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Schlagartig ist sie wach. Ihr Herz rast und ihre aufgerissenen Augen starren in die Dunkelheit des Zimmers. »Ist da jemand?«, fragt Felicitas leise und versucht das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. Doch niemand antwortet. Sie führt ein scheinbar perfektes Leben - bis zu dem Tag, an dem ihre unglaublichen Träume beginnen. Kann sie mit deren Hilfe den Mord an ihren Eltern aufklären? Wer ist der rätselhafte Fremde? Entschlossen, diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen, reist die junge Frau mit ihrer Familie in den Norden. Realität und Fiktion verschmelzen, werden eins und reißen Felicitas mit sich in eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Autorin: Christina StögerOriginalausgabe Juni 2017 unter dem Titel: Meer der Träume Neuauflage April 2024
Cover-Motive: Pixabay Cover-Designer: Michael Frädrich © Edition Paashaas Verlag, www.verlag-epv.de Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-146-5
Die Handlung der Geschichte ist frei erfunden.
Sollte ein Ereignis oder ein Name im Buch erscheinen,
welches bzw. welche auf jemanden zutrifft, ist das ungewollter Zufall.
Die Haftung jeglicher Art wird abgelehnt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Lass es geschehen
Romantischer Spannungsroman
Von Christina Stöger
Ich stehe am Rande einer Lichtung. Hier war ich schon oft und kenne jeden Baum, jeden Stein und sogar jeden Grashalm. Seit ungefähr fünf Jahren – nein, seit genau fünf Jahren sehe ich jeden Abend, wenn ich im Bett die Augen schließe, genau diese Szene. Egal, was ich versuche, immer erscheinen mir diese Bilder vor Augen. Auch heute Nacht befinde ich mich auf dieser grünen Wiese. Gelbe Löwenzahnköpfchen recken sich der hoch stehenden Sonnen entgegen und scheinen mich, wie immer, zu begrüßen. Ich gehe ein paar Schritte, lege mich mitten auf die Wiese und schaue in den Himmel. Erneut ist dieser wieder strahlend blau. Ich habe schon versucht, mir den Himmel mit dunklen Regenwolken vorzustellen, doch das ist mir nie gelungen. Er bleibt blau. Keine Wolke ist zu sehen. Mittlerweile habe ich es aufgegeben. Ich weiß genau, dass ich binnen kürzester Zeit einschlafe, wenn ich auf dieser Wiese liege – auf der Schwelle zwischen Realität und Traum. Doch irgendetwas ist heute anders. Ich spüre es ganz genau. Ich erhebe mich wieder von der Wiese und laufe langsam Richtung Waldrand. Hinein in den Wald. Hier war ich noch nie. Schon oft habe ich es versucht, doch mein Traum hat es mir nie gestattet. Entweder war die Szene einfach zu Ende, wie auf einem Gemälde, bei dem man auch nicht hinter den Rahmen blicken kann oder ich blieb auf der Stelle stehen und konnte mich nicht weiter bewegen. Doch heute, in der Nacht zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag, ist es, als ob eine Kraft die Mauern sprengt, den Rahmen erweitert. Natürlich bin ich neugierig und setze einen Fuß vor den anderen, um hinter das Geheimnis des Waldes zu gelangen. Angst habe ich keine, denn ich weiß genau, dass ich nur träume.
Schritt für Schritt schreite ich über den Rasen und das Gras kitzelt an meinen Fußsohlen. Es ist ein herrliches Gefühl. Hier fühle ich mich frei und schwerelos. Ich liebe diesen Platz, der nur mir alleine gehört. Niemandem habe ich davon berichtet. Wem auch? Es hätte mich ohnehin keiner verstanden, da bin ich mir ganz sicher. Raum und Zeit spielen in dieser Welt keine Rolle. Manches, was mir zum Greifen nah erscheint, verschwindet ganz plötzlich, wenn ich versuche, es zu berühren. Daher ist es auch kein Wunder, dass ich, ohne es zu merken, auf eine Baumwurzel trete. Ein kleiner Schmerz durchzuckt mein Bein und ich blicke zu Boden. So etwas ist mir hier noch nie passiert. Doch heute scheint ohnehin alles anders zu sein. Ich greife an meinen Fuß und betrachte die kleine, blutende Wunde, die mir der Baum zugefügt hat.
»He, pass doch auf, wo du hintrittst«, ertönt plötzlich eine Stimme …
… und schlagartig ist sie wach. Ihr Herz rast und ihre aufgerissenen Augen starren in die Dunkelheit des Zimmers.
»Ist da jemand?«, fragt Felicitas leise und versucht das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. Doch niemand antwortet. Nur das leise, sonore Schnarchen ihres Mannes Jörg beweist, dass sie sich wirklich im heimischen Schlafzimmer befindet. Klar, wo sollte sie auch sonst sein? Noch einmal lauscht sie in die Finsternis, doch noch immer hört sie keine verdächtigen Geräusche.
Vorsichtig, um Jörg nicht zu wecken, steht Fee auf und schleicht leise aus dem Raum. Ihr Herz rast noch immer so sehr, dass sie keine Möglichkeit sieht, sich wieder hinzulegen und weiterzuschlafen. Auf Zehenspitzen tappst sie durch den Gang, um in der Küche zur Beruhigung ein Glas Wasser zu trinken. Auf dem Weg dorthin kommt sie am Kinderzimmer ihres Jüngsten vorbei.
Jason hat die Tür immer einen Spalt angelehnt, sodass sie ihn im Schein des Vollmondes in seinem Bettchen liegen sieht. Friedlich hält er seinen kleinen Löwen in den Armen und atmet tief und gleichmäßig. Ein Lächeln huscht über Fees Gesicht und sie schleicht vorsichtig weiter. Sie ist so stolz auf ihren kleinen Sohn und liebt ihn über alles. Er ist ihr Sonnenschein. Auch wenn der Himmel voller Regenwolken hängt, bringt er sie zum Lachen, fordert sie zum Spielen auf und kuschelt mit ihr auf dem Sofa. Jörg hat schon lange aufgegeben, ihr die Nähe zu schenken, die sie so dringend braucht.
Gegenüber von Jasons Kinderzimmer befindet sich noch eine Tür, auf der ein großes, gut lesbares Pappschild >Draußen bleiben!< befielt. Tagsüber hält sie sich meistens an das Gebot, doch heute Nacht öffnet sie auch diese einen Spalt breit. Sie kann in dem dunklen, wirklich unaufgeräumten Zimmer das Bett erkennen, in dem ihre Tochter Lucia schläft. Die schwarze Decke ist von ihrem Körper gerutscht und liegt nun halb auf dem Boden. Wie gerne würde sie ihre Tochter wieder zudecken, doch Fee traut sich nicht, den Raum zu betreten. Überall auf dem Boden verstreut liegen Kleidungsstücke, Schulsachen und auch das ein oder andere Utensil aus der Küche. Nur Lucia kennt den gefahrlosen Weg durch das Schlachtfeld. Genau in diesem Moment dreht sich die Fünfzehnjährige in ihrem Bett und zieht automatisch die Decke wieder über ihren Leib. Fee schmunzelt und schließt die Tür, um ihre Tochter nicht doch noch zu wecken. Morgen ist zwar Samstag, aber die Kinder brauchen ihren Schlaf. Ganz wie sie selbst. Fee seufzt leise. In der Küche angekommen nimmt sie ein Glas aus dem Schrank und befüllt es mit kaltem Leitungswasser. Dann trinkt sie langsam einige Schlucke, bevor sie sich auf einen der sechs hölzernen, blauen Stühle am Küchentisch niederlässt.
Was war das nur gewesen, in ihrem Traum? Woher kam die Stimme, die ihr so nah war, dass sie dachte, die Person sei im Raum? Noch immer schmerzt ihr Fuß leicht, doch die Wunde, die anfänglich rot gewesen war, stellt sich nun als kleine Schramme heraus. Hat sie sich irgendwo am Bett verletzt und ist daher aufgewacht? Fee dreht den Kopf zur Seite, blickt aus dem großen Panoramafenster und kann den großen, hellen Vollmond erkennen, der den Garten in ein fast mystisches Licht taucht. Morgen hat sie Geburtstag. In weniger als einer halben Stunde. Die Ziffern der digitalen Uhr an der Mikrowelle, die gegenüber auf der Küchenplatte steht, strahlen ihr rot und eindringlich entgegen. Bald ist sie fünfunddreißig … sie sagt die Zahl ganz langsam und leise vor sich hin … »Fünf-und-dreißig« … und seufzt tief. Noch ein Schluck aus dem Glas. Ja, sie wird alt. Zumindest fühlt es sich so an. Dabei ist fünfunddreißig doch wahrlich kein Alter, oder? So ungefähr die Hälfte ihres Lebens – der Wahrscheinlichkeit nach. Doch wer weiß schon, was das Leben noch bringt, und ob sie überhaupt so ein hohes Alter erreichen wird. Vielleicht wird sie auch nur so alt wie ihre Mutter und ihr Vater geworden sind, bevor … Tränen schießen ihr in die Augen und Fee denkt an ihre Eltern, die sie bereits vor einigen Jahren verloren hat. Beide standen kurz vor der Rente, wollten ihren Lebensabend gemeinsam in Ruhe und Zweisamkeit genießen, bevor sie bei diesem grausamen Banküberfall erschossen wurden – mitten aus dem Leben gerissen. Ihr Vater war jahrelang der Inhaber einer Privatbank gewesen und seine Frau hatte hinter dem Tresen die Kunden bedient. Mutter liebte den Umgang mit Menschen und den täglichen Kontakt zu ihnen. Sie war eine liebevolle und doch sehr selbstbewusste Dame gewesen, die gewusst hatte, wie man sich in den elitären Kreisen der Stadt zu bewegen hat. Die Privatiers waren gerne zu ihr gekommen und hatten sich auf ihre Kompetenz und Verschwiegenheit verlassen. Niemals hatte man ein schlechtes Wort über die Eheleute gehört und auch Fee, als einzige Tochter, war überall als höflich und wohlerzogen bekannt.
