisingsystem an den Zentralcomputer unseres Bezirks angeschlossen. Und der wiederum an die Stadtteilzentrale. Letztendlich kann der Fehler überall liegen. Die ganzen Netzwerke, Server und Speicher erscheinen wie ein feines Spinnennetz vor meinem inneren Auge, und mir wird schwindelig. Ich kapier die Zusammenhänge nicht. Wie auch. Hat sich noch keiner die Mühe gemacht, sie mir zu erklären. Alles, was ich weiß, habe ich irgendwann gegoogelt. Wir lernen Lesen und Schreiben. Alles andere ergibt keinen Sinn. Da wir nicht arbeiten müssen und ein enorm kompetentes Mediasystem im Wohnzimmer installiert haben, das alle anfallenden Alltagsprobleme für uns regelt, ist es nicht nötig, uns mit einer höheren Bildung zu versehen. Ich weiß also, dass es all diese Computersysteme gibt und dass sie funktionieren, jedenfalls in der Regel, ich weiß aber nicht, wie sie funktionieren.

Gerade als ich mich frage, warum meine Omma immer noch Zugriff auf ihr Mediasystem hat, obwohl die ihr den Saft längst hätten abgedreht haben müssen, stelle ich fest, dass ich bereits ein paar Minuten vor der Eingangstür stehe, mit den Fingern neben dem Sensor. Ich bin registriert. Ich muss meine Hand bloß auf den Scanner legen, und die Tür springt anstandslos auf.

Es riecht nach Tod und Verwesung. Wie immer. Drückende Luft, kaum Sauerstoff und der übliche süßlich beißende Gestank. Vielleicht verwest sie bereits innerlich, und keiner merkt es?

»Omma?«, rufe ich und streife mir die Sneaker von den Fersen. Kein Geräusch ist zu hören. »Omma? Ich bin’s, Laser! Bist du aufm Klo?«, schreie ich, obwohl ich eigentlich weiß, dass meine Uroma schon lange nicht mehr aufs Klo gehen kann, sondern irgendeine Vorrichtung in ihrem Rollstuhl dafür sorgt, dass sie sich nicht vollkackt.

Sie antwortet nicht. Ich gehe ins Wohnzimmer, das genauso aussieht wie unser Wohnzimmer. Gleiche Couch, gleicher Sessel. Die Wand ist in einem hellen Grünton gestrichen, die Stoffe der Polstermöbel sind farblich angeglichen. Omma hat ein Zimmer weniger, also auch eine Tür weniger, aber ansonsten lässt sich kein Unterschied feststellen. Ich sehe sie in ihrem Rollstuhl sitzen, der mitten im Raum steht. Sie hat einen Helm auf. Ihren Nature XP, der ihr Gesicht vollständig bedeckt. Ihre Hände stecken in Handschuhen, die an den Lehnen ihres Rollstuhls befestigt sind. Überall auf ihren nackten, faltigen Armen kleben kleine Sensoren. Sie bewegt sich nicht. Ich muss mich bemerkbar machen. Wenn ich ihr einfach den Helm vom Kopf reiße, kriegt sie vielleicht noch einen Herzinfarkt. Liberty Koschwitz hat das mal bei mir gemacht. Mir war tagelang schlecht, und ich hatte richtig schlimme Sehstörungen.

Außerdem, wer weiß, wo auf der Welt meine Omma gerade herumstreunt? Ich würde ihr bloß die Immersion zerstören. Also setze ich mich aufs Sofa und warte. Die Wohnung ist sauber. Mama putzt zweimal die Woche. Aber meine Uroma macht nicht viel Dreck. Wie sollte sie auch? Alles steht ordentlich an seinem Platz. Nichts wird je bewegt. Ich strecke die Hand aus und stoße mit dem Zeigefinger die elektrische Kerze um, die alle fünf Sekunden die Farbe wechselt. Das Geräusch des Plastikgehäuses, das auf Edelstahl prallt, hallt laut wie eine Explosion in meinen Ohren wider. Alles ist so still. Meine Oma rührt sich nicht. Ich starre ihre Beine an. Sie stecken in engen weißen Leggings, die Füße fixiert am Fußteil des Rollstuhls. Ihre Beine funktionieren schon seit Jahren nicht mehr. Ich kann mich nicht erinnern, sie je laufen gesehen zu haben. Und trotzdem: Wahrscheinlich springt sie gerade an irgendeinem Strand herum. Vielleicht in Mexiko. Oder auf den Malediven.

»Heepsi: Notiz im XP einblenden«, sage ich. Meine Stimme kommt mir auf einmal fremd und laut vor. Es ist selten leise bei uns. Wenn nicht irgendwer im Fernsehen herumschreit, dann tut es mein Bruder. Oder meine Mutter. Meine Schwester quasselt sowieso den ganzen Tag vor sich hin, egal, ob jemand zuhört oder nicht.

»Welche Notiz möchtest du einblenden, Laser?« Ich bin in Ommas Mediasystem registriert und kann auf ihren Heepsi zugreifen. Ich frage mich, ob ich nicht öfter hochkommen sollte. Wenn Omma sowieso den ganzen Tag ihren Nature XP auf dem Kopf hat, kann ich auch hier den Action-Channel gucken, ohne dass mir meine Familie dabei auf die Nerven geht. Oder mit meinen Kumpels Bullet und Danger zocken.

