Lass die Schatten der Schulzeit hinter dir - Mira Christine Mühlenhof - E-Book

Lass die Schatten der Schulzeit hinter dir E-Book

Mira Christine Mühlenhof

0,0

Beschreibung

Allein die Vorstellung, wieder zur Schule gehen zu müssen, löst bei vielen der Schulbank längst entwachsenen Menschen großes Unbehagen aus. Die meisten Leute erleben in ihrer Schulzeit traumatische Erfahrungen, die sie fürs Leben prägen und die sich später als Lampenfieber, Präsentationsangst und Minderwertigkeitsgefühle äußern. Die Sozialpsychologin Mira Mühlenhof hat ein Wort für dieses Phänomen gefunden: Schultrauma. In ihrem Buch erläutert sie detailliert, was man unter einem Schultrauma versteht, wie man es erkennt und wie man lernt, es zu bewältigen und endlich hinter sich zu lassen. Für ein entspanntes Leben frei von alten Ängsten!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 340

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mira C. Mühlenhof

Lass die Schatten der Schulzeit hinter dir

Mira C. Mühlenhof

Lass die Schatten der Schulzeit hinter dir

Wie sich dein Leben verbessert, wenn du dein Schultrauma erkennst und loslässt

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2022

© 2022 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Petra Holzmann

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: picture alliance/dpa/Fabian Strauch

Satz: Satzwerk Huber, Germering

Druck: CPI

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7474-0343-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-713-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-714-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für meine Eltern.

Und zwei Schulleiter, die auch an mich geglaubt haben:

Karl-Heinz Niemeyer (†)Max-Born-Realschule Bad Pyrmont

&

Heinrich FrommeyerBismarckschule Hannover

»Schweigen schadet der Heilung.«Gerhard KocherSchweizer Politologe und Gesundheitsökonom

Inhalt

Prolog

Teil 1: Sind wir nicht alle ein bisschen Schultrauma?

Zeit heilt eben nicht alle Wunden

Einmal Bismarck, bitte!

Ich bin nicht gestört, ich hab´ nur ein Schultrauma!

Alles Trauma oder was?

Öffne deine Blackbox

Mulmige Gefühle

More than a feeling

Teil 2: Geschichten, die die Schule schreibt

Wie andere ihre Schulzeit erlebt haben

Über die Ohnmacht

Summary oder: Was ich gelernt habe

Teil 3: Der unbekannte Feind in deinem Leben

It´s all about Trauma

Woran du (d)ein Schultrauma erkennen kannst

Gedanken, Gefühle und die Angst

Grundbedürfnisse: Was du wirklich willst

Was gefehlt hat

Vom ewigen Streben

Was wir über uns denken

Tiefseetauchen

Teil 4: Mach dein Schultrauma zu deinem guten Freund

Meine und deine Monster

Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen

Von Tieren und Menschen

Und nun?

Erste Hilfe bei offenen Wunden oder: Wie man mit inneren Schmerzen fertigwird

For your life only!

Ran an das System – conclusio

Was vom Trauma übrig bleibt

Epilog

Danke

Literatur

Prolog

Dieses Buch ist keine Abrechnung. Es soll nicht anprangern oder Schuld zuweisen, es will auch kein generelles Lehrer-Bashing betreiben und wird nur bedingt das System Schule kritisieren (auch wenn es ganz ohne Kritik natürlich nicht geht). Es ist vielmehr eine Einladung zu einer Reise zu dir selbst.

In meiner Profession als Coachin ist mir irgendwann aufgefallen, dass viele Probleme und Blockaden, die Menschen in ihrem Leben behindern und die sie dazu bewegen, sich Unterstützung in Form eines Coachings zu holen, ihren Ursprung in der Schulzeit haben. Im Ranking der Beweggründe ganz oben sind:

Lampenfieber und/oder Präsentationsangst

die Angst, vor einer Gruppe zu versagen und nicht dazuzugehören

die Angst, von einer Autoritätsperson vorgeführt zu werden

mangelndes Selbstvertrauen

Auf professioneller Ebene kann ich gut damit arbeiten und meine Klienten dabei unterstützen, diese unangenehmen Überbleibsel aus ihrer Schulzeit ad acta zu legen bzw. loszuwerden. Doch so richtig verstanden habe ich die Hintergründe von Schultraumata erst, als ich noch einmal mit meinem eigenen konfrontiert wurde. Somit ist dieses Buch auch eine Dokumentation meiner persönlichen Aufarbeitung: Raus aus dem Trauma, rein ins Leben.

Ich habe für dieses Buch mit Menschen gesprochen, die ihr Schultrauma reflektiert haben, um es ablegen zu können. Und ich habe mich sehr bewusst dazu entschieden, dir auch meine Verletzungen, die ich aus meiner Schulzeit mitgenommen habe, zu offenbaren, damit du dich darin wiedererkennen kannst wie in einem Spiegel. Das hier ist also auch für mich kein Spaziergang. Doch ich schreibe dieses Buch aus der tiefen Überzeugung heraus, dass wir am besten von den Menschen lernen, die uns ihre Schwachstellen offenbaren und uns in ihr Herz schauen lassen. Die uns teilhaben lassen an ihrem Schmerz und die uns dadurch inspirieren, uns ebenfalls auf den Weg zu machen, um die kleinen Monster, die in uns lauern, zu verabschieden. Ich habe Vergleichbares schon mehrfach in meinem Leben erfahren dürfen, denn ich bin immer wieder Menschen begegnet (oder habe sie gesucht), die durch ihre Transparenz etwas in mir freigelegt haben. Die mir eine neue Perspektive auf mein Innenleben beschert und mich dazu inspiriert haben, es tiefer zu erforschen und mich noch besser kennenzulernen. Schonungslose Transparenz ist notwendig, um sich den eigenen Schatten zu stellen und keine Angst mehr vor ihnen zu haben.

Ich habe keine Ahnung, ob ich auch nur ansatzweise »fertig« bin mit der Aufarbeitung meiner Vergangenheit. An manchen Tagen denke ich, dass ich schon ziemlich weit gekommen bin. An anderen Tagen habe ich das Gefühl, als würde ich ganz am Anfang stehen – weil wieder etwas gänzlich Unerwartetes aufgetaucht ist, etwas, was ich mir bis dato noch gar nicht angesehen habe. Wahrscheinlich ist man mit dem Unterfangen, das eigene ICH zu ergründen, niemals fertig …

Das sollte dich aber nicht davon abhalten, hier und heute anzufangen und dich mit den Schatten, die aus deiner Schulzeit bis in dein heutiges Leben reichen, auseinanderzusetzen. Dieses Buch will dir dabei ein guter Begleiter sein, es soll dich unterstützen und dich auffangen, es soll dir Wegweiser und »Best Buddy« sein – wie ein guter Freund, der dich auf einer wichtigen Reise begleitet.