An diesem ersten Tag im August hatten die Engels eigentlich in den wohlverdienten Urlaub aufbrechen und den Abend in ihrem Ferienhäuschen verbringen wollten. Doch alles war anders gekommen. Fees Vater war noch einmal in die Bank gefahren, um … Und dann waren da die maskierten Männer, die …
Fee bricht ab und schüttelt den Kopf, um die Gedanken und Gefühle, die sie zu überwältigen drohen, abzuschütteln. Sie will jetzt nicht darüber nachdenken. Sie massiert sich mit einer Hand ihren Nacken und wischt sich die Tränen, die sich unweigerlich einen Weg über die Wangen bahnen, mit dem Handrücken der anderen beiseite. Nein! Sie will das Leben feiern, will ihren Geburtstag genießen und fröhlich sein. Ihre Eltern werden in Gedanken immer bei ihr sein, sie beschützen und sie wird sie nie vergessen. Doch jetzt will sie in die Zukunft blicken und … ja, sie wird auf sich selber anstoßen. Nur noch fünf Minuten.
Fee erhebt sich vom Stuhl, öffnet den großen, amerikanischen Kühlschrank, den Jörg unbedingt haben wollte, und entnimmt ihm eine kleine Flasche Prosecco, den sie sich heute Mittag extra noch besorgt hat. Sie trinkt nur wenig Alkohol. Zu besonderen Gelegenheiten. Und heute ist so eine Gelegenheit. Sie wird auf den Moment ihrer Geburt anstoßen. Genau um Mitternacht hat sie das Licht der Welt erblickt, an diesem einundzwanzigsten Juli, vor so vielen Jahren.
Fee tauscht das schnöde Wasserglas gegen ein stilvolles Sektglas, geht in den Flur und schnappt sich ihre dünne Fleecejacke. Der Wind hat aufgefrischt und die regnerischen Wolken des Tages vertrieben. Dann schlüpft sie in ihre Hausschuhe, geht durch das Wohnzimmer und öffnet lautlos die gläserne Schiebetür zum Garten ein Stück. Gerade, als sie sich durch den Spalt hinaus zwängen will, steht Jason hinter ihr und Fee zuckt bei seinen Worten zusammen.
»Mama, was machst du da?« Er hat seinen gehäkelten Lieblingslöwen, den er vor einiger Zeit geschenkt bekommen hat, eng an sich gepresst und zwei kleine, verschlafene Kinderaugen blicken Fee fragend an.
»Jason, mein Liebling. Geh wieder ins Bett. Mama will nur kurz frische Luft schnappen.« Sie dreht sich zu ihrem Jüngsten herum, streichelt ihm liebevoll über die kurzen Haare und will ihn mit einem Kuss auf den Scheitel zurück ins Bett schicken. Doch Jason denkt nicht daran, seiner Mutter zu gehorchen.
»Ich will auch Luft schnappen«, hört sie ihn sagen und muss lächeln. So stur wie sein Opa. Fee weiß genau, dass sie Jason nun nicht mehr ohne weiteres vom Gegenteil überzeugen kann und macht ihm einen Vorschlag.
»Also gut«, seufzt sie ergeben, »dann lauf schnell in dein Zimmer, zieh dir Schuhe an und komm wieder. Dann kannst du mit mir zusammen schnappen, okay?« Jason strahlt über das ganze Gesicht, nickt eifrig und rennt los. Er ist so ein kluger Junge, denkt Fee und ist in diesem Moment besonders stolz, dass er schon so selbstständig ist.
Fee schaut auf die kleine, silberne Uhr an ihrem Handgelenk und erkennt, dass sie nur noch wenige Sekunden Zeit hat. Sie schiebt die gläserne Tür zum Garten komplett beiseite, tritt auf die geflieste Veranda und atmet einige Mal tief durch, bevor sie den Schraubverschluss der Flasche öffnet. Die sommerliche Luft riecht nach Lindenblüten, feuchtem Gras und Gartenerde. Noch vor wenigen Stunden hat es geregnet, nach einem sehr warmen Sommertag. Sie liebt diese Jahreszeit, in der man barfuß durch das Gras laufen kann. Das kitzelt so wundervoll zwischen den Zehen. Fast so schön wie der Sand am Strand, den sie als Kind so gerne besucht hat. Erneut schwenken ihre Gedanken zu ihren Eltern, die sie jetzt so gerne bei sich hätte. Doch das geht eben nicht. Oder doch? Vielleicht sitzen sie irgendwo auf einer der Wolken, die sich sanft am Vollmond vorbei schieben und blicken zu ihr hinunter. Bei dem kindlichen Gedanken muss Fee lächeln. Dann schenkt sie sich ein Glas Sekt ein und zündet eine Zigarette an. Genüsslich bläst sie den blauen Dampf in den nächtlichen Himmel und hört irgendwo in der Nähe eine Kirchturmuhr schlagen. Zehn, elf, zwölf, zählt sie gedanklich mit und erhebt dann ihr Glas.
»Auf dich, Felicitas. Auf dein Wohl. Und darauf, dass das nächste Jahr ganz wundervoll wird und deine Träume in Erfüllung gehen!« Sie prostet dem Mond zu, der über der großen, dunkeln Tanne steht und trinkt einen Schluck. Das alkoholische Gebräu prickelt auf der Zunge, bevor sie es hinunterschluckt und Fee glaubt in diesem Moment ganz fest an das große Abenteuer, das irgendwo in den weiten der Welt auf sie wartet.
»Alles Liebe, zum Geburtstag, alles Liebe für dich«, hört sie in diesem Moment eine leise, männliche Stimme und Jörg umarmt sie zärtlich von hinten. Nach einem kurzen Augenblick der Intimität dreht sich Fee herum. Er steht in einem dünnen Shirt und einer Boxershorts hinter ihr. Nur an den Füssen trägt er, in Ermangelung von Hausschuhen, seine Straßenschuhe. Nie wollte er filzige Pantoffeln haben. Das sei zu unmännlich, waren seine Worte, sobald Fee auf das Thema zu sprechen kam. Mittlerweile hat sie es aufgegeben und übersieht die schmutzigen Treter, die braune Streifen auf dem Küchen-fußboden hinterlassen. Auch Jason hat sich mittlerweile zu ihnen auf den Balkon gesellt und hüpft auf und ab.
»Alles Gute für dich«, singt er munter, ähnlich schräg wie sein Vater, und Fee hat Tränen der Rührung in den Augen. Vergessen sind die dreckigen Fußspuren, die sie nachher wieder beseitigen muss, der komische Traum, dem sie die Schramme am Zeh zu verdanken hat und die traurigen Gedanken an ihre Eltern. Was hat sie nur für ein Glück, so eine tolle Familie um sich zu haben. Sie nimmt Jason in seinem Schlafanzug auf den Arm und drückt ihn fest an sich.
»Danke, mein Großer«, flüstert sie zärtlich und küsst ihn auf die Stirn. »Nun aber ab ins Bett mit dir. Du musst doch ausgeruht sein für morgen.« Dann setzt sie ihn wieder auf den Boden und trinkt ihr Glas mit einem Schluck aus. Die Zigarette, die sie bereits nach wenigen Zügen im Blumenkübel ausgedrückt hat, wird sie später im Müll entsorgen. Jörg konnte es noch nie leiden, wenn sie so spät noch raucht. Aber heute kann sie machen, was sie will. Heute ist ihr Tag. Ihr Geburtstag.