»Omma, schalt mal die Kiste ab!«

»Die Nachricht wird auf den Nature XP umgeleitet«, sagt Heepsi, und keine drei Sekunden später zuckt meine Uroma zusammen. Jetzt weiß sie, dass ich da bin. Ich stehe auf und nehme ihr den Helm ab. Ihr Gesicht sieht zerknautscht aus. Also noch zerknautschter, als es sowieso schon ist. Sie blinzelt mir verwirrt entgegen, während sie langsam ihre faltigen Hände aus den Handschuhen zieht. Ihr dünnes weißes Haar steht wirr nach allen Seiten ab, und ich schüttle unwillkürlich den Kopf. Wie kann ein Mensch nur so aussehen? So alt? Das kann doch nicht normal sein.

»Laser, mein Schatz«, begrüßt mich meine Omma und lächelt mich an. Ihre Zähne sind noch alle da. Ich habe schon Bilder und Videos im Internet angeschaut, auf denen alte Leute von früher zu sehen sind. Schlimm. Mit schlechten Zähnen, dicken Brillen und furchtbarem Übergewicht. Glücklicherweise haben die Leute aufgehört, so viel Zucker in sich reinzustopfen, obwohl doch jedes Kind weiß, dass der Scheiß die Zähne kaputtmacht.

»Was machst du hier, Herzchen?«, fragt Omma mich. »Du störst mich bei einem ganz wundervollen Strandspaziergang.« Sie lächelt immer noch.

»Habe ich mir schon gedacht. Machst du auch mal was anderes mit dem Ding, außer am Strand spazieren zu gehen? Du kannst auch Achterbahn fahren oder mit Delfinen tauchen. Soll ich dir zeigen, wie es geht?«

Meine Omma schüttelt den Kopf.

»Nein, mein Schatz. Ich gehe gern an den Strand.«

»Na gut. Mama sagt, ich soll nachsehen, ob du mit den neuen Essenspaketen zurechtkommst. Hast du schon gegessen?« Ich gehe in die Küche und sehe in ihre Supplybox. Ihr Paket liegt ungeöffnet darin.

»Nein. Ich habe wohl die Zeit vergessen.«

»Ist ganz einfach. Die haben bloß den Verschluss verändert. Du musst an dem Rädchen da drehen, dann geht der Deckel auf. Das ist alles. Soll ich dir dein Essen warm machen?«

»Das wäre lieb.«

Ich öffne ihr Paket. Komisch. Keine Kapseln. Kein Brei. Nur ein Käsebrot. Ich stutze verwundert. Ich nehme die Stulle in die Hand und rieche daran. Kein Zweifel: Käsebrot. Leicht gekühlt. Sauerteig. Mein Magen zieht sich gierig zusammen, obwohl ich eigentlich nicht hungrig bin. Ich habe bisher nur ein einziges Mal in meinem Leben ein Käsebrot gegessen, und das war auf dem vierzigsten Geburtstag meiner Mutter. Zur Feier des Tages hatten wir eine Platte mit Käse- und Wurstbroten in der Supplybox. Total ungesund, aber partytechnisch der Brüller. Ich kann mich ganz genau daran erinnern, wie es geschmeckt hat.

»Omma, du hast ein Käsebrot in deiner Box.«

Sie macht ein Geräusch, als hätte sie sich verschluckt. »Ein was?«, fragt sie und blinzelt mich verwirrt an.

»Sind auch keine Kapseln drin in deinem Paket. Komisch.«

Omma fährt mit dem Rollstuhl auf mich zu. Ich halte ihr das geöffnete Paket unter die Nase. Es ist leer. Dann reiche ich ihr das Brot.

»Wenn das mal nichts zu heißen hat. Ein Käsebrot in meiner Supplybox.« Sie grinst ein bisschen verschlagen, wie ich finde, und zuckt dann mit den Schultern. »Dann eben keinen Brei. Ich werde schon nicht gleich krepieren. Und wenn schon. Ich hatte ein langes, ein viel zu langes, halbwegs erfülltes Leben. Und ganz ehrlich: Ich habe lieber ein ordentliches Brot zur Henkersmahlzeit als immer diese geschmacklose Pampe, die ihr so folgsam in euch reinschaufelt. Her damit«, sagt sie und beißt in das dunkle Stück Brot hinein. Ich beobachte sie dabei und frage mich ernsthaft, ob unser komplettes Haus plötzlich fehlversorgt wird. Irgendwas stimmt da nicht!

»Du solltest Heepsi Bescheid sagen, Omma. Ist das vorher schon mal passiert? Ich meine, dass du falsches Essen in deiner Supplybox hattest.«

Meine Omma schüttelt kauend den Kopf. Das Brot zittert in ihrer Hand.

»Ich mache das nachher. Danke, Laser.«

Ich schweige einen Moment, sehe ihr dabei zu, wie sie genüsslich ihr ungewöhnliches Mittagessen vertilgt und mich dann um ein Glas Wasser bittet.

»So etwas Gutes habe ich schon lange nicht mehr gegessen«, verkündet sie, nachdem sie den letzten Bissen hinuntergespült hat. »Ach, Laser – damals …« Sie seufzt laut auf.