Wir Menschen bestehen aus Körper, Seele und Geist. Dieses Buch kann eigentlich »nur« deinen Geist ansprechen. Ich habe allerdings mehrfach die Erfahrung machen dürfen, dass Worte auch auf körperlicher Ebene wirken: Dann gehen sie einem förmlich »durch und durch« und lösen Empfindungen wie zum Beispiel einen beschleunigten Herzschlag oder eine Gänsehaut aus. Sollten die Worte, die du in diesem Buch finden wirst, »nur« deinen Geist ansprechen, dann ist das völlig okay. Vielleicht arbeiten diese Worte aber auch auf einer feinstofflichen Ebene, sodass du ihre Wirkung im ersten Moment gar nicht bewusst wahrnimmst. Solltest du darüber hinaus den Wunsch verspüren, deinen Reflexionsprozess mit Körperarbeit zu unterstützen, findest du in deiner Stadt oder zumindest in der Nähe sicher hilfreiche Unterstützung. Es gibt inzwischen so viele gute Angebote in diesem Bereich. Um nur einige zu nennen: Biodanza, Alexander-Technik, Wim-Hof-Methode, Yoga, Kundalini-Meditation, MBSR, Atemtraining nach Ilse Middendorf etc. Einfach mal Google befragen und ausprobieren! Es gibt nicht die eine Lösung für alle. Welche Methode bei dir am besten wirkt, findest du nur heraus, indem du startest, dich einlässt und einfach anfängst.

Es ist und bleibt dein persönlicher Prozess, der in deinem eigenen Tempo abläuft. Mag sein, dass ich ein bisschen früher losgegangen bin, das sollte nicht weiter relevant sein. Wichtig ist, dass du es tust:

Dass du hinschaust!

Wenn ich etwas gelernt habe in meinem Leben, dann das: Selbstreflexion und Innenschau führen zu einem glücklicheren, leichteren Leben. Wenn ich dich inspirieren kann, diesen Weg zu gehen, bin ich reich beschenkt.

Alles LiebeDeine Mira Christine Mühlenhof

Teil 1: Sind wir nicht alle ein bisschen Schultrauma?

Zeit heilt eben nicht alle Wunden

Nach den ersten Jahren meiner Tätigkeit als Coachin habe ich mich gefragt, ob nicht hinter all den großen und kleinen Problemen, mit denen Menschen zu mir kommen, letztlich Traumata aus der Kindheit und der Schulzeit stecken. Gleichzeitig hege ich aber auch eine gewisse Aversion gegen die Annahme, dass sich fast alle Schwierigkeiten des Lebens mit einer misslungenen Kindheit erklären lassen. Vielleicht möchte ich damit von meinen eigenen Themen ablenken, das will ich gar nicht ausschließen, dann wäre das meine persönliche Verdrängungs- oder Ausweichstrategie. Ich empfinde es allerdings so, dass der Stempel »traumatische Kindheit« gern (zu häufig?!) dazu benutzt wird, Menschen von ihrer Eigenverantwortung freizusprechen: »Der kann ja nichts dafür, der hatte eine schlimme Kindheit.« Diese Erklärung erscheint mir in vielen Fällen zu einfach. Wo genau ist der Punkt, an dem kindliche Unschuld aufhört und Verantwortung für das eigene Tun anfängt? Ich bin froh, dass ich keine Richterin geworden bin, die diesbezüglich Recht zu sprechen hat. Vielleicht bin ich aber auch nur froh, dass ich bisher nichts wirklich Schlimmes angestellt habe bzw. nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten bin. War mir immer klar, dass ein Leben in Freiheit wertvoller ist als das Ausagieren von innerem Schmerz, womöglich auf Kosten anderer? Oder war ich vielleicht nur zu feige, um Grenzen zu überschreiten. Was weiß ich?

Ich frage mich eher, ob und wie lange es überhaupt gelingen kann, innere Dämonen im Zaum zu halten und kleine oder große Schulmonster zu kontrollieren, damit sie nicht angreifen? Ich habe mich dazu mit Coaching-Kolleginnen ausgetauscht und komme zu folgendem Ergebnis:

Vierzig bis fünfzig Prozent aller Coaching-Themen haben ihren Ursprung in einem Schultrauma.

Eine mächtig hohe Zahl, nicht wahr? Manchmal ist es auch so, dass Menschen gar nicht wegen ihrer eigenen Themen Hilfe suchen, sondern weil der/die Partner*in oder das Kind Probleme hat. Und häufig stellt sich dann heraus, dass die dazugehörigen körperlichen Symptome gar nichts mit der aktuellen Situation zu tun haben, sondern ihr Ursprung in der Vergangenheit liegt.

Je älter wir werden, desto mehr Energie müssen wir aufwenden, um das zu verdrängen, was tief in uns verborgen ist. Was wir erfolgreich vor uns selbst versteckt haben. Was sich vielleicht hin und wieder mal gezeigt hat, was wir aber schnell wieder weggeschoben haben. Das alles zeigt sich aber in einer Krise, englisch crisis. Ob nun mit dem Wort Midlife davor oder nicht, ist eigentlich egal. In einer Krise nehmen wir all das wahr, was wir sonst verdrängen. In einer Krise können wir nicht mehr ausweichen, nicht mehr vor uns selbst weglaufen. In einer Krise müssen wir radikal ehrlich in den Spiegel schauen und uns auch mit sogenannten »Themen des Mangels« auseinandersetzen: Was will ich nicht wahrnehmen, wo will ich nicht hinschauen? Was habe ich in der Vergangenheit nicht sehen wollen? Und dann landen wir unweigerlich in der Kindheit und müssen uns die Frage stellen: Was hätte ich in traumatischen Situationen in meiner Kindheit gebraucht? Worauf musste ich verzichten? War es Kontakt, war es Liebe, war es Zuneigung, war es Unterstützung? Und was brauche ich heute?