Wieder stehe ich auf der Wiese. Es hat sich nichts verändert. Ich versuche die Schwelle zwischen Realität und Traum zu überwinden und nicht erst lange auf dieser Grünfläche zu verweilen. Doch mein Unterbewusstsein, oder was auch immer mich hierhergeführt hat, sieht das anders. Ich weiß genau, dass ich in meinem warmen Bett liege, spüre die weiche Decke über meinem Körper, das kühle Laken unter mir … und das grüne, saftige Gras an meinen Füßen. Meine Gedanken befinden sich auf der Lichtung und ich schlendere erneut auf den Waldrand zu. Doch dieses Mal passe ich besonders auf, wohin ich trete. Keine Blume soll unter meinen Füßen knicken, keiner Wurzel will ich Schmerzen zufügen. Doch irgendetwas zieht mich immer weiter zu den großen, mächtigen Bäumen und ich folge meinem inneren Kompass. Ich kann mich ohnehin nicht wehren. Leise höre ich Vogelstimmen über mir und das Rauschen eines Wasserfalls dringt an mein Ohr. Ein Wasserfall? Ich beschleunige meine Schritte, denn ich will sehen, wo dieses Geräusch herkommt. Schritt für Schritt steige ich über Wurzeln, stütze mich an der rauen Rinde der Bäume ab und stehe wenig später vor einem wundervollen, blauen See, in den ein Wasserfall mündet. Der Anblick ist so überwältigend, dass mein Herz zu klopfen beginnt. Noch immer bin ich nicht ganz im Reich der Träume angekommen und kann bewusst auf diesen See zugehen. Das dunkle Wasser glitzert in der Sonne und die Tropfen, die durch den Aufprall in die Luft geschleudert werden, bilden zusammen mit dem Licht einen Regenbogen. So ein wundervoller Ort. Warum war ich nur nicht früher hier? Ich lasse die Bäume hinter mir und setze mich auf einen großen, flachen Stein am Rande des Sees. Der Fall des Wassers ist nicht sehr tief, doch das Rauschen wirkt beruhigend auf mich. Ich starre wie verzaubert in das Glitzern auf der Oberfläche und merke, wie meine Augenlider schwer werden. Oh bitte, jetzt nicht einschlafen. Es ist doch so wunderschön und ich darf nicht in das Wasser fallen.
»Sicher darfst du ins Wasser fallen. Du musst sogar eintauchen, um endlich deiner Bestimmung zu folgen. Hat ja auch lange genug gedauert, bis du den Weg hierher gefunden hast«. Eine sanfte Stimme reißt mich aus meinen einschläfernden Gedanken und ich schrecke auf. Doch ich werde nicht wach, befinde mich noch immer an diesem See und zeitgleich in meinem Bett. Der Traum lässt mich nicht los. »Du bleibst schön da. Schließlich willst du doch wissen, was hier passiert, oder? So wie ich dich kenne, bist du ziemlich neugierig.« Die Stimme lacht leise und mein Herzrasen nimmt ein wenig ab.
»Du kennst mich?«, antworte ich der Stimme, in keiner Weise überrascht, denn schließlich ist alles nur ein Traum. Mein Traum. Es ist wie es ist. Und die Stimme hat recht. Ich bin wirklich neugierig.
»Oh ja. Natürlich kenne ich dich. Aber alles der Reihe nach. Erstmal wünsche ich dir alles Gute zum Tag deiner Geburt und heiße dich willkommen.«
»Danke«, nuschle ich, bevor ich meine Stimme erhebe und ihr einen starken, selbstbewussten Klang verleihe. Ich versuche es zumindest. Irgendwie ist mir das Ganze nicht wirklich geheuer. »Was bedeutet denn HIER? Wo bin ich denn und wer bist du?« Ich breche ab, drehe mich in alle Richtungen und blicke mich suchend nach dem Besitzer der Stimme um. Doch sie scheint von überall zu kommen. Wieder dieses Lachen.
»Lachst du mich aus?«, frage ich angespannt und will schon wütend aufspringen, doch die Stimme antwortet beschwichtigend: »Nein, wie könnte ich dich auslachen? Ich bin nur so froh, dass du endlich hier bist und deiner Bestimmung folgen kannst. Und bevor du mich wieder löcherst – warte ab. Lass es geschehen, dann wirst du sehen … dann wirst du sehen …« Die Stimme verfällt in einen melodischen Singsang, dem ich mich automatisch hingebe. Er hüllt mich ein und trägt mich davon.
Fee erwacht am nächsten Morgen aus einem tiefen, erholsamen Schlaf. An einen eventuellen Traum kann sie sich nicht erinnern. Konnte sie noch nie. Träume gehören nicht in ihre Welt. »Träume sind Schäume«, hat ihre Mutter immer wieder gesagt, als sie als Kind von den Situationen berichtete, die sie in ihren Träumen erlebt hat. Doch diese wollte davon nie etwas hören und hat sie nur mit einer herrischen Geste beiseite gefegt. Daher hat sie schon als Kind begonnen, keine Träume mehr bewusst zu erleben. Am Anfang war es ihr sehr schwer gefallen, doch mit der Zeit hat sie gelernt, die Träume, die sie hatte, vor dem Erwachen zu vergessen. Auch nach dem Tod ihrer Eltern hat sie nie geträumt. Fee war ein realistischer Mensch, keine Traumtänzerin bis, ja, bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag. Da fingen die Träume an, sie einzuholen. Ganz langsam erst und dann immer intensiver. Jedes Mal beginnt seitdem ihr Traum mit dieser Wiese, doch was danach geschieht, daran kann sie sich bis heute nicht erinnern.
Die morgendlichen Sonnenstrahlen bahnen sich frech einen Weg durch die Jalousien und kitzeln Fee in der Nase. Sie muss niesen und ist schlagartig hellwach. Dennoch hält sie ihre Augenlider geschlossen und spürt bewusst den tiefen und kräftigen Herzschlag in ihrer Brust.
Nun bin ich fünfunddreißig, seufzt Fee innerlich und streckt ihre Glieder aus. Sie will noch nicht aufstehen, will den Moment der Ruhe genießen und schickt ihre Gedanken ein paar Stunden in die Vergangenheit zurück. Nur dunkel kann sie sich an die gestrige Nacht erinnern. Nachdem sie Jason wieder ins Bett gebracht und ihn zugedeckt hat, ist auch sie wieder zu ihrem Mann ins Bett gekrabbelt. Der ungewohnte Alkohol in ihren Adern hat ihr die nötige Bettschwere verliehen und sie hat es sich unter der Decke bequem gemacht. Dann war da, vor ihren inneren Augen, wieder die grüne, traumhafte Wiese gewesen. Doch da war noch mehr. Dieses Mal waren in ihrem Geist ein wundervoller See, ein bezaubernder Wasserfall und diese Stimme. »Lass es geschehen, dann wirst du sehen«, hat sie gesungen und dann war Fee eingeschlafen.
Was soll das bedeuten? Warum nur kann sie sich nicht an ihren Traum erinnern? Warum nur hat sie verlernt bewusst zu träumen? Was wird sie sehen? Wann denn endlich? Verdammt. Geduld war noch nie ihre Stärke. Sie will es wissen. Jetzt und sofort.
Fee öffnet wütend über sich selbst die Augen, schlägt die leichte Federdecke schwungvoll zur Seite und steht auf. Aua. Die Schramme an ihrem Fuß, die sie sich – ja, wann eigentlich? – zugezogen hat, brennt wie Feuer. Genervt schlüpft sie in ihre Hausschuhe und schlurft Richtung Badezimmer. Dieser Geburtstag fängt schon super an. Nie mehr wird sie so spät noch Alkohol trinken, das schwört sie sich.
Ein müdes Gesicht schaut ihr aus dem Badezimmerspiegel entgegen. Sie bindet sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz und schaut sich die Haut etwas genauer an. Sind da Falten? Um die Augen? Ja, ganz bestimmt. Sie zieht die Haut straff und lässt sie wieder los. Ja, eindeutig Falten um die Augen. »Ich werde doch alt«, sagt sie zu ihrem Spiegelbild und streckt ihm die Zunge heraus. Dann dreht sie den Wasserhahn auf, benetzt die Hände mit Waschlotion und beginnt damit ihr Gesicht einzureiben.
»Lass es geschehen, dann wirst du sehen.« Schon wieder dieser Singsang in ihren Ohren. Was ist das nur? Sie schläft doch gar nicht. Fee hält ihr Gesicht unter den fließenden, lauwarmen Wasserstahl und schrubbt die Geschehnisse der letzten Nacht von ihrer Haut. »Verschwinde!«, sagt sie laut, dreht den Wasserhahn zu und trocknet sich ab. Das Singen verstummt.
»Ich?«, hört sie Jörgs Stimme hinter sich und erschrickt.
»Nein, du doch nicht. Guten Morgen, mein Schatz. Na, gut geschlafen? Du hast heute Nacht wieder den halben Wald abgesägt«, versucht sie mit einem Scherz die Situation zu entspannen. Jörg soll ihre Gedanken nicht erfahren. Er weiß nichts über die Lichtung, die Wiese, den See. Und das soll auch so bleiben. Er würde sie nur für verrückt erklären. Er ist noch viel rationaler eingestellt als Fee. Nach dem Tod ihrer Eltern hat er die Geschäftsführung der Bank übernommen und sich seit diesem Tag sehr verändert. Ständig ist er gestresst, hat keine Nerven mehr für ihre kleine Familie und verbringt die meiste Zeit auf Geschäftsreisen. Früher hat sie auch in der Bank ihres Vaters gearbeitet, ihre Lehre dort abgeschlossen und wenig später Jörg geheiratet. Doch nach dem Überfall hat sie sich komplett aus der Bank zurückgezogen. Der offizielle Grund war Jason gewesen, der genau zu diesem Zeitpunkt das Licht der Welt erblickt hat. Mutterschaftsurlaub. Doch die Wahrheit war, dass sie es in diesen Räumen, in denen ihre Eltern ihr Leben lassen mussten, nicht mehr ausgehalten hatte. Keinen Fuß wollte sie mehr in das Gebäude setzen. So kümmert sie sich seit fünf Jahren um die Kinder, Haus und Garten. Eigentlich das perfekte Leben, würde nicht die Zweisamkeit darunter leiden.