Oh nein! Jetzt geht das wieder los. Ich gehe an ihrem Rollstuhl vorbei zurück zum Sofa und lasse mich hineinplumpsen. Ommas Reisen in die Vergangenheit nehmen meistens etwas mehr Zeit in Anspruch. Und dank der unerbittlichen Bemühungen meiner Mutter, die mir von Kindesbeinen an eingetrichtert hat, dass ich der Omma gefälligst zuhören soll, wenn sie etwas erzählt, sitze ich still da und sehe ihr in die Augen. Kleine faltige Augen. Die Iris ist trüb. Irgendwann waren ihre Augen blau, schätze ich. Heute ist bloß ein milchiges Grau übrig geblieben. Sie sieht ein bisschen aus wie ein Zombie, finde ich, je länger ich sie beobachte. Da ist er wieder, der Geruch. Ich weiß, wie Tote riechen. Der Nature XP simuliert Gerüche so perfekt, die Illusion steht der Realität in nichts nach. Omma erzählt von irgendetwas, das sich Burger King nennt, und von ein paar Kilo Übergewicht, die sie als junges Mädchen hatte. Aber egal, meint sie. Damals hätte sie wenigstens noch Spaß am Essen gehabt. Ich weiß nicht so genau, was daran spaßig sein soll, und ich verstehe auch nicht, wie man von etwas so Banalem wie Essen Unterhaltung erwarten kann, nicke meiner Omma aber lächelnd entgegen und tue so, als würde ich ihr zuhören.

»Damals, Laser, mein Schatz, damals bin ich auch noch wirklich am Strand spazieren gegangen. Auf meinen eigenen Füßen.«

»Ich weiß Omma. In Ägypten.« Sie erzählt mir diese Geschichte immer wieder.

Omma blickt ihre Füße an. Sie faltet ihre Hände im Schoß. Ihre hellen, lichten Augenbrauen ziehen sich zusammen und zeichnen eine tiefe Furche auf ihre so schon faltige Stirn. Sie denkt nach. Vorsichtig hebe ich die Plastikkerze auf, die ich umgeschmissen habe, und stelle sie zurück auf die kleine grüne Glaskachel. Meine Uroma sagt nichts. Vielleicht ist sie über ihren Gedanken eingeschlafen. Das kommt schon ab und zu vor.

»Weißt du«, beginnt meine Omma auf einmal. »Ich kann mich nicht mehr an den Unterschied erinnern.«

»Welchen Unterschied?«

»Zwischen den Stränden im Helm und denen, die es wirklich gibt.« Sie seufzt erneut.

»Omma, das liegt daran, dass es keinen Unterschied gibt.«

Jetzt blickt sie wieder auf, dreht den Kopf in meine Richtung. Ich will gehen. Schnell weg, bevor sie richtig loslegt.

»Doch, Laser. Es gibt einen Unterschied. Vielleicht hat sie mir deswegen ein Käsebrot geschickt. Und lässt mich hier wohnen, obwohl ich eigentlich schon viel zu alt bin für dieses Haus. Um mich daran zu erinnern, dass es einen Unterschied gibt, zwischen dem, was hier drinnen geschieht«, sie tippt auf den Helm, der immer noch auf ihren Oberschenkeln liegt, »und dem, was da draußen wirklich existiert.«

Wer ist sie? Und was hat denn das Käsebrot mit ihren Strandspaziergängen in Ägypten zu tun? Ich weiß nicht mal so genau, ob es dort überhaupt einen Strand gibt.

»Omma, ich geh jetzt wieder. Hast du was dagegen, wenn ich morgen noch mal komme? Solange du am Strand spazieren gehst, kann ich doch ein bisschen Fernsehen, oder?« Ich stehe auf. Omma blinzelt kurz, nickt dann aber. Ihr ist es wahrscheinlich egal, wer auf ihrer Couch herumsitzt. Solange sie den Nature XP auf dem Kopf hat, kriegt sie es sowieso nicht mit.

»Schön, dass du da warst, Laser.« Irgendwie klingt sie enttäuscht. Ob ihr vielleicht langweilig ist? Ich an ihrer Stelle wäre froh, den ganzen Tag alleine sein zu dürfen. Ich und mein XP. Kein Blast, keine Mercury und vor allem: keine Koschwitz-Kinder, die den ganzen Tag bei uns in der Bude herumsitzen und nerven.

»Ja, ja. Kein Problem, Omma.« Ich winke und gehe, so schnell ich kann. Wahrscheinlich würde sie mich noch Stunden weiter zutexten, wenn ich nicht rechtzeitig die Flucht ergreife. Ich ziehe mir rasch meine Schuhe wieder an und mache mich auf den Weg zu unserer Wohnung.

Gerade als ich an Koschwitz’ Wohnung vorbeilaufe, geht die Tür auf, und mein kleiner Bruder rennt raus. Als er mich sieht, bleibt er kurz stehen.

»Warst du schon in der Bosca?«, fragt er mich.

»Japp.«

»Scheiße. Ich hab’s schon wieder vergessen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Ich hab keine Lust, wieder eine Woche bei Koschwitz fernsehen zu müssen, weil die uns den Saft abdrehen.«

»Na, dann beeil dich.«

Mein Bruder nickt und rennt auf Strümpfen den Flur runter.

»Übrigens: Michael King kommt demnächst auf dem Fantasy-Channel«, rufe ich ihm nach.

»Ich weiß. Hab ich gerade gehört. Voll geil. Die haben da einen Drachen.«

»Ach, sicher Fake. Woher sollen die denn bitte einen echten Drachen nehmen?«

»Erzähl ich dir dann«, höre ich ihn, kurz bevor er in der Bosca verschwindet.