Es gab mal eine Werbung für einen Fruchtjoghurt mit dem Slogan: »Früher oder später kriegen wir dich doch!« An diesen Werbespruch muss ich häufig denken, wenn ich Klient*innen dabei begleite, nach den Ursachen ihrer inneren Blockaden zu forschen. Wenn sie mutig sind und dranbleiben, kommen sie an das heran, was sie verdrängt haben. An das, was nicht mehr präsent, scheinbar nicht mehr da ist, obwohl es doch von innen drückt. Ich kann sagen: Für alle, die es gewagt haben, hat es sich gelohnt – mich eingeschlossen.

Die Kenntnis davon, was da genau in uns schlummert, geht mit einem starken Gefühl der Befreiung, man kann auch sagen Erleichterung einher. Das führe ich darauf zurück, dass die Energie, die ansonsten darauf verwendet werden muss, Gefühle zu verdrängen, wieder frei wird – und dementsprechend für andere Zielsetzungen des Lebens zur Verfügung steht.

Und mal ganz ehrlich: Wir haben doch schon Schlimmeres überstanden, oder? Damals, in der Schule …

Einmal Bismarck, bitte!

Ich hatte keine Ahnung, welche kleinen Monster noch in mir schlummern – bis zu diesem milden Spätsommerabend im Jahr 2020, an dem ich das Gefühl hatte, dass gleich mein Rücken auseinanderbricht. Ich war nach Berlin gefahren, um mich dort mit Steffi und Nina zu treffen und – nach dem ersten Tag im pädagogischen Seminar – meinen Einstieg als Lehrerin zu feiern. Beide arbeiten seit Jahren für mich, sind Teil meines Teams in meinem Coachingund Beratungsunternehmen. Beide kennen mich also gut und wurden von meinem Plan, als Quereinsteigerin an eine Schule zu gehen, ebenso überrascht wie meine Familie, mein Freundeskreis und auch meine Kund*innen. Die Idee dazu kam mir in den ersten Wochen der Corona-Pandemie. Ich wollte etwas verändern in meinem Leben. Nach vielen Jahren, in denen ich mit meinem Rollkoffer rastlos durchs Land gefahren bin, verspürte ich den Wunsch, meine beruflichen Reisen zu reduzieren. Ich wollte auch gern mit jüngeren Menschen arbeiten. Und der Wunsch nach etwas mehr Sicherheit hat sicherlich auch eine Rolle gespielt. Wie auch immer.

Plötzlich war alles ganz schnell gegangen. Im Sommer hatte ich ein Vorstellungsgespräch an einem Gymnasium, der Bismarckschule in Hannover, in dem es nach wenigen Minuten eigentlich nur noch um die Formalitäten ging. Die Chemie zwischen dem Schulleiter, seinem Team und mir hat einfach gestimmt, und innerhalb weniger Tage hatte ich meinen Vertrag in der Tasche. Zwei Tage Schule, ein halber Tag im pädagogischen Seminar und die restliche Zeit für Coaching und Seminare, so der Plan. Ich freute mich riesig auf meine neue Aufgabe und genoss die Zeit bis zum Schulanfang. Das waren ja quasi meine ersten Sommerferien seit langer, langer Zeit!

Zurück zu besagtem Abend. Schon im Bus vom Hauptbahnhof zu unserem Treffpunkt war mir vor Rückenschmerzen so übel, dass ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Dementsprechend bescheiden fiel meine Reaktion aus, als Steffi mich an der Bushaltestelle begrüßte, freudestrahlend und mit einer kleinen bunten Schultüte bewaffnet. »Herzlichen Glückwunsch zum Schulanfang!«, rief sie, fiel mir um den Hals und drückte mir das mit Schleifen verzierte bunte Gebilde in die Hände. Es fühlte sich so schwer an wie mein Rücken – es war wohl viel Schokolade drin. Ich murmelte ein »Dankeschön« und wollte mich nur noch hinsetzen. Nach drei Stunden im Restaurant standen mir vor Schmerzen die Tränen in den Augen. Ich habe sie mit zwei Ibuprofen heruntergeschluckt. Bis zum nächsten Tag.

Den verbrachte ich wieder im pädagogischen Seminar, dort wurde ich gemeinsam mit Referendaren, die gerade von der Uni kamen, auf die neue Aufgabe vorbereitet. Abends konnte ich nichts mehr essen. Am dritten Tag saß ich heulend bei der Leiterin im Büro und fühlte mich wie … ein Schulkind. Das war auch die erste Nacht, in der ich kaum mehr ein Auge zugemacht habe.

Es folgten die zwei ersten Tage Unterricht am Gymnasium, auf die ich mich so gefreut hatte. Deutsch und Werte & Normen, zwei achte Klassen und eine elfte. Im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr, wie ich diese Stunden hinter mich gebracht habe. In mir drehte sich alles, ich hatte Kopfschmerzen, fühlte mich wie ferngesteuert. Wie in einem Wattebausch. Die Pausen verbrachte ich in meinem Auto, um in Ruhe einen Schluck Tee aus der Thermoskanne zu trinken. Heute weiß ich, dass das schon eine Flucht war: Ich wollte nur noch weg. Aber warum? Die Schüler*innen fanden mich top, ich fand die Schüler*innen top, der Unterricht hat Spaß gemacht. Als Seminarleiterin und Rednerin war ich es gewohnt, vor Menschen zu sprechen, und ich hatte einen prall gefüllten Methodenkoffer dabei, der nur darauf wartete, ausgepackt zu werden. Mein Körper jedoch fühlte sich an, als würde er sich von innen nach außen stülpen. Wirre, diffuse Bilder begleiteten mich durch den Tag, Albträume durch die Nacht. Am Freitagabend war es dann so weit: Ich hatte den kompletten Zusammenbruch. Ich fing an zu heulen und hörte das gesamte Wochenende nicht mehr auf. Alle waren hilflos, mein Mann, meine Familie und meine Freunde, am meisten ich selbst. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war! Ich war innerlich wie taub, gefangen in einem Schockzustand und fühlte: nichts.