»Was machen wir heute?«, fragt Fee gespannt und dreht sich in freudiger Erwartung zu ihrem Mann herum, der in diesem Moment hinter dem Duschvorhang verschwindet.
»Lass mich erst mal wach werden, okay? Ich komme dann rüber«, nuschelt er genervt und dreht den Wasserhahn auf. Damit ist die Diskussion, die noch nicht einmal richtig begonnen hat, auch schon wieder beendet. »Lass es geschehen, dann wirst du es sehen«, dröhnt es erneut in ihrem Kopf und Fee verlässt fluchtartig das Badezimmer. Vielleicht sollte sie einen Termin bei ihrer Ärztin machen und sich gründlich untersuchen lassen. Diese Stimme kann doch nicht normal sein. Wird sie langsam verrückt? Oder liegt das am Alter? Grübelnd geht sie zurück ins Schlafzimmer, tauscht ihr leichtes Nachthemd gegen einen pinkfarbenen Jogginganzug und geht dann in die Küche, um das Frühstück für die Kinder herzurichten.
»Schläft Lucia noch, Jason?«, fragt Fee ihren Jüngsten, der auf dem Küchenboden sitzt und mit seinen bunten Bauklötzen spielt. Überall in der Wohnung sind die bunten Tretminen verstreut und Fee hat es längst aufgegeben, sie in Kisten zu sortieren. Jason hat einfach viel zu viele davon. Als das Kind, das so sehr in sein Spiel vertieft ist, ihr keine Antwort gibt, zieht Fee ihre eigenen Schlüsse. Wütend und traurig öffnet sie den Kühlschrank und überlegt kurz, ob sie Spiegeleier und Speck braten soll. Wenigstens heute hätte Lucia doch aufstehen und den Tisch decken können. Na ja, wohl zu viel verlangt von einer fast Sechzehnjährigen.
»Ja, tut sie. Soll ich sie holen? Darf ich?« Jason, der scheinbar keine Lust mehr auf das Spielzeug hat und zu dem die Frage seiner Mutter jetzt durchgedrungen ist, springt auf, hüpft von einem Bein aufs andere und schaut Fee flehend an. Er liebt es, seine Schwester wach zu kitzeln. Normalerweise darf er das nicht und bekommt auch sonst großen Ärger, doch heute ist eine Ausnahme.
»Ja. Lauf und hol sie. Aber sei vorsichtig, wenn sie ...«, ruft Fee hinterher, doch Jason ist bereits auf dem Weg in die jugendliche Hölle. Lucia liebt ihren Bruder wirklich über alles, doch ihr Schlaf ist ihr heilig. Verständlich, wenn man sich bis kurz vor oder manchmal auch nach Mitternacht im Internet herumtreibt und mit Freundinnen chattet. Fee hat schon lange aufgegeben das Verhalten ihrer Tochter zu tadeln. So stur wie Lucia sich ab und an verhält, endet jede diesbezügliche Diskussion in einem größeren Disput. Ganz normal bei Jugendlichen, hat sie mal irgendwo gelesen. Schon oft sind dabei die Fetzen, oder wahlweise auch Kleidungsstücke, Plüschtiere oder sogar Bücher, geflogen, Türen wurden geknallt und böse Worte, die jeder im Nachhinein bereute, sirrten wie giftige Pfeile durch die Luft. Dabei hasst Fee nichts mehr, als sich zu streiten, brüllen zu müssen und ihr Kind weinen zu sehen. Doch manchmal scheint es nicht anders zu funktionieren, auf dem Weg zum Erwachsenwerden.
Abwartend, ob Fee lautes Geschrei aus dem Zimmer ihrer Tochter hört, deckt sie den Frühstückstisch für die Familie Für einen Geburtstagskuchen, den sie sich so sehr gewünscht hätte, hat es ja scheinbar nicht gelangt, nimmt sie enttäuscht zur Kenntnis. Dabei waren Lucia, Jason und Jörg gestern den ganzen Tag alleine zu Hause und hätten gemeinsam einen backen können. Lucia kann gut backen, wenn sie will. Sie will aber meistens nur für ihre Freundinnen den Schneebesen schwingen. Ganze Torten, fein verzieht mit Fondant, Schokoladenguss oder winzigen Figürchen, hat sie schon mit in die Schule geschleppt, wenn eines der Mädchen Geburtstag hatte. Fee hat sich neulich von der Mutter einer Freundin erzählen lassen müssen, dass dieses Verhalten völlig normal sei. Freundinnen sind, mit knapp sechzehn, viel mehr wert, als die eigene Familie. Normal oder nicht, Fee schmerzt das trotzdem. Wenn eines ihrer Kinder Geburtstag hat, steht immer ein Kuchen bereit, der Tisch ist liebevoll gedeckt und die Geschenke sind hübsch verpackt.
Wo sie nur bleiben? Verwundert schaut sie zur Digitaluhr auf der Mikrowelle. Bereits eine viertel Stunde ist vergangen, seitdem Jason die Küche in Richtung Lucias Zimmer verlassen hat. Noch immer hört sie kein Geschrei. Das Haus ist so ruhig, als wären alle zurück ins Bett verschwunden. Vielleicht sollte sie das Radio einschalten und etwas Musik hören? Die Stille drückt ihr aufs Gemüt. Gerade, als sie beschließt aufzustehen, um nach den Dreien zu sehen, bemerkt sie die Bewegung der hölzernen Küchentür, die ganz langsam von außen aufgeschoben wird. Dann erscheint Jörg im Rahmen. Er balanciert vorsichtig einen selbstgebackenen Kuchen vor sich her, auf dem einige Kerzen brennen. Dahinter erkennt sie Jason, der laut und schief »Alles Gute zum Geburtstag« trällert und sogar Lucia schlurft, noch immer in ihr großes, schwarzes T-Shirt gehüllt und mit verquollenen Augen, hinterher. Wie eine kleine Karawane sehen sie aus. Als Fee dieses Schauspiel sieht, treten ihr Tränen der Rührung in die Augen und jeglicher Missmut ist verschwunden.
»Moin, Mamsch. Alles Gute«, schnorrt Lucia müde, als sie ihre Mutter erreicht, drückt ihr einen Kuss auf die Wange und legt ein hübsch verpacktes Päckchen vor ihr auf den Tisch. Dann lässt sie sich auf den Stuhl plumpsen, greift nach einer der befüllten Kaffeetassen und leert diese in einem Zug. Sofort schenkt sie sich nach, zieht die Beine auf die Sitzfläche, das Shirt darüber und legt ihre Hände um das Porzellan. Wann genau Lucia begonnen hat, schwarzen Kaffee auf nüchternen Magen zu trinken, weiß Fee nicht einmal. Doch dieser Gedanke entschlüpft ihr wieder, als Jason liebesbedürftig auf ihren Schoss klettert, seine kleinen, nackten Arme um ihren Hals schlingt und sie fest an sich drückt. Fee schnieft hörbar.
»Danke, danke«, presst sie leise heraus und ist nun doch überwältigt. Ihre Familie hat sie nicht vergessen!
Jörg hat den Schokoladenkuchen direkt vor seiner Frau abgestellt und sich danach mit an den Tisch gesetzt. Gedankenverloren und wie durch einen Tunnel betrachtet Fee die kleinen Flammen und genießt diesen winzigen Moment, der nur ihr gehört. Drei rote und fünf weiße Kerzen flackern lustig vor sich hin, während sie den unverkennbaren Duft ihres Jüngsten in sich aufsaugt. Ach, könnte er doch für immer ihr Baby bleiben und nie die pubertierenden Züge annehmen, die seine Schwester bereits an den Tag legt. Die Illusion hält allerdings nicht lange, denn schon nach wenigen Sekunden windet sich Jason aus der Umklammerung, rutscht von ihrem Schoss, umrundet den Tisch und stupst seine Schwester aufgeregt an. Diese blickt von ihrer Tasse auf, faltet sich auseinander, stellt ihre Füße zurück auf den Boden und zwinkert ihrem Bruder verschwörerisch zu. Scheinbar ist sie jetzt aufgewacht. Nach drei Tassen schwarzem Kaffee. »Du musst nun die Kerzen ausblasen und dir dabei etwas wünschen, Mamsch. Aber nichts verraten, okay?« Fee nickt, schließt die Augen und holt tief Luft. All ihre Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen sammeln sich in ihrer Lunge. Kurz hält sie den Atem an, um ihn dann, mit aller Kraft, auszustoßen. Acht Kerzen flackern, erlöschen und … entzünden sich, wie von Geisterhand, erneut. Als sie die Augen öffnet, mit dem festen Glauben die Kerzen ausgepustet zu haben, strahlen die Flammen noch immer, als ob nichts gewesen wäre. Lucia, die ihr gegenübersitzt, kann sich ein freches Grinsen nicht verkneifen.