Nun doch etwas beschwingt durch die Aussicht auf ein neues Abenteuer mit meinem Idol, gehe ich zurück in unsere Wohnung. Meine Mutter sitzt noch immer auf dem Sofa und starrt die drei Mittagsmagazin-Affen an, die gerade Schminktipps austauschen und sich gegenseitig mit goldenen Stiften bemalen.

Ich schüttele den Kopf über solch einen Blödsinn. Hoffentlich hat meine Mutter bald genug von diesen Idioten und lässt mich den Action-Channel ansehen. Ich hole mir mein Mittagessen aus der Supplybox, glücklicherweise kein komisches Käsebrot, und wärme mir meine altbekannte, unspektakuläre rot-gelbe Pampe in der Mikrowelle auf. Während ich das tue, kommt Mercury nach Hause. Ich mustere sie unauffällig, während ich in der Küche stehe, kann aber keinerlei schwangerschaftsbedingte Veränderung an ihr feststellen. Sie sieht aus wie immer. Ein bisschen zu groß geraten, lange orangefarbene Haare und das gleiche grelle Make-up, mit dem sich auch Liberty Koschwitz das komplette Gesicht zukleistert. Bevor Mercury dazu kommt, mich wegen irgendetwas vollzulabern – und sie findet immer einen Grund, um Leute vollzulabern –, klingelt die Mikrowelle, und ich verschwinde mit dem Essensbehälter in mein Zimmer. Ich lege mich aufs Bett und positioniere meinen Bildschirm so über meinem Gesicht, das ich essen und gleichzeitig Videos schauen kann.

»Google: Michael King auf dem Fantasy-Channel.«

Google waltet seines Amtes und zeigt mir die neuesten News zu Michael und seinem anstehenden Abenteuer.

»Öffne erstes Video «, sage ich, und ein Player öffnet sich. Der Screen schaltet um auf 3-D. Ich sehe Michaels Rücken. Er steht in einem brennenden Waldstück, trägt einen Mantel mit üppigem Fellbesatz am Kragen und hält ein langes, glänzendes Schwert in der Hand. Blut tropft davon herunter.

»Die Zeit des Wartens ist vorbei. Er ist wieder da«, berichtet eine tiefe Männerstimme mit vielversprechend dramatischem Unterton. Michael dreht sich um und blickt mir direkt ins Gesicht. Die Kamera zoomt seine Augen heran, die mich ein wenig zusammengekniffen mustern, so als wollten sie sagen: Kommt nur, ihr kleinen Scheißer. Hier draußen gibt es nichts, was mich umhauen kann.

»Gefangen in einer bis dahin unbekannten Welt, umgeben von geheimnisvollen Kreaturen und Gefahren, die all seine bisherigen Abenteuer in den Schatten stellen.« In diesem Moment verdunkelt sich das Bild, und ein Schatten huscht über Michaels Kopf hinweg. Er sieht nach oben, die Kamera folgt ihm, und ich erkenne etwas Schwarzes, wahnsinnig Flinkes, das über die brennenden Wipfel der Bäume huscht. Tatsächlich: ein Drache.

»Folgen Sie uns pünktlich zum Start des neuen Jahres in die verschneiten Weiten Kanadas und begleiten Sie Michael King auf einer Reise, die all ihre Erwartungen übertreffen wird.«

Das Datum 1.1.2090 fliegt in roten Blockbuchstaben aus dem Screen heraus. Noch vier Wochen, denke ich. Wie soll ich es bloß aushalten, noch so lange zu warten? Das Video stoppt. Das Reh kommt zurück.

»Nein! Nicht noch mal! Verschwinde, du dummes Vieh!«, rufe ich und wische über meinen Bildschirm.

Ungerührt stolziert das Rehkitz über den Screen, blickt mich mit großen dunklen Augen an und zieht dasselbe rote Banner hinter sich her wie heute Morgen schon. Diesmal steht darauf: Sicherheitsanfälligkeit lokalisiert. Betriebssystem erfolgreich infiltriert.

Was? Ist das wirklich ein Virus? Oder nur so eine dumme Werbung für dummes Zeug, das mich nicht interessiert? Das blöde Reh versaut mir noch den kompletten Tag! Ich wische und tippe über meinen Screen, aber nichts passiert. Mein Bildschirm bleibt eingefroren, ohne dass ich etwas daran ändern kann. Ich sehe mich schon den Tag mit Mama im Wohnzimmer verbringen – zusammen mit den Idioten vom Mittagsmagazin. Ich sage meinem Heepsi, dass er den Bildschirm ausschalten soll. Heepsi bestätigt freundlich, meine Anweisung vernommen zu haben, und behauptet, er würde den Bildschirm jetzt ausschalten. Der Bildschirm reagiert aber nicht. So etwas habe ich noch nie erlebt. Da muss doch irgendwas kaputt sein. Wir haben alle ein Grundrecht auf uneingeschränkten Medienkonsum. Dieses Reh verstößt gegen das Gesetz! Wütend knalle ich meinen halbgeleerten Essensbehälter auf den Nachttisch und stampfe aus meinem Zimmer zu Mama auf die Couch. Wie soll man sich denn so entspannen?