Am Sonntagmittag zog mein Mann die Reißleine, er übernahm quasi das Kommando und forderte mich auf, mich für den nächsten Tag krankzumelden (eigentlich war es keine Forderung, sondern ein Befehl). Da war ich immer noch der Meinung, ich würde das schon noch irgendwie schaffen. Doch ein Gespräch mit meiner Ärztin am Montagmorgen belehrte mich eines Besseren: Sie diagnostizierte eine Re-Traumatisierung und empfahl mir, sofort die Schule zu verlassen, sprich: zu kündigen. Nach Gesprächen mit der Schulleitung und dem pädagogischen Seminar bot mir die Schulbehörde einen Auflösungsvertrag an, den ich ohne zu zögern unterschrieb. Damit habe ich wohl einen traurigen Rekord aufgestellt: Nach zwei (!) Tagen im Schuldienst schon wieder raus. Was allerdings verblüffend war (ahnst du es schon?): Meine körperlichen Symptome waren von einem Moment auf den anderen und wie von Zauberhand wieder verschwunden.

Meine Schulzeit war für mich der blanke Horror und das nicht wegen der Noten, ich war eine gute Schülerin. Nein, Schule war für mich verbunden mit Hänseleien, üblen Bemerkungen und schlimmen Demütigungen. Heute würde man Mobbing dazu sagen. Das ging schon in der Grundschule los, kurz nach meiner Einschulung offenbarte sich meine Schwachstelle: Eine Lehrerin sprach meine Mutter an und erzählte ihr, dass ich extrem stottern würde. Meine Mutter wollte das zunächst gar nicht glauben, zu Hause sprach ich wohl ganz normal, da war ihr nichts aufgefallen. Doch dann war sie bei einer ersten Schulaufführung dabei. Sie erzählt bis heute, wie bestürzt sie war und wie sehr sie mit mir gelitten hat: Ich sollte mich vorstellen, und es kam kein Wort aus meinem Mund. Ich kann mich an diese Szene nicht erinnern. An das Gefühl aber schon, vorrangig an den Druck und die Scham, wenn einfach keine Silbe dem Mund entweicht. An das Ringen mit jedem Wort. An die quälenden Versuche, doch bloß irgendeinen Laut aus der Kehle zu drücken. Und an die Enge im Hals, die sich angefühlt hat wie ein Feuerkegel.

Dieser Sprachfehler hat mich durch meine gesamte Schulzeit begleitet und zu schlimmen Erfahrungen geführt: Ich wurde hämisch ausgelacht und verspottet. Am allerschlimmsten war es, wenn Mitschüler*innen mich nachgeäfft haben, zwei Jungs aus meiner Klasse waren Weltmeister darin. Ich erinnere mich an die Wut auf mich selbst, wenn ich mich mal getraut hatte, mich zu melden, und es doch wieder nichts wurde und die Silben nur im Stakkato meinen Mund verließen. Und vor allen Dingen erinnere ich mich an meinen innigsten Wunsch:

Dazugehören.

Meine Eltern waren immer für mich da, sie haben alles getan, um mir zu helfen. Meine Mutter hat mit mir zahlreiche Therapeuten aufgesucht, vom Logopäden bis zum Iris-Diagnostiker. Nichts hat geholfen. Erst eine Hypnose-Therapie brachte Linderung – da war ich allerdings schon ein Teenager und aus den kleinen Verletzungen waren große Wunden geworden.

Fast vierzig Jahre später, nach meiner erneuten Schulerfahrung, brauchte ich erst mal eine Weile, um zu realisieren, was da eigentlich geschehen war. Um überhaupt wieder Kontakt zu mir zu bekommen. Der Verstand kommt ja immer zuletzt, wenn es darum geht, Erfahrungen einzuordnen und – wie man so schön sagt – zu verarbeiten. Ich konnte das ganz gut an mir selbst beobachten: Erst beruhigte sich der Körper, dann legte sich das dumpfe, schwere Gefühl, und erst danach kamen die reflektierenden Gedanken, verbunden mit dem Wunsch, dem Erlebten einen Platz zuzuweisen.

Dummerweise begannen dann auch die (sicher gut gemeinten) Nachfragen: »Wie läuft´s denn in der Schule?« »Gar nicht.« »Warum das denn?« »Bin schon wieder draußen.«

Davon war ich irgendwann so genervt, dass ich mich entschieden habe, meinen Ausstieg aus der Schule aktiv zu kommunizieren bzw. bei Facebook zu posten. Und dann ging´s los: Ich wurde von Reaktionen und Kommentaren förmlich überrollt, auf allen Kanälen wurden mir Nachrichten zugeschickt, und ich kam gar nicht mehr hinterher, diese zu beantworten. Viele Menschen aus meinem Netzwerk, aber auch völlig Fremde, waren total berührt von meiner Geschichte. Und viele haben zum Ausdruck gebracht, dass sie Ähnliches erlebt haben. Da hatte ich wohl in ein Wespennest gestochen. By the way hatten diese Reaktionen einen wohltuenden Effekt: Ich fühlte mich mit meiner Geschichte nicht mehr allein. Das tat gut.

Natürlich habe ich meine Schulzeit nicht vergessen, aber glücklicherweise kann ich mich nicht mehr an alle demütigenden Situationen erinnern. Ich dachte auch, dass ich mich quasi selbst geheilt hätte, weil ich das Sprechen zu meinem Beruf gemacht habe. Schon während des Studiums startete ich beim Radio, später wechselte ich zum Fernsehen, ich habe Live-Sendungen und unzählige Veranstaltungen moderiert und sogar als Synchronsprecherin gearbeitet. Bis heute stehe ich liebend gern als Trainerin vor Gruppen und als Speakerin auf großen Bühnen. Alles kein Problem. Ich gebe aber zu, dass ich zwanzig Jahre lang auf das erste Klassentreffen hingefiebert habe, um auf die Frage »Und was machst du so?« cool antworten zu können: »Ich arbeite beim Fernsehen.« Das war für uns, die wir in der Kurstadt Bad Pyrmont aufgewachsen sind, ’ne echt große Sache! Beim Fernsehen zu arbeiten, war dort in etwa so realistisch wie ein Trip zum Mond.

Leider fiel die Überraschung bei den ehemaligen Klassenkamerad*innen nicht ganz so spektakulär aus wie erhofft, weil die Sender, für die ich arbeitete, auch in meinem Heimatort gesehen und gehört wurden, viele wussten also schon von meinem Job. Egal. Mir ging es einfach um die Genugtuung.