»So schwach auf der Brust, dass du noch nicht einmal die paar Kerzen ausblasen kannst?«, feixt Lucia und Jason kichert hinter vorgehaltener Hand. Zum zweiten Mal holt Fee tief Luft, pustet und ... blickt verwundert auf die geringelten Kerzen, die lustig flackern, als wollten sie sie verhöhnen.
»Mama, das sind Wunderkerzen!«, schreit Jason, der die Spannung nicht mehr aushält. »Die kannst du gar nicht ausblasen.«
»Boah, Krümel«, seufzt Lucia. »Kannst du nicht einmal die Klappe halten? Musst du immer alles gleich herausplärren? Nun ist die Überraschung dahin.« Sie rempelt ihren Bruder in die Seite. Kurz bevor die Stimmung zu kippen droht, fängt Fee lauthals an zu lachen.
»Na, ihr seid mir ja eine Bande. Eure Mutter so zu ärgern. Da kann ich lange pusten! Vor Jahren hab ich mal davon gehört, aber es wundert mich, dass es diese Kerzen überhaupt noch gibt.«
»Ja, ich habe im Internet lange danach gesucht, glaub mir, Mamsch. Aber dein Gesichtsausdruck war es eindeutig wert.« Lucia schenkt sich eine weitere Tasse Kaffee ein, schüttet nun doch einen Schuss Milch hinzu und rührt um. Dann steht sie auf, fischt das Brot aus dem Toaster, stellt die Pfanne auf den Tisch und setzt sich wieder. Das Frühstück kann endlich beginnen.
»Öffne doch mal dein Geschenk«, fordert sie ihre Mutter auf und schaufelt dabei eine Portion Eier auf den Teller.
»Lass uns doch erst einmal frühstücken, bevor alles kalt wird.« Fee ergreift nun auch den Pfannenwender. »Und dann lass uns überlegen, was wir heute so machen wollen. Schließlich beginnen für dich heute die Ferien, Lucia.«
Die knapp Sechzehnjährige lächelt, sichtbar froh, dass die Tage in der Schule vorerst gezählt sind. Nächstes Jahr wird sie die Realschule abschließen und danach hoffentlich eine Ausbildung beginnen. Was genau es werden wird, steht noch in den Sternen. Zu weit gefächert ist ihr Interessengebiet. Vielleicht Verkäuferin? Oder Frisörin? Oder etwas ganz anderes? Doch so weit ist es noch lange nicht. Erst einmal sind die Ferien dran.
»Kann ich mal die Kanne haben?«, meldet sich nun auch Jörg zu Wort und Lucia reicht ihm den Kaffee. »Ich bin für die nächsten Wochen nicht da, das wisst ihr hoffentlich«, sagt er wie nebenbei und schenkt sich das schwarze Gebräu in seine große Porzellantasse.
»Ja, und genau darüber wollte ich mit dir reden, mein Lieber«, lächelt Fee zuckersüß. »Ich habe mir nämlich überlegt, dass wir mit dir fahren könnten. Jason kommt bald in die Schule und Lucia braucht unbedingt Nachhilfe in den Abschlussfächern. Allerdings ist sie hier zu sehr abgelenkt. Ich dachte mir, dass wir zusammen in den Norden fahren und im Ferienhaus meiner Eltern wohnen könnten. Das ist nicht zu weit von der Bank entfernt und wir wären endlich mal wieder zusammen, wenn schon der Urlaub ausfällt. Was sagst du dazu?« Eigentlich manifestierte sich dieser Gedanke heute Nacht ganz spontan, doch das will sie ihrem Mann nicht sagen. Nachgedacht hat sie über dieses Thema allerdings schon geraume Zeit, doch der endgültige Entschluss fiel, ja, wann eigentlich? Vermutlich heute Nacht in ihrem Traum. Jörg bleibt der Schluck Kaffee fast im Hals stecken und er hustet gequält. »Ihr? Wollt? Was?«, presst er unter Röcheln hervor und scheint nicht besonders begeistert von dem unerwarteten Vorschlag zu sein.
Doch Jason ist es.
»Oh ja, Papa. Das machen wir. Wir kommen mit dir mit«, schreit er jubelnd und klatscht in seine kleinen Hände. Glücklich, die Ferien mit seinem Papa verbringen zu dürfen, hüpft er munter in seinem Stühlchen auf und ab.
»Komm gleich wieder«, japst Jörg und quält sich von seinem Stuhl hoch. Irgendetwas scheint ihm in den falschen Hals geraten zu sein. Außer seinem Kaffee. Und auch Lucia sitzt leichenblass vor ihrem Toast, den sie erst halb gegessen hat.
»Aber Mamsch, das kannst du doch nicht machen? Ich hatte so viele Pläne für die Sommerferien. Stella und Emma bleiben auch hier und wir wollten so viel unternehmen«, stottert sie und Tränen schießen ihr in die Augen.
Fee schmerzt dieser Anblick zutiefst, denn sie weiß, dass Lucia, Stella und Emma unzertrennliche Freundinnen sind. Doch die Schule und der Abschluss gehen eindeutig vor.
»Aber Lucia, Schätzchen. Beruhige dich. Es sind doch nur ein paar Wochen. Nächstes Jahr kannst du …«, beginnt Fee diplomatisch, doch Lucia ist vollkommen taub für die Erklärungsversuche ihrer Mutter. Wütend springt sie auf, lässt alles stehen und liegen und stürmt aus der Küche. So hat sich Fee ihren Geburtstag wirklich nicht vorgestellt.
Nachdem die Hälfte der Familie die Flucht ergriffen hat, steht auch Fee vom Frühstückstisch auf und beginnt das Geschirr zusammenzuräumen. Jason krabbelt von seinem Stuhl und schmiegt sich an das Bein seiner Mutter.
»Ich bin froh, wenn wir in den Urlaub fahren«, sagt er und versucht mit aller Macht sie zu trösten.
»Weiß ich doch, mein Schatz und wir werden auch fahren. Wir müssen einfach mal raus, was anderes sehen. Vielleicht kann ich dann ...« Fee bricht den Gedanken ab. Wie sagt die Stimme, die wieder einmal in ihrem Kopf dröhnt: »Lass es geschehen, dann wirst du es sehen.« Und genau das hat sie vor. Doch nicht hier. Hier wird sie nichts Neues sehen. Doch im Ferienhaus ihrer Eltern, da könnte sie bestimmt zur Ruhe kommen, einmal abschalten und vor allem ihr Trauma überwinden. Wird auch langsam wirklich Zeit.
»Aber jetzt geh spielen, okay? Und pack deine Bauklötze weg. Nicht, dass sich noch einer daran verletzt. Ich muss hier auch noch alles aufräumen, bevor wir morgen mit Papa fahren können.«
»Wie genau hast du dir das denn vorgestellt?« Jason ist noch nicht ganz aus der Küche verschwunden, als Jörg mit rotem Kopf in der Tür steht, seine Hände in die Hüften gestemmt. »Ich brauche meine Ruhe, wenn ich arbeiten will. Du hast es gut, du musst nicht zehn Stunden am Tag in den miefigen Räumen der Bank verbringen. Du kannst ...«, beginnt er zu schimpfen. Doch Fee fällt ihm wutschnaubend ins Wort: »Was? Was kann ich? Den ganzen Tag hinter den Kindern herräumen? Mich um die Hausaufgaben von Lucia kümmern? Taxi spielen? Jason bespaßen? Essen kochen? Garten pflegen? Ja, das kann ich. Das will ich aber nicht mehr! Ganz davon abgesehen, dass wir schon seit Jahren keinen gemeinsamen Urlaub mehr hatten, weil der gnädige Herr immer zu beschäftigt ist. Und irgendwann gehe ich hier zu Grunde. Ich bin heute fünfunddreißig«, sie zieht das Wort in die Länge, »Jahre alt geworden und will endlich mal wieder einen Tapetenwechsel. Ich bin auch noch Frau, falls du das vergessen haben solltest. Nicht nur Mutter und Putze! Was ist so schlimm daran, wenn wir mit dir in unser Ferienhaus fahren? Da war ich seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr.« Fees Stimme bricht. Ein dicker Kloß schnürt ihr die Kehle zu. Die Erinnerungen an das kleine Ferienhaus drohen sie zu überwältigen. Es liegt direkt hinter dem Deich am Meer und sie war als Kind gerne dort. Auch als Lucia noch klein war, hatten sie viele schöne Stunden dort verbracht, bis, ja, bis dieser schreckliche Überfall alles verändert hat.