Level 3; -Violetta-

Draußen ist es kalt. Ich habe meine Handschuhe vergessen und puste mir nun unentwegt in die Handflächen, weil ich das Gefühl habe, mir frieren die Finger ab. Eiskalter Wind bläst zwischen den Hauswänden hindurch und zieht in den Kragen meiner Jacke. Es ist widerlich um diese Jahreszeit. Für die nächsten Tage haben sie starken Schneefall gemeldet. Hoffentlich wird es so schlimm, dass wir für ein paar Wochen zu Hause bleiben müssen. Das käme mir mehr als gelegen. Der Gang ins Sportstudio ist für mich jedes Mal eine Qual. Ich kann den Anblick der grauen Häuserfronten nicht ertragen. Alles hier draußen sieht so unecht aus. So falsch. Die viereckigen Kästen wirken irgendwie abschreckend, mit den unzähligen Fenstern, steril und sauber, wie alles in unserer Siedlung. Keiner geht gern hier draußen spazieren. Warum auch? Zu Hause kann ich mir online die Sixtinische Kapelle anschauen, kann bis unter die Decke fliegen, die Gemälde berühren, die vor so vielen Jahren dort entstanden sind. Ich kann sogar die verdammte Farbe riechen, wenn ich nur nah genug rangehe. Nicht, dass ich mich für Kunst oder so interessieren würde. Gut, vielleicht ein bisschen. Aber das ist nichts, womit man heutzutage prahlen kann. Genauso wenig wie mit einer 1,0 in der Abschlussarbeit. Feststeht: Die Trostlosigkeit der Realität ist längst überholt. Wir brauchen den ganzen Mist hier draußen nicht mehr. Es ist uns egal, ob sie Bäume pflanzen, Grünflächen anlegen oder nicht, ob die Spielplätze verkommen oder ob die streunenden Katzen den Sand vollscheißen. Jetzt ist alles zugebaut. Und das ergibt mehr Sinn, als unseren wertvollen Lebensraum an Grünzeug zu vergeuden. Für die Kinder unserer Schicht ist es wesentlich gesünder, daheim in ihren sauberen vier Wänden zu spielen, als sich hier draußen im Dreck zu wälzen. Jeder, der etwas anderes behauptet, ist ein Spinner. Ich sehe mich um. Nirgendwo ist auch nur ein Fitzelchen Papier zu sehen. Und warum? Weil es eben nicht mehr sinnlos in die Welt hinausgetragen wird. Zeitungen? Ich verstehe einfach nicht, warum man nicht schon früher alles auf digital umgestellt hat. Wer brauchte denn vor fünfzig Jahren schon noch Papier? Da haben die munter die Bäume abgeholzt und mit ihren Fabriken die Luft verpestet, anstatt ihre dämliche Zeitung auf dem Tablet zu lesen. Dabei gab es die vor hundert Jahren schon. Zwar in einer wahnsinnig primitiven Form, aber doch fähig, eine simple Zeitung darzustellen. Die Welt produziert keinen Müll mehr. Sehr gut, Welt! Keinen Müll produzieren bedeutet auch, keinen mehr entsorgen zu müssen. Meine Omma sollte häufiger mal die Nachrichten schauen, dann würde sie vielleicht begreifen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, ihrem daaaaaaaaaaamals nachzutrauern.

Nach einem viertelstündigen Marsch um die unzähligen Hochhäuser meiner Siedlung herum komme ich mit roter Nase und eingefrorenen Ohrläppchen vor dem Sportstudio an. Ich gehe durch den Eingang des verglasten, halbrunden Gebäudes, und mir strömt angenehm warme Luft entgegen. Vor den Türen der Umkleidekabinen steht ein glänzender Kasten. Ich lege meine Hand auf den Scanner. Auf dem Display erscheint eine Nummer. Dreizehn. Die Tür fährt auf, und ich gehe hinein in die hell beleuchtete Halle, in der sich ein Spint an den anderen reiht. Um Materialkosten zu sparen, teilen wir uns die Sportklamotten. Nach dem Tragen wird alles gereinigt und zurück in den Spint gehängt. Meine Maße sind im System erfasst, und der Computer teilt mir jedes Mal, wenn ich komme, eine Spintnummer zu, in der für mich passende Sportklamotten verfügbar sind. Dreizehn ist ein Glückstreffer. Da muss ich nicht lange suchen, der Spint steht direkt neben dem Eingang. Die kleine Tür ist schon auf. Ich schäle mich aus meiner dicken Jacke und ziehe Schuhe und Strümpfe aus. Alles landet auf einem Haufen auf dem spiegelglatt geputzten Boden. Ich greife in meinen Schrank, hole die lange Sporthose raus und steige hinein. Dann zieh ich mir das Shirt über und schlüpfe in Thermosocken und Laufschuhe. Alles passt perfekt. Ich greife nach dem Haufen aus meinen verknoteten Textilien und stopfe ihn umständlich in den schmalen Schrank. Schuhe drauf – Tür zu. Ich verschließe den Metallkasten mit meinem Daumen, den ich auf den kleinen Scanner drücke. Es piept. Mir fällt ein, dass ich meinen Heepsi in der Hosentasche vergessen habe. Schnaubend öffne ich die Tür wieder, fummele zwischen meinen Socken herum, bis ich die Tasche ertastet habe. Ich ziehe das Handy raus und drücke dann gegen die Spinttür, die sich mir aufgrund der voluminösen Klamottenmasse hartnäckig entgegenstemmt.