Für mich ist das Thema Schultrauma auch heute noch nicht abgeschlossen. Klar kann ich es mir leicht machen und einfach Schulen meiden. Das wäre sogar recht easy, denn ich habe keine eigenen Kinder und niemand zwingt mich, ein Schulgebäude zu betreten. Damit würde ich allerdings nur dem Trigger ausweichen und nicht das Thema auflösen, von dem ich doch weiß, dass es mich schon mein Leben lang begleitet:

Das Gefühl, nicht dazuzugehören. Ausgegrenzt zu sein. Keinen Wert zu haben.

Daraus resultiert mein Wunsch nach Anerkennung und auch das Bedürfnis, etwas Tolles zu machen, damit ich »da sein« darf. Meine Re-Traumatisierung, so schlimm sie auch war, hatte also durchaus etwas Gutes: Durch sie bin ich überhaupt erst auf das Thema Schultrauma gestoßen und sie motiviert mich, mir meine alten Narben noch mal vorzunehmen. Ich darf der Erfahrung an der Bismarckschule also dankbar sein. Ohne sie gäbe es keine Inspiration für dich - und keine Heilung für mich.

Ich bin nicht gestört, ich hab´ nur ein Schultrauma!

Durch die Reaktionen, die ich nach meiner kurzen Schulepisode auf meinen Facebook-Post bekommen habe, habe ich mich verstanden gefühlt und konnte mich in das mir entgegen gebrachte Mitgefühl einkuscheln wie in einen warmen Bademantel. Was mich allerdings überrascht hat, war das drängende Bedürfnis vieler Menschen, mir auch ihre Geschichte zu erzählen - so, als wollten sie sie endlich einmal loswerden. Das hat mich inspiriert, tiefer in das Thema Schultrauma einzutauchen, und ich habe mich gefragt:

»Gehen vielleicht viel mehr Menschen mit einem Schultrauma durchs Leben, als wir (und sie selbst) es ahnen?«

Diese Frage hat mich sehr beschäftigt, zumal ich noch dazu festgestellt habe, dass es gar kein Buch zum Thema gibt. Krass! Keine Literatur über Schultraumata? Dann wird´s mal Zeit!

An diesem Punkt fiel es mir auch nicht schwer, eine Verknüpfung zu meiner Tätigkeit als Coachin zu finden, denn immer wieder stoße ich im Rahmen von Coaching-Prozessen auf belastende Themen, die Menschen aus ihrer Schulzeit mitgenommen haben. Jetzt könnte man sagen: »Du musst nur lange genug in der Kindheit buddeln, dann kommt schon irgendeine Macke dabei raus.« Das wäre zu einfach. Und doch ist irgendwie auch was Wahres dran:

Die Kindheit ist und bleibt nun mal die prägendste Zeit unseres Lebens.

Die Zeit, in der wir noch formbar sind, in der sich unsere Persönlichkeitsstruktur entwickelt und in der sich emotionale Erschütterungen am nachhaltigsten festsetzen. Die Schulzeit spielt in unserer Kindheit eine große, wenn nicht sogar die Hauptrolle, denn es geht um unsere Sozialisierung, die einhergeht mit der Frage:

»Wie wirke ich auf andere? Wo ist mein Platz im Rudel? Bin ich drin oder bin ich draußen?«

Unabhängig davon, wie dieser Sozialisierungsprozess abläuft, begleiten uns die in der Schule gemachten Erfahrungen ein Leben lang, weil sie unweigerlich mit starken Gefühlen einhergehen, sowohl positiven als auch negativen. So kommt es, dass sogenannte Triggerpunkte (ich nenne sie auch gern »Red Buttons«) in uns verankert werden, die noch Jahrzehnte später alte Gefühle reaktiviert werden (können). Diese fühlen sich dann ebenso schön oder eben auch genauso schaurig an wie damals in der Schule. Meine Oma würde sagen: »Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen!«

Liebe Oma, heute verstehe ich sehr gut, was du damit gemeint hast: Unser Gedächtnis, unsere Erinnerung kennt gar keine Zeit. Es ist vollkommen wurscht, wann eine Situation stattgefunden hat, emotional stark aufgeladene Momente unseres Lebens bleiben hängen. Wenn wir uns dann später an eine dieser Situationen erinnern, ist auch das dazugehörige Gefühl wieder da, genauso präsent wie in der Kindheit. Die Erinnerung kann nicht nur über Gedanken ausgelöst, sprich angetriggert werden, sondern auch über die Sinneswahrnehmungen Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen – oder durch die Wahrnehmung von Raum, also das Sehen. Dazu später mehr. Sicher ist, dass nicht nur unser Verstand und unsere Seele ein Gedächtnis haben, auch unser Körper erinnert sich. Manchmal ist eine Erinnerung so belastend und quälend, dass unser System sie einfach nicht zulässt. Welch faszinierendes Phänomen in Sachen Selbstschutz! Unser System will vermeiden, dass wir den alten Gefühlen ohnmächtig gegenüberstehen. Dazu kann ich allerdings nur sagen: Widerstand ist zwecklos. Wahrnehmung findet trotzdem statt, das haben mir die zwei Tage an der Schule deutlich gezeigt. Unser System reagiert immer, ob wir es wollen oder nicht. Es vergisst nur leider manchmal, dass wir heute erwachsen sind und etwas tun können, dass wir unseren Gefühlen nicht mehr so hilflos ausgeliefert sein müssen wie in der Kindheit. Dazu braucht es aber ein anderes Bewusstsein.

Ich kann mich gut an den Moment erinnern, als ich im Coaching zum ersten Mal auf ein Schultrauma gestoßen bin, von dem der Klient selbst überhaupt keine Ahnung hatte. Der Coachee, Vorstand eines großen Versicherungskonzerns, hatte einen Termin bei mir gebucht, weil er an seinem Lampenfieber arbeiten wollte. Als er durch die Tür kam, dachte ich: »Was für ein selbstbewusster Typ!« – Er war mir auf Anhieb sympathisch. Doch nur wenige Minuten später war aus dem smarten Boss ein Häufchen Elend geworden. Er schilderte mir, wie sehr ihn sein Lampenfieber quälte, weil es nicht nur aus ein wenig Herzrasen bestand, sondern sich regelmäßig zu ausgewachsenen Panikattacken entwickelte. Immer dann, wenn er im Kreis seiner Vorstandskollegen oder gar vor dem Aufsichtsrat etwas präsentieren musste, öffneten sich in seinem Körper alle Schweißdrüsen. Seine größte Angst bestand darin, in solch einer Situation einem Kollegen die Hand geben zu müssen, weil diese in solchen Momenten klatschnass sei. Oder, noch schlimmer, dass er sein Sakko ausziehen müsse, weil das im Sommer alle Kollegen so tun. Sein Hemd klebe regelmäßig am Oberkörper fest, er meinte sarkastisch: »Das könnte ich auswringen.«

Mithilfe einer Coaching-Technik namens wingwave® kamen wir an die ursprüngliche, sprich auslösende Situation heran, an das Schultrauma: Mein Coachee war als Kind keine Leuchte in Mathe gewesen und musste sich damals immer wieder durch eine Gruppenübung namens »Rechenkönig« quälen. Bei dieser wurden alle Kinder aufgefordert, sich hinzustellen. Wer am schnellsten eine Kopfrechenaufgabe gelöst hatte, durfte sich setzen, dann kam die nächste Aufgabe. Das Ergebnis sah regelmäßig so aus: Alle Kinder saßen, er stand, war der Depp und wurde lauthals ausgelacht.