»Ja, mein Schatz. Weiß ich doch«, lenkt Jörg beschwichtigend ein. »Aber, du musst einsehen, dass ich keine Zeit für euch haben werde, wenn wir im Norden sind. Die Bank, unsere Bank, hat immense Probleme, die ich lösen muss. Das geht nicht so von heute auf morgen. Und außerdem reißt du Lucia aus ihrer gewohnten Umgebung. Meinst du, dass das so toll ist?«
Fees Tränen, die ihr noch eben in den Augen standen, versiegen. Die Trauer verkriecht sich wie ein geprügelter Hund in der hintersten Ecke ihres Bewusstseins und die Wut übernimmt ihren Platz. Was soll das Gerede? Jetzt schiebt er auch noch Lucia vor. Sie weiß genau, dass es ihrer Tochter nicht gefällt, wenn sie die Ferien nicht zu Hause verbringen und rumgammeln kann. Aber darauf kann und will sie keine Rücksicht nehmen. Schließlich macht sie das alles auch für ihre Große.
»Lass Lucia aus dem Spiel! Die Erziehung der Kinder liegt ohnehin immer bei mir. Du hast dich schließlich all die Jahre nicht darum gekümmert. Sie muss dringend mal hier raus. Der spezielle Englisch-Kurs, der glücklicherweise dort angeboten wird geht über vier Wochen und ist sehr notwendig für das Kind. Die Fünf in ihrem Zeugnis sagt doch alles. Aber davon weißt du mal wieder nichts. « Fee schnaubt verächtlich und Jörg schweigt beharrlich. Seine Lippen sind zu einem schmalen Strich geworden und seine Augen funkeln wütend. »Dir muss ich bestimmt nicht erklären, wie wichtig Englisch in der Berufswelt ist, oder?«, fährt sie fort. »Und außerdem dachte ich, du freust dich, wenn wir dich begleiten. Ich habe wirklich das Gefühl, dass du gar keine Lust mehr auf deine Familie hast. Oder sehe ich das falsch?« Wütend und mit in die Hüften gestemmten Fäusten starrt sie ihrem Mann in die Augen, der noch immer beharrlich schweigt. Sie ist nicht bereit, auch nur einen Millimeter von ihrer Entscheidung abzuweichen. Egal, ob es Jörg nun passt oder nicht. »Ich werde gleich noch einmal mit Lucia reden und dann anfangen, unsere Koffer zu packen. Morgen früh starten wir. Gleich nach dem Aufstehen«, schließt sie ihren Monolog, dreht sich auf dem Absatz herum und verlässt die Küche. Damit ist für sie die Diskussion beendet.
***
Der Samstag zieht sich schleppend dahin. Lucia sitzt am PC und heult sich bei ihren Freundinnen die Augen aus, dass sie die nächsten Wochen am Meer verbringen und lernen muss. Dabei hatten die Mädchen doch so viele schöne Dinge geplant. Sie wollten faulenzen, ins Kino oder an den See gehen und Party feiern. Doch daraus würde nun nichts werden.
»Sei nicht traurig«, versuchen sie Stella und Emma zu beruhigen. »Wir werden hier die Stellung halten und täglich miteinander telefonieren, okay? Und Internet gibt es doch auch noch. Wir werden dir Bilder vom See schicken und du uns welche vom Meer. Eigentlich bin ich eher neidisch auf dich«, schreibt Stella im Facebook Messenger. »Ach was! Was soll ich denn dort ohne euch? Das wird bestimmt total langweilig! Und die Jungs, die sich dort rumtreiben, kann ich doch ohnehin nicht mit nach Hause nehmen«, antwortet Lucia mit Tränen in den Augen. Wie kann ihre Mutter ihr das nur antun? Wie kann sie nur so grausam sein und ihr den Sommer verderben? War sie denn nie jung? Kann sie denn nicht verstehen, wie Lucia sich fühlt? Tiefe Verzweiflung nagt an der Seele der Fünfzehnjährigen, während sie stundenlang mit ihren Freundinnen hin und her schreibt, und einfach nicht zu beruhigen ist. Erst, als die beiden berichten, dass auch sie einige Tage im Schwarzwald mit ihren Eltern verbringen werden und sie sich sowieso nicht sehen würden, versiegen Lucias Tränen langsam und sie beginnt zu lächeln. »Aber wir bleiben in Kontakt, okay? Ich will schließlich wissen, was ihr so ohne mich treibt und wen ihr dort kennenlernt.«
Stella und Emma, die Zwillinge, versprechen es ihr hoch und heilig und Lucia fügt sich seufzend in ihr Schicksal. Sie hat ohnehin keine andere Wahl.
***
Nur Jason ist begeistert. Zwar weiß er nicht genau, was Urlaub bedeutet, denn es ist der erste in seinem Leben, doch auf die Zeit mit seiner Mutter, seinem Papa und seiner Schwester freut er sich sehr. Er war noch nie am Meer, hat noch nie eine fremde Stadt gesehen und ist besonders auf die Schiffe gespannt, die er dort beobachten kann. Nachdenklich sitzt der Junge auf der Kante seines Bettes inmitten von Stofftieren, Spielzeugautos und Malsachen und versucht seinen kleinen, blauen Kinderkoffer, den er zu Weihnachten geschenkt bekommen hat, selbstständig zu packen. Doch der ist eindeutig zu klein.
»Wie machen das nur die Erwachsenen?«, fragt er stirnrunzelnd seinen kleinen Löwen, den er als Ratgeber neben sich gesetzt hat, doch das Stofftier weiß auch keinen Rat und schweigt vehement. So räumt er den Koffer ein und wieder aus, grübelte angestrengt darüber nach, welche Stofftiere unbedingt mitmüssen und welche zuhause bleiben sollen. Löwi, ganz klar. Der muss mit. Ohne seinen besten Freund geht er nirgendwo hin! Und Löwi soll doch auch das Meer und die Schiffe sehen. Aber sonst? Keine leichte Aufgabe, doch er ist wild entschlossen, sie zu meistern. Kann ja nicht so schwer sein. Die Erwachsenen können das doch auch. Mama war schon oft im Urlaub, grübelt Jason. Früher mal, bevor er geboren wurde. Gerne erzählt sie ihm vor dem Einschlafen von ihren Reisen in fremde Länder. Später, wenn er groß ist, will er sie alle selber sehen, das weiß er genau.
»Ich werde bestimmt Kapitän auf einem großen, bunten Schiff werden. So mit blauer Mütze und so, weißt du?«, erklärte er seiner Mutter neulich stolz, als sie ihm, wie jeden Abend, eine Geschichte vorlas. »Dann nehme ich dich und Löwi mit. Bestimmt gibt es noch Sachen, die du nicht kennst und die zeige ich dir dann. Ich werde auf dich aufpassen, Mama.« Seine Mutter hatte nur genickt und ihn fest an sich gedrückt. Warum sie allerdings geweint hat, hat er nicht verstanden.
***
Auch Fee versinkt bis über beide Ohren in Arbeit. Ihren Geburtstag hat sie sich zwar anders vorgestellt, aber es gibt noch so schrecklich viel zu tun, wenn sie morgen schon aufbrechen wollen. Während sie das Haus auf Vordermann bringt und ihre Klamotten in die Koffer stopft, denkt sie über das komische Verhalten ihres Mannes nach. Warum will er sie nicht dabeihaben? Warum verhält er sich so distanziert ihr gegenüber? Liebt er sie nicht mehr? Was ist nur aus ihrer Ehe geworden? Nach dem Tod ihrer Eltern hat sich so vieles verändert. Fee weiß genau, dass sie viel zu wenig Zeit miteinander verbringen, kaum noch mit einander reden und der Sex ... welcher Sex? Seitdem er sie das letzte Mal berührt hat, sind schon Monate, wenn nicht sogar Jahre vergangen. Prickelnde Erotik, wie zu Beginn ihrer Beziehung, gibt es schon lange nicht mehr. Damals, als sie noch am Meer wohnten, hat er sie fast jeden Abend genommen, ihr gezeigt, was für eine begehrenswerte Frau sie ist und ihr fast jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Bevor Lucia kam, waren sie glücklich, verbrachten viele Nächte tanzend und lachend in Bars und Discotheken und konnten nicht genug voneinander bekommen. Wie oft waren sie erst im Morgengrauen nach Hause getorkelt und hatten den folgenden Tag kuschelnd und schlafend im Bett verbracht. Selbst nachdem Lucia, ihr kleiner Sonnenschein, das Licht der Welt erblickt hatte, gaben sie sich noch Mühe. Einmal im Monat gingen sie Essen oder ins Kino, fuhren sogar mit den Rädern ans Meer und verbrachten romantische Stunden am Strand. Doch das ist lange her. Der Überfall hatte nicht nur das Leben ihrer Eltern beendet, sondern irgendwie auch ihr eigenes. Sie waren in den Süden von Deutschland, in ein nettes, kleines Häuschen in der Nähe von München gezogen und hatten die Vergangenheit im Norden zurückgelassen. Seitdem lebt sie nicht mehr, existiert nur noch. Gewissenhaft kümmert sie sich seitdem um die beiden Kinder, ist Lehrerin, Chauffeur, Psychologin und manchmal auch Feldwebel in einer Person, schmeißt den Haushalt, mit allem, was dazu gehört und werkelt mit Harke, Spaten und Rasenmäher im Garten, damit alles sauber und ordentlich ist, wenn er abends aus der Bank nachhause kommt. Wenn er kommt. Viel zu oft muss er Überstunden schieben oder sich sogar um die Zentrale der Bank im Norden kümmern. Dann ist er tageweise gar nicht bei seiner Familie. Da bleibt einfach kein Platz für harmonische Stunden zu zweit. Selbst wenn die Kinder endlich im Bett sind und Ruhe ins Haus einkehrt, ist das nicht so einfach. Woher sollen die erotischen Fantasien auch kommen, wenn er abends, völlig geschafft und wortkarg, mit seiner Bierdose vor dem Fernseher sitzt und eine Talkshow nach der anderen sieht? Und sie selbst? Sie ist oft so kaputt vom Tag, dass sie sich mit ihrem Laptop, ihrer kuscheligen Decke und in einen pinkfarbenen Jogginganzug gehüllt, auf die Couch zurückzieht und mit Kopfhörern im Ohr eine der amerikanischen Serie schaut, die sie so mag. Wie oft sie dabei schon vor Erschöpfung eingeschlafen ist, kann sie gar nicht mehr zählen. So verstreichen die Tage, Wochen, Monate und irgendwie hat keiner das Bedürfnis, daran etwas zu ändern. Mittlerweile hat sie sich daran gewöhnt und vermeidet das Thema Sex und Erotik so gut es eben geht. Sie hat einfach keine Lust mehr, sich über Dinge aufzuregen, die ihr Leben bereichern und nicht belasten sollten. Und Jörg scheint auch kein großes Interesse daran zu haben, sich ihr auf intime Art zu nähern.