Mit einem Handtuch bewaffnet und meinem Stöpsel im Ohr, gehe ich durch die Halle hinein in den Trainingsraum, meinem Personal-Trainer entgegen. Einem ähnlichen Kasten wie dem, der draußen vor der Umkleide steht. Um mich herum sind fast alle Geräte besetzt. Es ist eine technische Meisterleistung, alle Bewohner der Siedlung so zu koordinieren, dass sie so gut wie jeden Tag herkommen können, ohne auch nur eine Minute auf eine Trainingseinheit warten zu müssen. Jemand steigt vom Laufband runter, ein anderer steigt drauf. Perfekt. Wieder berühre ich den Scanner. Mein Name taucht auf dem Bildschirm auf. Darunter die Vitaldaten meiner Bosca-Analyse von heute Morgen. Der Kasten rechnet einen Moment und überträgt dann meinen heutigen Trainingsplan auf mein Handy.

Heepsi sagt: »Rauf aufs Laufband, Laser! 45 Minuten auf Band 17. Zeit, ein bisschen Fett zu verbrennen!«

Gerade als ich an Band 17 ankomme, steigt ein Mädchen, etwa in meinem Alter, davon herunter. Sie lächelt schwach, nimmt ihr Handtuch und zieht weiter. Ich sehe sie manchmal hier, habe aber noch nie mit ihr geredet; ich wüsste auch nicht wirklich über was. Wahrscheinlich wohnt sie ein paar Häuser weiter. Man sieht sich nicht oft. Außer hier im Studio oder einmal im Jahr zur Bezirksfeier. Sie ist hübsch. Ich schaue ihr nach, wie sie mit schwingendem Pferdeschwanz zur Beinpresse rübergeht. Ich könnte sie darüber informieren, dass Michael King bald im Fantasy-Channel kommt, aber ich bin sicher, das weiß sie bereits. Würde vielleicht auch nicht ganz so gut kommen, ihr diese Information völlig zusammenhangslos quer durch die Trainingshalle entgegenzubrüllen, obwohl ich nicht einmal weiß, wie sie heißt. Ich sehe weg und fange an zu laufen. Mein Handy sendet sämtliche Einstellungen vom Trainer direkt an das Band. Ich tue nichts, außer mich der vorgegebenen Geschwindigkeit anzupassen. Über mir hängt ein kleiner Screen. MediaCon U poppt auf.

»Laser Blue ist hier: Sportstudio Bezirk 3; 9 km/h schnell auf dem Laufband.« Automatisches Status-Update. Keine zwei Sekunden später taucht ein kleiner, Zustimmung signalisierender Daumen neben der Meldung auf. Meine Schwester. In meinem Postfach sind drei neue Videonachrichten. Ich visiere den kleinen Umschlag mit den Augen an, und eine neue Seite öffnet sich. Die Nachrichten sind alle drei von meinem Kumpel Danger. Ich bin erleichtert. Das Reh hat sich seit gestern nicht mehr in meinem Postfach blicken lassen. Ich lese bloß die ersten drei Sätze der E-Mails, die in der Vorschau angezeigt werden, und fordere Heepsi dann auf, mir eine Google-Seite zu öffnen. Die Nachrichten sind voll mit irgendwelchen Links auf illegale Pornospiele, Hundekämpfe oder sonstigem Zeug, mit dem ich mich hier im Sportstudio nicht näher beschäftigen kann. Ich überlege kurz, schaue links und rechts neben mich, doch glücklicherweise ist keiner da, und sage dann leise:

»Google: Wer ist das Mädchen, das vor mir auf dem Laufband trainiert hat?«

Google waltet seines Amtes und blendet ein Bild ein. Allerdings nicht von dem Mädchen mit dem Pferdeschwanz, sondern von einem Affen. Einer von diesen kleinen Kreischaffen mit Backenbart. Der Affe hat eine lilafarbene Schleife auf dem Kopf und ein übertrieben aufgerissenes Maul. Seine Zähne sind lang und scharf, die kleinen Krallen blutbeschmiert. Er trägt einen Wollpullunder, auf dem ein rotes V prangt.

»Nett«, befinde ich keuchend. Mein Blick huscht vom Screen weg hin zu dem geheimnisvollen Mädchen, das gerade Gewichte wegstemmt. Sie hat den schmalen Oberkörper entspannt zurückgelegt, hält ihr Handy in der Hand und bewegt langsam die Beine vor und zurück. Ich sehe ihre Knöchel aufblitzen, wenn sie die Beine anzieht. Als ob sie gespürt hat, dass ich sie ansehe, wendet sie den Blick vom Display ihres Handys ab und dreht den Kopf in meine Richtung. Erschrocken sehe ich weg.

In meinem Ohr erklärt mir Google, dass keine weiteren Treffer zu dem Mädchen gefunden wurden. Das ist seltsam. Sie ist inkognito unterwegs. Ich kriege nicht mal einen Namen. Irgendwie erinnert mich der Affe an etwas. Neben mir steigt ein älterer Typ aufs Laufband, und ich beschließe, meine Stalking-Absichten zu vertagen und mir stattdessen noch ein paar Videos zur neuen Michael-King-Kampagne anzusehen. Vielleicht kann ich mehr über den Drachen herausfinden.