Dreißig Jahre später reagierte sein Körper noch immer mit extremen Stress-Symptomen, wenn alle Zuhörer sitzen und er allein vor einer Gruppe steht. Mein Coachee war total perplex über den Link zu der Rechenübung von damals, seine Erinnerung daran war komplett weg gewesen und tauchte erst in der Coaching-Session wieder auf. Er schaltete dann aber gleich in eine Art Manager-Modus um und präsentierte mir seine Lösung, indem er vorschlug, er könne ja fortan seine Präsentationen im Sitzen halten: »Ich erzähle denen einfach, dass ich beim Skifahren gestürzt bin und einen Bänderriss habe.« Das war natürlich keine langfristige Lösung, so viele Bänderrisse hat auf Dauer ja kein Mensch. Aber er wollte es unbedingt ausprobieren.

Eine Woche später rief er mich an und erzählte, er habe seine Quartals-Zahlen im Sitzen präsentiert und siehe da: keine Panikattacke, kein Herzklopfen und vor allen Dingen kein einziger Schweißtropfen! Er war total happy, ich auch. Wir haben das Schultrauma dann doch noch aufgearbeitet, sprich gelöst. Der wichtigste Schritt aber war der, überhaupt erst mal eine Verbindung zu der auslösenden Situation herzustellen, damit er sich von den Spätfolgen, sprich Symptomen, befreien konnte.

Je länger ich als Coachin tätig bin, desto mehr Schultraumata begegnen mir. Noch einmal: Ich halte nichts davon, wenn eine schlimme Kindheit als Ausrede dafür benutzt wird, die Verantwortung für Ursache und Wirkung des eigenen Handelns abzugeben. Vielmehr plädiere ich dafür, alten Verletzungen den richtigen Platz im Leben zu geben, indem wir sie reflektierend anschauen und verarbeiten. Dadurch verlieren sie ihren störenden Einfluss auf unser Leben. Es gilt, die Sprache und Signale des Körpers zu verstehen, unbewusste Muster zu durchschauen, aus Wiederholungszwängen auszusteigen und so die innere Balance wiederzufinden.

Schultrauma ist natürlich nicht gleich Schultrauma. Es gibt:

Mobbing-ThemenDemütigungen durch LehrerNotendruck in der FamilieOhnmachtsgefühle in der GruppeÜbergriffigkeitenVersagensängsteund noch weitere Themen

Dementsprechend hinterlässt diese Vielzahl an auslösenden Momenten ganz unterschiedliche Spuren. Viele innere Blockaden, die im Laufe des Lebens einschränkend und/oder störend wirken, lassen sich auf ein Schultrauma zurückführen. Auffallend dabei ist, dass viele Menschen, die sich sehr wohl eines Schultraumas bewusst sind, nicht nach Unterstützung suchen. Sie wählen eher den Weg der Vermeidungsstrategie, beispielsweise wechseln sie das Thema, wenn sich das Gespräch um das Thema Schule dreht. Oder sie wählen Ausflüchte, um bloß nicht eine Schule betreten zu müssen. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Bürgerinnen und Bürger nicht wählen gehen, weil sich ihr Wahllokal in einer Schule befindet!

Mindestens genauso groß ist die Gruppe derer, die überhaupt nicht wissen, dass sie ein Schultrauma haben. Sie buchen ein Coaching, weil irgendwo der Schuh drückt. Beispielsweise weil.

sie Konflikte haben,ihre Karriereträume geplatzt sind,Unsicherheiten auftauchen,es ihnen an Selbstvertrauen mangelt,sie unzufrieden mit sich selbst und/oder ihrem Leben sind.

Dass die Ursachen für diese Schwierigkeiten in der Schulzeit zu finden sein könnten, auf die Idee kommen die wenigsten. Zwar steckt nicht hinter jedem Problem ein Schultrauma, aber immer öfter. Darum hier (m)eine These:

Sind wir nicht alle ein bisschen Schultrauma?

Ich schreibe dieses Buch als Betroffene und als Coachin. Mein Anliegen ist es, intensive Reflexionsprozesse anzustoßen, damit möglichst viele Menschen die Ursache für belastende Gefühle und innere Blockaden, die ihr Leben erschweren, erkennen können. Mir geht es um die Frage, wie es gelingen kann, innere Handbremsen zu lösen, sich von belastenden Glaubenssätzen und blockierenden Körperreaktionen zu befreien und dadurch nachhaltig zufriedener zu werden und glücklicher zu leben. Natürlich wird es auch um die Frage gehen, ob sich Schultraumata überhaupt vermeiden lassen. Und ob der wahre Grund, warum Eltern zu sogenannten »Helikopter-Eltern« werden, möglicherweise in ihrer eigenen belasteten Schulzeit liegt, die verdrängt worden ist und sich heute in dem Anspruch äußert, die eigenen Kinder vor negativen Erfahrungen bewahren zu wollen. Das könnte ja dazu führen, dass wir diesen Eltern Verständnis entgegenbringen, anstatt uns über sie lustig zu machen. Wir sind ja schließlich nicht (mehr) in der Schule!

Alles Trauma oder was?