Gerade als sie beginnt, in Selbstmitleid zu versinken, klingelt das Telefon. Doris, eine ihrer wenigen Vertrauten, ist am Apparat und gratuliert ihr überschwänglich zum Geburtstag. »Sag mal, Süße, was hältst du davon, wenn wir morgen Abend zusammen was trinken gehen? Ich lade dich ein und dann können wir mal wieder ganz in Ruhe quatschen. Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Fee legte den Lappen, mit dem sie gerade die Fenster geputzt hat, zur Seite und setzte sich auf die Terrasse. Eine kleine Pause hat sie sich wahrlich verdient.
»Danke für deine Glückwünsche. Du bist heute, nach meiner Familie, die Einzige, die an mich gedacht hat. Aber, ich darf mich ja nicht beschweren. Bin doch selber schuld.« Fee seufzt schwer.
Vor knapp fünf Jahren ist sie mit Jörg und den Kindern hierhergezogen und hat bisher noch keine Freundinnen, außer Doris, gefunden. Irgendwie war sie bisher nicht bereit, sich irgendwelchen fremden Menschen zu öffnen. Sie hatte bisher einfach keine Lust, ihre Geschichte, die sie wie eine schwarze Aura umgibt und ihr natürlich auch bis in den Süden gefolgt ist, immer wieder und wieder zu erzählen. So galt sie bald als eigenwillig und verschroben, die Frau des Bankdirektors eben, die sich für etwas Besseres hält und keinen Kontakt zum gemeinen Volk sucht.
Dass dem nicht so ist, wusste nur eine Person: Doris Bauer, die Mutter von Jasons bestem und einzigen Freund Finn aus dem Kindergarten, die sie in ihr Herz gelassen hatte. Allerdings war das eher von der jungen Bayerin ausgegangen. Immer wieder lud sie Fee zu sich nach Hause ein. Oder die beiden Frauen verabredeten sich mit den Kindern auf dem Spielplatz. Doris war bisher die Einzige, die sie nicht in eine Schublade gesteckt oder für arrogant gehalten hat. »Sie wird schon ihre Gründe haben«, verteidigte sie Fee immer wieder vor den Anderen und diese war ihr jedes Mal sehr dankbar dafür.
»Nein, Doris, so gerne ich auch würde … aber es klappt nicht. Wir fahren morgen schon ganz früh in den Norden. Du weißt doch, dass wir dort ein kleines Ferienhaus haben.«
»In das Haus deiner Eltern? Aber da warst du doch schon ewig nicht mehr? Warum? Will Jörg, dass ihr mitkommt?«
Fee seufzt erneut und erzählt Doris in wenigen Sätzen, dass Jörg alles andere als begeistert ist, doch dass sie unbedingt einmal wieder einen Tapetenwechsel braucht.
»Und da willst du ausgerechnet in das Haus? Warum fliegst du nicht mit den Kindern in den Süden? Strand, Palmen, Meer. Zum Beispiel nach Spanien. Ich kenne da eine kleine Finca, in der ihr einen tollen Urlaub verbringen könntet. Das ist es, was du brauchst. Aber doch bestimmt nicht ...«
Fee unterbricht ihre Freundin.
»Danke für dein Angebot, meine Liebe und ich weiß auch, dass du bestimmt recht hast, aber mir schwebt etwas anderes vor, muss so viele Dinge dort regeln …« Sie stockt und in ihrem Hals bildet sich ein Kloß.
»Und was genau soll das sein? Willst du endlich mit der Trauer um deine Eltern abschließen? Jetzt? Nach fünf Jahren? Wie kommst du denn auf diese glorreiche Idee? Ist irgendetwas passiert? Und nun komm mir nicht mit Ausreden. Wenn du nach fünf Jahren beschließt, dein Leben in den Griff zu bekommen, dann muss etwas geschehen sein.« Doris kennt Fee besser als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Sie hat der Freundin in ihren dunkelsten Stunden treu zur Seite gestanden, ihre Tränen getrocknet und ihr immer wieder Mut zugesprochen. Doris weiß vom Tod der Eltern, von den Zweifeln in der Ehe und den alltäglichen Erziehungsproblemen. Auch, wenn sie nicht mit allem einverstanden ist, was Fee macht, hatte sie doch in jeder Situation stets einen gutgemeinten Rat oder wenigstens eine Tasse Kaffee für sie parat.
Das introvertierte Verhalten hat Doris allerdings nie wirklich hingenommen. Schon seit Anbeginn war sie der Meinung, dass Fee sich mehr um ihr eigenes Leben kümmern sollte. Die Erziehung der Kinder war wichtig, klar. Aber Doris redet schon seit Jahren auf sie ein, dass es auch noch ein Leben außerhalb des Kinderzimmers gibt. Immer wieder hat sie versucht, Fee ins Kino oder in eine Bar mitzunehmen, doch es bisher nie geschafft. Der Überfall liegt über Fee wie eine dunkle Decke, die sie nicht abstreifen kann. Bis jetzt.
»Ja, ich habe beschlossen mein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Jason kommt bald in die Schule und Lucia in die Lehre. Ich glaube, dass fünf Jahre Trauer genug sind.« Doris ist zuerst sprachlos, doch dann fängt sie an zu jubeln.
»Na endlich, Zuckerpuppe! Das wird auch echt Zeit! Wenn du etwas brauchst, oder ich dir helfen kann, dann melde dich bitte.«
»Danke, du Liebe! Danke für alles.«
In diesem Moment löst sich der Kloß und Tränen schießen in ihre Augen. Sie beendet das Gespräch abrupt. Nicht, dass Doris sie noch nie hätte weinen hören, aber Fee will nun alleine sein. Dadurch, dass sie ihr Vorhaben ausgesprochen hat, kann sie sich nun selber eingestehen, dass es allein in ihrer Hand liegt, das Leben zu ändern. Es kommt Fee fast so vor, als sei am Horizont ein Licht aufgegangen, das die dunkle Decke der Trauer ein wenig anhebt und den rechten Weg anzeigt.
Kurz vor dem Zubettgehen sitzt Fee zusammen mit ihrem Sohn am Küchentisch, um wenigstens den Kuchen, den Lucia für sie gebacken hat, zu probieren. In der ganzen Aufregung und dem Stress ist der gänzlich untergegangen. Doch jetzt hat sie zwei Teller bereitgestellt und den Kuchen angeschnitten. Auch das kleine Päckchen liegt noch immer in Geschenkpapier gewickelt vor ihr. Was da wohl drin sein mag? Fee wollte sich Zeit nehmen, um die Geste der Liebe in Ruhe zu genießen. Nun ist es endlich soweit. Vorsichtig fummelt sie die Klebestreifen von dem bunten Geschenkpapier. Lucia hat sich wirklich Mühe gegeben. Natürlich ist sie auf den Inhalt gespannt, doch sie will den Moment so lange es geht hinauszögern. Fast zärtlich zieht sie ein in rosa Seidenpapier eingewickeltes blaues Stoffbündel hervor. Ein Lächeln schleicht sich auf ihr Gesicht, als sie die Verpackung entfernt, den Inhalt entfaltet und ein Kleid zum Vorschein kommt. Ihr Herz schlägt ein paar Takte schneller, als sie aufsteht und sich das blaue Wunder an den Körper hält.