Bisher haben sie kaum etwas dazu gesagt. Das kann zwei Gründe haben. Entweder die Technik, die dahintersteckt, ist doch noch nicht so weit ausgereift, wie mein kleiner Bruder behauptet, und sie wollen dem Publikum keine falschen Hoffnungen machen. Oder aber – und diese Variante ist mir definitiv die liebere – der Drache ist so wahnsinnig geil, dass sie ihn bis zum letzten Moment geheim halten, um seinen ersten Auftritt in die Fernsehgeschichte eingehen zu lassen. Ich wische mir mit meinem Handtuch über die Stirn. Der nächste Film auf der Liste ist ein Porträt über Jay Morrison, Michael Kings neuen Gamer. Es geht um die Ablösesumme, die er Ullrich Breitstein für Michael gezahlt hat. In dem Beitrag vergleichen sie Jay und Ullrich und kommen einstimmig zu dem Ergebnis, dass Jay, ein langer, dünner Typ mit blonden Haaren und durchscheinender Haut, ein paar Jahre älter als ich, das Beste ist, was Michael in seiner bisherigen Karriere passieren konnte. Jay wird als Naturtalent gehandelt. Obwohl er noch nicht so viel Erfahrung im Gaming hat, gilt er als neuer Favorit auf dem Action-Sektor. Seine letzte Sahara-Mission hat unschlagbar hohe Quoten erzielt und ihn über Nacht zum Star gemacht. Gerüchte besagen wohl, er musste sich damals für die Ablösesumme einen Investor besorgen, da er selbst niemals so viel Geld hätte zusammenbringen können. Durch den Erfolg von Michael in Afrika habe er aber fast das Doppelte wieder reinbekommen und sei nun in der Lage, in die richtige Technik zu investieren, um sich für die kommenden Missionen zu rüsten.

Seit ein paar Wochen steuere er Michael durch die verschiedenen Trainingslager Kanadas, und es funktioniere gut, sagt Jay kurz in einem Interview. Die Synchro sei gut gelaufen. Ihre Gehirne würden gut zusammenpassen. Ein kleiner Stich fährt mir in die Magengegend. Gerade als das Band langsamer wird und schließlich zum Stehen kommt. Neid. Er packt mich hin und wieder. Gerade als ich Jays Gesicht sehe. Unscheinbar. Unsicher. Er spricht mit leiser Stimme. Kaum zu glauben, dass er jemanden steuert, der so charismatisch ist wie Michael. Der Screen geht aus. Ich steige vom Laufband herunter, trinke meine halbe Wasserflasche leer und warte auf Anweisungen von Heepsi. Mein Assistent achtet penibel darauf, dass ich die Ruhephasen zwischen den Einheiten genau einhalte. Einen Moment stehe ich vor dem Laufband herum, trinke und versuche, das starre Gesicht von Jay Morrison aus meinem Kopf zu bekommen. Komischer Typ, denke ich, als Heepsi mir die nächste Einheit ansagt.

»Jetzt wird gerudert, Laser! Gerät Nummer fünf.«

Folgsam schlendere ich den Ruderergometern entgegen und steuere nach links auf die Nummer fünf zu. Von rechts kommt plötzlich das Mädchen mit dem Pferdeschwanz, noch immer vollkommen in ihr Handy-Display vertieft, und setzt sich direkt vor meiner Nase auf das Gerät mit der Nummer fünf. Leicht irritiert bleibe ich vor ihr stehen. Erst registriert sie mich gar nicht, starrt weiter auf das kleine rechteckige Gerät in ihren Händen und legt es erst dann weg, als sie bemerkt, dass sie diese nun zum Rudern braucht. Sie legt das Gerät neben sich auf den Boden, genau wie ihr Handtuch und ihre Wasserflasche. Dann bemerkt sich mich. Ich starre noch immer verwirrt abwechselnd sie und die leuchtend rote Nummer auf dem Gerät an.

»Was ist?«, fragt sie mich.

»Ähm«, sage ich und räuspere mich. Dann ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Eindeutig: Ruderergometer Nummer fünf steht auf dem Display. Wie, um mich noch mal zu bestätigen, weist Heepsi mich darauf hin, dass ich schon längst hätte angefangen sollen, und bittet mich darum, durch mein sinnloses Herumstehen keine unnötigen Zeitverzögerungen zu provozieren.

»Ich muss auf die Nummer fünf«, sage ich zu ihr. Sie öffnet den Mund, einen wirklich sehr schönen Mund, so als wolle sie etwas sagen, schließt ihn aber gleich wieder. Ihre Unterlippe ist ein bisschen voller als die Oberlippe, was ihrem sonst sehr schmalen und ziemlich ernst dreinblickenden Gesicht etwas Weiches verleiht. Sie greift ungläubig nach ihrem Handy und sieht auf den Bildschirm. Sie hält es mir entgegen. Nummer fünf steht darauf. Ich strecke ihr im Gegenzug mein Gerät entgegen. Jetzt zieht sie die Augenbrauen hoch und sieht mich fragend an.

»Was denn? Da steht Nummer fünf. Da kann ich doch nichts für«, rechtfertige ich diesen peinlichen Zwischenfall.

»Kannst du nicht lesen? Oder soll das hier eine Anmache werden?«

»Natürlich kann ich lesen«, entgegne ich empört. »Aber du anscheinend nicht. Schließlich sitzt du auf meinem Gerät.«

»Willst du mich verarschen?« Jetzt schüttelt sie den Kopf. So ein verwirrtes, kleines Kopfschütteln voller Unverständnis.

»Was denn?«, frage ich, und meine Stimme wird ein wenig lauter. »Da steht Nummer fünf«, ich sehe noch einmal auf mein Handy.

Ruderergometer Nummer vier steht da.

Jetzt weiß ich gar nichts mehr. Was war das denn? Bin ich jetzt völlig am Durchdrehen, oder ist jetzt auch noch mein Assistent kaputt?