»Die Steigerung von Drama ist Trauma.«

A. Michael Bussek

Trauma. Was für ein ekliges Wort. Es weckt augenblicklich ganz garstige Assoziationen. Innere Bilder steigen auf, die wir nicht anschauen wollen und darum schnell beiseiteschieben. Es sind Fragmente und Bildfetzen, die aus Nachrichtensendungen hängen geblieben sind. Bilder, die sich irgendwo in uns festgefressen haben und die reaktiviert werden, wenn wir das Wort Trauma lesen oder hören. Ich kann heute gut nachvollziehen, was mein Yoga-Lehrer mal erzählt hat: Er hätte irgendwann aufgehört, Nachrichten und Horror-Filme anzuschauen, um seine Seele zu schützen. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte weniger Krimis konsumiert (obwohl ich bereits vor einigen Jahren damit aufgehört habe, welche zu lesen) und hätte auch keine Splatter-Movies synchronisiert. Wir denken immer, es mache uns nichts aus, uns irgendwelche fiktiven Horrorszenarien zu Gemüte zu führen. Doch das stimmt nicht. Alle diese Bilder werden in uns gespeichert. Wenn du dir deine eigenen inneren Bilder mal genauer anschaust, wirst du erkennen, dass sie nicht nur aus deinem eigenen Leben stammen. Da mischen sich deine Erinnerungen plötzlich mit Bildern, die überhaupt nichts mit dir zu tun haben. Dabei können unsere eigenen Erfahrungen schon schlimm genug sein!

Ich weiß nicht, wann genau ich bei dem Wort Trauma nicht mehr nur an krasse Kriegs- und/oder Vergewaltigungsszenarien gedacht habe, sondern die Ahnung in mir aufstieg, dass auch ich ein Trauma haben könnte; oder wann ich angefangen habe, das Wort auf mich selbst zu beziehen. Wahrscheinlich war das, als ich mit Anfang dreißig an einer Art Selbstfindungskurs teilgenommen habe. Mit meinem Kenntnisstand von heute würde ich sagen, dass in dieser Zeit (m)eine erste Re-Traumatisierung stattgefunden hat. Ich habe sie in meinem Buch »Key to see« beschrieben. Es handelte sich um eine geführte Meditation, in der wir uns ins Jenseits begeben sollten, um uns mit Gott zu unterhalten. Diese Meditation war für mich insofern traumatisch, als dass ich realisierte, dass ich für ein solches Gespräch gar keinen Stoff, sprich keinen Inhalt zur Verfügung hatte. Anders gesagt: Ich bin zum ersten Mal mit dem tief in mir verankerten Gefühl der Wertlosigkeit in Kontakt gekommen. Diese Erfahrung hat mich so nachhaltig erschüttert, dass ich stundenlang durchgeheult habe. Eigentlich nicht weiter schlimm. Blöd war daran nur, dass es mein Geburtstag war. Ich kann mich noch an die Hilflosigkeit meiner Freunde erinnern, die nicht wussten, wie sie mich aufheitern sollten.

Heute würde ich sagen: An diesem Tag habe ich zum ersten Mal die Wunde aufgerissen und wurde völlig von einem existenziellen Gefühl der Wertlosigkeit vereinnahmt. Ich war total starr, überhaupt nicht bei mir, darum hat mich mein Date, mit dem ich nach der Meditationssession zum Essen verabredet war, nach Hause geschickt (er hat später gesagt, ich habe völlig »neben mir gestanden«). Ich fühlte mich in der Tat wie ferngesteuert und bekam zu Hause furchtbare Angst, weil da nichts mehr war außer Nebel. Kein Gefühl, keine Wahrnehmung. Ich habe mich selbst nicht mehr gespürt. Ich befand mich in einem Schockzustand, den man auch bei Menschen beobachten kann, die gerade eine traumatische Erfahrung gemacht haben, beispielsweise im Zusammenhang mit einem Unfall. Jahre später war ich zum ersten Mal dabei, als eine Re-Traumatisierung stattgefunden hat, diesmal in der Rolle der Seminar-Leiterin. Ich war komplett überfordert: Die Teilnehmerin, die die Re-Traumatisierung erlebt (oder vielmehr durchlitten) hat, war wie eingefroren und überhaupt nicht ansprechbar. Sie konnte auch selbst nicht mehr sprechen, sich nicht erklären. Ehrlich gesagt, wusste ich damals überhaupt nicht, was ich tun sollte. Gemeinsam mit anderen Teilnehmer*innen aus der Gruppe versuchte ich, sie aufzufangen. Wir haben ihr Gespräche angeboten, waren für sie da. Wochen später erzählte sie, dass sie sich am nächsten Tag psychologische Unterstützung geholt habe. Eine gute Entscheidung! Und dennoch habe sie einige Tage wie in einem Tunnel verbracht. Nach dieser Erfahrung bekam ich übrigens einen Riesen-Respekt vor dem Umgang mit dem, was wir menschliche Seele nennen. Auch wenn man keine Schuld an einer Re-Traumatisierung eines anderen hat, weil sie jederzeit und überall passieren bzw. ausgelöst werden kann, sollte man wissen, was zu tun ist, wenn einem eine begegnet. Zumindest wenn man sich in der Rolle eines Coaches oder einer Therapeutin befindet. Daher finde ich es befremdlich, wie viele selbst ernannte »Coaches« auf dem Markt sind, die ohne Ausbildung und mit wenig Lebens- und Arbeitserfahrung ihre fragwürdigen Methoden anbieten dürfen. Aber das ist ein anderes Thema.

Öffne deine Blackbox

»Bis Du die Wunden Deiner Vergangenheit heilst, werden sie bluten. Du kannst versuchen, die Blutung mit Essen, mit Alkohol, mit Drogen, mit Arbeit, mit Zigaretten oder mit Sex zu stoppen; aber letztendlich wird alles durchsickern und Dein Leben beflecken. Du musst die Kraft finden, die Wunden zu öffnen, Deine Hände hineinzustecken, den Kern des Schmerzes, der Dich in Deiner Vergangenheit festhält, die Erinnerungen, herausziehen und endlich Frieden mit ihnen schließen.«