»Na, Jason, was sagst du? Hat Lucia nicht ein tolles Kleid für mich ausgesucht?« Vor Rührung stehen ihr Tränen in den Augen. Schon lange hat sie sich so etwas gewünscht. Der blaue, fließende Stoff fällt bis auf den Boden, um die Brust ist das Kleid gerafft und an den breiten Trägern glitzern ein paar Steinchen. Der weit schwingende Rock, der angenehm kühle Baumwollstoff und die wunderbare Verarbeitung sind einfach perfekt. Perfekt für den Urlaub, der morgen beginnt.
»Ja, Mama. Das Teil ist super! Das hat Lucia im Internet für dich bestellt. Ich habe es genau gesehen. Schaut voll toll aus!« Fee faltet das Kleid wieder zusammen und legt es vorsichtig ab. In dem Moment rutscht eine bunte Karte aus dem Papier und fällt zu Boden. Fee bückt sich, öffnet das Schriftstück und liest mit zittrigen Händen die Worte, die Lucia geschrieben hat.
Liebe Mama,
vor sehr langer Zeit
schenktest du mir mein Leben,
hast mir immer
Liebe und Wärme gegeben.
Nicht jeder Augenblick mit mir
war für dich wirklich leicht,
doch habe ich durch deine Liebe
schon sehr viel erreicht.
Du hast mir stets gezeigt,
wie man freundlich sich benimmt,
dass man im wahren Leben
mal verliert und auch gewinnt.
Gezeigt hab' ich dir meine Liebe
leider viel zu selten nur -
doch hinterlässt du jeden Tag
in meinem Herzen eine Spur.
Und heute an deinem Geburtstag
will ich dir meinen Dank darbringen,
mögen meine Worte
in deinem Herzen klingen.
Darum schreib ich diese Zeilen
aus tiefster Seele jetzt und hier
»Meine liebe Mama,
ich DANKE dir dafür!«
Eine dicke Träne der Rührung kullert über Fees Wangen, doch sie wischt sie nicht weg. So deutlich hat Lucia ihre Liebe noch nie gestanden oder gezeigt. Ja, ihr Sonnenschein wird erwachsen und verändert sich. Aus dem kleinen, lieben Mädchen ist ein pubertierender Teenager geworden, der nicht wirklich weiß, was er empfinden soll. Noch nicht ganz Frau, aber doch kein Kind mehr. Zickenterror kämpft gegen Kuschelbedürfnis. Jungs sind plötzlich nicht mehr doof, sondern sehr anziehend und auch die Freundschaften zwischen Lucia und ihren Klassenkameradinnen haben sich gedreht, sind zerbrochen und andere haben sich intensiviert. Als Mutter steht Fee oft daneben und kann ihrer Tochter einfach nicht helfen. Viele der Erfahrungen muss sie selber machen. Die kommenden Zeiten werden noch härter, das ahnt Fee bereits. Denn auch sie war als Jugendliche nicht wirklich einfach zu handhaben. Doch ist sie in diesem Augenblick fest davon überzeugt, dass sie es gemeinsam, als Familie, schaffen werden. Das Schicksal war bisher nicht gerade fair und der Weg oft steinig. Stets hat sie versucht ihre eigenen Sorgen in den Hintergrund zu schieben, um Lucia und Jason ein gutes Zuhause zu bieten. Natürlich weiß sie auch, dass die Kinder unter ihrem nicht immer nachvollziehbaren Verhalten gelitten haben. Nun ist sie fester denn je entschlossen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Fee nimmt sich ganz fest vor, sich später bei ihrer Tochter gebührend zu bedanken. Sie will ihr zeigen, wie sehr sie ihr Herz und ihre Seele mit diesen Worten berührt hat. Doch jetzt ist erst einmal Jason an der Reihe. Fee weiß genau, wie sehr ihr Kleiner die Momente genießt, die er ganz alleine mit seiner Mutter verbringen kann. Dann hat sie nur Augen für ihn und sie erzählen sich gegenseitig spannende Geschichten.
»Mama, wann hast du das letzte Mal von einer Meerjungfrau geträumt?«, fragt Jason, nachdem er einen Schluck seines Kakaos getrunken hat, den Fee für sie beide gekocht hat. Das ist zwar kein optimales Abendessen, doch ab und zu darf auch das mal sein. Immerhin hat sie heute Geburtstag und der Tag war anstrengend genug. Außerdem hat sich Lucia in ihrem Zimmer verschanzt und auch Jörg ist bereits den ganzen Tag über verschwunden. Jasons Mund ist verschmiert, doch er strahlt über das ganze Gesicht. Und Fee fällt die Kuchengabel aus der Hand. Wie kommt ihr Jüngster dazu, sie nach ihren Träumen zu fragen? Er weiß doch, dass sie nie träumt, eigentlich. Warum fängt er ausgerechnet heute damit an?
»Wie kommst du denn darauf?«, fragt sie erstaunt. Wie nur soll sie einem fast Fünfjährigen erklären, was sie die letzte Nacht erlebt hat? Anlügen will sie ihn nicht.
»Na, weil ich heute Nacht von einem tollen See geträumt habe. Der liegt mitten im Wald, weißt du. Und auch von einem kleinen Wasserfall. Der hat so lustig gespritzt und das Wasser war gar nicht kalt. Und in dem See war eine kleine Meerjungfrau. Sie hat mir zugewinkt, weißt du? Ich bin mit ihr geschwommen, bis sie weggeflogen ist. Mit ihrem Einhorn. Das stand auf der Wiese neben ihr und hat auf sie gewartet. Das war ganz toll und sein Horn hat so schön geleuchtet. Es war weiß und rosa und hatte ganz große Flügel. Das nächste Mal nehme ich dich mit in meinen Traum. Dann können wir gemeinsam mit dem Einhorn und der Meerjungfrau fliegen. Allein traue ich mich nicht«, gibt er kichernd zu. Jason ist so aufgeregt, dass er von seinem Stuhl aufgesprungen ist und die Größe des fliegenden Pferdes mit seinen Händen begreiflich machen will. »So groß ist das gewesen. Und so schön!«, ruft er begeistert und Fee steht der Mund vor Staunen offen. Er hat von einem See geträumt? Ihrem See? Aber, da war doch kein Einhorn? Keine Meerjungfrau? Das kann nicht sein. Fieberhaft überlegt sie, welches Buch sie ihm neulich vorgelesen hat, dass er so etwas träumt. Vielleicht würde das auch ihre Gedanken erklären? Doch ihr fällt beim besten Willen keines ein. Normalerweise mag Jason keine Märchen über Einhörner.
»Was du für komische Sachen träumst, Schatz. Ich habe noch nie von einem Einhorn … also, ich habe noch nie geträumt«, wischt sie ihre Gedanken beiseite und hofft auf eine rationale Erklärung.
»Als Kind auch nicht?«, fragt Jason neugierig.
Fee nickt nachdenklich. »Doch, als Kind schon. Das ist aber so lange her, dass ich mich gar nicht mehr richtig erinnern kann«, gibt sie zu und greift erneut nach der Gabel. Den Kuchen, den Lucia extra für sie gebacken hat, will sie nicht verkommen lassen. Er schmeckt fantastisch und gibt ihr ein Stück Sicherheit bei dem Gespräch mit ihrem Sohn. Schokolade beruhigt, hat sie mal irgendwo gelesen. Ganz real und nicht im Traum. Unbewusst hat er in ein Wespennest gestochen und Fee hat ihre liebe Not, die Gedanken, wieder unter Kontrolle zu bringen. Noch nie hat sie mit jemandem darüber gesprochen, warum sie nicht träumt. Doch in diesem einen Moment hat sie das starke Bedürfnis, sich ihrem Sohn anzuvertrauen. Daher erzählt sie Jason, warum sie früher geträumt hat und es heute nicht mehr tut.
»Die Oma war aber doof. Warum sagt sie denn das? In den Träumen können so tolle Sachen passieren. Zum Beispiel, wenn ...«, fängt er an auszuholen. Doch Fees Gedanken schweifen ab, zurück zu letzter Nacht. Der wunderschöne Wald, der kleine See mit dem Wasserfall und auf einmal hört sie die geflüsterten Worte der seltsamen Stimme. »Lass es geschehen, dann wirst du es sehen.« Der Satz wiederholt sich immer und immer wieder und zieht sie dabei tief in seinen Sog. Wie ein Mantra, das von außen in ihr Innerstes eindringt und das sie nicht selbstständig beenden kann. Die Zeit scheint beinahe still zu stehen und sie spürt den sehr langsamen, aber doch kräftigen Schlag ihres Herzens in der Brust. Poch ... poch ... poch ... Ihr Sichtfeld verengt sich, wird von den Seiten her immer dunkler und vor ihren Augen tanzen bunte Lichtblitze wie kleine Sterne am nachtblauen Himmelszelt. Die Stimme ihres Kindes rauscht wie der kleine Wasserfall, den sie am Ende des Tunnels zu sehen glaubt, in den Ohren, zusammen mit dem Singsang aus ihrem Traum. Was wird geschehen? Wann wird sie es sehen? Warum bestimmen Träume plötzlich ihr Leben?
»... und so war das. Mama! Hast du mir zugehört?«