»Fuck«, stammele ich und spüre, wie mein Gesicht von einer Sekunde auf die andere rot anläuft. Prima. Sie sieht mich noch immer unverwandt an und scheint darauf zu warten, dass ich entweder gehe oder doch noch etwas Sinnvolles zu meiner Verteidigung hervorbringe. Ich entscheide mich zu gehen. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um und laufe ein Gerät weiter vor. Heepsi weist mich erneut darauf hin, dass ich wertvolle Zeit vergeude, und ich kann mir ein genervtes Ja doch! nicht verkneifen. Ich lasse mich auf die Ruderbank fallen, entscheide hastig, mir den Nature XP aufzusetzen, der ans Gerät angeschlossen ist, und beginne mit der Übung. Mit dem Helm auf dem Kopf fühle ich mich gleich weniger beobachtet. Was war das denn eben? Ich hechle nervös in die Dunkelheit des Helms. Das Gerät fährt sich hoch.

»Heepsi: Wiederhole deine letzten drei Ansagen«, knurre ich und zerre dabei angestrengt an den Zugbändern. Ich sitze in einem Boot und rudere einen glasklaren eisblauen Fluss entlang. Links und rechts von mir ragen Berge mit schneebedeckten Spitzen auf. Die Luft riecht sauber und gesund. Mein überhitztes Gesicht kühlt ein wenig ab.

»Gerne, Laser. Hier die letzten drei Ansagen.« Heepsi wiederholt brav, was er in den letzten fünf Minuten über mich und meine Zeitverschwenderei zu berichten hatte, und dann kommt die Geräteansage von davor: »Jetzt wird gerudert, Laser! Gerät Nummer vier.«

Ich schlucke. Das kann doch nicht sein. Bin ich denn taub? Und blind noch dazu?

Was das Mädchen jetzt wohl von mir denkt? Dass ich ein riesiger Vollidiot bin? Entweder das, oder sie hält mich für einen fantasielosen Aufschneider mit einem minderbemittelten Sinn für Anmachsprüche. Was auch immer – sie ist mir egal. Ich schüttele also nur den Kopf und rudere weiter den Fluss entlang. Gerät Nummer fünf. Das stand da. Ich bin mir todsicher. Mir fallen plötzlich all die komischen Sachen ein, die in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert sind. Das Rehkitz in meinem Postfach, meine schwangere Schwester daheim, der eingefrorene Bildschirm und Ommas Käsebrot. An meinem Heepsi allein kann es also nicht liegen. Davon wäre Ommas Essensversorgung nicht betroffen. Irgendwie scheint da was ordentlich schiefzulaufen. Ich muss das unbedingt melden. Am besten so schnell wie möglich. Warum nicht gleich jetzt? Ich höre auf zu rudern. Mein Boot wird augenblicklich langsamer.

»Heepsi: Ich will eine Störung melden«, sage ich in meinen Helm hinein.

»Du möchtest eine Störung melden? Dein Ruderergometer funktioniert einwandfrei, Laser. Du musst die Griffe der Seilzüge in die Hände nehmen und daran ziehen, gleichzeitig …«

»Ich weiß, wie das blöde Rudergerät funktioniert. Ich will eine andere Störung melden!«, unterbreche ich meinen Assistenten.

»Du solltest vorher deine Trainingseinheit absolvieren, Laser. Bitte nimm jetzt die Seilzüge wieder auf.«

Verärgert tue ich, was Heepsi sagt. Obwohl ich eigentlich gerne das Gegenteil getan hätte. Ich möchte aber nicht noch einmal unnötig auf mich aufmerksam machen, indem ich das Gerät blockiere, also rudere ich grimmig weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit gratuliert mir mein Heepsi zu meinem erfolgreichen Training und gestattet mir nun, die Duschen aufzusuchen.

Sobald ich die Trainingshalle verlassen habe, setze ich mich in der Umkleidekabine auf eine Bank und nehme mein Handy in die Hand.

»Heepsi: Störung melden«, sage ich.

»Du möchtest eine Störung melden, Laser?«

»Ja.« Immer diese dämlichen Gegenfragen. Als ob ich mir selbst beim Sprechen nicht zuhören würde.

»Um was für eine Art Störung handelt es sich?«

»Meine Schwester ist schwanger, ein Reh hat mein E-Mail-Postfach gehackt und meinen Bildschirm eingefroren, meine Omma hatte heute Mittag ein Käsebrot in ihrem Essenspaket und außerdem hast du, Heepsi, mich vor etwa einer Stunde auf ein besetztes Ruderergometer schicken wollen.«

Einen Moment lang sehe ich nur die üblichen kleinen kreisenden Punkte auf meinem Display. Heepsi rechnet.

»Ungenügende Kontrolle der Medikamentenvergabe, unautorisierter Zugriff auf persönliche Daten und Geräte, falsch geliefertes Essen in der Supplybox und fehlerhafte Informationen bezüglich der Geräteinstruktionen im Sportstudio?«, fragt Heepsi. Er hat meine flapsig eingesprochene Zusammenfassung in Heepsideutsch übersetzt. Klingt so weit alles richtig.

»Ja«, bestätige ich.

»Vielen Dank für deine Rückmeldungen, Laser. Ich werde deine Störungsmeldung sofort in die Zentrale weiterleiten. Das Mediacontrolsystem versichert, es tut sein Bestes, um immer die bestmögliche Versorgung seiner Abonnenten sicherzustellen.«