Iyanla Vanzant

Ich habe relativ lange gebraucht, um herauszufinden, dass ich ganz gut darin bin, meine eigenen Traumata zu betäuben, um so von ihnen abzulenken. Damit befinde ich mich in bester Gesellschaft: Wir betäuben uns ja gern im Kollektiv. (Früher hätte ich es nur nie so formuliert.) Ich bin wohl auch ganz hervorragend in der Lage, mich selbst zu belügen und mir meine Ablenkungsmechanismen schönzureden. Allein sieben Jahre in der Gastronomie haben mich glauben lassen, dass es völlig okay, wenn nicht sogar völlig normal ist, in großen Mengen Alkohol zu konsumieren. Sowohl in der Bar als auch in dem edlen Restaurant, in denen ich während des Studiums gejobbt habe, wurde in großem Stil mitgetrunken, es gab kaum einen Abend, an dem ich nüchtern nach Hause gekommen bin. Wenn ich nicht mittrinken wollte, brauchte ich dafür schon gute Argumente: »Ich muss morgen zum Arzt, ich nehme Tabletten, ich schreibe morgen eine Klausur« oder ähnliche Ausflüchte. Während des Studiums habe ich es geliebt, mich am späten Abend mit einem Glas oder gleich einer Flasche Rotwein in die Küche zu setzen, um runterzukommen, meinen Gedanken nachzuhängen und Tagebuch zu schreiben. Für mich war das Quality Time. Ich mache und mag das bis heute, und genau das ist wohl das Gefährliche daran, weil mich Alkohol in Phasen innerer Anspannung eher aufputscht, anstatt mich zu beruhigen. Das habe ich durchaus schon herausgefunden. Ich muss dann also mehr Wein trinken, um den gewünschten Effekt zu erlangen. Glücklicherweise hat mein Körper eine natürliche Grenze, was die Menge von Alkohol betrifft. Und ich bin mehr als froh, dass ich diese heute nur noch selten ausreize.

Kritisch wird es, wenn das Schreiben dazukommt. Ich selbst halte mich für begrenzt talentiert, wenn es um die »schönen Künste« geht. Im Malen, Fotografieren, Tanzen und anderen Möglichkeiten, die eigenen Gefühle auszudrücken, war ich noch nie eine Leuchte. Vielleicht besteht mein einziges Talent darin, mich mit Worten auszudrücken. Und um diese Quelle der Kreativität noch ein wenig mehr anzuzapfen, ist Wein ein probates Mittel. Das ist nicht wirklich eine neue Erkenntnis. Mir ist aber ernsthaft erst in der Mitte meines Lebens aufgefallen, dass Betäuben etwas mit Trauma zu tun hat.

In meiner Zeit in der Gastronomie hatte ich immer Angst davor, so zu enden wie einige meiner ehemaligen Kollegen und/oder Chefs: als sogenannte Berufsalkoholiker. Ich kann von Glück sagen, dass sich mein Bedürfnis nach Rausch nicht auf andere Hilfsmittel übertragen hat, ich habe zum Beispiel immer die Finger vom Koks gelassen, obwohl ich sieben Jahre direkt an der Quelle gearbeitet habe, die Bar zählte zu einem der größten Kokainumschlagplätze der Stadt.

Meine wahre Droge zeigte sich allerdings an einer Stelle, an der ich sie nie vermutet hätte: Ich wurde zum Workaholic. Süchtig nach Anerkennung von außen. Darauf, dass diese Sucht auf einem Trauma basiert, hätte ich mal früher kommen können. – Hätte, hätte, Fahrradkette.

Durch meine Ausbildung in Methoden, die hilfreich sind, um die menschliche Seele zu unterstützen, ist mir klar geworden, dass es keinen Unterschied macht, um welche Form von Trauma es sich handelt bzw. was die Auslöser sind. Jedes Trauma hinterlässt eine Wunde. Als ich mit der Recherche für dieses Buch angefangen habe, habe ich zum ersten Mal gelesen, dass das Wort Trauma aus dem Griechischen stammt und »Wunde« bedeutet. Es beschreibt eine psychische Verletzung und kann sich entweder auf das auslösende Ereignis selbst oder auch auf die Symptome des inneren Leidens beziehen.

Bei Traumata gibt es keine leichteren oder schwereren, keine größeren oder kleineren, es sind einfach Erfahrungen, die irgendwann einmal fiese innere Schmerzen verursacht haben. Man kann das Trauma nicht sehen und in den meisten Fällen auch nicht fühlen, weil es ins Unterbewusstsein gewandert und somit aus der Erinnerung verbannt worden ist. Es tut nur dann weh, wenn es getriggert wird. Wenn der Schorf, der über die Wunde gewachsen ist, wieder aufreißt. Wenn die Monster wach werden.

Mulmige Gefühle

Es müssen gar nicht immer Monster wach werden, manchmal reicht schon das Gefühl, dass man eine ziemlich große Macke hat. Und dass man mit dieser Macke ziemlich alleine dasteht. Geht dir das auch manchmal so? Dass du denkst, dass nur du diese Macke hast? Willkommen im Club. Ich weiß gar nicht, ob die Nachwirkungen meiner traumatischen Schulerfahrungen überhaupt als Macke durchgehen, nennen wir es eher ein Gefühl, das auf Angst basiert. Was mich seit der Grundschule begleitet, ist die Angst davor, von anderen ausgelacht zu werden, spöttische Bemerkungen aushalten zu müssen, abgewertet zu werden. Am schlimmsten allerdings empfinde ich das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Nicht dazuzugehören.

Ich konnte dieses Gefühl lange Zeit gar nicht so genau benennen. Klingt vielleicht komisch, ist aber so. Das mag daran liegen, dass Gefühle gefühlt werden und dass es nicht immer einfach ist, sie in Worte zu fassen. Was würdest du sagen, wenn du gefragt wirst, wie sich Liebe anfühlt? Eben.

Durch den offenen Umgang mit meinem Schultrauma und der Re-Traumatisierung habe ich ziemlich schnell mitbekommen, dass sich bei vielen Menschen mulmige Gefühle einstellen, wenn sie an ihre Schulzeit zurückdenken. Manchmal reicht es schon, zum Elternabend gehen zu müssen oder einfach nur an der alten Schule vorbeizufahren, damit diese unguten Gefühle ausgelöst werden: Eine Beklemmung schleicht sich durch den Körper, der Hals wird eng, das Herz fängt an zu rasen, die Hände werden feucht …

Je mehr ich über das Thema gesprochen habe, desto größer war die Resonanz. Es spricht zwar niemand gern öffentlich über alte Wunden, und doch waren die Menschen, mit denen ich mich für dieses Buch ausgetauscht habe, am Ende happy, weil das Gespenst endlich mal benannt worden ist, weil sie ihre Erfahrungen reflektieren und teilen konnten und weil sie dadurch das Gefühl bekommen haben, mit ihrer Macke nicht allein zu sein: Ich bin nicht gestört, ich habe nur ein Schultrauma.